Eva und der Tempelritter - Christa Grasmeyer - E-Book

Eva und der Tempelritter E-Book

Christa Grasmeyer

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Beschreibung

Solange Eva zurückdenkt, lebt sie mit dem Vater und der Oma allein. An die Mutter kann sie sich nicht mehr erinnern, sie war kaum zwei Jahre alt, als sie starb. Nun ist Eva vierzehn, sie steckt voller Heiterkeit und lustiger Einfälle, bei allen ist sie beliebt. Nur Uwe Tempel schaut immer ein bisschen gelangweilt und überlegen über sie hinweg, wenn wieder einmal auf dem Schulhof die Lacher auf ihrer Seite sind. Der beste Kumpel, den sie hat, ist der Vater. Er rümpft nie die Nase über sie, er schimpft nicht, nimmt gelassen auch wenige Mal ist alles anders geworden. Ausgerechnet in die Mutter dieses Tempel hat sich ihr Vater verliebt, das verzeiht sie ihm nicht. Ihr wird ganz bestimmt was einfallen, um den beiden die Suppe gründlich zu versalzen. Und auch Uwe ist nicht gewillt, sein Vorrecht bei der Mutter aufzugeben. Christa Grasmeyer erzählt frisch und spannend, sie trifft die Mentalität der Vierzehnjährigen, versucht ihre Kompliziertheit zu deuten und ihre Schroffheit, hinter der sich oft mehr Zartgefühl verbirgt, als manche Erwachsenen vermuten. LESEPROBE: „Also doch“, sagt Uwe und blickt an Eva vorbei auf die Schüler, die um sie herum die Hofpause genießen. Evas heimlichen Zeichen ist er nur widerwillig gefolgt. Er hat sich schon geärgert, dass er sich verleiten ließ, an jenem Regentag auf der Fahrt nach Klüssow vorübergehend das Visier zu lüften. Und hat sie das nicht gleich ausgenützt, versucht, ihn einzuwickeln und weich zu machen? Nun aber zeigt sich, dass mehr hinter ihren Gebärden steckte als Wichtigtuerei. Dieser Geheimplan seiner Mutter, Evas Vater zu heiraten, bedeutet auch für Uwe einen schweren Schlag. „Du sagst, die Heirat ist beschlossene Sache?“ „Genau.“ „Und das hat dein Vater dir anvertraut?“ „Anvertraut ist gut! Ich hab ihn so in die Enge getrieben, dass er keine Ausflüchte mehr machen konnte.“ Sie hat Mut, denkt Uwe, sie lässt nicht locker. „Leicht hat dein Vater es nicht mit dir, was?“ „Ich hab meinem Vater nie das Leben schwer gemacht, alles war immer so schön und so leicht.“ „Jetzt nicht mehr?“, fragt Uwe. „Nein“, sagt sie. Er nickt. „Was willst du machen?“ „Ich weiß nicht.“ Eva starrt vor sich hin. „Ich stell mir nur vor, wie alles sein wird, und dann könnt ich heulen.“ „Aufgeben“, murrt Uwe, „kapitulieren! Du streust die Blumen, ich halte die Schleppe, so soll wohl die Hochzeit sein.“ „Und deine Mutter, die errötende Braut ...“ „Hör auf! Meine Mutter ist völlig durchgedreht, aber du hast darüber keine Witze zu machen!“

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Impressum

Christa Grasmeyer

Eva und der Tempelritter

ISBN 978-3-95655-029-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1975 im Verlag Neues Leben, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Als Eva vom Baden nach Hause kommt, ist es fast neun Uhr. Sie geht durch den Garten um das Haus herum und hängt den Badeanzug auf die Leine. Raune, die kleine Dackelhündin, liegt ausgestreckt in der Sonne. Die Veranda ist leer. Neben dem Arbeitszimmer des Vaters befindet sich sein Schlafzimmer. Die Schiebetür ist aufgezogen, die Tür zum Garten hinaus weit geöffnet.

Eva läuft über die Diele zum Bad. Sie lacht. Wer Papas Badegeräusche nicht kennt, könnte glauben, er sei damit beschäftigt, ächzend und stöhnend einen Brand zu löschen. Eva schlägt gegen die Tür.

„Hast du dich erschreckt?“, ruft sie.

„Gar nicht.“

„Doch, du hast dich erschreckt.“

„Nein.“

„Und wie du dich erschreckt hast!“

„Also gut, ich hab mich furchtbar erschreckt.“

Befriedigt eilt Eva in die Küche. Sonntags richtet sie meistens das Frühstück an, weil Oma sich einmal in der Woche Zeit lässt und weil Eva es auch gar nicht anders haben will. In der Veranda deckt sie den Tisch. Das Telefon klingelt.

„Bei Doktor Plessin“, sagt Eva, während sie den Vater schon kommen hört. Er rennt immer, als sei ein Rinderbestand am Verenden. Da steht er, die Hände nass, die Haare nass und nass das Gesicht, noch ohne Brille, den Bademantel über der Brust geöffnet.

Eva beobachtet ihn. Sie findet es durchaus begreiflich, dass so viele Frauen ihn mögen. Eine Mutter hat sie nicht mehr, nicht einmal eine Erinnerung. Als ihre Mutter mit dem Auto über die Böschung fuhr, war Eva erst zwei Jahre alt. Auf dem Friedhof gibt sie sich Mühe, traurig zu sein. Aber es geht nicht. Sie sieht ihren Vater an und denkt, viel schlimmer wär’s, wenn er gestorben wäre. Er ist ein ungewöhnlicher Vater, einmalig für Evas Begriffe und mit anderen Vätern nicht zu vergleichen. Neulich hat er sich aus einem Kaninchenfell einen Bart und buschige Augenbrauen gemacht und vom Garten aus so lange still zum Küchenfenster hineingesehen, bis Oma ihn plötzlich entdeckt und stöhnend auf einen Stuhl gesunken ist. Sein Haar wird schon grau, und seine Stirn ist von Falten durchzogen, da er die Brauen ständig bewegt beim Sprechen. Trotzdem ist er vor vier Wochen, bei Evas Jugendweihe, der schönste Vater weit und breit gewesen. Jedenfalls hat es darüber bei Eva keinen Zweifel gegeben. Sie ist stolz auf ihn gewesen.

Auf dem Heimweg hatte sie im Wagen neben ihm den Ehrenplatz inne. Oma hielt auf dem Rücksitz den Blumenstrauß und war noch immer so gerührt, dass sie kaum sprechen konnte. Eva in ihrem gelben Kleid, die Haare zum ersten Mal vom Friseur kunstvoll aufgesteckt, hielt ihr Täschchen in den Händen, schlug die Beine übereinander und betrachtete entzückt ihre neuen Hackenschuhe.

Der Vater sah sie von der Seite an und bemühte sich zu verbergen, wie sehr sie ihn erheiterte, und dann sagte er auf einmal: „Evchen, mein Mädchen, du bist nun eine Eva geworden. Ich alter Knacker werde stolz sein, mit einer so eleganten Dame verreisen zu dürfen.“

Aber von einer Reise war doch noch gar nicht die Rede. Es stellte sich heraus, dass dies seine besondere Überraschung war, zu den vielen Geschenken zur Jugendweihe nun auch noch dies. Für den Sommerurlaub hatte Papa für sich und seine Tochter eine Reise nach Prag geplant.

Die Fahrt musste unterbrochen werden. Eva umarmte den Vater und juchzte. Oma schüttelte den Kopf. Sie hatte zu ihrer Konfirmation nur ein Gesangbuch bekommen und von der Mutter ein selbst geschneidertes Kleid. Ja, aber Oma war ein Tagelöhnerkind, und so etwas gibt es heute nicht mehr.

Eva denkt oft an die Reise nach Prag. Sie kommt ihr vor wie ein Stern, der ferne leuchtet, denn bis zu den Ferien sind noch acht lange Wochen zu überstehen.

„Reg dich nicht auf, Paul“, sagt der Vater. „Wir werden sehen ... In einer Stunde bin ich da. “

Der gedeckte Tisch in der Veranda lässt ihn wohlgelaunt die Hände reiben. Eva seufzt im Stillen, sie hat den Vater nur eine Stunde, und die vergällt sie ihm und sich selbst auch noch. Man hat es wirklich nicht leicht.

Papa beugt sich vor mit fragendem Blick „Ist etwas schiefgegangen? Ist dein Badeanzug kaputt?“ Eva kichert. Schon schwindet ihr Kummer. „Ach wo“, sagt sie, „du musst nur wieder mal deinen Namen schreiben.“ Klagend blickt er zum Himmel. „Zeig her“, sagt er, auf Schlimmes gefasst.

Eva beruhigt ihn. Sie will seine gute Stimmung erhalten und kündigt einen Elternabend an, als handle es sich um eine belanglose Angelegenheit. Aber der Vater hat Verdacht geschöpft. „Keine Ausflüchte! Was erwartet mich da?“

„Frau Schulz erwartet dich“, mault Eva.

„Schieß los“, sagt er nur und lehnt sich im Korbstuhl zurück. Es hilft nichts, Eva muss Farbe bekennen. Im Grunde ist nicht neu, was sie sagt. Mit Russisch, Mathematik und Physik plagt sie sich nicht erst seit gestern herum, aber jetzt sind ihre Dreien wackelig geworden. Vieren tauchen immer häufiger auf und können sogar im Zeugnis erscheinen. Der Vater richtet sich auf und nimmt die Brille ab. Eva geht rasch über zu anderen Fächern, die ihr mehr Vergnügen bereiten. Der Vater winkt ab. „Das ist uninteressant. Konzentrieren muss man sich auf seine Schwächen, und deine Schwäche ist, dass du nicht lernst. Du magst dich einfach nicht anstrengen.“ Natürlich hat er recht, aber Eva gibt es nicht zu. „Kann man denn behalten, was man langweilig findet? Kann man seine Gedanken zwingen, andere Wege zu gehen?“

„Und ob man kann!“, unterbricht sie der Vater. Er setzt die Brille wieder auf. „Evchen, warum versagst du zum Beispiel in Russisch? Du lernst keine einzige Vokabel. Hast du gar keinen Ehrgeiz? Bald beendest du die achte Klasse und weißt noch nicht einmal, welchen Beruf du ergreifen möchtest.“

Er ist aufgestanden, hat sich in Schwung geredet. Er sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, ernsthaft seines pädagogischen Amtes zu walten. Von Zeit zu Zeit besinnt er sich auf diese Pflicht, ungern zwar, aber wenn es schon sein muss, dann mit Temperament und mit beredtem Eifer.

Eva, wie sie ihn so gestikulieren sieht, wagt nicht zu erwidern. Dass sie am liebsten Schlagersängerin werden würde. Das wäre nur Wasser auf seine Mühle, und sie muss ihn im Gegenteil zu beruhigen versuchen. „Ich hab doch noch zwei Jahre Zeit“, murmelt sie.

Der Vater aber verbreitet sich darüber, wie rasch die Zeit im Leben eines Menschen verfliegt. Arbeit, Arbeit sei das Leben! Verdrossen kommt er zu dem Schluss, dass erzieherische Maßnahmen ergriffen werden müssen. „Du wirst künftig mehr zu Hause sein und arbeiten, unter Omas Aufsicht!“

Allzu ernst sind seine Worte nicht zu nehmen. Meistens vergisst er seine Drohungen schnell. Trotzdem ist Eva verstimmt, und der schöne Morgen scheint gründlich verdorben. Zum Überfluss kommt auch noch Oma auf die Veranda.

Oma ist „klein für ihr Alter“, wie der Vater zu sagen pflegt, nicht größer als Eva, und zu ihrem Schwiegersohn muss sie aufblicken. Aber wie alle kleinen Menschen hält sie sich sehr gerade, und da sie außerdem schlank ist und mit einem liebenswürdigen Anflug von Eitelkeit ihr früh weiß gewordenes Haar stets sorgfältig frisiert, sogar mit Löckchen an den Schläfen, wirkt sie „insgesamt zurückgeblieben und nicht altersgemäß entwickelt“. Diese respektlosen Worte ihres Schwiegersohnes deutet Oma aber ganz richtig als Kompliment, und wenn sie dazu auch den Kopf schüttelt, dass die Schläfenlöckchen wippen, so fühlt sie sich doch geschmeichelt. In Wahrheit ist sie alles andere als zurückgeblieben. Vor ihren Augen etwas geheim zu halten, ist nicht leicht. Auch damit neckt sie der Vater. „Wozu kommt der Röntgenzug nach Klüssow? Wir haben ja Oma!“ Aber eigentlich ist ihm Omas Röntgenblick nicht ganz recht, und Eva schon gar nicht.

Auch jetzt ist Oma wieder sofort im Bilde, obwohl Eva sich rasch abwendet und der Vater unsicher zu husten beginnt.

„Das stimmt“, sagt Oma, an seine letzten Worte anknüpfend, die sie natürlich gehört und richtig gedeutet hat. „Wenn Eva so viel umherstrolcht, muss es Ärger mit der Schule geben. Aber auf mich hört ja keiner. Was ist los?“ Oma muss informiert werden, es geht nicht anders. Sie nickt, als fände sie längst Geahntes bestätigt. „Du bist so oft in der Stadt“, sagt sie zum Vater, „nur in der Schule lässt du dich nicht sehen. Früher, als Evchen noch in Klüssow zur Schule ging, hörte man immer Gutes. Warum jetzt nicht mehr?“ Eva starrt vor sich auf den Teller, um Oma nicht anzusehen. Vom Vater ist diesmal keine Hilfe zu erwarten, er fühlt sich selbst in die Enge getrieben. Plötzlich ist er in größter Eile. Er tippt auf seine Armbanduhr. „Ich muss ja los und bin noch nicht einmal angezogen!“ Bei dem Gedanken fährt er beinahe freudig auf.

„Mit einem Mal?“, fragt Oma erstaunt.

„Wegner hat angerufen.“

„Ja, das stimmt“, bestätigt Eva rasch, als müsse sie ihren Vater verteidigen oder sein Tun rechtfertigen. Dazu ist sie immer bereit, auch wenn es gar nicht nötig ist.

Oma blickt von einem zum anderen. Sie hat sich wohl eine Aussprache erhofft.

Eva folgt dem Vater ins Arbeitszimmer. Sie hält ihm das aufgeklappte Heft entgegen. „Bitte, Papa, unterschreib!“

Sie ist ganz geknickt und kleinlaut. Das kann er, wie sie weiß, nur schwer ertragen. Er muss an sich halten, um sie nicht in den Arm zu nehmen und zu trösten, so wie er es früher oft getan hat, damals, als die schlechten Zensuren noch selten kamen. „Nimm’s nicht so schwer, mein Fräulein“, sagte er dann und erzählte ihr schnell eine lustige Sache, die ihm passiert war. Ihm passieren oft so merkwürdige Sachen, und heute weiß Eva längst, dass er sich die meisten ausdenkt. Er liebt es, Schnurren und komische Dinge zum Besten zu geben, und während seine Zuhörer sich ausschütten vor Lachen, bleibt er todernst, aber auf eine besondere Weise, die eben auch wieder komisch wirkt.

Jetzt steht ihm nicht der Sinn danach. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, rückt an der Brille, liest langsam wie ein ungeübter Leser, was Eva sich eingetragen hat, und schreibt schließlich hustend seinen Namen darunter. So hustet er in unbehaglichen Situationen, wenn er ärgerlich, überrascht oder verlegen ist.

„Also“, brummt er und liest noch einmal alles durch, „ja, also ...“ Er klappt das Heft zu wie einen Vertrag, der ihm nur noch die Hälfte seines Gehaltes zusichert. „Also dann ...“ Beunruhigt wartet Eva, zu welchen Schlussfolgerungen er kommen wird.

„Also dann muss ich übermorgen zur Schule fahren und kann nicht ins Theater gehen“, sagt er.

2. Kapitel

„Guck mal hier!“ Evas Freundin Ingrid, die auch in Klüssow wohnt, zeigt auf die Ehrentafel der Schule. „Der Tempelritter hat im Kreisausscheid den 800-m-Lauf für unsere Schule gewonnen.“

Eva rümpft die Nase. „Wenn er viermal in der Woche trainiert, muss ja wohl wenigstens das dabei rauskommen.“

Die Mädchen schleppen ihre Schultaschen die Treppe hinauf.

„Was du immer gegen den Tempelritter hast.“ Ingrid wundert sich. „Er kann machen, was er will, immer hackst du auf ihn los.“

„Das verstehst du nicht, Ingrid. Du nennst ihn Tempelritter, sagst seinen Spitznamen und weißt, glaub ich, nicht mal, warum.“

„Na, warum denn? Du nennst ihn doch auch so.“

„Eben, und du plapperst das nach, total gedankenlos. Der Sinn ist aber, dass Tempel ekelhaft stolz ist, als wär er was Besseres, und bei jedem Blödsinn und Ulk macht er sein Visier zu und hat ewig den Schild oben, dass man bloß nicht an ihn rankommt.“

„Willst du denn an ihn ran?“, fragt Ingrid arglos.

Eva lacht laut und verächtlich. Eine Antwort gibt sie nicht, damit Ingrid endlich den Mund hält. Die merkt aber wieder mal nichts.

„Ich finde Uwe Tempel sogar nett“, sagt sie. „Er ist nie grob und pampig wie andere Jungen, sondern ... na, freundlich und so.“

„Herablassend“, faucht Eva, „herablassend freundlich! Damit hat er aber bei mir kein Glück.“

„Das versucht er ja auch gar nicht.“

„Woher willst du das wissen?“, fragt Eva. Sie lässt Ingrid einfach stehen und wendet sich anderen Mädchen zu.

„Seht mal, so müsst ihr eure Taschen tragen, wenn ihr nicht schief und krumm werden wollt!“ Sie hebt ihre Schulmappe auf den Kopf. „So tragen die Negerfrauen ihre Wasserkrüge.“

Würdig schreitet sie in den Klassenraum. Wie immer schafft sie sich einen Auftritt. Klaus Pitters, kaum wird er Eva gewahr, nimmt er einen Blumentopf vom Fensterbrett und ahmt sie nach. „So müsst ihr eure Taschen tragen“, flötet er.

Eva pufft ihm in die Rippen. Ihre schwere Mappe kracht zu Boden, und beinah wäre mit dem Blumentopf das gleiche geschehen. Auflachend wirft Eva sich auf ihren Platz neben Elisabeth Voß. Sie blinzelt der Freundin zu und legt die Einladung mit der Unterschrift auf den Tisch.

Sogleich wird Elisabeth ernst. „Was hat dein Vater gesagt?“

Eva weicht aus. „Du kennst ihn doch. Er kippt nicht so leicht aus den Pantinen.“

„Er hat es überhaupt nicht ernst genommen?“, fragt Elisabeth verständnislos.

„Doch, doch, er hat eine Rede gehalten.“

Eva lacht und schaukelt mit dem Stuhl, aber sie fühlt sich nicht wohl dabei. Elisabeth kann man nichts vormachen.

„Elschen“, schmeichelt sie, „lach doch mal.“

„Worüber denn?“, fragt Elisabeth betrübt.

Eva legt die Hände an Elisabeths Gesicht und dreht den Kopf der Freundin zu sich herum. „Sollst sehen, ich bring dich schon zum Lachen. Ich steck bis zum Hals voll guter Vorsätze. Bis zum Zeugnis schaff ich alles, alles, was du willst.“

„Was ich will? Du musst wollen! Du stellst dir das so einfach vor. Sorgen können sich andere machen, du nicht. Ich bin nicht nur deine Freundin, ich bin auch FDJ-Sekretär. Wirst du die Vokabeln heute wieder vom Zettel ablesen?“

„Nein, nein“, sagt Eva beruhigend.

„Und ich? Soll ich, wenn das mal rauskommt, so tun, als hätte ich nichts gesehen? Oder soll ich dich entschuldigen? Das kann ich nicht. Gute Vorsätze allein nützen gar nichts. Du musst sie wahr machen.“

„Ja, ja“, sagt Eva wieder beschwichtigend.

Aber gerade dies bringt Elisabeth auf. „Nein, nein, ja, ja, fällt dir nichts Besseres ein?“

„Doch, doch“, antwortet Eva in gleichem sanftem Ton. Die Freundin wendet sich gekränkt von ihr ab. Da lenkt Eva ein.

„Ehrlich“, sagt sie, „ich will mir jetzt Mühe geben. Ich nehme dein Angebot an.“

„Du willst nachmittags kommen und mit mir Mathe machen?“, fragt Elisabeth.

Eva nickt.

„Und Russisch auch?“

„Russisch auch.“

Da erhellt sich Elisabeths Miene. Sie weiß, dass sie Eva besser beeinflussen kann als jeder andere. Sie ist fast vier Jahre lang mit ihr befreundet. Würde man sie fragen, warum sie ausgerechnet an Eva hängt, sie wüsste keine Antwort. Vom ersten Tag an, als Ingrid Beckmann und Eva Plessin zu Beginn des fünften Schuljahres neu in die Klasse kamen, fühlte Elisabeth sich zu Eva hingezogen. In Klüssow gab es nur eine Teiloberschule, und wie alle Kinder aus Klüssow mussten nun auch Eva und Ingrid täglich die sieben Kilometer zur Stadt fahren. Damals beobachtete Elisabeth die unternehmungslustige Eva. Obwohl die beiden Mädchen so verschieden waren, entstand eine Freundschaft, die sich als stabil erwies. Auch Ingrid ist Evas Freundin, aber Elisabeth ist die einzige, von der Eva sich geduldig alles anhört und manches sogar zu Herzen nimmt, besonders, wenn sie mit Elisabeth allein ist.

Im Kreise der Kameraden aber ist Eva sofort abgelenkt und fährt herum, weil Peter mit dem Lineal ihre zu einem Pferdeschwanz aufgebundenen Haare anhebt.

Sie steigt auf den Stuhl, ihre Augen leuchten. Klaus nimmt sie und trägt sie an die Tafel. „Leichter als Löschpapier! Wo ist der Papierkorb?“

Eva breitet die Arme aus. „Helft mir, helft mir!“ Getümmel umgibt sie.

In dem Augenblick erscheint Uwe Tempel in der Tür. Gelassen schiebt er sich durch die in Unordnung geratenen Tische und Stühle. An seinem Tisch setzt er die Tasche ab, bewegt die Schultern mit lässigem Schütteln und sagt zu Manfred Stark, der neben ihm am Fenster steht: „Unmöglich, diese kleine Plessin!“

Das ist nicht einmal laut gesprochen, nur so nebenbei, aber alle haben es gehört. Merkwürdigerweise hören immer alle, was der Tempelritter sagt.

Eva steht starr. In ihr Gesicht tritt dunkle Röte. Langsam nähert sie sich Uwe, bis sie schließlich dicht vor ihm steht, einen Kopf kleiner als er, aber aufgerichtet und kampfbereit. „Passt dir was nicht, du Spielverderber?“

„Spiel doch ruhig, Mädchen, ich störe dich nicht.“

Sein ironisches Lächeln bringt Eva außer sich. „Was grinst du so blöde? Sieh zu, dass ich dir nicht eine reinschlage in dein Grinsen, aber richtig!“

Uwe neigt sich vor. „Na los, du Küken. Und was dich betrifft: Dich sollte dein Vater mal übers Knie legen, aber richtig.“

Lachen kommt auf. Eva weicht zurück. Laut und triumphierend ruft sie: „Woher willst du denn wissen, wie Väter mit ihren Kindern umgehen?“

Eine böse, sogar gehässige Anspielung, denn Uwe Tempel lebt mit seiner Mutter allein.

Manfred schiebt sich in den Kreis. „Das war wohl ein Schlag unter die Gürtellinie, was?“

Eva blickt umher. Sie sieht die Betroffenheit in den Mienen der anderen. „Er soll mich in Ruhe lassen“, sagt sie trotzig, aber schon im Rückzug begriffen.

An ihrem Platz kramt sie hastig Bücher und Hefte hervor.

3. Kapitel

Eva hebt den Kopf und horcht. Draußen läuft der Motor von Papas Wagen. „Fräulein!“, schallt es zu ihr herauf. Sie stürzt ans Fenster, lehnt sich vor und reißt beinahe die Gardine herunter, weil sie hinter sich mit den Beinen in der Luft hangelt. Unten steht der Vater vor den Fliederbüschen.

„Willst du mit?“

„Klar!“

Evas Gepolter auf der Treppe lockt Oma aus der Küche.

„Wohin?“

„Papa holt mich ab.“

„Doch nicht so, halt! Die alten Hosen ...“

Eva hört nicht, sie stürmt schon durch den Vorgarten und schwingt sich über die Pforte. „Da bin ich.“ Auf dem abgewetzten Polster im Wagen muss sie erst mal verschnaufen. Der Vater kurvt über den Sandweg.

»Oma kam ja ganz aufgeregt zur Tür gelaufen, wollte sie auch mit?“

Eva lacht. „Das wäre was. Nein, Oma wollte mir die Niethosen vom Leibe reißen.“

„Für meinen alten Klapperkasten bist du gut genug angezogen“, sagt er. Jedes Mal, wenn er ein neues Auto sieht, möchte er sein eigenes am liebsten in den Boden stampfen. Eva kennt das schon. Wenn die Rede auf den Wagen kommt, muss man Papa ablenken.

„Wohin fahren wir?“, fragt sie.

„Nach Breede.“

Breede, das Nachbardorf, ist sein zweites Zuhause.

„Geht es vorwärts mit dem neuen Stall?“

„Und wie! Deshalb sollst du ja mitkommen. Das muss man gesehen haben!“ Und wirklich vergisst er sein altes Auto über dem neuen Stall, über den dreitausend Schweinen, die nur von wenigen Frauen betreut werden, über der Produktivität modernster Anlagen. Er bekommt einen schwärmerischen Gesichtsausdruck und hat Mühe, die Hände am Steuer zu lassen. Genauso hat er auch manchmal Mühe, mit den Füßen auf dem Boden der gegebenen Voraussetzungen zu bleiben, wenn er auf Produktionsberatungen der Genossenschaft Diskussionsbeiträge hält. Er ist ein Ungeduldiger, der Schwierigkeiten im Höhenflug nehmen möchte. Dann wiegen die Bauern die Köpfe und lächeln sich zu, aber sie lächeln auch ihm zu, diesem Veterinär, den sie mögen, vielleicht gerade, weil er spinnt. Eva hat schon neben ihm in der Kneipe gesessen, in Klüssow, auch in Breede, und sie hat ihn Karten spielen sehen und Bier trinken und Witze erzählen, und sie hat erlebt, wie immer mehr an den Tisch gekommen sind, wo er saß, und wie sie ihm zugehört und geantwortet und mit ihm gestritten haben und wie sie mit einem Mal lachen konnten, auch der Vater, und wie sie sich alle mit ihm verstanden haben.

So kennt Eva sich gut aus in seiner Welt. Sie versteht seine Freude an dem neuen Stall, und die Zahlen, mit denen er aufwartet, sind nicht leblos für sie. Aber heute hört sie nur mit halbem Ohr zu. Im Stillen denkt sie an die Elternversammlung. Sie hat gestern Abend im Bett noch lange gelesen und immerzu auf Papas Rückkehr gewartet. Sie ist darüber eingeschlafen, und heute Morgen, als sie aufgestanden ist, war der Vater schon wieder aus dem Haus. Wie hat er aufgenommen, was man ihm erzählte? Und was überhaupt hat man ihm erzählt? Sie blickt ihn forschend von der Seite an.

Auf einmal ist es still im Wagen.

Der Vater hustet vor sich hin. „Ich bin ein schwer geprüfter Mann.“

Jetzt geht es los, denkt Eva.

„In solche Situationen bringt man seinen alten Vater nicht.“

Das musste kommen. Wenn es ihm in den Kram passt, kokettiert er mit seinen vierzig Jahren, als sei er achtzig. Bei anderen Gelegenheiten wieder behauptet er, blutjung zu sein, tatsächlich, blutjung, so drückt er sich aus. Eva hat Mühe, ernst zu bleiben.

„Es war peinlich“, fährt er fort. „Gleich zu Beginn sagte mir deine Lehrerin, dass sie mich im Anschluss an die Versammlung sprechen wolle. Also blieb ich da, das Elternaktiv übrigens auch. Ich kam mir vor wie ein Angeklagter.“

„Wieso denn du?“, fragt Eva empört.

„Weil ich dein Vater bin“, erwidert er. „Sie haben mir erklärt, dass die Schule für dich ein Spiel ist, ein Spiel, das du mitmachst, solange du Lust hast. Ich konnte nur immer mit dem Kopf nicken — so —“ und er macht es vor. „Aber wie sie mich nach der Ursache fragten, konnte ich nicht mehr mit dem Kopf nicken. Ich musste die Schultern hochziehen — so —.“ Er demonstriert auch das. „Da schwiegen sie und überlegten. Weißt du, was sie überlegten?“

„Nein“, murmelte Eva.

„Sie überlegten, wie sie mir möglichst schonend beibringen sollten, dass sie mich und meine Erziehung für die Ursache halten.“

Eva wird nicht recht klug aus ihrem Vater. Sie kennt ihn viel zu gut, um nicht den versteckten Humor herauszuhören, und zwar gleich bei den ersten Worten, als er sich einen schwer geprüften Mann nannte. Er spielt ihr den betrübten Vater nur vor. Aber wie kommt das?

„Papa, sei mal ehrlich — was war wirklich los?“

„Was soll denn gewesen sein?“

„Na“, sagt Eva ratlos, „irgendwas Komisches vielleicht?“ Er lacht. Vor dem Wagen trotten Pferde mit einem Fuhrwerk durch den Maientag. Die lange Peitsche streift das Laub der Kastanienbäume, friedlich schaukelt der krumme Rücken des Kutschers auf und ab. Selbst dieses Ärgernis verdrießt den Vater nicht, obwohl er vor einer Kurve nicht überholen kann.

„Es gab einen Lichtblick.“

„Einen Lichtblick für mich?“

„Für mich, für deinen alten, gebrechlichen Vater!“

Er fährt jetzt schneller, als er darf.

„Wenn du gebrechlich bist“, sagt Eva ärgerlich, „brauchst du keinen neuen Wagen, sondern einen Rollstuhl. Ich versteh gar nichts mehr. Du nölst mich voll.“

„Bei mir hat’s gezündet. Aber das brauchst du auch nicht zu verstehen. Was du verstehen musst, ist, dass fremde Leute sich um dich Sorgen machen und ich natürlich auch, und dass du uns dazu keinen Anlass mehr geben darfst. Sei lieb, Evchen, versprich uns das! Wir wollen nur das Beste für dich.“

„Jaja“, sagt Eva und schaut mit blinden Augen auf die ersten Häuser von Breede.

Sie ist gern in Breede. Vieles ist neu hier, Wohnhäuser, ein Kulturhaus, die Kaufhalle, die geteerte Straße und die Straßenbeleuchtung. Breedes Kinder brauchen nicht in die Stadt zu fahren, das wäre auch zu weit. Sie besitzen eine Zentralschule mit so großen Fenstern, als habe ein liebevoller Baumeister ihnen beim Lernen den hohen Himmel mit den Wolken und die Spatzen in den Zweigen der Linden nicht vorenthalten wollen. Hätte es diese Schule schon vor vier Jahren gegeben, würden auch Eva und Ingrid sie nun besuchen. Aber umgeschult werden möchten die beiden nicht.

Der Vater hält auf dem Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude der Genossenschaft. „Warte auf mich“, sagt er, „ich bleibe nicht lange. Nachher zeig ich dir die neue Schweinemastanlage.“

Eva steigt aus.

„Papa“, schreit sie ihm nach, „ich warte nicht. Ich will auch die Schweinemastanlage nicht sehen!“

Der Vater ist schon fast an der Tür und kehrt verwundert zurück.

„Geh man allein“, sagt sie. „Deine Schweine sind mir zu doof. Die grunzen und fressen ja bloß.“

Sie schlendert, mit ihren alten Latschen scharrend, davon.

„Ich seh mal nach den Stuten.“

Da reißt der Vater sich die Brille vom Gesicht. „Lieber Himmel, wie konnte ich das vergessen!“

Neugierig bleibt Eva stehen.

„Du wirst dich verlieben, Evchen, sofort und auf der Stelle bis über beide Ohren verlieben!“

Eva zieht die Brauen zusammen. „Willst du mich schon wieder verschaukeln?“

Aber ihre Augen werden groß, als er sagt: „Der Haflinger Hengst ist da!“

„Wo?“

„Rechts, an der Schlosserei vorbei.“

Zusammen mit dem Vater und mit Baumgardt, dem Vorsitzenden aus Klüssow, und mit einer Anzahl von Pferdeliebhabern und Züchtern aus Breede war auch Eva im September vorigen Jahres zur Pferdeleistungsschau nach Redefin gefahren. Einen ganzen Nachmittag lang präsentierte das staatliche Hengstdepot seine schönsten Tiere, geritten von den Gestütswärtern als Ungarische Post, als Schillsche Husaren in Dressurquadrillen, gefahren als Altrömische Quadrigen, als Mehrspänner im Sechser-, Zehner- und Zwölferzug mit historischen und mit modernen Wagen.

Inmitten der Breeder, die im Programmheft nachlasen, was über Alter, Aufzucht und Abstammung der Hengste angegeben war, und die mit fachkundigen Bemerkungen nicht sparten, saß Eva. Warum gab es in Klüssow keine Reitgruppe wie in Breede?

Baumgardt, der Vorsitzende, neigte sich zu ihr. Sein Bass brummte in einer Art, die er für leise hielt und die drei Bankreihen weiter noch alles aufmerken ließ: „Jeder macht, wozu er die besten Voraussetzungen hat. Wer reiten will, fährt nach Breede, und wer schwimmen will, kommt nach Klüssow. Nächstes Jahr bauen wir eine Badeanstalt mit einer richtigen Fünfzigmeterbahn und mit einem Sprungturm. Ist das nichts?“

Wer reiten will, fährt nach Breede. Eva seufzte nur. Dann vergaß sie ihren Kummer. Sie vergaß auch die Menschen um sich her. Auf dem weiten Platz gab es auf einmal nichts mehr für sie als die beiden Haflinger, die ganz allein und ungezäumt über den Rasen galoppierten. Sie waren im Vergleich zu anderen Pferden klein. Von dem sehr hellen, fast gelben Braun ihrer Körper stachen die blonden Mähnen ab und die ebenso blonden, bis zur Erde reichenden Schweife. Froh, der Stallruhe entronnen zu sein, tollten sie im Kreis an der niedrigen Begrenzung entlang, stießen und drängten sich und bissen einander in den Hals. Beim Anblick dieser übermütigen Tiere bekamen alle Kinder sehnsüchtige Augen. Zum Überfluss erklärte der Sprecher am Mikrofon, dass Haflinger wegen ihrer Größe und ihres zutraulichen Charakters besonders geeignet seien, Kinder für den Pferdesport zu gewinnen.

Die Breeder sahen sich an, offenbar alle vom gleichen Gedanken bewegt. Aber so schnell kamen sie zu keinem Entschluss. Das war nicht ihre Art. Vielmehr waren sie bekannt als gute Rechner, die ihren Vorteil wohl abzuwägen wussten, und ein Haflinger Hengst, der würde nicht billig sein. Aber immerhin gab es ja einen Fonds für Sport und Erholung.

Baumgardt brummte: „Knausert nicht, wenn’s um die Kinder geht. Ihr könnt euch den Haflinger leisten.“

Nun ist es Mai geworden, und der Haflinger ist da. Den schmalen Feldweg entlang, vorbei an den Rindern, die den Neuling auf der Nachbarkoppel kaum eines Blickes würdigen, rennt Eva mit bloßen Füßen, die Sandalen in der Hand. Vor sich an den Koppelstangen sieht sie Breeder Kinder stehen. Ein kleiner Junge streckt seine Hand durch die Stäbe und ruft: „Vagabund, Vagabund!“

Der Hengst macht einen langen Hals, um mit weichen Lippen das Zuckerstück aus der Hand zu nehmen. Über die Augen fällt ihm die blonde Mähne. Dann betrachtet er die Kinder, als wolle er jedes einzelne sich merken, wirft den Kopf zurück und setzt davon.

Eva hat er nicht beachtet. Eva gehört ja nicht dazu. Sie geht, sich dessen bewusst, ein Stück beiseite, stützt die Arme auf die Koppelstange und das Kinn in die Hände, und so schaut sie lange und ganz versunken über diesen eingezäunten Fleck Erde hin, auf dem nichts zu sehen ist als Gras und ein Pferd. Wer aber sehen kann wie Eva, der bemerkt auch die Gänseblümchen und die Hummeln auf den runden Köpfen der Kleeblüten und den Wind, unter dem die spitzen Halme sich neigen und Vagabunds langer Schweif sich bläht wie ein Seidentuch.

Am anderen Ende der Koppel beginnt der Wald. Vagabund verharrt und bewegt die Ohren. Warte nur, denkt Eva, das lernst du auch noch kennen, vermodertes Laub unter deinen Hufen, bemooste Wurzeln und die Spuren der gefällten Bäume, wo sie an Ketten über die Schneisen gezogen wurden, und das immer wechselnde Licht im Wald, das dich vielleicht zuerst verwirren wird, und das emsige Klopfen der Spechte. Alles lernst du kennen, wenn man dich erst reiten wird, nur mich wirst du nicht kennenlernen.

„Gefällt er dir?“, fragt hinter ihr eine Jungenstimme, die Lorenz Lau gehört. Lorenz ist in Breede ungefähr das, was Hans Koga in Klüssow ist, einer der Jugendlichen, nach denen sich die anderen richten. Er lächelt ihr zu. „Ja“, sagt er, „schade, was? Schade, dass Breede sich auf blöde reimt.“

Eva schaut zu Vagabund hinüber.

„Wie geht’s Koga?“, fragt Lorenz.

Eva hebt die Schultern. Soll er doch hingehen und Koga selber fragen. Da fühlt sie Lorenz‘ Hand am Arm. Er dreht sie einfach zu sich herum.

„Wenn du Koga siehst“, sagt er, „grüß ihn von mir!“ Und da sie hastig nickt, um von ihm loszukommen, wiederholt er: „Grüß ihn von mir, vergiss es nicht!“

„Ja, ja, ja!“

Er versetzt ihr einen leichten Stoß. „Na, lauf schon, lauf!“

Eva wirft einen letzten Blick auf den Hengst. Laufen wird sie nun gerade nicht, das sähe ja aus, als ließe sie sich Aufträge erteilen. Im Fortgehen streicht sie mit der Hand über das Holz der Einzäunung.

Lorenz schickt sie weg mit einer Nachricht für Koga. Warum gerade sie? Weiß er, dass sie den albernen Reim erfunden hat? Hinterher ist man meistens klüger, aber damals, als die Breeder anfingen, ihre Reitausflüge bis nach Klüssow auszudehnen, da waren die Klüssower Jungen und Mädchen nicht großmütig genug, dies mit anzusehen. Sie standen gegen Abend, wie es ihre Gewohnheit war, auf dem Kirchplatz zusammen und plötzlich tauchten die Breeder zu Pferde auf. Den Gruß der Breeder erwiderten sie nicht. Sie erinnerten sich an gelegentliche Äußerungen der ganz alten Klüssower, die auch gern auf dem Kirchplatz sich einfanden und die Bänke unter den Linden besetzten, Krückstöcke zwischen den steifen Knien. Was die Alten miteinander sprachen, kümmerte die Jungen sonst wenig, aber nun waren auch sie der Meinung, dass die Breeder schon immer hoch hinausgewollt, dass sie schon immer auf die Klüssower herabgesehen hatten als auf die ärmeren, bescheideneren Nachbarn, die Holzpantinen trugen, während sie selbst in Stiefeln gingen. Denn die Sache mit dem Schuhzeug vergaßen die Alten nicht. Als sie Kinder waren, die Alten, war Klüssow ein Gutshof, Breede aber ein Bauerndorf, und die Breeder Bauernkinder trugen im Winter Stiefel und die Klüssower Tagelöhnerkinder Holzpantinen. Mögen darüber auch Jahrzehnte vergangen und die ehemaligen Bauern- und Tagelöhnerkinder längst gleichgestellt sein in Genossenschaften, so waren die Breeder eben immer noch mehr, und ihre Genossenschaft war die bessere.

Und nun kamen sie sogar zu Pferde daher! Sie dachten sich wahrscheinlich nichts dabei, grüßten freundlich und nickten aus ihrer Höhe herab. Da fiel einem der Klüssower Jungen ein Spruch seines Großvaters ein, und er sagte laut: „Heute noch auf stolzen Rossen, morgen durch die Brust geschossen!“

Die Breeder stutzten und blickten sich um und sahen in lauter böse Gesichter, und es war ihnen nicht wohl dabei. Ruhig, aber wachsam trabten sie weiter. Einer von ihnen, ein Witzbold, rief zurück: „Besser Neider als Mitleider!“

Unter den Klüssowern befand sich auch Eva. Sie flüsterte ihrem Nebenmann zu: „Breede, Breede — was da wohnt, ist blöde!“ Natürlich trompetete er dies den abziehenden Breedern hinterdrein.

Seitdem ist die Vorstellung, dass die Klüssower Jugend sich in Breede am Reitsport beteiligt, ganz und gar unmöglich. Die Erwachsenen, die nichts von diesem Vorfall wissen, wundern sich nicht wenig darüber.

Eva, als sie versonnen den Feldweg nach Breede zurückgeht, wundert sich auch. Lorenz Lau schickt sie mit einer Nachricht zu Koga, was bedeutet das? Vielleicht bahnt sich eine Versöhnung an, und es währt nicht lange, bis auch Eva auf Vagabund reiten kann. Ein Lichtblick, sie hat einen Lichtblick.

Sofort fällt ihr der Vater wieder ein mit seiner Geheimniskrämerei. Er hat ja auch von einem Lichtblick gefaselt, und überhaupt gab er sich so rätselhaft. Allein die Tatsache, dass er fast vergessen hätte, ihr von dem Haflinger Hengst zu erzählen, sieht ihm gar nicht ähnlich.

Auf der Suche nach dem Vater wandern ihre Blicke in jeden Hof. Er kennt ja alle Leute, bleibt überall stehen , vertieft sich in fremde Angelegenheiten und vergisst darüber die Zeit. Vor der Gaststätte, die „Hüsung“ heißt, riecht es nach Bratkartoffeln. Eva tritt ein und schaut sich um. Der Raum ist eingerichtet als Bauernstube mit schweren Tischen und Stühlen aus hellem Holz und mit geschmiedeten Lampen, die an Ketten hängen. Die Bilder an den Wänden zeigen Figuren aus Fritz Reuters Werken, mit mehr oder weniger Geschick gezeichnet und doch den Breedern besonders wert, denn sie sind hergestellt im Malzirkel des Dorfklubs. All diese wohlbekannten Dinge findet Eva vor. Doch der Vater ist nicht da. Der Raum ist noch ziemlich leer.

Vater Werner hinter dem Schanktisch schiebt Eva ein Glas Brause zu. „Da, trink, min Dirn, dein Vater war heute noch nicht hier.“ Seine Frau, die in der Küche kocht und brät und trotzdem alles bemerkt, was im Gastraum geschieht, und die daher stets so gut unterrichtet ist, als liefe sie von morgens bis abends die Dorfstraße auf und ab, Frau Werner also guckt um die Ecke. „Wer?“ Und da sie Evas schwarzen Lockenkopf erspäht, gibt sie Bescheid: „Bei Prohaska.“