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Corinna ist Schülerin der 11. Klasse und Mitglied der Volleyball-Nationalmannschaft. Leistungssport bestimmt ihr Leben. Dann lernt sie den Maler Til kennen. In seiner unkonventionellen und lausbubenhaften Art gewinnt der junge Mann sehr schnell Corinnas Sympathie. Sie liebt Til und möchte ihn nicht verlieren, aber sie muss etwas haben, worauf sie sich verlassen kann, denn sie möchte herausfinden, was sie zu leisten vermag. Mit vier Jahren konnte sie schwimmen, mit fünf Fahrrad fahren, mit acht Jahren Tennis spielen, mit zehn das Segelboot ihres Vaters steuern, mit zwölf entschied sie sich für Volleyball. Was sie wollte, hat sie bisher immer erreicht, also würde sie auch eines Tages eine olympische Medaille tragen. Training und Schule lassen ihr nur wenig Zeit für Til. Und plötzlich wird ein Faschingsfest wichtiger als ein internationaler Wettkampf. LESEPROBE: Er lächelte. „Oder meinst du, ich bin ungerupft aus dieser Sache hervorgegangen? Erst Rosi und dann du. Das hat man mir schwer verübelt.“ Corinna wusste, solche Vorfälle zogen weite Kreise, bis ins Generalsekretariat des Volleyballverbandes. Til aber, als Corinna ihm davon erzählte, lachte nur. Er hörte, wenn es um die Mannschaft ging, meistens nur mit halbem Ohr zu, und Randolfs Sorgen und Nöte ließen ihn völlig kalt. Wichtiger war für ihn, wie sie an Corinnas Geburtsurkunde herankämen. Die brauchten sie zur Anmeldung der Hochzeit auf dem Standesamt, aber auf keinen Fall wollte Corinna schon jetzt ihre Eltern in Makropanik versetzen. Ohnehin wurde sie zu Hause jedes Mal mit Fragen nach Til bedrängt, und wenn sie dann antwortete, sie sei noch mit ihm zusammen, sagte der Vater frostig: „Du musst ja wissen, was du lieber am Halse hängen haben möchtest, eine Medaille oder diesen Bengel.“ Darüber ging Corinna mit äußerem Gleichmut hinweg, aber sie dachte an den Tag, da sie den Vater vor vollendete Tatsachen stellen würde. Mit Randolf dagegen hätte sie gern über die Heirat gesprochen. Sie setzte auch einmal dazu an und fragte ihn, welchen Eindruck er von Til gewonnen habe. Da senkte Randolf nachdenklich den Kopf und sagte: „Was soll ich darauf antworten? Du würdest kein Wort glauben.“ „Er ist Ihnen also unsympathisch?“ „Wär er unsympathisch, gäb’s keine Probleme, Corinna. Mir ist im Gegenteil völlig klar, dass er über Anziehungskraft verfügt.“ „Das ist kein Fehler.“ „Nein, aber er weiß es zu gut, und er spielt sie aus. Er ist mir ein bisschen zu geschickt, vielleicht sogar durchtrieben.
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Seitenzahl: 260
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Christa Grasmeyer
Kapitän Corinna
ISBN 978-3-95655-033-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1977 im Verlag Neues Leben, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Auf der obersten Stufe zum Eingang des Schulgebäudes blieb Corinna stehen. „Mir scheint“, sagte sie zu den Mädchen, die ihr folgten, „unsere ehrwürdige Lehranstalt grüßt uns in neuem Gewande.“
Tatsächlich empfing sie, kaum waren sie eingetreten, ein starker Geruch nach Lack und Farbe. Im Treppenhaus standen Eimer und Leitern, und die Maler arbeiteten in den langen Fluren.
„Ich möchte wetten“, sagte Corinna, „vorher, während der Ferien, haben sie Skat gespielt.“
Die Unterrichtsräume waren fertig. Nur die Fenster standen noch offen, um die Farbe trocknen zu lassen. Daher zog es, man musste die Türen festhalten, damit sie nicht knallten. Renate entdeckte, dass manche Räume ganz neues Mobiliar erhalten hatten.
„Wo?“, rief Janni neugierig, und als sie sich schwungvoll umdrehte, streifte der Saum ihres weiten Rockes den Farbeimer eines Malers, der gerade vorüberging. Corinna lachte. Sie trug wie immer Hosen. In dem Augenblick legte sie den Arm auf ein Fensterbrett und war vom Ellenbogen bis zur Handfläche weiß. Janni schrie laut auf vor Vergnügen.
„Was gackerst du wie ein Huhn“, sagte Corinna.
Dann hörten sie jemand fragen: „Wird vielleicht ein Hahn benötigt?“
Wenige Schritte weiter, vor dem nächsten Flurfenster, stand eine Leiter. Die Mädchen blickten hoch.
„Aha!“, rief Corinna und blieb stehen. „Daher die Bummelei. Bei der Arbeit werden Maulaffen feilgeboten und Witze gerissen.“
„Antworte lieber auf eine konkrete Frage.“
Corinna winkte ab. Sie wollte weitergehen. Da zog der Junge den beklecksten Hut vom Lockenhaar, schwenkte ihn, richtete sich auf und balancierte, die beiden Leiterstreben zwischen den Beinen, wie auf Stelzen neben ihr her. Ein älterer Maler, der unten stand, schimpfte. Ein anderer, der etwas weiter die Fußleiste strich, kam grinsend aus der Hocke hoch.
„Hallo, Til, bist du wieder mal der Größte und Schönste?“
„Ja, die Mädchen beflügeln mich.“
Er starrte Corinna verzückt an. Sie erwiderte seinen Blick, blinzelte und sagte: „Man sollte dir die Flügel stutzen.“ Sie drehte sich nicht um, aber sie war sicher, dass er ihr nachschaute, als sie weiterging.
„Ich hätte ihn nicht abblitzen lassen“, sagte Janni. „Mir könnt er gefallen.“
„Bloß, dass er schielt“, erwiderte Corinna. —
Das neue Schuljahr brachte Veränderungen. Corinna überblickte den Klassenraum und zählte die Schüler. „Fünfzehn“, sagte sie zu Renate, die das auch schon festgestellt hatte und befriedigt nickte. Fünfzehn, fand Renate, sei eine gute:Zahl. Vorher waren sie mehr gewesen. Nach der zehnten Klasse hatte eine Reihe von Sportlern die Schule verlassen.
„Bis jetzt war’s leicht, die Gruppe zusammenzuhalten“, sagte Corinna nachdenklich. „Wir waren alle in einer Klasse und wohnten in einem Internat. Jetzt wohnen die Lehrlinge im Internat des Sportklubs, und wir wohnen weiterhin im Schulinternat.“
„Trotzdem sind wir eine Trainingsgruppe und eine FDJ-Gruppe und eine Mannschaft“, antwortete Renate. „Das ist der Boden, auf dem wir stehen.
„Keine langen Vorreden!“ Mit diesen Worten begann der neue Klassenlehrer den Unterricht. „Die elfte Klasse verlangt Arbeit, Arbeit und höchste Konzentration. Erweisen Sie sich der Ehre würdig, Schüler einer Kinder- und Jugendsportschule zu sein.“
Corinna tauschte einen belustigten Blick mit Janni, die neben ihr saß. Schüler der Kinder- und Jugendsportschule waren sie schon seit drei Jahren, und hätten sie sich nicht der Ehre würdig erwiesen, besuchten sie jetzt nicht den Abiturkurs.
Was sie an Arbeit und Konzentration würden aufbieten müssen, zeigte ihnen der Stundenplan. Unterricht und Training im Wechsel über den ganzen Tag, und zweimal in der Woche Abendtraining. In der Pause rechneten die Mädchen aus, wie viel an Freizeit ihnen bleiben würde, zwei Stunden, wenn‘s hoch kam drei Stunden am Tag.
Corinna zog die Brauen zusammen. „Wollt ihr schon in Rente gehen?“ Jetzt nach dem Aufenthalt in Bornwitz an der Ostsee, wo sie zu Hause war, war ihr Teint noch dunkler getönt als sonst. „Ich möcht wissen“, fuhr sie fort, „was ihr die Ferien über getrieben habt. Seid ihr zu Mehlsäcken geworden?“
Sie war frühmorgens, wenn die Urlauber noch schliefen, am Strand entlanggelaufen, über den feuchten, unberührten Sand, der nur das Dreizackmuster der Möwenfüße trug, und sie war weit hinausgeschwommen, immer in der schrägen Sonnenbahn, die das Wasser zum Glitzern brachte. Erst danach hatte sie gefrühstückt, krachend frische Brötchen und Milch aus beschlagener Flasche, und dann hatte sie ein bisschen im Garten geholfen, dies nicht gerade aus Lust und Laune, sondern Opa zuliebe, der meinte, ein Mädchen müsse im Garten arbeiten, Obst einwecken und dergleichen. Alles andere hielt er nicht nur für überflüssig, sondern sogar für bedrohlichen Müßiggang, eingeschlossen das Lernen in der Schule, „de Studiereri“, und vor allem den Sport, „de Ballspäleri“.
Wenn Corinna von Opa erzählte, kamen die Mädchen aus dem Lachen nicht heraus. Aber Corinna mochte ihn, sie erwiderte seine Zuneigung aus ganzem Herzen. Achtzig Jahre war er alt und stieg noch in den Birnbaum, weil angeblich keiner außer ihm imstande und willens war, die Birnen mit der nötigen Behutsamkeit zu ernten. Von ihren Eltern und von ihrer jüngeren Schwester erzählte Corinna nur beiläufig.
„Und was hast du noch gemacht?“, fragte Janni.
Nicht nur allgemein hatte Corinna Kondition gewahrt, sondern speziell trainiert, und einen ganzen Schwarm von Jungen hatte sie um sich gehabt. Es hatte sich von selbst so ergeben, nachdem sie anfangs bescheiden beim Volleyballnetz am Strand erschienen war und gebeten hatte, ein bisschen mittun zu dürfen, natürlich ohne ein Wort davon zu verraten, dass sie Mitglied der Juniorennationalmannschaft war. Und dann die grenzenlose Verblüffung der Jungen vom Zeltplatz, über Corinnas Wendigkeit, ihre Schmetterschläge und ihr katzenhaftes Sprungvermögen.
Janni sah Corinna bewundernd an. Sie war von allen Mädchen am meisten mit Corinna befreundet, denn sie wohnte vom ersten Tage an, seit damals vor drei Jahren, als sie vierzehnjährig zur Sportschule kamen, mit Corinna in einem Zimmer. Die beiden Mädchen verstanden sich, weil Janni sanft und bescheiden war und immer in allem nachgab, denn Corinnas Temperament konnte Widerspruch schwer ertragen. Janni bewunderte die Fähigkeit, mit der Corinna die Jungen an sich zog und trotzdem auf Distanz hielt, die Konsequenz, mit der sie die Grenze wahrte zwischen Scherz und Ernst, überall, wo sie auftrat.
„Ich hätte dabei sein mögen, in Bornwitz am Strand“, sagte Janni sehnsüchtig.
Corinna gab sich mit den Armen Schwung und sprang vom Tisch, auf dem sie gesessen hatte. „Ja, mit euch hätt’s mehr Spaß gemacht. Ehrlich, ein bisschen hab ich mich gelangweilt. Ich bin froh, wieder hier zu sein.“
„Und wir erst“, rief einer der Jungen aus der Klasse, „und wir sind erst froh, dass du wieder hier bist!“
Sie packte ihn beim Schopf und zauste ihn.
Das erste Training nach den Ferien war noch am gleichen Vormittag. Die Mädchen gingen vom Schulgebäude zum Internat hinüber, um ihre Sachen zu holen.
Corinna sah schnell zur Seite. „Da sitzt das Schielauge schon wieder und faulenzt.“ Ihr Scharfblick hatte inmitten der friedlich frühstückenden Gruppe von Malern den einen besonderen erspäht. Und auch er drehte sich um. Sie verlangsamte den Schritt. Er kam sofort.
Die Mädchen blieben stehen. Mit Wohlgefallen stellten sie fest, dass er groß und schlank war. Sogar den beklecksten Hut trug er mit lässigem Stolz.
„Na, fleißig gelernt?“, fragte er in gönnerhaftem Ton, als läge seine eigene Schulzeit Jahrzehnte zurück.
„Nicht jeder kann müßig in der Sonne sitzen“, antwortete Corinna.
„Gesetzlich garantierte Arbeitspausen sind im Interesse der Gesundheit und Schaffenskraft einzuhalten“, belehrte er sie.
„Na, gesund bist du, das sieht man, aber Manieren hast du nicht. Nimm den Hut ab.“
Er lachte. „Du gehst zu sehr nach Äußerlichkeiten. Der Wert einer Persönlichkeit offenbart sich in ganz anderen Dingen, zum Beispiel im Reichtum ihrer Beziehungen.“
„Richtig“, stimmte Corinna zu, „nur falsch interpretiert, falls du die Beziehungen zum anderen Geschlecht meinst.“
„Geschlecht hat nichts mit schlecht zu tun.“
Er hatte die Lacher auf seiner Seite. Übrigens schielte er nicht, er konnte vollkommen gerade blicken, und er tat es ausgiebig, indem er jede einzelne betrachtete. Die Zwillinge erregten sein Interesse. Er wollte wissen, ob sie aus einem Ei stammten, und als sie bejahten, entfaltete er einen geradezu wissenschaftlichen Forschungsdrang, was ihre gemeinsamen Veranlagungen, ihre Stimmungen und Empfindungen anbetraf.
Renate tippte mahnend auf ihre Armbanduhr. Randolf, der Trainer, wartete, und sie standen hier und schwatzten. Da machten sie, dass sie weiterkamen, aber sie redeten noch eine ganze Weile über den schlagfertigen Burschen.
„Ach was“, sagte Corinna, „er hat wie ein Pfau sein Rad geschlagen, bloß vor wem, das ist die Frage.“
„Vor dir natürlich“, sagte Renate gutmütig.
Abends saßen Janni und Corinna auf dem Balkon ihres Zimmers. Sie hatten zwei Stühle herausgestellt in den Winkel, den die sinkende Septembersonne gerade noch erreichte, und unterhielten sich schläfrig murmelnd, die Augen halb geschlossen. Als ein Mädchen aus der zwölften Klasse von der Tür aus nach ihnen rief, erhoben sie sich unwillig. Nein, sie hätten keinen Handwerker bestellt, wie kämen sie auch dazu, das sei doch Sache des Hausmeisters.
„Genau“, sagte der Hausmeister. Er kam nun ebenfalls herein.
Dann sah Corinna den Handwerker.
„Ach so!“ Sie lachte. „Ja, das stimmt doch. Dieser Kollege ist uns bekannt, wir hatten ihn gebeten ..., hatten ihn gebeten …
„… das Kofferschloss zu öffnen“, ergänzte der Handwerker, der jetzt statt des Malerhuts eine blaue Schirmmütze trug. Außerdem hatte er eine kastenförmige, schwarze Tasche bei sich, deren Inhalt, als er sie absetzte, metallisch klirrende Geräusche verursachte.
Corinna griff das Stichwort sofort auf. „Ja, sehen Sie, wir könnten sonst gar nicht auspacken und müssten den schweren Koffer wer weiß wohin schleppen oder das Schloss mit der Schere aufbrechen, was doch jammerschade wäre.“
Zögernd ging der Hausmeister zur Tür. „Hätte ich das nicht machen können?“
„Natürlich, zu dumm, dass wir nicht dran gedacht haben, so geschickt und vielseitig, wie Sie sind! Aber weil uns der Schlosser gerade über den Weg lief und Janni ihn kennt ...“
„Durch meine Tante!“, fiel Janni ein.
„Durch die Tante“, bestätigte der Schlosser.
Das Mädchen aus der zwölften Klasse, nach zwinkernder Verständigung mit Corinna, erzählte schnell etwas von einem tropfenden Wasserhahn im Duschraum, womit sie den Hausmeister endgültig aus dem Zimmer lockte.
Corinna lehnte mit dem Rücken an der Tür und verschränkte die Arme. „So, jetzt sag, was du willst.“
Er lächelte schmeichelnd, räusperte sich und senkte den Kopf. Corinna hatte schon gesehen, dass er wieder zu schielen begann. Ungewollt erwiderte sie sein Lächeln, was er aber zum Glück nicht wahrnahm.
„Ich will dich kennenlernen“, erklärte er.
„Sonst noch was?“, fragte Corinna.
„Sonst nichts“, sagte er schlicht.
Janni, die still im Hintergrund saß, lachte leise. Er drehte sich zu ihr um und runzelte die Brauen. Sie hatte Mühe, nicht lauthals in seine strafende Miene hineinzulachen.
„Meinst du denn, ich teile diesen Wunsch?“, fragte Corinna.
„Klar“, sagte er, „andernfalls hättest du mich doch durch den Hausmeister vom Balkon schmeißen lassen.“
„Du siehst nicht so aus, als ließest du dich vom Balkon schmeißen.“
„Das ist richtig. Verbotsschilder gibt es nicht für mich.“
„Auch ein Standpunkt“, sagte Corinna, „aber wir müssen ihn nicht unbedingt teilen, bloß weil wir einen Spaß mitgemacht haben.“
„Einen Spaß?“, fragte er vorwurfsvoll.
Corinna stieß die Luft durch die Nase. Daran merkte Janni, dass sie aus dem Konzept geriet. Das war erstaunlich bei Corinna, die sonst im Umgang mit Jungen so souverän war. Sie fing sich aber schnell und sagte spöttisch: „Na, wenn es dir Ernst ist, mein Lieber, dann muss ich schon wieder deine Manieren beanstanden. Zunächst stellt man sich doch vor!“
„Mädchen“, rief er, „vor euch steht Tilman Riedel, Til gerufen, Tilman Riedel, der auszog, ein gewisses Mädchen kennenzulernen, schwarz und braun mit wassergrünen Augen, und der zu diesem Zweck den Hausmeister bezwang. Jetzt bist du mir deinen Namen schuldig.“
„Corinna“, sagte sie zögernd.
„Ah, Schmidt vielleicht?“
„Nein, Döhring, warum?„
„Ich dachte an Fontane.“
Corinnas Kenntnisse über Fontane beschränkten sich auf Effi Briest. Deshalb sagte sie schnell: „Erzähl mal, wie du den Hausmeister bezwungen hast.“
Er tat es nur zu gern, konnte er nun doch seinen Scharfsinn herausstreichen, seinen Einfallsreichtum und seine Furchtlosigkeit. Er übertrieb natürlich maßlos, aber nicht in tölpelhafter Weise wie Leute, die wollen, dass man ihre Aufschneidereien glaubt, sondern in der halb versteckten, halb offenen Absicht, die Mädchen zu belustigen, was ihm auch gelang. Gerade, als sie aus vollem Halse lachten und auf weitere Darbietungen seines komödiantischen Talents hofften, ergriff er die Tasche mit den klirrenden Gerätschaften und stülpte sich die Schirmmütze wieder auf sein Lockenhaar.
„Wisst ihr, dass jeder Drachenbezwinger eine verwundbare Stelle hat? Ohne Rückendeckung kann er leicht in einen Hinterhalt geraten.“
„Welchen Hinterhalt befürchtest du denn?“, fragte Corinna überrascht.
„Irgendeine von diesen Aufsichtspersonen, die hier die Gegend unsicher machen. Aber befürchten ist nicht das richtige Wort“, setzte er mit Nachdruck hinzu.
„Trotzdem willst du Rückendeckung?“
Er nickte, und sein verschmitzter Seitenblick streifte Corinna.
„Na, denn komm“, sagte sie.
Sie begleitete ihn die Treppen hinunter. Sie dachte, dass Tilman Riedel ohne ihre Führung womöglich den Fahrstuhl benutzen würde, dessen Auf und Ab vom Zimmer des diensthabenden Erziehers aus deutlich zu bemerken war, während man, von der Treppe kommend, rasch und leise vorbeihuschen konnte. Riedel schien das sofort zu begreifen. Er hielt die Tasche mit beiden Händen, damit kein verdächtiges Geklapper ihn verriete.
Draußen wollte Corinna ihn verabschieden. Er übersah ihre ausgestreckte Hand und fragte: „Warum darf man euch nicht besuchen?“
Corinna schüttelte den Kopf wie eine Mutter über ihr unverständiges Kind. „Du hast wohl noch nie in einem Internat gewohnt. Besuche auf den Zimmern sind nicht üblich.“
„Und die Sportler untereinander?“
„Das ist was anderes, aber natürlich auch nicht nachts, wie du dir denken kannst.“
„Denken kann ich’s mir schon, bloß nicht glauben.“
„Glaub, was du willst“, sagte sie kurz.
Er meinte, sie gekränkt zu haben, und lächelte auf seine schmeichelnde Art. „Ich weiß ja nichts über euch. Erzähl mir doch ein bisschen.“
„Warum?“
„Weil’s mich interessiert.“
„Und warum interessiert es dich?“
„Hast du das noch nicht mitgekriegt?“
Sie sah ihn nicht an. Wahrscheinlich schielte er nun wieder. Sie rieb sich die Arme, als ginge ihr der abendlich kühle Wind durch Mark und Bein.
„Hör zu, ich hab eine Idee“, sagte er. „Wir gehen ein Eis essen, dort oben.“ Und er wies zum Terrassencafé, das hinter den Sportstätten etwas erhöht lag. Die großen Fenster waren schon erleuchtet, die Sonnenschirme auf der Terrasse zugeklappt.
„Ich mag kein Eis, mir ist kalt“, sagte Corinna.
„Und Glühwein?“, fragte er.
„Alkohol trink ich nicht.“
„Es gibt auch Vanilleeis mit heißer Schokolade.“
„Schade ums Geld.“
Er lachte. „Wozu verdiene ich denn? Wenn du willst, kauf ich dir so ein kleines tragbares Fernsehgerät.“
Corinna betrachtete ihn eine Weile stumm. Dann fragte sie: „Dir steht wohl ein geräumiger Keller zur Verfügung?“
Nun war es an ihm, verblüfft zu schweigen.
„Oder wo sonst betreibst du Falschmünzerei? Du nimmst den Mund reichlich voll einem wildfremden Mädchen gegenüber.“
Er trat einen Schritt zurück, und sein Eifer, sie zu überreden. war plötzlich dahin. „Ich wollte ja nur über das Wildfremde weg“, sagte er leise.
Da bereute sie den scharfen Ton, den sie angeschlagen hatte. Wahrscheinlich hielt er sie jetzt für fischig, aber er sollte sie nicht für fischig halten.
„Ich müsste wenigstens“, murmelte sie beunruhigt, „wenigstens Janni Bescheid hinterlassen ...“
Dann dachte sie, wie kindisch ihm das erscheinen musste, mehr noch, ihr selbst erschien es auf einmal kindisch und unwürdig eines siebzehnjährigen Mädchens.
Tilman Riedel zog die Mütze ins Gesicht, dass der Schirm die Augen verdeckte, stopfte die Fäuste in die Hosentaschen und murmelte drohend: „Ha, ich bin Schlagetot, der Bösewicht!“
Corinna musste lachen. Sie ging mit. Höchstens für eine Stunde, dachte sie.
Tilman Riedel war nun wieder obenauf. Froh über den Erfolg seiner Bemühungen, schwenkte er die unförmige Tasche, dass die Werkzeuge oder was es sein mochte, nur so schepperten. Oh, er war reich, er hatte Geld, die Welt stand ihm offen, denn er war kein Lehrling mehr. Mit „sehr gut“ hatte er im Sommer die Facharbeiterprüfung bestanden. Volljährig war er obendrein und angesehen im Betrieb, beliebt bei den Freunden, begehrt bei den Mädchen. Es war schon eine Lust zu leben. Fesseln, lästige Verpflichtungen, Vorschriften und Kontrollen waren nur dazu da, abgestreift und überwunden zu werden. Die Arme ausgebreitet und losgeflogen! Das war Tilman Riedels Devise.
„Immerhin“, wendete Corinna ein, „musst du auch jeden Morgen pünktlich zur Arbeit erscheinen.“
„Muss?“, fragte er zurück. „Muss ist scheußlich. Ich will die Arbeit, weil sie mir Spaß macht. Wenn sie mir keinen Spaß mehr macht, suche ich mir was anderes.“
„Also wirst du fortwährend den Beruf wechseln?“
„Darüber mache ich mir jetzt keine Gedanken. Alt und verknöchert sind wir früh genug.“
„Trotzdem ...“
„Ja, trotzdem“, unterbrach er sie, „trotzdem heißt Abtrotzen. Trotzdem bist du mitgekommen.“
Sie lachten beide.
Als sie aber vom Terrassencafé aus das Sportforum überblickten, die Plätze und Anlagen, das große Oval des Stadions, die flachen Verwaltungsgebäude, die tonnenförmigen Dächer der Sporthallen, sagte Corinna:
„Gut und schön, bloß was man sich ertrotzen will, muss man schon wissen, und ob es sich lohnt, das auch. Für eine falsche Sache zählt der größte Einsatz nichts. Und die ausgebreiteten Flügel nützen mir nur dann, wenn ich weiß, wohin ich fliegen will.“
Er riss verblüfft die Augen auf. „Mädchen, du hast ja Prinzipien!“
„Ja“, sagte sie, „du nicht?“
„Ich bin ein Prinzipienhasser. Prinzipien engen ein, wo‘s so viel Möglichkeiten gibt, die man ausprobieren kann.“
Corinna stützte den Kopf in die Hände. Die schwarzen Ponyfransen reichten ihr fast bis zu den Augen. Ihm ist schwer beizukommen, dachte sie, aber gerade das fand sie interessant.
„Lass mal hören“, sagte er, „was du für Prinzipien über die Liebe hast. Bist du festgelegt auf Blonde oder darauf, gar keinen zu haben oder viele?“
„Festgelegt? Ich werd mich hüten.“
„Aber es muss doch einen Typ geben, auf den du fliegst.“
„Du denkst wohl, auf einen Typ, wie du es bist?“
„Was bin ich für ein Typ?“
„Ein Typ zum Küssen“, sagte sie, und als er sie erstaunt anblickte, fügte sie hinzu: „Zum Küssen und mehr nicht.“
Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er: „Für den Anfang ist das viel.“
Er war aber klug genug, das Thema fallen zu lassen, und er sog am Strohhalm, der im Schokoladengetränk mit Sahne und Vanilleeis steckte. Essen wollte er auch noch. Corinna lehnte ah. Wozu sich vollstopfen, ohne hungrig zu sein, davon würde man nur dick.
„Dick? Du bist doch mager wie eine herrenlose Katze.“
„Stimmt beides nicht, weder mager noch herrenlos. Ich weiß genau, wo ich hingehöre.“
Er deutete hinaus, wo in der Dämmerung das Hochhaus stand.
„Dorthin?“
„Ja.“
„Ausschließlich?“
„Ja.“
„Aber die Katze bestreitest du nicht?“
„Nein“, sagte sie lachend, „denn geschmeidig und sprungkräftig möcht ich schon sein.“
„Dann denk aber auch dran, dass Katzen gern umherstreunen.“
Sie lachte wieder. „Als hätten wir nicht Kater in Hülle und Fülle im eigenen Haus!“
Auf einmal stand eine steile Falte zwischen seinen Brauen.
„Auch Katzen gibt’s in Hülle und Fülle“, sagte er mühsam beherrscht. „Ich kann das nicht leiden, ich kann’s nicht leiden.“
„Was denn?“
„Wie du redest!“
Donnerwetter, dachte Corinna. Aber er gefiel ihr nur noch mehr, und sie bedauerte fast, dass sie in diesem Augenblick mit ihm nicht allein war. Hier spiegelten die Scheiben den Glanz der Lampen, die Serviererinnen liefen geräuschlos über den Filzbelag, die Leute an den Tischen sprachen gedämpft miteinander, und Tilman Riedel musste sich zusammennehmen. Doch wie würde er draußen sein, in der immer mehr sich verdichtenden Dunkelheit?
Sekundenlang starrten sie sich fasziniert in die Augen, er in ihre hellen, wassergrünen, sie in seine dunkelbraunen. Dann lösten sie den Blick, beide ein wenig verwirrt und aus der Fassung gebracht. Corinna sah Tilman schlucken, sein Kehlkopf hob und senkte sich.
Er holte Luft. „Macht es dir Spaß, mich zum Narren zu halten?“
„Ja“, sagte sie, aber da er sich steif zurücklehnte, fuhr sie fort; „Es war natürlich Quatsch, das mit den Katern.“ Und obwohl sie nicht recht wusste, warum sie das tat, erzählte sie vom Leben der Sportler im Internat und an den Trainingsstätten. Sie sagte, dass intime Beziehungen zwischen ihnen relativ selten seien. Vielleicht sei eine Sporthalle einfach nicht der geeignete Hintergrund für eine Liebe oder das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen insgesamt zu kumpelhaft. Es gäbe Beispiele von Liebe und Heirat, aber nur vereinzelt, möglicherweise deshalb, weil zu wenig Gelegenheit sei, eine feste Bindung zu schaffen, wenn beide Partner ständig unterwegs wären.
„Und Partner von draußen?“, fragte er.
„Das ist auch schwer, erst mal das Kennenlernen, und dann find mal einen, der so viel Verständnis aufbringt.“
„Konkret, hast du schon mal einen gefunden?“
„Ich such erst gar nicht. Wozu? Das wär bloß ein ewiger Schlamassel.“
„Komisch“, sagte er trocken.
„Leistungssport ist nicht komisch.“
Aber er beharrte, doch, das sei komisch.
Verärgert fragte sie: „Du hältst wohl nichts vom Leistungssport?“
Er zuckte die Achseln.
„Was treibst du denn in deiner Freizeit?“
Da lebte er auf. Sie hatte ein Thema getroffen, das ihn vom Hundertsten ins Tausendste brachte. Anscheinend reichte seine Zeit nicht annähernd, um alles zu tun, was ihm in den Sinn kam und woran er Vergnügen fand. Natürlich ging er gern tanzen, und er war für Musik, für Tonbänder und Schallplatten. Damit hatte es aber bei Weitem nicht sein Bewenden. Er schien sich künstlerisch zu betätigen oder handwerklich, irgendetwas in der Art. Corinna sah da nicht recht durch. Was sollte sie zum Beispiel davon halten, dass er Holzscheite sammelte zum Schnitzen von Wandmasken? Sie hörte einen Vortrag über moderne Raumgestaltung, über Malerei, über die Schwierigkeit, Bewegung auf Zeichenpapier festzuhalten, über Ernst Barlach und über den Ausbau von Dachgeschossen zu Wohnraum, über Jugendbrigaden bei der Rentnerhilfe, über das Entsaften von Holunderbeeren, über einen Jungen, der Tapeten geklaut hatte, über einen mit Rosen bemalten Kachelofen, alles in schneller Folge. Und sie betrachtete Tilman Riedel mit einer Mischung von Neugier und Verwunderung.
Als die Serviererinnen zu kassieren begannen, blickte Corinna auf die Uhr. Es war fast zwölf, aus der einen Stunde waren drei geworden. Sie erschrak, und sie dachte an Janni drüben im Hochhaus. Aber anmerken ließ sie sich nichts.
Sie gingen die von Peitschenlampen erleuchtete Betonstraße entlang, die zum Schulgebäude führte, vorbei an Sporthallen und Freiplätzen. Pappeln rauschten in der Dunkelheit, und schmale Pfade führten durch das Sportforum, begrenzt von Rasenstreifen und Blumenbeeten. Corinna dachte an die Bänke, auf denen sie manchmal mit den Mädchen in der Mittagssonne saß und die jetzt irgendwo tief im Schatten standen. Nur ein Wort, eine Kopfbewegung, und Tilman Riedel würde ihr folgen. Sich vorzustellen, was dann geschehen könnte, reizte sie über alle Maßen. Er hatte ihr, gleich als sie das Café verließen, seine Jacke aufgedrängt. denn ein nächtlich kühler Wind strich über die Anlagen hin. Nun empfand Corinna den Geruch des fremden Kleidungsstückes wie ein Versprechen, wie ein Vorgefühl unbekannter Freuden, die vor ihr lagen, solange sie das Internat noch nicht erreicht hatte, dann aber fort sein würden, womöglich für immer.
Tilman Riedel schwieg. Corinna spürte, dass er die Schritte zählte, genau wie sie. Was hielt ihn davon ab, wenigstens die Hand nach ihr auszustrecken? Meine fischige Art, dachte Corinna, mit jeder anderen würde er sich in die Büsche schlagen. An die Uhrzeit dachte sie überhaupt nicht mehr, nur daran, wie sie ihm klarmachen könnte, dass sie durchaus nicht fischig war.
Zum Internat konnte man zwei Wege wählen, einmal den vorschriftsmäßigen bis zur Schule und dann rechts herum übereinen mit Steinplatten belegten freien Platz oder einen unvorschriftsmäßigen Trampelpfad über eine Rasenfläche, der die Strecke abkürzte. Corinna deutete auf den Trampelpfad.
„Besser hier lang, es ist schon spät.“
Tilman nickte und trottete hinterdrein. Geheimnisvoll scheppernd schlug ihm die Tasche gegen die Hüfte, und das war alles, was Corinna von ihm wahrnahm. Jungen gibt es, dachte sie ärgerlich, die kann man durch einen stockdunklen Tunnel führen, und sie begreifen nichts.
Dann hörte sie ihn etwas murmeln. Sie blieb sofort stehen.
„Was brummst du da?“
„Ich versuche mich zu erinnern.“
„An die goldenen Tage deiner Kindheit?“
Er lachte leise und setzte die Tasche ab. Corinna sah es mit Genugtuung.
„Ich weiß nicht mehr“, sagte er, „wie du mich genannt hast, einen Typ zum Gernhaben, war’s nicht so?“
Sie stieß die Luft durch die Nase. Der Kuss, den sie ihm bestenfalls angeboten hatte, genügte ihm nicht. Und ausgerechnet jetzt fing er davon an, als habe er mit Bedacht den Augenblick gewählt, da sie es bedauern würde, wenn er ginge. Sie ließ einige Sekunden verstreichen. Er wartete. Also bestand er auf einer Antwort. Gut, dann sollte er sie haben.
„Du weißt genau, wie ich dich genannt habe, und davon gehe ich auch nicht ab. Du solltest dir meine Worte besser merken. Zum Beispiel habe ich auch gesagt, dass ich mich nicht festlegen will.“
„Schade“, sagte er.
Sie hatten das Lichtband der Peitschenlampen verlassen. Auf der Rasenfläche, wo sie sich gegenüberstanden, traf sie der bleiche Schein nur noch schwach.
„Du bist Maßarbeit“, fuhr er fort. „Ich hab Mädchen gekannt, die waren zu groß oder zu klein für mein Herz, zu rund oder zu eckig, zu weich oder zu hart. Keins wie dich. Du bist auf den Millimeter genau zugeschnitten und aus einem Material, da könnt ich jahrelang nachsuchen. Denk dir, du fändest einen Bernstein, solch einen, wie es ihn vielleicht einmal in hundert Jahren gäb, und gerade, als du nach ihm greifen willst, reißt die nächste Welle ihn zurück. Wär's nicht besser, du hättest ihn nie gesehen?“
Corinna schwieg. Sie kannte diesen Jungen erst wenige Stunden, aber sie wünschte sich, ihn immer schon gekannt zu haben, damit sie ihn besser einschätzen könnte. Sprach er so zu jedem Mädchen? Er hatte sein Herz erwähnt. Und dann den Bernstein.
Sie ging ein Stück den Trampelpfad entlang und kehrte zurück. „Ich wundere mich bloß, wie du so bombensicher sein kannst“, sagte sie. „Ehrlich, ich weiß nicht, ob du ein Bernstein bist oder ein Kieselstein oder ein Korken, der immer obenauf schwimmt. Wenn ich’s mir aber aussuchen könnte, würde ich den Korken wählen, verstehst du?“
„Ja“, antwortete er, „leicht und ohne Tiefgang. Einverstanden, ich bin der Korken.“
Damit nahm er sie in die Arme und küsste sie. Corinna war es, als küsste sie zum ersten Mal. Alle Küsse vorher waren nichts gewesen gegen diesen.
Als er sich von ihr löste, sagte sie: „Jetzt fällt mir ein, es gibt ja auch noch Feuersteine!“
„Ja“, bestätigte er, „damit kann man Funken schlagen.“
Er wollte zu erneutem Funkenschlagen ansetzen. Corinna wich ihm lachend aus. Sie wies zum Hochhaus.
„Was meinst du, wie es da funken wird, wenn ich jetzt erst komme.“
„Im Ernst?“ Er war überrascht, neigte verwundert den Kopf zur Seite und verfiel in Nachdenken. „Pass auf, du wirst an der Haustür warten. Sowie du mich husten hörst, ist der Wächter ausgeschaltet.“
Corinna folgte ihm. Unternehmen dieser Art schienen seine Spezialität zu sein. Er drückte die schwere Haustür auf, ging hinein, stellte seine Tasche zu Boden, sodass sie die Tür einen Spalt offen hielt und rief atemlos: „Schnell, telefonieren Sie! Mein Großvater hat einen Herzanfall.“
Corinna hörte den Pförtner murmeln. Wahrscheinlich fragte er, was der herzkranke Großvater nachts im Sportforum zu schaffen habe oder ähnliches, denn Tilman erwiderte heftig: „Er wollte an die frische Luft!“
Es vergingen einige Sekunden, bis er in keuchenden Husten ausbrach. Da stieg Corinna über die Tasche hinweg, bückte sich tief und huschte am Fenster der Pförtnerloge vorbei. An der Treppe blickte sie zurück. Der Pförtner saß abgewendet und lauschte ins Telefon. Tilman hustete immer noch, um verdächtige Geräusche zu übertönen, und versperrte dem Pförtner die Sicht, indem er sich links und rechts gegen den Fensterrahmen stützte.
Corinna lief die Treppe hinauf, schlüpfte aus den Sandalen und lief barfuß weiter. Zweiter Stock, dritter Stock. Sie hörte den Pförtner rufen: „Junger Mann, wo sind Sie geblieben!“ Corinna lachte vor sich hin. Fünfter Stock, sechster Stock. Nächtliches Konditionstraining, dachte sie, auch nicht schlecht. Achter Stock. Der Korridor lag im bläulichen Dämmerschein der Notbeleuchtung. Dritte Tür rechts. Corinna drückte die Klinke langsam nieder und schob sich hinein.
Janni fuhr im Bett hoch und machte die Leselampe an.
„Was ist passiert!“
Corinna warf mit Schwung die Sandalen mitten ins Zimmer. Schroffer als beabsichtigt, erwiderte sie: „Du bist wie meine Mutter. Immer diese Katastrophenahnung, sowie mal was ein bisschen aus der Reihe ist.“ Von einer Sekunde zur anderen war ihre Stimmung umgeschlagen. Auf der Treppe hatte sie gelacht und alles mit Tilmans Augen gesehen. Jetzt sah sie mit Jannis Augen sich heimlich ins Haus schleichen, barfuß und unter lügenhaften Täuschungsmanövern.
„Was war denn?“, fragte Janni eingeschüchtert.
Corinna zuckte die Schultern. „Ein Spaß, mehr nicht.“
„Mit dem Jungen?“
„Ja. Wir waren im Terrassencafé.“
„Und was hat der Pförtner gesagt?“
„Gar nichts, weil der Drachenbezwinger ihn ausgeschaltet hat.“ Sie lachte und setzte sich zu Janni aufs Bett. „Wenn du wüsstest, wie komisch das war!“ Und sie begann zu erzählen, denn im Grunde waren ihr Lügen und Heimlichkeiten fremd. Janni war stets Corinnas Echo. Empörte sich Corinna, war auch Janni aufgebracht, nahm Corinna etwas leicht, beschwerte es auch Janni nicht.
Aber nun blieb Janni seltsam ernst. Sie hielt den Blick abgewendet und strich mit den Händen über die Bettdecke.
Corinna sah sie forschend an. „Sag lieber gleich, wenn du Alarm geschlagen hast.“
„Alarm geschlagen hab ich nicht!“
„Sondern?“, fragte Corinna.
„Na ja, ich hab dich überall gesucht, im Fernsehraum unten und in der Bibliothek.“
Corinna saß vorgeneigt, das Kinn auf die Fäuste gestützt. Sie war nicht irgendwer, sie war Corinna Döhring, der Mannschaftskapitän — und hatte sich heimlich ins Haus geschlichen. Unbehagen erfasste sie und ein wachsender Groll gegen Tilman Riedel, obwohl der nur gehandelt hatte, wie er zu handeln gewohnt war, während sie ...
Corinna seufzte.
In dem Augenblick fragte Janni: „Hat Riedel dir seine Jacke geschenkt?“ Und da war es, als wäre er wieder im Zimmer. Seine Stimme, sein Kuss, seine Umarmung waren Corinna gegenwärtig. Sie lachte, zog die Jacke aus und betrachtete sie neugierig. Es war eine kurze, ziemlich abgetragene Jeansjacke mit zugeknöpften Brusttaschen, deren Inhalt Corinna gern untersucht hätte. Sie verzichtete darauf, weil Janni sie verwundert ansah, und hängte die Jacke an den Kleiderhaken neben der Tür.
„Geschenkt natürlich nicht, nur geliehen“, sagte sie.
Janni ließ sich in die Kissen zurücksinken. Nach einer Weile, als auch Corinna sich ausgezogen hatte und im Bett lag, sagte Janni: „Mich sollt‘s nicht wundern, wenn Riedel morgen wieder auftaucht, um seine Jacke einzutreiben, und zwar als Lumpen sammelnder Pionier verkleidet.“
Corinna lachte.
„Oder“, fuhr Janni fort, „er dringt, als Fensterputzer getarnt, in den Mädchenduschraum ein.“
„Vielleicht kommt er auch als Vertreter des Veteranenklubs, um unsere Singegruppe zu Gast zu bitten.“
„Am Stock natürlich, mit greisenhaftem Kopfwackeln.“
„Ja“, sagte Corinna, „möglich ist alles, einfach alles bei Tilman Riedel.“
Wie ein ferner, feuchter Schleier hing Nieselregen über dem Stadion, streifte Corinnas Gesicht und blieb an ihren Haaren haften. Sie liebte jedes Wetter. Zu dieser frühen Morgenstunde war es ihr, als könnte sie Stunde um Stunde das Stadion umkreisen. Manchmal überkam sie eine Lust, das Tempo zu beschleunigen, schneller und schneller zu werden bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit, und einen lauten Schrei auszustoßen.
Aber sie hielt das Tempo besonnen ein. Randolf hatte genaue Anweisungen gegeben. Daran dachte sie, während sie lief. Hinter sich hörte sie Rosi schnaufen. Rosi, die beim Krafttraining, bei der Arbeit mit Gewichten, nicht zu übertreffen war, hatte zu kämpfen beim Ausdauertraining. Führte Corinna die Gruppe auch nur eine Spur zu schnell, glaubte Rosi gleich, ihr persönlich solle eins ausgewischt werden, denn sie war sehr leicht zu kränken. Groß und kräftig, wie sie war, schlug sie Schmetterbälle von enormer Schärfe. Dass ihr dafür Corinnas katzenhafte Behändigkeit fehlte, hätte sie gut und gern verschmerzen können, Rosi jedoch wollte immer die Beste sein. Corinna hatte ihre liebe Not mit ihr. Insgeheim versuchte Rosi, an Corinnas Position als Kapitän zu rütteln.
Corinna, so sehr sie auch darauf bedacht war, sich zu behaupten und durchzusetzen, hatte vor allem Spaß daran, herauszufinden, wozu sie fähig war. So manches Mal hatte sie ihre Eltern damit erschreckt. Sie schrie wie ein wilder Vogel, und wenn man sich nach ihr umdrehte, hing sie kopfüber an der Teppichstange oder wippte in den Zweigen des alten Walnussbaumes hinter dem Haus. Mit vier Jahren konnte sie schwimmen, mit fünf Jahren Fahrrad fahren, mit acht Jahren Tennis spielen, mit zehn das Segelboot ihres Vaters steuern, mit zwölf entschied sie sich für Volleyball, mit vierzehn wurde sie zur Kinder- und Jugendsportschule delegiert und nahm zum ersten Mal an der zentralen Spartakiade teil.
Seitdem hatte sie ein festes Ziel. Sie zweifelte nie, dass sie es erreichen würde. Was sie wollte, hatte sie bisher immer erreicht, also würde sie auch eines Tages eine olympische Medaille tragen. Aufhalten und zurückwerfen konnten sie höchstens Verletzungen. Davor hütete sie sich, so gut es ging. Manchmal, wenn sie an Frosttagen die Eisschollen auf der Ostsee treiben sah, reizte sie wohl noch das Verlangen, tollkühn von Scholle zu Scholle zu springen, wie sie es als Kind getan hatte. Aber eine gewisse Besonnenheit hatte sie sich mittlerweile erworben, oder vielmehr, sie war ihr beigebracht worden.
Heute konnte sich Randolf darauf verlassen, dass ein Ausdauertraining auch ohne ihn, unter Corinnas Führung, auf die Minute genau und unter Berücksichtigung des Leistungsvermögens der gesamten Gruppe absolviert wurde. Deshalb achtete Corinna auf Rosis Schnaufen. Die Stimmung in der Gruppe war wichtig. Müdigkeit durfte aufkommen, Verdrossenheit nicht. Der Regen war den Mädchen sogar willkommen. Er streifte ihre erhitzten Gesichter.
Später brannte das Wasser auf der Haut, erst heiß, dann kalt. Im Duschraum rauschte es aus den weit aufgedrehten Brausen. Dampfwolken beschlugen die Milchglasscheiben der Fenster und die blau gekachelten Wände.
Rosi bearbeitete mit einer scharfen Bürste ihre Hüften und Oberschenkel. Sie war in den Ferien wieder dicker geworden und setzte nun ihre Hoffnung auf Sauna und Massagen. Aber hinterher, kaum saß sie im Umkleideraum, packte sie Leberwurstbrote aus.
Die Mädchen lachten.
Renate warf einen raschen Bück zu Corinna. Dann sagte sie: „Rosi, hast: du schon mal was von Konsequenz gehört?“