Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine gute Mutter will sie sein, und Benny versucht als Vater auch sein Bestes. Aber sie sind beide erst fünfzehn und hätten nicht gedacht, dass es so schwierig werden würde. Friederike will die 9. Klasse nicht wiederholen und die Mutter soll ihr das Baby auch nicht abnehmen, es ist ja ihr Kind. Und Benny möchte nicht immer nur bei Freundin und Kind hocken. Er hat sich schon bei der Seereederei beworben und segelt so gern mit seinem Freund auf dem Schweriner See. LESEPROBE: Friederike ist die Erste im Wartezimmer. Sie geht mit Domenico auf und ab, bis Schwester Edeltraut sie einlässt und der Arzt, beschwingt und sportlich wie immer, zur Sprechstunde erscheint. „Kleine Mutter“, sagt er sofort, „Sie haben in dieser Nacht nicht geschlafen.“ „Weil mein Kind schreit.“ „Ja, unüberhörbar. Seit wann?“ Sie erzählt es ihm und zwischendurch, während seine geübten Hände mit Domenico hantieren, gibt er Schwester Edeltraut über die Schulter hinweg Auskünfte. Er verhandelt mit einem aus hinteren Räumlichkeiten eingetretenen Kollegen über Gewerkschaftsbeiträge, er diktiert der Sekretärin etwas in die Maschine, er unterschreibt Rezepte. Als er ans Telefon gerufen wird, teilt er Friederike im Vorbeigehen mit: „Ihr Kind hat eine Mittelohrentzündung, schmerzhaft natürlich, deshalb schreit es.“ Dann ist er wieder da und fragt: „Kleine Mutter, wo ist eigentlich die große Mutter, die Großmutter?“ Sie erzählt ihm auch das, und er hört mit jenem lebhaften Interesse zu, das er ihren Familienangelegenheiten von Anfang an entgegengebracht hat. „Wissen Sie was“, sagt er plötzlich, als sei ihm ein höchst erfreulicher Vorschlag eingefallen, „diesmal geben wir das Kind in die Klinik, okay?“ Es klingt so selbstverständlich, dass Friederike beinah aufatmet, dankbar, dass ihr eine zweite Nacht wie die vergangene erspart bleiben soll. Aber sie verachtet sich dafür und senkt den Blick. „Warum denn?“, murmelt sie. „Zu Ihrer Entlastung. Sie sind ziemlich weit runter, stimmt’s?“ Sie antwortet nicht. Erschrocken fragt sie sich, ob der Arzt ahnt, wie garstig sie in der Nacht einen Moment lang zu ihrem Kind gewesen ist. „Keine Bange“, fährt er fort, „Ihr Kind ist bald wieder gesund und puppenlustig, schneller als Sie, kleine Mutter.“ „Ich bin nicht krank. Domenico ist jetzt tagsüber in der Krippe. Das geht ganz gut.“ „Ja, solange nichts dazwischenkommt. Krippenkinder werden nun mal öfter krank, damit müssen Sie rechnen. Sie haben keine Reserven, keinen Spielraum.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 266
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Christa Grasmeyer
Friederike und ihr Kind
ISBN 978-3-95655-031-7 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1988 im Verlag Neues Leben, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Die Wehe naht wie eine Welle, die über ihr zusammenschlägt, sie fortreißt und wieder zurückwirft. Sie krallt die Hände ins Laken.
Die grüngekleidete Frau an ihrem Bett, die Hebamme, liest von elektronischen Geräten ab, wie es ihr geht. Anscheinend ist die Hebamme ganz zufrieden.
Im Vorbereitungskurs hörte sich alles einfach an, fast so, als käme das Kind von selbst zur Welt, wenn man nur die Atmungs- und Entspannungsübungen richtig beherrscht und anwendet. Ihre Mutter hatte zwar gemeint, dass damit gegen die Schmerzen wenig auszurichten sei, aber wie hätte sie, Friederike, ahnen sollen, dass es solche Schmerzen überhaupt gibt?
Sie hat keine Angst gehabt. Neugierig und voller Erwartung ist sie hergekommen. Dann sind die Schläuche an ihr befestigt worden, einer für den Wehentropf am Arm und zwei weitere, die zwischen ihren Beinen in den Leib hineinführen und durch eine an den Oberschenkel geschnallte Kontaktplatte gesichert sind. Auf diese Weise, erklärte ihr die Hebamme, würden der Wehendruck gemessen und der kindliche Kreislauf überwacht. Der Schmerz meldete sich ab und zu, aber er lauerte noch im Hinterhalt. Viel stärker, glaubte sie, würde er nicht werden. Die Hauptverantwortung für das gute Gelingen übernahm offenbar die steuernde, kontrollierende Technik.
Inzwischen haben die Wehen all ihre Gedanken und Vorstellungen ausgelöscht. Sie zerbeißt sich die Lippen, um nicht zu schreien.
Plötzlich spürt sie einen gebieterischen Stoß in ihrem Körper. Sie hebt den Kopf und drückt das Kinn gegen die Brust. Ihre Hände greifen nach den Knien. Ein Keuchen bricht durch ihre Kehle.
Die Hebamme tastet in ihren Leib hinein. Der Arzt tritt ans Bett und sieht auf den Biomonitor. Er fragt etwas, und die Hebamme am Fußende des Bettes antwortet. Dann wendet er sich an Friederike. Sie soll entspannt liegen und schnell und oberflächlich atmen, die Presswehe verhecheln, wie er sagt. Sie dürfe nicht zu früh mitpressen, sonst würde sie vorzeitig ihre Kraft vergeuden.
Sie begreift wohl den Sinn, aber ihr Körper handelt eigenmächtig. Sie wird von Neuem ermahnt. Die grüngekleideten Leute verlangen von ihr, dem Befehl des Körpers nicht zu gehorchen. Sie gerät in Panik, denn die Forderung ist so unerfüllbar, als erwarte man von ihr, dass sie ein Erdbeben verhindern könne.
Der Arzt spricht ihr Mut zu. Sie hört seine Stimme wie aus weiter Ferne. Die Hebamme nestelt an ihr herum. Der untere Teil des Bettes wird ausgehakt und ein Stück gesenkt, und ihre Füße werden so gestellt, dass sie Halt finden. Der Arzt verfolgt die Wehenkurve auf dem Biomonitor.
„Noch nicht, noch nicht"“, sagt er, und dann sehr laut: „Jetzt!“
Friederike kämpft. Die Grüngekleideten helfen ihr, und die Technik am Bett funktioniert, und trotzdem fühlt sie sich allein. Ab und zu. in den Sekunden zwischen den Wehen, legt sich ein Nebel über ihr Bewusstsein. Der Zwang zum Pressen reißt sie hoch. Jedes Mal meint sie, die nächste Wehe nicht mehr zu überstehen.
Sie schreit auf. Der Arzt ruft ihr zu, dass der Kopf des Kindes geboren sei. Wenig später fühlt sie, wie das Kind aus ihr herausgleitet.
Über ihr Gesicht laufen Tränen. Ihr Körper ist leicht geworden, ganz leicht. Sie meint zu schweben.
Jemand redet sie an. „Frau Jordan!“ Es ist die Hebamme, die das sagt. Die Hebamme hält in gummibehandschuhten Händen etwas Lebendiges in die Höhe. „Frau Jordan, Sie haben einen Sohn.“
Sie versucht, ihren Sohn zu erkennen. Aber ihre Augen sind von Tränen blind, und sie hat ihre Brille nicht auf. Die Hebamme legt ihr das Kind auf den Bauch. Es ist warm und bewegt sich. Sie hält den Atem an. Ihre Hände berühren einen feuchten, behaarten Kopf und ein schlüpfriges, schleimverschmiertes Körperchen. Sie lacht und weint.
Dann trägt die Hebamme das Kind fort. Der Arzt setzt sich vor den heruntergeklappten Teil des Bettes. Während er dort hantiert, erkundigt er sich, welchen Namen ihr Sohn tragen solle.
„Domenico“, flüstert sie.
Der Arzt nickt. Vielleicht hat er ihr Geflüster gar nicht richtig verstanden, oder er hört jeden Tag ausgefallene Namen und reagiert nicht mehr darauf. Er sagt ihr, dass er jetzt nähen müsse, weil ihr Damm eingerissen sei. Sie brauche aber keine Angst zu haben. Horchend wendet sie den Kopf in die Richtung, aus der das Schreien ihres Kindes dringt.
„Ein glattes, gesundes, schönes Kind“, sagt der Arzt. Er will sie wohl ablenken und erzählt, was nun mit dem Kind geschieht. Es werde untersucht, gebadet, gemessen, gewogen. angekleidet. Er streift die Gummihandschuhe ab und wäscht sich am Waschbecken. Dann kehrt er zurück und nimmt ihre Hand in seine Hände.
„Frau Jordan, ich gratuliere Ihnen zur glücklichen Geburt Ihres Sohnes und wünsche Ihnen ein komplikationsloses Wochenbett.“ Frau Jordan. Daran hat sie sich noch nicht gewöhnt. Trotzdem ist sie jetzt eine Frau, das steht fest. Dort drüben, in einem Glaskasten unter Wärmestrahlern, liegt ihr Kind, ihr kleiner Sohn!
All die Monate hindurch haben sie und Benny sich gefragt, oh sie einen Sohn haben würden oder eine Tochter. Nicht dass es besonders wichtig gewesen wäre, sie waren bloß beide so neugierig und wünschten sich, es gäbe am Bauch einen Reißverschluss, den man kurz mal aufziehen könnte, oder ein Plexiglasfensterchen, durch das zu erkennen wäre, wie ihr Kind aussieht. Zuletzt haben sie es kaum erwarten können. Nun haben sie also einen Sohn. Was Benny wohl dazu sagen wird!
Sie richtet sich etwas auf. Die Hebamme hat ihr die Wunde, die der Arzt genäht hat, gespült und sie mit einem neuen Laken zugedeckt.
„Wann darf ich telefonieren?“
„Ihre Eltern haben schon angerufen.“ Die Hebamme bettet sie aufs Kissen zurück. „Wir geben grundsätzlich nur die Auskunft, dass alles gut verlaufen ist. Dass Sie einen Sohn haben, sollen Sie Ihren Angehörigen selbst erzählen. Wenn wieder ein Anruf kommt, stecken wir den Apparat in den Anschluss an Ihrem Bett. Einverstanden?“
„Ja, und ...“ Sie traut sich nicht recht, noch mehr zu erbitten.
„Und?“, fragt die Hebamme.
„Mein Kind.“
Bereitwillig holt die Hebamme das Bündelchen aus dem Glaskasten und legt es ihr in den Arm.
„Meine Brille“, flüstert Friederike. Sie fängt wieder an zu weinen. Sie versteht gar nicht, was mit ihr los ist, dass sie immerzu weinen muss, anstatt vor Freude zu strahlen.
Aber die Hebamme versteht es. „Beruhigen Sie sich erst mal ein bisschen. Nachher“, kündigt sie an, „werden wir das Stillen versuchen.“ Sie kramt aus Friederikes Tasche die Brille hervor. Dann geht sie nach nebenan. Dort, hinter dem gläsernen Raumteiler, stöhnt eine andere Frau.
Friederike betrachtet ihr Kind. Was für kleine Hände es hat! Und an jeder Hand sind fünf Finger, und jeder dieser winzigen Finger trägt bereits ein fertiges Nagelplättchen. Der Kopf ist bedeckt von dunklen, noch etwas feuchten Haaren, die zu einer Tolle hochgebürstet worden sind. Alles ist vorhanden, Mund, Nase und Ohrmuscheln, sogar Brauen und Wimpern. Friederike staunt. Sie wagt kaum, sich zu bewegen, denn ihr Kind schläft nun. Vielleicht ist die Geburt für ihr Kind genauso aufregend gewesen wie für sie selber, und es hat sich geängstigt, als es durch den engen Kanal gepresst wurde und als es plötzlich atmen musste, weil es nicht mehr an der Nabelschnur hing. Da hat es geschrien. Jetzt ist es still, erschöpft, genau wie sie, und erleichtert, dass der Schrecken ein Ende hat.
Die Hebamme jedoch ist offenbar der Meinung, ein Mensch habe sich, sobald er geboren ist, unverzüglich den Anforderungen des Lebens zu stellen. Sie rüttelt das Kind wach. Aus einer Flasche schüttet sie etwas Flüssigkeit zum Verreiben in Friederikes Hände und in ihre eigenen, und sie bestreicht Friederikes Brust damit. Dann drückt sie das Gesicht des Kindes gegen die Brust, und weil es noch nicht weiß, dass es den Mund aufmachen muss, klopft sie ihm auf den Po, bis es schreit. Da reißt es natürlich den Mund auf. Als es die Brustwarze bemerkt, verstummt es überrascht und beginnt zu saugen.
Friederike spürt ein noch nie empfundenes, lustvoll ziehendes Gefühl in der Brust. Sie nimmt die Brille ab und legt den freien Arm über ihr Gesicht. Die Hebamme sieht dem Kind eine Weile zu und erzählt, wie groß und wie schwer es sei, und warum Friederike sich mit dem Stillen immer recht viel Mühe geben müsse.
Friederike ist froh, als die Hebamme sie wieder allein lässt. Alles hat sie gelesen, was sie in der Bibliothek an entsprechender Literatur hat finden können. Ganz genau hat sie sich informiert, wie eine Geburt verläuft, und über das Stillen weiß sie auch Bescheid, und trotzdem ist sie nun so aufgewühlt und überwältigt, als hätten die Erlebnisse der letzten Stunden sie völlig unvorbereitet getroffen, als hätte sie sozusagen aus heiterem Himmel, ohne jede Vorankündigung, ein Kind gekriegt.
Sie bewundert ihr Kind. Anscheinend kann es viel besser damit fertig werden, dass es plötzlich und ohne jede Vorankündigung aus seinem gewohnten Dasein gerissen worden ist. Es saugt energisch, es hält die Fäustchen geballt, und zwischen seinen Brauen steht eine kleine Falte, die dem Gesicht einen drolligen Ausdruck von Entschlossenheit verleiht. Vielleicht müht es sich vergeblich, weil noch gar keine Milch kommt, aber selbst dieser erste Misserfolg seines Lebens macht ihm nichts aus. Nach einiger Zeit sinkt es zufrieden in den Schlaf zurück.
Die Hebamme bringt das Telefon. Sie nimmt Friederike das Kind ab und trägt es zum Glaskasten unter die Wärmestrahler.
„Benny!“, ruft Friederike atemlos.
Die Stimme ihrer Mutter antwortet: „Ich bin’s, Fritzchen. Wie geht es dir?“
„Gut. Wo ist Benny?“
Sie horcht, bis Bennys brüchige Jungenstimme „Hallo“ sagt. Auch ihm scheint vor Spannung die Luft wegzubleiben.
„Benny!“ Sie fasst den Hörer mit beiden Händen. „Benny, wir haben einen Sohn. Unser Domenico ist da.“
„Super!“, schreit er.
„Ich hab ihn eben gestillt“, sagt sie hastig, denn sie fürchtet, man würde ihr das Telefon nicht lange lassen, und sie hat Benny doch so viel zu erzählen. Sie verheddert sich und redet alles durcheinander, vom Stillen, von den Wehen, von Domenicos erstaunlicher Lernfähigkeit, vom Arzt, der selten ein so schönes Kind wie Domenico gesehen habe, und immer wieder von den Schmerzen. „Kein Mensch kann sich solche Schmerzen vorstellen.“
„Ich hab's aber versucht“, wirft Benny ein. „Ich hab mir zwei Finger in die Mundwinkel gehakt und die Lippen breitgezerrt. Ich wollte wissen, wie das ist, wenn eine kleine Öffnung riesengroß aufgerissen wird, also wenn ich zum Beispiel einen Fußball durch den Mund zwängen müsste.“
„Ja“, sagt Friederike. „Der Vergleich mit dem Fußball stimmt ungefähr. Ich musste hinterher genäht werden.“
„Mit Nadeln ins Fleisch gestochen?“
Im Hintergrund werden Fragen laut. Friederike hört, wie Benny antwortet: „Ein Junge“, und wie ihre Mutter die Neuigkeit weitergibt: „Ein Junge, Dieter, ein Junge!“
„Man müsste Embryonen im Reagenzglas aufziehen“, fährt Benny fort. „Bestimmt wird das später mal gemacht. Dann gehen Vater und Mutter hin und gucken zu, wie aus dem hässlichen, qualligen Wesen nach und nach ihr Kind wird.“
„Das würde mir, glaub ich, nicht gefallen. Nein, ich hätte unseren Domenico nicht wie eine Topfpflanze aus der Gärtnerei holen wollen.“
„Ich meine auch nicht, wie eine Topfpflanze. Ich meine eher ein Gefäß wie ein Aquarium, das könnte sogar in der Wohnung stehen ..."
Er wird unterbrochen. Die Mutter hat ihm den Hörer weggenommen. Sie will nun endlich sachliche Informationen erhalten. Wieso ist denn Friederike mit Nadeln gestochen worden? „Aha, ein Dammriss. Ja, das kommt häufig vor. Und der Junge, ist er gesund? Wie viel wiegt er?“
„Dreitausendzweihundert Gramm. Ich hab ihn eben schon gestillt!“
„Gratuliere, mein Fritzchen. Wir freuen uns. Wir kommen nachher zur Besuchsstunde.“
„Aber Benny auch.“
„Natürlich“, sagt die Mutter.
Das Gespräch hat Friederike angestrengt, ihr ist heiß geworden. Ihre Hände zittern, als sie sich wäscht. Die Hebamme hat eine Schüssel mit Wasser gebracht und gefragt, ob sie ihr helfen solle. Das hat Friederike abgelehnt. Was andere Frauen können, will sie ebenfalls können. Sie zieht ihr Hemd aus und wäscht sich das Gesicht, den Hals und die Arme.
Dann liegt sie auf einer fahrbaren Trage. Das Bett, in dem sie entbunden hat, wird frisch bezogen. Domenico ist bereits fort, eine Schwester hat ihn abgeholt. In dem Glaskasten unter den Wärmestrahlern schreit ein Kind, das noch jünger ist als Domenico.
Friederike hat ihre Armbanduhr wieder umgebunden und stellt fest, dass es drei Uhr am Nachmittag ist. Früh am Morgen hat sie zu Hause im Bett etwas Blut gesehen. Da hat die Mutter gesagt: „Es hat gezeichnet.“ Und als der Vater mit seinem Taxi von den Nachtfahrten kam, hat er Friederike und die Mutter zur Klinik gefahren. Sie berechnet die Zeit. Sie hat sieben Stunden gebraucht, um ihr Kind zur Welt zu bringen.
Sie wird auf der Trage durch die Flure zur Station geschoben. Im Zimmer sind drei Betten, oder vielmehr sechs, die Körbchen der Kinder eingerechnet. Für Friederike ist das mittlere der drei Betten bereit.
Sie grüßt freundlich und fängt gleich an, ihr langes Haar zu kämmen und zu flechten, denn sie will beschäftigt sein unter den prüfenden Blicken von links und rechts. So unbefangen wie möglich erzählt sie, dass ihr Sohn dort in dem Körbchen dreitausendzweihundert Gramm wiege und Domenico heißen solle.
Die Frau, die im Bett an der Wand liegt, beobachtet sie stumm. Friederike schätzt, dass sie vielleicht dreißig sein könnte. Die andere, im Bett am Fenster, ist jünger, auch lebhafter. Sie steht auf, zieht sich einen Bademantel über und begutachtet Friederikes Kind, und sie holt ihr eigenes Kind aus dem Körbchen und zeigt es Friederike. Dann steht sie da, mit dem Kind im Arm, und sieht Friederike an.
„Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“
Friederike erwidert den Blick durch die großen Brillengläser. „Fünfzehn“, antwortet sie.
Die Frau im Bett an der Wand richtet sich auf, dass die Kissen rascheln.
„Dann gehst du wohl noch zur Schule“, stellte die jüngere fest.
„Ja.“
„Und der Vater von deinem Kind?“
„Der ist auch fünfzehn“, sagt Friederike.
„Warum ist Oma Ille nicht mitgekommen?“
„Weil es wahrhaftig ausreicht, wenn wir zu dritt hier erscheinen.“
Friederike sieht ein, dass ihre Mutter recht hat. Wenn jede der Frauen von vier oder gar noch mehr Personen besucht würde, müssten die Menschen im Zimmer schließlich Schulter an Schulter stehen. Aber sie ist doch ein bisschen enttäuscht. Ihre Mutter umarmt und küsst sie mit dieser besonderen Herzlichkeit, die sie immer zeigt, wenn Friederike nach Oma Ille verlangt.
Benny hält sich zurück. Er errät, was die anderen Frauen ihren Besuchern zuflüstern, nämlich dass der Junge da, der Junge mit dem Stirnband, nicht etwa der Bruder, sondern der Vater des Kindes sei. Er verbirgt seine Augen hinter den langen Wimpern, und seine Nasenflügel blähen sich ein wenig. Genauso stand er an der Tür, als Friederike ihn zum ersten Mal gesehen hat, damals, zu Beginn der achten Klasse.
Sie streckt die Hand nach ihm aus, er soll sich zu ihr setzen. Aber er lächelt nur und bleibt stehen. Der Krankenhausgeruch, die aufgeschlagenen Betten, die in Bademänteln umhergehenden Frauen, die neugierigen Besucher, die Gespräche über fremde Familienangelegenheiten, das alles ist nichts für Benny.
Friederikes Vater sieht auch nicht gerade aus, als möchte er stundenlang hier verweilen. Er geht zu den Babvkörbchen, die in der Nähe des Fensters aufgereiht in einem Gestell hängen. Schweigend betrachtet er die drei Kinder. Dann hebt er den Kopf und guckt zum Fenster hinaus.
Die Mutter jedoch beugt sich über Domenico. Ihr Gesicht verklärt sich, und sie muss sich räuspern, bevor sie ihren Mann fragt: „Wie findest du ihn?"
„Tja, ich seh nicht viel an so kleinen Kindern.“
„Ach, ihr Männer! Das Schönste im Leben entgeht euch, und ihr wisst es nicht mal.“ Sie dreht sich zu Benny um.
Glücklicherweise sind die Fremden nun so einsichtig, endlich auf den Flur hinauszugehen. Es ist ohnehin zu eng im Raum und für dick angezogene Leute zu warm.
Nun nimmt Benny seinen Sohn in Augenschein. Er stutzt. Ein Kind, das erst wenige Stunden alt ist, hat er noch nie gesehen. Er weiß nicht, was er sagen soll. Vergleichend beguckt er die anderen beiden Kinder und dann wieder seinen Sohn.
Friederikes Vater lacht.
„Bring unser Kind her", ruft Friederike ungeduldig. „Heb es auf den Arm, Benny, bring es her!“
Ihre Mutter glaubt, nicht recht gehört zu haben. „Was fällt dir ein? Das kommt überhaupt nicht infrage." Sie wendet sich an ihren Mann. „Früher durfte ein Vater sein neugeborenes Kind nur durch eine Glasscheibe sehen, weißt du’s noch?“
„Ja, früher." Er streicht sich über den Schnauzbart. „Früher war manches anders. Zum Beispiel waren die Eltern keine Kinder.“ Seine Frau schüttelt mahnend den Kopf, aber da sie ihn zum Reden aufgefordert hat, lässt er sich nun nicht daran hindern. „Stimmt es eigentlich“, fragt er seine Tochter, „soll dein Junge wirklich Domino heißen?“
Friederike antwortet nicht. Sie durchschaut ihren Vater. Der tut bloß so, als habe er den Namen falsch verstanden.
Der Name ist ihr Geheimnis gewesen, jedenfalls vor den Erwachsenen. Benny hat ihn wohl verraten, nachdem er am Telefon erfahren hat. Dass das Kind ein Junge ist. Wäre es ein Mädchen geworden, hätten sie es Patricia genannt. Beide Namen fanden sie wunderschön, und in der Klasse, wo die Namen eifrig beraten worden waren, erregten sie ebenfalls Wohlgefallen. Benny dachte zwar bei der Wahl des Jungennamens zunächst an Männer, die ihm imponierten, an Nansen, Cousteau oder Mandela. Aber Fritjof, Jacques oder Nelson, diese Namen sind ja längst nicht so klangvoll wie der Name Domenico, den Friederike in einem italienischen Film gehört hatte. Den Eltern gegenüber behaupteten sie, sie hätten sich noch nicht entschieden. Sie ahnten, dass die Eltern versuchen würden, ihnen die Namen auszureden.
Der Vater fängt von neuem an. Das Wort Domino, erklärt er, sei ihm nur in zweierlei Bedeutung bekannt, entweder als Faschingskostüm oder als Spiel. Falls es auch als Eigenname denkbar sei, dann wäre wohl ein Mädchen mit den Namen Maskerada oder Halma beglückt worden? Er spinnt den Faden weiter, obwohl seine Frau ihn missbilligend ansieht. Es gäbe übrigens ein Kartenspiel namens Bridge, das sei vielleicht ebenfalls geeignet. „Britsch“, sagt er zischend, „Britsch Jordan.“ Er lacht und stopft die Fäuste in die Taschen seiner Felljacke.
„Unser Sohn heißt nicht Britsch. Er heißt Domenico. Die Betonung liegt auf der zweiten Silbe. Domenico!“
Die Mutter gibt dem Vater ein Zeichen, still zu sein, und meint versöhnlich, der Name Domenico werde sowieso abgekürzt in Nico.
„Gut", erwidert der Vater, „Nikolaus, also Klaus. Dann kann ich meinen Kollegen sagen, dass dieses sensationelle Enkelkind wenigstens einen normalen Namen hat. Klaus Jordan.“
„Sag ihnen, was du willst!“, ruft Friederike mit hoher, zitternder Stimme. „Deshalb heißt unser Sohn doch nicht Klaus, sondern Domenico.“
„Wir lassen euch jetzt allein“, sagt die Mutter entschieden, und sie schiebt ihren Mann aus dem Zimmer.
Draußen, unter vier Augen, wird sie ihn bearbeiten, wird an sein Gewissen appellieren, an seine Vernunft, an seine Einsicht als aufgeklärter Mensch. Seit Monaten leistet sie diese Überzeugungsarbeit, aber sie kann nicht mehr an Erfolg verbuchen, als dass sich der Vater murrend ins Unabänderliche fügt.
Benny ist sofort wie umgewandelt. Er stürzt an Friederikes Bett und küsst sie. Er riecht nach Wind und Regen, und sein hochgebürstetes, über das Stirnband fallende Haar streift ihr erhitztes Gesicht.
„Jetzt ist meine Mutter weg“, sagt sie. „Jetzt hol unser Kind her.“
Sie haben schon geübt, wie man ein Baby hält und trägt. In einem Buch haben sie es gelesen und dann mit einer von Friederikes alten Puppen geübt. Vorsichtig hebt Benny seinen Sohn aus dem Körbchen. Er erschrickt ein bisschen, als das Kind aufwacht und unwillig das Gesicht verzieht.
Friederike lächelt stolz. Sie knöpft ihr Nachthemd auf und legt das Kind an ihre kleine Brust. Da ist es zufrieden.
„Darfst du das einfach?“, fragt Benny.
„Ich tu’s einfach.“
„Und wenn eine Schwester kommt?“
„Ich bin die Mutter.“
Benny nickt. In andächtiges Schweigen versunken, sehen sie beide auf ihr Kind. Es saugt eine Weile und schläft wieder ein.
„Er ist süß, nicht?“
„Ja“, sagt Benny. „Bloß dass er Hausmeister Kowalski ähnlich sieht, finde ich irgendwie nicht so gut.“
Friederike versteht schon, was er meint. Ihr Kind hat eine fliehende Stirn, und Kowalski, der Hausmeister der Schule, hat auch eine fliehende Stirn. Aber Domenicos Schädelknochen haben sich nur bei der Geburt verschoben, ein normaler, sogar unerlässlicher Vorgang, während Kowalskis Plattköpfigkeit wer weiß welche Ursache haben mag.
Sie erzählt Benny, wie schwer es für sie gewesen sei, Domenicos Kopf hervorzupressen. „Bestimmt wächst sich sein Kopf bald rund und schön zurecht.“
„Bei Kowalski ist er platt geblieben", gibt Benny zu bedenken.
„Hier kommt jeden Tag ein Kinderarzt zur Visite, den werd ich fragen.“
„Tu das“, sagt Benny lachend, „sonst denken die anderen noch, du hast das Kind von Kowalski.“
Solche Scherze hört Friederike weniger gern. Sie wird aber gleich wieder aufgeheitert durch all die Neuigkeiten, Grüße und Glückwünsche, die Benny aus der Schule mitbringt.
Morgens, auf dem Weg dorthin, ist Benny durch die Kleiststraße gelaufen, wie jeden Tag, seitdem Friederike nicht mehr zur Schule geht. Sie hat ihm dann vom Fenster aus zugewinkt. Heute jedoch, am neunzehnten November, hat er sie nicht gesehen. Da ist er nach oben gerannt und hat geklingelt, und dann hat er die Nachricht in der Klasse verkündet. Alle haben für Friederike die Daumen gedrückt. Nach der Schule sind fast sämtliche Mädchen der Klasse bei Jordans die Treppe hochgetrampelt, und wenn Frau Jordan es nicht verhindert hätte, wäre jetzt eine Zehn- oder fünfzehnköpfige Delegation der Klasse zur Besuchszeit erschienen.
„Und deine Eltern“, fragt Friederike, „was sagen die?“
Ach, seine Eltern, die haben geseufzt und den Kopf geschüttelt und Friederikes Eltern bedauert. Sie haben wieder von den Alimenten angefangen und darüber lamentiert, was man heutzutage mit den Kindern erleben müsse.
„Was erleben sie denn? Gar nichts. Dafür haben sie doch gesorgt.“ Friederikes Augen funkeln, wie immer, wenn von Bennys Eltern die Rede ist. „Von wegen bedauern! Sie haben meinen Vater abblitzen lassen. Dabei ist es ihm schwer genug gefallen, zu ihnen zu gehen. Er wollte ja bloß mit ihnen bereden, was aus uns werden soll. Und dein Vater hat sich aufs hohe Ross gesetzt. Das hat mein Vater bis heute nicht verkraftet.“
„Ich muss das jeden Tag verkraften.“
„Nicht mehr lange. Wir sind jetzt eine Familie, wir drei.“ Sie küsst ihr Kind, dann küsst sie Benny. „Wir gehören zusammen. Wir werden wie eine richtige Familie leben, bei mir im Zimmer, so wie wir’s uns vorgenommen haben. Wer uns bedauert, hat keine Ahnung. Wir sind zu beneiden!“ Benny lächelt. Er würde gern bei Friederike wohnen. Er fürchtet nur, ihrer beider Eltern könnten ihm dieses Recht verweigern, aber Friederike ist vom Gegenteil überzeugt, und er traut ihr schon zu, dass sie es durchsetzen wird.
Er legt seinen Sohn ins Körbchen zurück. Er muss gehen, die Besuchszeit ist zu Ende, und Friederike fühlt sich auf einmal so müde, dass sie meint, keinen Moment länger wach bleiben zu können.
Trotzdem findet sie keinen Schlaf, selbst dann nicht, als es Nacht geworden ist. Überdeutlich hört sie jedes Geräusch auf der Station, Babygeschrei, Schritte und Türenklappen und das dumpfe Rollen der Räder, wenn eine Frau aus dem Kreißsaal gebracht und durch den Flur gefahren wird. Die kleinen Betten sind nach der letzten Mahlzeit in einen Nebenraum getragen worden, damit die Kinder während der Nacht ihren Müttern nicht unmittelbar in die Ohren schreien. Die beiden anderen Frauen schlafen. Friederike hört sie atmen. Sie hört sogar das Zerplatzen der Regentropfen, die der Wind gegen die Fensterscheiben wirft.
Sie möchte auch schlafen und kann es nicht. Immer wieder durchlebt sie den Augenblick, als sie Domenico zum ersten Mal gesehen und als er auf ihrem Bauch gelegen hat. Dabei hat sie ihn zuerst, ganz am Anfang, gar nicht gewollt und verzweifelt gehofft, dass die Zeichen trügen.
Das war damals, als die Winterferien vorbei waren.
Benny holte sie jeden Morgen ab, und während sie zusammen zur Schule gingen, versuchten sie, ihre Angst kleinzuhalten. In den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden lief Friederike zur Toilette. Benny stand auf dem Flur, und jedes Mal, wenn Friederike herauskam, bedeutete sie ihm: Noch immer nichts.
So ging es an die vier Wochen lang. Die anderen freuten sich auf die Jugendweihe, die Eltern planten schon Einkäufe und Vorbereitungen, und bei Friederike blieb die Periode zum zweiten Mal aus. Da ließ sich die Angst nicht mehr kleinhalten.
Friederike und Benny mussten sich verstellen. Sie lachten und redeten, innerlich waren sie starr und stumm. Sobald sie allein waren, berieten sie flüsternd, was sie tun sollten. Sicherlich würden die Eltern und sämtliche Erwachsenen in geschlossener Front der Meinung sein, dass diese Schwangerschaft abgebrochen werden müsse. Ein harmlos klingender Ausdruck. Aber wenn nicht ein Zweig oder ein Gebäude abgebrochen wird, sondern ein Leben, wie heißt es dann? Benny hatte ein Buch über Albert Schweitzer gelesen. Er wollte gern so sein, wie Albert Schweitzer gewesen war. Aber was war er, Benny Barre, für ein Mensch, wenn er keine Ehrfurcht vor dem Leben hatte?
Sie saßen beisammen, sie sahen sich an, und es graute ihnen vor der Entscheidung, ihr eigenes Kind zu töten, denn das war das Wort, das keiner aussprechen würde, obwohl es doch gar kein anderes Wort dafür geben konnte. Nein, sie wollten es nicht, sie würden es nicht zulassen, und weil sie annahmen, dass die Erwachsenen sie unter Druck setzen würden, beschlossen sie zu schweigen. Sie mussten nur lange genug schweigen, so lange, bis ihr Kind durch das Gesetz geschützt war.
Sie kannten sich aber nicht richtig aus. Hier und da hatten sie wohl mal etwas gehört. Sie holten sich auch Bücher aus der Bibliothek und lasen alles, was mit dem Kinderkriegen zusammenhängt. Sie überlegten und beratschlagten und wussten trotzdem nicht genau, wie diese Dinge nun in der Praxis gehandhabt werden mochten.
Manchmal war Friederike drauf und dran, Oma Ille einzuweihen. Sie fürchtete bloß, dass Oma Ille das Schweigegebot missachten würde, nicht aus Geschwätzigkeit, sondern weil sie ihrer Tochter Karin, Friederikes Mutter, gegenüber die Geheimhaltung als unfair empfinden könnte. Und dann würde die Sache Kreise ziehen, dann würden sich die Erwachsenen zusammensetzen und ebenfalls einen Beschluss fassen. Wer wusste denn, wozu sie berechtigt waren? Womöglich konnten sie über Friederikes Kopf hinweg entscheiden. Das hatten sie doch schon öfter getan, zum Beispiel, als Friederike klein gewesen war und zu Oma Ille gegeben wurde. Ihre Brüder durften zu Hause bleiben, sie nicht, und sie weinte über so viel Ungerechtigkeit. Nach drei Jahren hatte die Mutter das Fernstudium beendet, da wurde Friederike zurückgeholt, obwohl sie wieder weinte, denn nun wollte sie sich nicht mehr von Oma Ille trennen. Aber sie wurde ja nie gefragt.
Inzwischen weiß sie, dass sie diesmal hätte gefragt werden müssen. Ohne ihre Einwilligung hätte keiner das Kind töten dürfen. Trotzdem ist sie nach wie vor überzeugt, dass es gut gewesen ist, so lange geschwiegen zu haben. Ganz bestimmt wäre sonst ein endloses Palaver über sie hereingebrochen, düstere Prophezeiungen und Schwarzmalerei, um sie zu zermürben und gefügig zu machen, und wenn sie auch widerstanden hätte, so wäre doch Benny vielleicht unsicher geworden, und ihre gemeinsame Freude auf das Kind wäre futsch gewesen, am Ende sogar ihre Liebe, wer will das wissen? Immer heißt es: Du mit deinen fünfzehn Jahren, was weißt du schon! Dabei weiß sie sehr wohl, was gut und richtig ist.
Sie lauscht. Eins der Babys hat wieder angefangen zu schreien. Sie richtet sich auf und lässt die Beine aus dem Bett hängen. Vorsichtig stellt sie sich auf die Füße. Eigentlich soll sie noch nicht aufstehen. Sie will aber herausfinden, ob es Domenico ist, der da schreit, und wenn er es ist, will sie ihn holen.
Sie schleicht in den Nebenraum, der von einer bläulichen Nachtbeleuchtung erhellt wird. Das Kind einer anderen Frau schreit, nicht Domenico, er schläft. Zittrig und schwach steht sie eine Weile an seinem Bett und sieht ihn an. Sie staunt, sie traut ihren Augen kaum, als er plötzlich im Schlaf lächelt. Er verzieht die Lippen, in seinen Wangen bilden sich Grübchen.
Er hat mich gespürt, denkt Friederike. Sie neigt sich über ihn und küsst ihn. Eines Tages soll er sagen: Es gibt keine bessere Mutter als meine.
Karin Jordan hebt Domenico aus dem Wasser, hüllt ihn ins Badetuch und trocknet ihn ab. Diese Tätigkeit geht ihr so flott von der Hand, als sei sie nicht in der Finanzabteilung beim Konsum mit Ökonomie beschäftigt, sondern jahraus, jahrein nur mit Säuglingspflege.
„Ja, das verlernt man nie“, erklärt sie ihrer Tochter. „Hat man’s einmal gekonnt, sitzt es fest fürs ganze Leben, und mit jedem Kind wird man perfekter.“
„Ich nicht“, sagt Friederike.
„Doch, du lernst es auch.“
„Wie denn? Du lässt mich ja bloß zugucken.“
„Nein, nein“, beteuert Karin Jordan, aber sie weicht keinen Zentimeter vom Wickeltisch und hantiert eifrig weiter, während sie Friederike auseinandersetzt, wie viel besser es sei, zunächst durchs Zugucken zu lernen. Vor allem für Nico sei es besser, wenn er sich nicht als Übungsobjekt in noch ungeschickten Händen befinde. „Natürlich, Fritzchen, wenn du es unbedingt willst, hindere ich dich nicht. Aber eigentlich müsstest du froh sein, nicht? Ich meine ...“
Sie unterbricht sich, um mit dem Kleinen zu schäkern. „Ei, ei, wer bist du denn? Bist du Omis süßer Nico?“
Friederike beobachtet ihre Mutter. Es stimmt, sie selber ist viel unsicherer und langsamer, und solange Domenicos Bauchnabel nicht verheilt war, hat sie sich ans Wickeln und Baden gar nicht recht herangetraut. Das heißt, sie hätte es schon gewagt, denn in der Klinik, unter Anleitung der Schwester, hat sie ihr Kind gebadet, genau wie die anderen Mütter. Zu Hause war es aber nicht nötig, da brauchte sie nicht, wie die anderen Mütter, von morgens bis abends auf den Beinen zu sein. Wenn ihr die Knie zuerst noch ein bisschen wacklig waren, nun gut, dann sollte sie sich ausruhen, und wenn ihr der bläuliche, wulstige Rest der Nabelschnur an Domenicos Bauch unheimlich vorkam, nun gut, dann kümmerte sich ihre Mutter darum, und wenn Domenico nach den Mahlzeiten spuckte, dann war das ebenfalls kein Problem. Karin Jordan kannte sich aus. Bei der Mütterberatung vertiefte sie sich in einen sachkundigen Erfahrungsaustausch mit der Ärztin. Friederike stand daneben und fragte sich, ob wohl die Ärztin überhaupt mitbekam, dass Karin Jordan bloß die Großmutter war. Einerseits passte ihr das nicht, und andererseits wiederum musste sie ihrer Mutter dankbar sein.
Sei froh! Das hört sie oft. Aber irgendwie geht es ihr gegen den Strich, dieses Frohsein. Den Grund dafür versteht nicht mal Benny. Nur ihr Vater, der hat mit dem Frohsinn auch so seine Schwierigkeiten.
„Karin!“, ruft er. kaum dass er zur Tür herein ist. Er hat wieder etwas eingekauft, frischen Rosenkohl und ein Stück Kassler. Immer hält er die Augen offen, wenn er mit seinem Taxi unterwegs ist. Er kennt viele Leute. Bäcker halten knusprige Brötchen für ihn bereit, Kellner reservieren ihm zu jeder beliebigen Zeit einen Tisch, Handwerker kommen kurzfristig. Dieter Jordan hat Stammfahrgäste, für die er notfalls sogar mitten in der Nacht aus dem Bett aufsteht.
„Karin!“, ruft er zum zweiten Mal. Er will seiner Frau die Einkäufe zeigen. Er will, wenn er nach Hause kommt, gemütlich mit ihr beisammensitzen und ihr erzählen, was er während der Fahrten erlebt hat und welche Neuigkeiten ihm durch gesprächige Fahrgäste zu Ohren gekommen sind.
Karin Jordan ist aber noch mit Nico beschäftigt, und als ihr Mann ins Zimmer tritt, redet sie auf das Kind ein: „Guck mal, wer da ist? Ist das der Opa?“
Dieter Jordan schnauft in seinen Schnauzbart. Dann fragt er: „Hast du den Tiefkühlschrank abgetaut?“
„Ach, dazu hatte ich noch gar keine Zeit.“
„Sag lieber, du hast es vergessen. Zeit hast du genug.“
„Das ist wieder mal typisch, Dieter. Denkst du, ich hab Fritzchens Babyjahr übernommen, um den Tiefkühlschrank abzutauen?“
„Ihr seid zu zweit. Zwei Frauen, die um ein Kind wirbeln.“
„Wäre Fritzchen schon eine Frau, würde sie das Babyjahr nehmen, nicht ich. Wie oft hab ich das nun schon erklärt. Du willst es einfach nicht begreifen.“
„Ich begreife, dass Fritzchen ein Kind hat, nicht du. Seit zwei Wochen ist sie aus der Klinik zurück, gesund und munter, und du behandelst sie, als wär sie krank.“
„Krank ist sie nicht“, räumt Karin Jordan ein, „aber sie stillt, und das ist anstrengend.“
„Wieso? Ich kann mich nicht erinnern, dass es dich früher auch so angestrengt hätte. Um unsere eigenen Kinder hast du längst nicht solchen Wirbel gemacht. Die kamen in die Krippe und damit gut.“
„Das war nicht gut, sondern schade. Wir hatten eben diese Vergünstigungen nicht.“
„Und deshalb holst du jetzt wohl nach, was du glaubst versäumt zu haben?“
„Ich tue meine Pflicht, und wenn ich's gern tue, dann solltest du froh sein, anstatt dich zu ärgern. Aber du willst bloß deine Bequemlichkeit.“
„Hab ich in meinem Alter kein Recht drauf? Man denkt, man hat die Kinder groß, und dann geht alles von vorne los.“
„Ja, ja, Dieter, dieses Lied kenn ich inzwischen auswendig.“
Friederike kommt ihm zu Hilfe. „Vati hat doch recht“, sagt sie, „Domenico ist mein Kind.“
„Vati hat also wieder mal recht“, stellt Karin Jordan fest. „Ich reiße mich für dich in Stücke, das zählt nicht. Aber Vati, der könnte dich aus dem Haus jagen, und trotzdem würdest du wohl noch auf seiner Seite sein.“
„Vati würde mich nie aus dem Haus jagen“, erwidert Friederike.
Daraufhin verstummt die Mutter. Friederike nimmt ihr Domenico ab. Für einen Moment sehen sich beide in die Augen. Dann setzt sich Friederike, um ihr Kind zu stillen, und Karin Jordan räumt den Wickeltisch auf.
„Trägst du bitte die Babywanne ins Bad?“, fragt sie ihren Mann.
„Nein. Das lass man den Jungen machen, wenn er hier aufkreuzt. Ich muss den Tiefkühlschrank abtauen.“
Um ihn nicht gänzlich zu verärgern, folgt Karin Jordan ihm in die Küche.
Allein geblieben, legt Friederike ihr Kind von der rechten an die linke Brust. Nach Meinung ihrer Mutter ist das falsch. Man wechselt nicht beliebig, man lässt die Milch aus einer Brust restlos abziehen und reicht erst bei der nächsten Mahlzeit die andere Brust. So jedenfalls war es früher üblich. Früher gewöhnte man den Säugling auch an feste Mahlzeiten. Ja, früher! Friederike hat sich moderne Erkenntnisse angeeignet. Jedes Mal, wenn Domenico schreit, nimmt sie ihn an die Brust, und nachts holt sie ihn zu sich ins Bett und lässt ihn saugen, solange er will. Zum Ärger ihrer Mutter schläft sie darüber ein, und Domenico nuckelt weiter, obwohl er längst satt ist, und schläft ebenfalls darüber ein. Allmählich tun ihr zwar die Brustwarzen weh, aber das verschweigt sie. Sonst würde sich die Mutter gleich wieder einmischen und Domenico einen billigen Ersatz, einen Schnuller, in den Mund stecken.