Kappeln - Olaf Wegermann - E-Book

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Olaf Wegermann

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Beschreibung

Ein schauriger Mord an der idyllischen Ostsee! Der zweite Fall für Kommissar Theissen Im Kühlraum eines Restaurantneubaus in Olpenitz wird die tiefgefrorene Leiche eines öffentlichkeitsscheuen Baulöwen gefunden. Die Ermittlungen führen zu einer ebenso traditionsbewussten wie dünkelhaften Familie bei Arnis und auf die dänische Insel Ærø. Dienststellenleiter Volker Theissen beauftragt seine künftige Kollegin Martina Schüppel und deren Freundin Anna Hansen, private Recherchen auf der Insel anzustellen, mit denen sich die beiden Frauen prompt in Lebensgefahr begeben. Während Theissen im Nebel stochert, explodiert in Olpenitz das jüngste Immobilienprojekt des ermordeten Unternehmers. Noch ehe sie eingehend untersucht worden ist, verschwindet dessen Leiche aus der Rechtsmedizin. Doch Theissen gibt nicht auf. Ein winziges Detail liefert schließlich den entscheidenden Hinweis.

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Ähnliche


Für Familie und Freunde

Herzlichen Dank an alle Helfer

INHALT

PROLOG

Kann man

ANFANG MAI DIESES JAHRES

RÜCKBLICK

Oktober 1997

Flucht aus Angeln

Donnerstag, 23. Oktober 1997

Kappeln, interner Vermerk der Freiwilligen Feuerwehr

Kappeln, Aktennotiz der Wasserschutzpolizei

Mittwoch, 1. Juli 1998

„Schlei-Nachrichten“:

Simonsen für tot erklärt

ZURÜCK IN DER GEGENWART

Montag, 20. Mai

Heidelberg und Arnis

Sønderborg, Dänemark

Kopenhagen, 18.30 Uhr

Dienstag, 21. Mai

Ein neuer Fall

Kappeln, 09.00 Uhr

Mittwoch, 22. Mai

Erster Ermittlungstag

Angeln, 06.00 Uhr

Kappeln, nachmittags

Donnerstag, 23. Mai

Zweiter Ermittlungstag

Kappeln, 07.30 Uhr

Anna meldet sich in Arnis, 20.00 Uhr

Freitag, 24. Mai

Dritter Ermittlungstag

Sonnabend, 25. Mai

Angeln und Ærø

Kappeln und Umgebung, nachmittags

Søby, nachmittags

Kappeln, 15.45 Uhr

Sonntag, 26. Mai

Sonnenaufgang in Olpenitz

Frühausgabe „Schlei-Nachrichten“:

Explosion im OstseeResort

Ærø, morgens

Arnis, morgens

Ærø, nachmittags

Kappeln, nachmittags

Abends in Angeln und Schwansen

Ærø, nachts

Montag, 27. Mai

Vierter Ermittlungstag

Sønderborg, morgens

Von Sønderborg nach Ærø und zurück

Kappeln, 10.10 Uhr

Kappeln, 13.00 Uhr

Polizeipräsidium Kappeln, 15.25 Uhr

Dienstag, 28. Mai

Fünfter Ermittlungstag

Gelting, morgens

Erster Arbeitstag in Kappeln

Sønderborg, später Vormittag

Glücksburg, 12.15 Uhr

Mittwoch, 29. Mai

Sechster Ermittlungstag

Olpenitz, abends

Donnerstag, 30. Mai

Siebter Ermittlungstag

Anna in Kiel

Freitag, 31. Mai

Achter Ermittlungstag

Morgens in Flensburg

Kappeln, 09.20 Uhr

Kappeln, 10.10 Uhr

Arnis, nachmittags

Anna in Olpenitz, abends

Nachts in der Nähe von Arnis

Sonnabend, 1. Juni

neunter Ermittlungstag

Arnis, 08.00 Uhr

Olpenitz, 09.00 Uhr

Flensburg, 09.20 Uhr

Arnis, 09.30 Uhr

Olpenitz, 10.30 Uhr

Kappeln, 12.00 Uhr

„Schlei-Nachrichten“:

Leichenfund am Strand von Olpenitz

Kappeln 14.35 Uhr

Arnis, 17.00 Uhr

Sonntag, 2. Juni

Zehnter Ermittlungstag

Morgens in Gelting

Arnis, 14.10 Uhr

Montag, 3. Juni

Elfter Ermittlungstag

Hamburg, 8.00 Uhr

Dienststelle Kappeln, 10.15 Uhr

Dienstag, 4. Juni

Zwölfter Ermittlungstag

Kappeln 08.35 Uhr

Arnis, gegen Mittag

Mittwoch, 5. Juni

Dreizehnter Ermittlungstag

Donnerstag, 10. Oktober

Landgericht Flensburg, Hauptverhandlung

Donnerstag, 14. November

Landgericht Flensburg, Schlussplädoyer

„Schlei-Nachrichten“:

Gericht folgt Antrag der Staatsanwältin

Donnerstag, 21. November

Kappeln, abends

PROLOG

KANN MAN

Kann man als Mensch denn je verstehen, dass viele Menschen mussten gehen, dass sie von Haus und Hof vertrieben, wo sie doch gern dort wären geblieben,

wo sie ihr ganzes Leben haben verbracht und man ihnen nun nach dem Leben tracht. Sie sind auf einmal gar nichts mehr wert, was läuft in dieser Welt verkehrt?

Die Menschlichkeit ist auf der Strecke geblieben, und Menschen wurden aus ihrem Haus vertrieben. Besinnt Euch doch auf ein gemeinsames Leben, in Vielfalt kann es nichts Schöneres geben.

Gerhard Ledwina

ANFANG DIESES JAHRES

Die Vision vom großen Existenzgründer hatte er nie aufgegeben, seine ambitioniertesten Ideen lebten weiter und warteten auf Verwirklichung. Erfolgreiche Jahre im In- und Ausland lagen hinter ihm. Er hatte genügend Rücklagen gebildet, um auskömmlich von ihnen leben und sich neuen Aufgaben widmen zu können. Ruhiger aber war sein Leben deswegen nicht geworden. Trotz seiner aufopferungsvollen Jahre bei Aufbau und Leitung der Anstalt ließ sein Nachfolger ihn nicht einen Tag früher ziehen, sondern bestand auf penibler Vertragserfüllung. Es lagen noch viele ungelöste Probleme vor ihm, die Planung seines aktuellen Projektes zog sich in die Länge. Es drohte ein Fiasko.

Unweit seiner Heimat fand er ein geeignetes Domizil. Die Renovierung des bestehenden Häuschens erwies sich als einfach, der Anbau dagegen als unerwartet komplex. Die zu installierenden Komponenten waren ihm zwar vertraut, sie entsprachen der neuesten Technik, waren weitestgehend unverdächtig und ließen sich europaweit beziehen. Doch nur durch externe Expertise wurden die Bestandteile zu einer funktionierenden Einheit zusammengefügt. Mit den Bauarbeiten beauftragte er fleißige osteuropäische Handwerker, die er vertraglich zu absolutem Stillschweigen verpflichtete, die Bauleitung übernahm er selbst. Zunächst rückten Gärtner an, entfernten die alten Bäume und Sträucher, pflanzten immergrüne, hohe, blickdichte Hecken und sicherten das Grundstück mit einem soliden Zaun. Es folgten die Renovierung der vorhandenen Substanz und die Erweiterung. Ihm altbekannte Kräfte benötigten Monate für den Innenausbau und die Montage der hypermodernen Anlage.

Für die nötige Baugenehmigung sorgte ein guter Freund, der hielt beide Hände auf, er kannte das Spiel. Es war ein Spiel nach seinen Regeln, nach tödlichen Regeln. Denn Mitleid mit Kontrahenten war ihm fremd. Nun stand die Anlage, lief kurz zur Probe und musste nicht lange auf ihren Einsatz warten. Unauffällig bezog er den alten Trakt des Hauses und war praktisch unsichtbar. Zug um Zug dezimierte er die Zahl seiner Gegenspieler und ließ die Polizei im Dunkeln tappen. Doch als er das Spiel schließlich als beendet betrachtete und sich als Sieger wähnte, betrat unerwartet ein neuer, mächtiger Gegner das Spielfeld und forderte ihn heraus. Er spielte nach anderen, wenngleich nicht weniger gnadenlosen Regeln. Er sah sich gezwungen, nochmals abzutauchen.

RÜCKBLICKOKTOBER 1997

Flucht aus angeln

Der tief über der Schlei stehende Mond tauchte die Landschaft in ein diffuses Licht, der ehrwürdige Dreiseithof auf dem gegenüberliegenden Ufer war daher nur schemenhaft zu erkennen. Doch langsam gewann das Mondlicht an Höhe und erreichte das Anwesen, wanderte zunächst über Rasen und Hecken, über eines der Wirtschaftsgebäude und zur alten Blutbuche, ehe es schließlich das Haupthaus des Gutes erreichte. Wie ein Suchscheinwerfer glitt es über die Fachwerkfassade, leuchtete kurz in jedes Fenster hinein und strebte nach neuen Zielen. Der stärker werdende Wind rüttelte an den Fensterläden, ließ die Scharniere der offenen Fenster leise quietschten und den Dachstuhl knarzen. Es ähnelte einer wiederkehrenden nächtlichen Sinfonie, zu der sich das Ächzen und Stöhnen der alten Bäume gesellte. Die mächtigen Buchen, Eichen und Linden im Garten wiegten ihre riesigen Baumkronen im kühlen Nordwind und warfen ihre morschen Äste und Zweige ab. Doch es waren nicht die Geräusche des Windes oder der nachtaktiven, auf dem Gelände umherstreifenden Tiere, die ihn weckten. Die kannte er seit Jahrzehnten. Nein, diese Geräusche waren andersartig. Das Klopfen begann leise und gleichmäßig, so als schlüge jemand mit einem dicken Stock auf eines der Fallrohre. Sie sind wieder da, schoss es ihm durch den Kopf. Hört dieser Terror denn niemals auf? Längst hatte er resigniert und auf die Reparatur des mittlerweile völlig verbeulten Dachrinnenabflusses verzichtet. Zu oft hatten sie bereits darauf eingedroschen. Plötzlich trommelte es ohrenbetäubend laut gegen das Holztor des alten Stalls. Die ersten Bretter barsten bereits unter den harten Schlägen von Äxten und Vorschlaghämmern. Schließlich gesellte sich ein merkwürdiges Kratzen zu den Geräuschen, ein neuer Laut, den er nicht zu lokalisieren wusste.

Bereits seit einem halben Jahr suchten sie ihn nachts regelmäßig heim, raubten ihm den Schlaf und allmählich auch den Verstand. Anfangs hatten sie es dabei belassen, ihm anonyme schriftliche Drohungen in den Briefkasten zu stecken, er solle verschwinden. Ohne sich diese Drohungen allzu sehr zu Herzen zu nehmen, hatte er sie zunächst im Kamin verbrannt. Doch als sie schließlich massiver wurden, war er dazu übergegangen, sie als Beweisstücke in der Schublade seines Küchenschranks aufzubewahren. Und als die Unbekannten ihm zu guter Letzt die alten doppelten Fensterscheiben im Erdgeschoss einschlugen, den letzten fahrtüchtigen Pkw zertrümmerten und ihn nachts mit ohrenbetäubend lauter Musik terrorisierten, verbarrikadierte er die Fenster mühsam mit Schaltafeln und nahm sein Jagdgewehr mit ins Bett. Er dachte nicht im Traum daran, den seit Jahrhunderten im Familienbesitz befindlichen Hof so schnell aufzugeben, obwohl er ihn nicht mehr bewirtschaften und dessen Verfall nicht aufhalten konnte. Die Jahre nagten an der Substanz. Das Herrenhaus mit Blick auf die Schlei war nur mit immensem Aufwand sanierungsfähig, die Stallungen standen leer, und die restlichen Ländereien lagen brach. Schleichend war das Leben entwichen. Nach Aufgabe der Tierhaltung und der Landwirtschaft verließen auch die letzten Lohnarbeiter und Angestellten den Hof, und eines morgens fehlte schließlich auch die Frau. Man fand sie im Dachstuhl des Hauptgebäudes. Er dagegen hatte sich fest vorgenommen, noch zu bleiben, er hing am einst hochherrschaftlichen Hofgut Simonsen bei Arnis.

Doch die Sicherung des Anwesens erwies sich als schwieriger als gedacht. Der beauftragte Wach- und Schließdienst patrouillierte lediglich zweimal in der Woche zu gleichbleibenden Zeiten. Ehe die Wachleute auf dem Hof eintrafen, waren die Störenfriede längst verschwunden. Schließlich schaltete Simonsen die Polizei ein, doch auch deren Bemühen, die maskierten nächtlichen Unruhestifter dingfest zu machen, blieben erfolglos. Die neuen Videoüberwachungskameras rissen sie so oft von den Wänden, dass die Polizei schließlich resigniert auf einen neuerlichen Einbau verzichtete.

Eines Tages erschien ein Makler auf dem Anwesen und überreichte Simonsen eine Offerte für die Gebäude und die Ländereien. Doch der Mann schlug das Angebot aus und jagte den Agenten vom Hof. Daraufhin verstärkten sich die nächtlichen Attacken in einem Maße, dass in Simonsen der Entschluss reifte, der nächtlichen Hölle zumindest zeitweilig zu entfliehen. Er drohte, an Schlafmangel zu zerbrechen, und sehnte sich nach Ruhe. Ein vorübergehender Abschied, hoffte er und richtete sich auf ein paar Tage oder Wochen ein. Das wenige an Kleidung hatte er neben den wichtigsten Dokumenten rasch in eine Tasche gepackt. Ausweis, Sparbuch und Bargeld steckte er in die Innentasche seiner alten Jacke. Während sich die Unruhestifter weiter am Portal des Herrenhauses zu schaffen machten, stieg Simonsen mit Tasche und Gewehr in den dunklen Keller hinab, holte ein langes Messer sowie eine Axt aus dem Werkzeugschrank und schlüpfte durch den Hinterausgang des Herrenhauses hinaus in die dunkle Nacht. Im Schatten der hohen Hecke schlich er über den weitläufigen Rasen hinab zur Schlei, als er jäh zu Tode erschrak und innehielt. Auf der anderen Seite der Hecke konnte er die Silhouetten zweier Männer erkennen – hatten sie ihn gesehen? Das Herz schlug ihm bis zum Hals, während er vorsichtig weiterging, ohne sich nach den beiden umzudrehen. In jüngeren Jahren hätte er gewusst, sich gegen diese Bande zur Wehr zu setzen. Doch heute fühlte er sich selbst bewaffnet chancenlos. Sollten ihn die Eindringlinge entdecken und attackieren, hätte er kaum etwas gegen sie ausrichten können. Schließlich erreichte er das Bootshaus, kletterte leise in den Kahn, verstaute die Tasche und lehnte das Gewehr gegen die Bordwand. Ruhig löste er die Tampen und ruderte die vier Meter lange „Astrid“ lautlos durch die Fahrrinne ins breite Fahrwasser der Schlei. Erst jetzt schaltete er die Positionslichter an, startete den Außenbordmotor und fuhr in Richtung Kappeln. Als er nach dem ersten lauten Knall zurückblickte, stand das Bootshaus bereits in Flammen – ein höhnischer letzter Gruß der Bande. Sie hatten ihm den Rückweg abgeschnitten und damit die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zunichte gemacht: Angelland war abgebrannt.

Simonsens Ziel war die Hafenstadt Marstal an der Südostspitze der dänischen Insel Ærø. Dort lebte ein Teil seiner Familie. Einen der Brüder hatte es vor Jahren beruflich nach Dänemark verschlagen, wo er Edda kennengelernt, wenige Monate später geheiratet und eine Familie gegründet hatte. In den folgenden Jahren hatte Edda eine Tochter und zwei Söhne zur Welt gebracht. Die Tochter lebte inzwischen in Schweden. Während eines Besuchs bei ihr war Mutter Edda dem fünf Jahre jüngeren Adam begegnet und bei ihm geblieben. Die beiden Jungs dagegen hatten in ihren Schulferien regelmäßig ihren Onkel Hinnerk in Angeln besucht, ihm beim Einbringen der Ernte geholfen und beim Ausbessern des Hofes unterstützt. Doch mit der Zeit war deren Interesse am Landleben auf der winzigen Insel erloschen und an jungen Mädchen umso stärker erwacht. So war der Kontakt zu Vater Torge auf Ærø und zu Onkel Hinnerk in Arnis schließlich eingeschlafen. Ein paar Monate waren seit Simonsens letztem Besuch auf Ærø vergangen. Früher hatten sie hier ausgelassen Taufen, Geburtstage und Hochzeiten gefeiert, die Insel war neben Arnis zweites Zentrum des Familienlebens. Dem Mann wurde angesichts der Erinnerungen an jene Zeit warm ums Herz. Doch die Uhr des Lebens ließ sich nicht zurückdrehen, das wusste natürlich auch er. Er hatte schwere Schuld auf sich geladen und sich seiner Verantwortung entzogen.

Nebel lag nun über der Schlei, Simonsen konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Langsam navigierte er sein Boot durch das stellenweise nur 200 Meter breite Arnisser Noor auf Kappeln zu. Die feuchte Kälte kroch ihm in die Kleidung und ließ ihn frösteln. Schließlich tauchte die baufällige Drehbrücke von 1927 auf, die er dank der geringen Höhe seines Bootes im geschlossenen Zustand unterqueren konnte. Rote und grüne Tonnen markierten die Fahrrinne und wiesen ihm den Weg zur Schleimündung. Noch ehe er die offene See erreicht hatte, wurde der Nebel dichter. Der Marinestützpunkt Olpenitz ließ sich rechter Hand nur erahnen. Selbst das Licht des wuchtigen Leuchtturms Schleimünde leuchtete nur schwach. Leise schwappten die Wellen gegen die dicke Steinmauer. Dank der Wellengeräusche konnte Simonsen den Abstand zur Mauer recht gut abschätzen. Mit der Taschenlampe leuchtete er auf den Kompass und steuerte das Boot nach Nordosten. Zwei Stunden würde er bis Ærø benötigen, so hoffte er.

Weit draußen auf der offenen, tiefschwarzen See stockte plötzlich der Außenbordmotor, der geschwächte Mann tankte nach, doch kurz darauf streikte der Antrieb komplett. Dabei hatte das Boot erst kürzlich unbeanstandet die Inspektion durchlaufen. Verzweifelt zog Simonsen am Seilzugstarter, bis sich Blasen zwischen seinen eiskalten Fingern bildeten. Ohne Antrieb würde das Boot hilflos der Dünung ausgeliefert sein, auch das hohe Verkehrsaufkommen an Schiffen in dieser vielbefahrenen Wasserstraße stellte für das Vier-Meter-Boot eine erhebliche Gefahr dar. Im Lichtkegel der Taschenlampe suchte er Benzinschlauch und Hahn vergeblich nach Schäden ab, ehe er sich schließlich in sein Schicksal ergab und zu rudern begann. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Dünung, doch nach einer Stunde schwanden ihm die Kräfte. Die Lunge brannte, die Hände schmerzten. Resigniert zog er die Ruder ins Boot, sank völlig entkräftet auf die Holzbank und rang nach Luft. Bis zum Tagesanbruch würden noch Stunden vergehen. Er nahm sich vor, durchzuhalten, kauerte auf dem Boden des Bootes und nickte vor Kälte zitternd schließlich ein.

DONNERSTAG, 23. OKTOBER 1997

Kappeln, interner Vermerk der Freiwilligen Feuerwehr

A m 20. Oktober 1997, 23.09 Uhr, stand auf dem Hofgut Simonsen bei Arnis der Bootsanleger in Flammen. Gegen 23.30 Uhr waren rund 30 Helfer der Feuerwehren aus Kappeln und Süderbrarup sowie von DLRG und Rettungsdienst vor Ort und nahmen die Brandbekämpfung auf. Explodierende Benzinkanister und Kraftstofftanks der Boote erschwerten zunächst die Löscharbeiten. Auf der Schlei ausgelegte Ölsperren verhinderten größere Umweltschäden. Wie viele Boote sich im Anleger befanden und den Flammen zum Opfer gefallen sind, ist noch ungeklärt. Zum Einsatzzeitpunkt wurde niemand auf dem Dreiseitenhof angetroffen. Gebäude und Grundstück waren verlassen und teilweise stark verwüstet. Personenschäden sind vermutlich nicht zu beklagen. Außer einigen Fußabdrücken auf dem Rasen wurden keine Spuren gefunden. Anhaltspunkte für einen technischen Defekt ergaben sich bislang nicht. Die Ermittler gehen daher von Brandstiftung aus. Das Bootshaus könnte auch von der Wasserseite aus angezündet worden sein. Der Schaden wird vorläufig auf 200.000 DM geschätzt. Es kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass sich Wertgegenstände auf dem Grund der Schlei befinden. Taucher werden in den kommenden Tagen die Umgebung absuchen.

Gegen 3.00 Uhr verließen die meisten Einsatzkräfte den Brandort. Hauptbrandmeister Hauke Storm veranlasste die Überwachung des Brandherdes. Um die Funktionalität der Ölsperren nicht zu gefährden, wurde die Höchstgeschwindigkeit für Wasserfahrzeuge an der Unglücksstelle auf der Schlei von zehn auf drei km/h reduziert. Zwei Boote der Wasserschutzpolizei verblieben vor Ort, um den Schiffsverkehr bis zum Abschluss der Ermittlungen zu kontrollieren. Erst danach wird die Schifffahrt auf der Schlei uneingeschränkt freigegeben werden können.

Kappeln, Aktennotiz der Wasserschutzpolizei

Am frühen Morgen des 22. Oktober 1997 entdeckten mehrere Segler südlich des Langelandsbelts zwischen Kattegat und Ostsee das führerlose, schwer beschädigte Motorboot „Astrid“ und meldeten dies der deutschen Polizei. Die deutsche Küstenwache schleppte die „Astrid“ daraufhin nach Kiel und unterzog das vier Meter lange Boot einer ersten Inspektion. Die Schäden deuten auf die Kollision mit einem deutlich größeren Schiff hin, Farbpartikel wurden zur Analyse ins Labor geschickt. Nach aufwendigen Recherchen konnte die führerlose „Astrid“ dem vermissten Hinnerk Simonsen aus Arnis zugeordnet werden. Dieser hatte sein Grundstück offenbar vor dem Brand in der Nacht des 20. Oktober 1997 verlassen und war mit der „Astrid“ in See gestochen. Hinnerk Simonsen wurde bislang nicht gefunden. Vermutlich wurde er bei der Havarie verletzt, ging über Bord und ertrank. Von der Rekonstruktion des Zusammenstoßes erhofft sich das Ermittlungsteam weitere Erkenntnisse. Die mangelhafte Beleuchtung, die unzureichende technische Ausstattung sowie der schlechte Allgemeinzustand des ca. 30 Jahre alten Bootes haben das Unglück zweifellos begünstigt. Die Funktionalität des Außenbordmotors und die chemische Zusammensetzung des Kraftstoffes werden noch überprüft. Im Staufach wurden persönliche Gegenstände von Hinnerk Simonsen gefunden. Gezeichnet: Polizeioberkommissar Meinhold.

MITTWOCH, 1. JULI 1998

„Schlei-Nachrichten“:Simonsen für tot erklärt

Gut acht Monate nach dem spurlosen Verschwinden des Großgrundbesitzers Hinnerk Simonsen aus Arnis hat das Amtsgericht Schleswig den 48-jährigen Witwer gestern offiziell für tot erklärt und ist damit einem Antrag der Staatsanwalt gefolgt. Seit dem Auffinden seines leeren Motorbootes „Astrid“ südlich des Langelandsbelts am frühen Morgen des 22. Oktober 1997 fehlt von dem Landwirt aus Angeln jede Spur. Während einige Medien fortgesetzt Zweifel am Tod des Vermissten hegen, gehen Staatsanwaltschaft und Amtsgericht davon aus, dass Simonsen der Kollision mit einem größeren Schiff zum Opfer gefallen ist. Einen Suizid, wie ihn Simonsens Frau Astrid vor Monaten beging, oder eine Gewalttat schließen die Behörden im Falle von Hinnerk Simonsen nicht aus. Einzig Hinterbliebener ist den Ermittlungen zufolge Hinnerks Bruder Torge Simonsen. Dieser hatte viele Jahre einen Wohnsitz auf der dänischen Insel Ærø und lebt heute in den Vereinigten Staaten.

Mit seinem Tod endet die Ära Simonsen in Arnis. Über Jahrhunderte prägten die sagenumwobenen und gelegentlich gefürchteten Landwirte, Abenteurer und Glücksritter Angeln und Schwansen. Etliche Geheimnisse und mysteriöse Geschichten umgeben die Familie bis heute. Hinnerk Simonsen hat sie mit in sein nasses Grab genommen.

ZURÜCK IN DER GEGENWARTMONTAG, 20. MAI

Heidelberg und Arnis

Neun Monate waren seit dem mysteriösen Kriminalfall an der Schlei vergangen, in dem die Kriminalbeamtin Martina Schüppel und der Architekt Jochen alias „Mojo“ Marxer höchst unterschiedliche Rollen gespielt hatten. Damals hatte die in Heidelberg tätige Martina Schüppel mit ihrer Hamburger Schulfreundin Anna Hansen Urlaub im OstseeResort Olpenitz bei Kappeln gemacht und war gemeinsam mit drei einheimischen Frauen entführt worden. Moped-Jochen hatte zunächst zu den Hauptverdächtigten gezählt, der Polizei jedoch im letzten Augenblick geholfen, Schlimmeres abzuwenden.

Ein Dreivierteljahr nach jenem Urlaub, in dem Martina und Mojo einander in jeglicher Hinsicht nähergekommen waren, hatte sie ihren Haushalt in Heidelberg aufgelöst und war zu ihm nach Arnis bei Kappeln gezogen. Die aus Hamburg stammende junge Frau freute sich auf ihre neue Beziehung, auf die Nähe zu ihrer Geburtsstadt Hamburg und zu den alten Freunden. Mojo Marxer war selig, seine Traumfrau gefunden, erobert und an die Schlei gelotst zu haben. Den Umzug vom Neckar an die Ostsee hatte Martina bewusst alleine organisiert und Mojos wiederholten Hilfsangebote konsequent abgelehnt. Formal war sie noch verheiratet, und eine Begegnung ihres Ex-Mannes mit ihrem neuen Lebensgefährten wollte sie unter allen Umständen verhindern. Ihr Mann akzeptierte die Trennung nicht, wurde schnell eifersüchtig und jähzornig. Dabei hatte er Martina mit seinen ständigen Seitensprüngen jahrelang verletzt und durfte sich daher über die bevorstehende Scheidung nicht wundern. Schließlich hatte sie ihn aus ihrem Haus geworfen und sich jeglichen weiteren Kontakt verbeten.

„Hallo, Martina, wie weit bist Du?“ fragte Mojo ungeduldig, sein Smartphone am Ohr. „Hallo, Jochen, ich habe es gleich geschafft“, antwortete die 31-Jährige über die Freisprechanlage in ihrem Umzugslaster. Neun Stunden Fahrt lagen bereits hinter ihr. „Ich fahre gerade in Kappeln über die Klappbrücke, der Blick auf die Schlei und den Hafen ist immer wieder schön. Ich brauche nur noch wenige Minuten. Bekomme ich gleich einen Kaffee?“ Kurz darauf bog Martina nach Arnis ab und parkte vor Mojos Haus. Sie stieg aus, reckte und streckte sich und fiel Mojo freudig um den Hals. Dieser hatte den kleinen Gartentisch in den Schatten der Bäume gestellt, ihn mit Blumen dekoriert und einen halbgaren Apfelkuchen gebacken. Doch lange währte ihr Kaffeekränzchen nicht, zu groß war das gegenseitige Verlangen aufeinander.

Es dämmerte bereits, als Martina und Mojo sich schließlich voneinander lösten, ankleideten und begannen, den Umzugslaster zu entladen. Mojo hatte zwar reichlich Platz im Haus geschaffen, aber der füllte sich erstaunlich schnell. Martinas kleinen Esszimmertisch trugen sie in Mojos Atrium, den Geschirrschrank ins Esszimmer und das Bett ins Gästezimmer. Kommentarlos, wenngleich zunehmend verwundert, trug Mojo eine um die andere Umzugskiste ins Haus, die sich schließlich bis an die Decke des Gästezimmers türmten. Dabei hatte Martina längst nicht alles aus Heidelberg mitgenommen, sondern ihr dortiges Haus schlicht mit sämtlichen unliebsamen oder überflüssig gewordenen Einrichtungsgegenständen verkauft. Nachdem die beiden die meisten Kisten ausgepackt und die leeren zusammengefaltet und wieder im Umzugslaster verstaut hatten, brachte Martina den Lkw zum Verleiher nach Kappeln, während Mojo ihr auf seinem Motorrad folgte. Sie warfen den Fahrzeugschlüssel in den Briefkasten, Martina schwang sich hinter Mojo aufs Motorrad, und in gemächlichem Tempo fuhren die beiden zum „Gasthof Alt Sieseby von 1867“ in Thumby/Sieseby. Mojo liebte Maria von Randows Küche mit Fleisch aus den Ställen des Landes, Fisch aus heimischen Gewässern und Gemüse von holsteinischen Äckern. Hierher hatte er Martina schon seit langem ausführen wollen. Beide entschieden sich für das in drei Gängen servierte „Lieblingsmenü“ und folgten den exquisiten Weinempfehlungen der Hausherrin. Nach einem romantischen Abend kehrten die beiden nach Arnis zurück und sanken glücklich und müde ins Bett.

Ganze vier Wochen hatte Martina bis zu ihrem Dienstantritt am 17. Juni bei der Kappelner Polizei noch frei. Für diese Zeit hatte sich das Paar einiges vorgenommen. Sie wollten fernab der Touristenpfade die Gegend erkunden, Mojo wollte Martina seine Freunde vorstellen, und Martina nahm sich vor, die neuen Kollegen auf der Kappelner Wache zu besuchen und bei einem Umtrunk näher kennenzulernen. Sie sollte ihre Kollegen früher sehen, als ihr lieb war, und dies nicht erst zum Antrittsbesuch.

Sønderborg, Dänemark

FYI. Kürzer hätte seine Nachricht kaum ausfallen können. For your information. Er unterschrieb seinen Urlaubsantrag, scannte ihn ein und schickte ihn per Mail an die Personalabteilung. Auch als geschäftsführender Gesellschafter hielt er sich an die unternehmensinternen Gepflogenheiten, obwohl er als Eigentümer keine Genehmigung einholen musste. In den kommenden drei Wochen würden für ihn eingehende Mails automatisch mit einer Abwesenheitsnotiz beantwortet, nicht umgeleitet oder gelesen werden. In dieser Zeit würde es keine beruflichen Termine oder Anrufe geben, sein geschäftliches Smartphone schaltete er aus, jetzt war er an der Reihe. In legeren Klamotten, mit Dreitagebart und zerzaustem Haar erkannte er sich selbst nicht wieder. Er setzte die Sonnenbrille auf und verließ das Büro der Vinst Rosenborg Bygge A/S im dänischen Sønderborg. Mit zwei großen, schweren Taschen auf Rollen und einer zum Umhängen fuhr er mit dem Aufzug von seinem Büro im obersten direkt in die Tiefgarage im untersten Stockwerk. Nur mit Mühe brachte er das sperrige Gepäck im kleinen gemieteten Fiat 500 unter. Der Schranke vor der Garagenausfahrt hielt er seinen Transponder entgegen, woraufhin diese sich öffnete und ihn mit einem blechernen „Danke für Ihren Besuch, wir wünschen einen schönen Tag“ passieren ließ. Nicht weit vom Büro entfernt stieg er vom Fiat in einen Geländewagen um. Das schwere Gefährt hatte er vor Monaten nach seinen Wünschen umbauen lassen und die Kosten im Voraus bar beglichen. Die Autoschlüssel waren hinterlegt, in dieser Autowerkstatt stellte ihm niemand irgendwelche Fragen.

Zunächst würgte er an jeder Ampel den Motor ab. Ein schaltgetriebenes Auto zu fahren, war ihm fremd. Doch er gewöhnte sich daran, sich am Drehzahlmesser zu orientieren und bei 2.500 Umdrehungen pro Minute einen Gang hoch oder runter zu schalten. Er verließ die Stadt Richtung Norden, wählte die Landstraße und erreichte nach zwanzig Minuten Fahrt die Fähre in Fynshav. Auf der Insel genoss er anfangs die liebliche Landschaft, doch je näher er seinem Ziel kam, desto mehr spürte er die aufkommende Nervosität. Er parkte in sicherer Entfernung, griff zum Fernglas und sah sich um. Das meiste war ihm vertraut, hier auf dem Lande gingen die Uhren langsamer. Viele Erlebnisse in dieser Gegend hatten sich ihm tief in die Erinnerung eingebrannt. Langsam fuhr er weiter in die nächste größere Stadt und steuerte einen Stellplatz für Wohnmobile an. Hier war es schön anonym, hier störten keine neugierigen Camper. Er verdunkelte die Scheiben seines Boliden, holte seinen Laptop aus der Tasche hervor und begann, die lange Liste abzuarbeiten, die er verschlüsselt in der Cloud gespeichert hatte.

Deutlich nach Mitternacht startete er den Motor, schaltete das Standlicht ein und fuhr langsam durch das unbeleuchtete Dorf. Anständige Menschen schliefen zu dieser späten Stunde, er war völlig allein unterwegs und erreichte das merkwürdig eingezäunte, getarnte und abgelegene Gebäude. Hier also verschanzte sich sein Kontrahent. Diesen hatte er unter einem Vorwand aus seinem Versteck gelockt und in die Irre geführt. Nach jahrelangem Belauern rückte die unausweichliche Konfrontation näher, doch vor der Entscheidungsschlacht wartete noch eine weitere, äußerst anspruchsvolle Aufgabe auf ihn. Nach über einer Stunde hatte er die Mission zu seiner Zufriedenheit erledigt. Alles passte, er hatte sich freien Zutritt verschafft, den großen, schweren Zylinder mit der Seilwinde aus der Verankerung gerissen und in den umgebauten Geländewagen gezogen, verzurrt und angeschlossen. Er verriegelte das ungewöhnliche Bauwerk und kehrte zufrieden zu seinem Parkplatz am Hafen zurück. Die selbstgebaute Kühlung arbeitete auf Hochtouren. Noch ehe der Ort erwachte, brach er auf und steuerte seinen nächsten, fünf Stunden entfernten Zielort an. Um unterwegs nicht einzuschlafen, kaufte er an einer Tankstelle einen Becher starken Kaffee und ein belegtes Brötchen. Nachdenklich fuhr er seinem Bestimmungsort entgegen. Dank des Schengener Abkommens passierte er unkontrolliert die Grenze, nahm die Autobahnausfahrt Schleswig/Schuby und fuhr auf der B 201 nach Arnis. 500 Meter vor dem Hotel hielt er an, holte sein Fernglas hervor und nahm wehmütig den ehemaligen Hof ins Visier. Er hatte sich durch den Umbau stark verändert, die hellen, freundlichen Farben täuschten perfekt über die höllische Vergangenheit des Gutes hinweg.

Auf der Bundesstraße zurück, fuhr er nach Kappeln. Am Parkautomaten in der Nähe des Hafens bezahlte er einen Wohnmobilstellplatz, verband das Fahrzeug mit der Stromversorgung und verriegelte den Wagen. Gemütlich schlenderte er an den Fischerbooten und Restaurants vorbei und freute sich, unerkannt die Atmosphäre genießen zu können. Zwei Stunden später kehrte er wieder zurück. Am Abend fuhr er über die Klappbrücke weiter ins OstseeResort Olpenitz direkt ans Meer. Der Wind hatte nachgelassen, Wolken spiegelten sich in der glatten See. Er mischte sich unter die Touristen und studierte die Preise gebrauchter Immobilien diverser Makler. Seit seinem jüngsten Besuch hatte sich viel getan, das Resort war mittlerweile fast vollständig bebaut, und die Immobilienpreise waren explodiert. Missbilligend beobachtete er das neue Restaurant. Obwohl noch nicht eröffnet, wurde in der offenen Küche hantiert. Später verließen die Angestellten das Lokal und zogen einige Häuser weiter. Stunden später, im Dunkeln, bot sich die Gelegenheit, Fenster und Türen zu kontrollieren. Ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht.

Die ersten Schritte waren vollbracht, er hatte das Versteck gefunden und ausgeräumt. Lange hatte er die vielen Puzzleteile hin- und herschieben müssen, ehe sie sich schließlich zu einem stimmigen Bild zusammengefügt hatten. Nun galt es, besondere Vorsicht walten zu lassen. Das Fernbleiben würde seinen Gegner alarmieren, vielleicht war die Manipulation der Technik spurenlos geblieben. Aber schon bald würde der offene Konflikt unausweichlich sein. Wie beim Schachspiel ging er die eigenen Züge und die seines Gegners gedanklich durch, legte sich Alternativen zurecht und nahm sich vor, jeden falschen Zug seines Kontrahenten konsequent zum eigenen Vorteil zu nutzen. Einen kleinen zeitlichen Vorsprung hatte er sich durch den Diebstahl bereits verschafft, und er kannte das Umfeld seines Widersachers. Bis zum kommenden Morgen hatte er Zeit, sein Vorhaben umzusetzen und die Autos zu tauschen. Abends machte er es sich im Fahrzeug gemütlich und sinnierte über die Anfänge, die letztendlich in der jetzigen Konfrontation gipfelten. Er war damals zwölf Jahre alt gewesen, seine zarten Hinweise waren ungehört geblieben, er hatte sie dabei erwischt, wie sie sich einem anderen hingegeben hatte. Es sei eine Verwechselung gewesen, hatten sie ihm damals weißmachen wollen. Die folgende Auseinandersetzung hatte jedoch das Gegenteil belegt. Sie hatten ihn in ein Zimmer weggesperrt, auf Schreie waren knallende Türen und gespenstische Ruhe gefolgt. Abends war der Küchenfußboden vom Blut gereinigt worden. Danach hatten die Streitenden sich wieder völlig normal benommen, über die Vorkommnisse hatte alle geschwiegen.

Zwei Jahre später wurde er jäh an dieses Ereignis erinnert, als eine etwas ältere Freundin ihn besuchte. Sie saßen auf dem Dachboden auf einer alten Matratze, erzählten sich Geschichten, lasen einander aus der Hand und rätselten über die Bedeutung der Augenfarbe. Seine platonisch-kameradschaftliche Freundschaft mit dem jungen Mädchen war dem wachsenden Begehren nach der herangewachsenen Frau gewichen. Doch die beiden verloren einander aus den Augen, und sie entschieden sich schließlich für andere.

Doch das Treffen hatte ihn aufgewühlt, er stellte Nachforschungen an und empfand es als groben Affront, Opfer dieser jahrelangen Vertuschung geworden zu sein. Schließlich war die schmerzhafte Demütigung in blanken Hass umgeschlagen. Er hatte sich geschworen, Rache zu nehmen und seine Widersacher zu vernichten.

Kopenhagen, 18.30 Uhr

Nur mit Mühe hievte er den kleinen Koffer aus dem Fahrzeug, seine verletzte rechte Hand zwang ihn, die linke zu gebrauchen. An die Einschränkung würde er sich nie gewöhnen. Beim gemeinsamen Abendessen sollte der Zwist ein für alle Mal begraben werden und ein Gentlemen‘s Agreement dauerhaften Frieden bringen. Wie er sich irrte! Noch bevor er das Hotelzimmer in Kopenhagen bezogen und den Koffer ausgepackt hatte, meldete die auf seinem Smartphone gespeicherte Überwachungs-App den hunderte von Kilometern entfernten Einbruch. Aufnahmen der Überwachungskameras standen nicht zur Verfügung, offenbar war das System manipuliert worden. Vergeblich versuchte er, das Smartphone neu zu starten. War er unter einem Vorwand von der Insel in die dänische Hauptstadt gelockt worden? Hatte sein Widersacher ihn zum Gütetermin geladen, aber gar nicht die Absicht, ihn zu treffen? Die perfekt durchdachte Tarnung drohte aufzufliegen. Hatte der Bau sein dunkles Geheimnis bereits verraten und damit seine Absichten preisgegeben? Unweigerlich würde man ihn mit der Anlage in Verbindung bringen, nun war Improvisationstalent gefragt. Der stärker werdende Gegner verfolgte ganz offensichtlich eine klare Strategie, von einer Einigung waren sie weit entfernt. Kurz darauf verließ er die Stadt, drei Stunden danach auch das Land.

DIENSTAG, 21. MAI

EIN NEUER FALLKappeln, 09.00 Uhr

Immer wenn Frau Schüppel in der Nähe ist, gibt es Tote“, stöhnte Werner Müller. „Jahrzehntelang hatten wir hier unsere Ruhe. Die Verbrecherjagd kannten wir nur aus dem Fernsehen oder aus weit entfernten Polizeirevieren. Doch kaum war Martina Schüppel im OstseeResort eingetroffen, gab es Tote. Und nun, nur ein knappes Jahr später, haben wir es mit einem männlichen Toten zu tun. Frau Schüppel scheint das Verbrechen geradezu magisch anzuziehen. An Ihrer Stelle würde ich mir Gedanken machen“, wandte sich Müller an seinen ihm vorgesetzten, 35-jährigen Dienststellenleiter Volker Theissen. „Wenn die hier bei uns anfängt zu arbeiten, können wir uns vor Leichen vermutlich kaum noch retten. Mir kann es ja letztlich egal sein, ich gehe sowieso bald in Rente. Am liebsten wäre ich schon Pensionär. Früher war eben doch alles besser.“ Theissen waren die Stimmungsschwankungen seines Kollegen nicht verborgen geblieben. Je näher dessen Pensionierung rückte, desto depressiver verhielt er sich. War es die Sorge, bald nicht mehr gebraucht zu werden, oder die Angst, fortan rund um die Uhr unter der Fuchtel seiner dominanten Ehefrau zu stehen? „Herr Müller, wir wollen uns hier keine Weltuntergangsszenarien ausmalen, sondern nüchtern und zielgerichtet unsere Arbeit verrichten“, wies Theissen ihn freundlich zurecht. „Sie wissen doch genau, dass auch Martina Schüppel während ihres Urlaubs in Olpenitz entführt wurde. Nur mit Glück und Jochen Marxers Hilfe konnten wir den Fall damals lösen. Dass Martina Schüppel und ihr Lebensretter einander im Zuge dieser Erfahrungen nähergekommen sind, ist doch nachvollziehbar. Nun zieht sie also zu ihm nach Arnis und fängt in vier Wochen bei uns an. Ich glaube, wir können uns auf diese Verstärkung freuen. Sie hat uns damals sehr geholfen.“

Theissen hing seinen Gedanken nach und stutzte: „Was berechtigt Sie eigentlich zu der Annahme, es könnte sich im aktuellen Fall um Mord handeln?“ Müller nahm einen Notizzettel in die Hand und überflog ihn: „Vor zehn Minuten ging bei Michaela Steger in der Zentrale diese Meldung ein. Ein Unbekannter mit verstellter Stimme und unterdrückter Telefonnummer berichtete, im Kühlraum eines Olpenitzer Restaurants liege ein tiefgefrorener Mann Anfang bis Ende 40. Die Ermittler sollten das angrenzende Ausland nicht außer Acht lassen. Der Gastronom Gebhard Fies möchte in zwei Tagen eröffnen. Das Restaurant soll verschlossen, die Kühlkammer dagegen unverschlossen gewesen sein. Bei verriegelten Türen müsste der Tote hinter sich abgeschlossen haben, oder er wurde dorthin geschafft. Der Koch fand den Toten, angeblich ein Däne, und rief ebenfalls bei uns an. Michaela Steger informierte daraufhin unsere Streife, und Jo und Ingo fuhren umgehend zum Tatort.“ Müller griff sich Kamera und Diktiergerät. „Fahren wir auch hin?“

Theissen hatte es nicht so eilig. Er wusste um die Qualität seiner Kollegen vor Ort, und dem Toten konnte ohnehin nicht mehr geholfen werden. „Ja sicher, gleich“, antwortete er und holte Pulli und Jacke aus dem Schrank. „Rufen Sie die Jungs an und fragen Sie sie, ob die Spurensicherung und die Flensburger Amtsärztin Dr. Mayer bereits informiert worden sind und bitten sie ein paar Bilder zu senden. Dann bitten Sie Michaela Steger, im System nach vermissten Personen in Norddeutschland zu suchen. Danach soll sie unsere dänischen Ansprechpartner kontaktieren und den Kollegen in Sønderborg die Bilder des Toten zur Verfügung stellen. Vielleicht wissen die bereits mehr als wir. Und diktieren Sie Michaela Steger eine Kurzmitteilung an die Staatsanwaltschaft und ans Rathaus, aber enthalten Sie sich bitte jeglicher Spekulation! Halten Sie sich an die uns bislang bekannten Fakten!“

Wenig später verließen Theissen und Müller gemeinsam die Wache und fuhren zum OstseeResort Olpenitz. Die Doppel-Klappbrücke über die Schlei war geschlossen, nach zehn Minuten Fahrt waren sie bereits am Ziel. Streifenpolizist Ingo Schachtmann wartete am Eingang zum OstseeResort im Streifenwagen auf die beiden. Als er deren Fahrzeug von weitem erkannte, funkte er sie an und bat sie, ihm zu folgen. Am Kreisverkehr nahmen sie die erste Ausfahrt und bogen nach 300 Metern links auf einen Parkplatz ab. Vor dem Restaurant hatten sich bereits die ersten Gaffer eingefunden. „Wie kann das sein?“ wunderte sich Theissen beim Aussteigen. „Kaum haben wir von dem Fall erfahren, schon wimmelt es hier von Schaulustigen. Haben die alle einen sechsten Sinn?“ Ingo Schachtmann begrüßte seinen Vorgesetzten: „Jo und ich haben bereits Verstärkung aus Süderbrarup und Eckernförde angefordert und nach dem Absperren des Tatortes damit begonnen, die Personalien der hier Anwesenden aufzunehmen.“ Theissen nickte anerkennend. „Wen hast Du im Restaurant angetroffen?“ - „Nur den Koch, weitere Restaurantmitarbeiter waren noch nicht vor Ort“, antwortete Schachtmann. „Der Koch sagte aus, das Restaurant durch den Hintereingang betreten zu haben.“ Der Polizist deutete auf zwei Türen. „Die rechte Tür führt in einen schmalen Gang und in die Küche, die linke direkt in den Kühlraum. Zwischen Kühlraum und Flur gibt es eine Verbindungstür. Am Ende des Gangs versperrt eine weitere Tür den Zugang zum Gastraum und zu den Sozialräumen. Diese ist verschlossen, die haben ja noch nicht geöffnet“, fuhr Schachtmann fort. „Ich habe es überprüft, die Tür ist fest verriegelt. Im Restaurant selbst ist es noch unordentlich, die Handwerker sind jedoch so gut wie fertig und möchten heute die Restarbeiten abschließen und aufräumen. Vor der Spurensicherung lasse ich aber niemanden rein, die Firmennamen habe ich bereits notiert, sie sind alle von hier. Zutritt zu Küche und Kühlraum hatten sie nicht. Ach ja, bevor der Koch in den Kühlraum ging, präparierte er irgendwas in der Küche.“ Theissen verteilte nun die Aufgaben: „Herr Müller, Sie sprechen bitte mit dem Koch, fragen ihn nach den Zugangsmöglichkeiten der Lebensmittelund Getränkelieferanten für Küche und Kühlraum und protokollieren dessen Aussagen. Ingo, Du sorgst bitte dafür, dass sich Unbefugte hier keinen Zutritt verschaffen. Ich sehe mich mal ein bisschen um und treffe mich mit Jo, bis gleich!“

Während Theissen zum Hafen ging, um seinen Kollegen Jo Thaler zu bitten, ihm zu assistieren, folgte Müller seinem Kollegen Ingo Schachtmann ins Restaurant. Der Koch erwartete sie bereits. „Moin, Müller ist mein Name, und wie heißen Sie?“ fragte er ihn unwirsch. Müller ging dieser Fall bereits jetzt auf die Nerven. „Oliver Jasper“, antwortete der Koch. „Wir nehmen jetzt Ihre Personalien auf, Herr Jasper, und dann tätigen Sie Ihre Aussage“, beschied Müller sein Gegenüber knapp. „Und sollte sich meine Laune bessern, dürfen Sie anschließend nach Hause gehen.“ Der Koch sah ihn fragend an. „Mach mich nicht meschugge“, duzte er Müller in breitem Berlinerisch. „Wo soll ick denn sons hin?“ Das schnoddrige Berliner „Du“ passte Müller gar nicht. Berlinerisch gehörte nicht zu seinen Lieblingsdialekten. Unverhohlen drohte er dem Koch mit Untersuchungshaft, schließlich hatte dieser den Toten gefunden und gemeldet. Doch Müller zwang sich, kühlen Kopf zu bewahren. Etwas freundlicher bat er den 44-Jährigen zur weiteren Vernehmung in den Mannschaftsbus der Streife, und hier wurde das Gespräch sachlicher. „Um Punkt 9.25 Uhr habe ich das Restaurant aufgeschlossen, um Vorbereitungen fürs Probekochen zu treffen“, erläuterte Jasper. „Ich wollte gerade die ersten Lebensmittel aus dem Kühlraum holen, als ich den Toten im Lebensmittelregal vorfand. Sein Kopf lag auf argentinischem Rindfleisch und die Füße zwischen Fischstäbchen! Ich dachte, der hätte was getrunken und sich fertig vom Sprit aufs Ohr gehauen. Ich wunderte mich über die Eiseskälte und darüber, dass der Kühlraum nicht abgeschlossen war, denn dort lagert teurer Alkohol. Ich bin mir ganz sicher, ihn am Vortag verriegelt und die Temperatur richtig eingestellt zu haben. Außer mir hat nur der Chef Zugang zum Kühlraum.“ Die neue, für 10.00 Uhr einbestellte Belegschaft habe er nach dem Leichenfund sofort wieder abbestellt. Den Toten kenne er nicht, und Verdächtiges habe er an den Vortagen nicht beobachtet. Auf dem gefliesten Boden neben dem Regal habe er jedoch einen Transponder im Checkkartenformat gefunden. „Eindeutig dänisch, hier, das gesicherte Beweisstück.“ Er hielt dem Beamten einen neuen Gefrierbeutel mit der Karte entgegen. „Am Vorabend habe ich das Restaurant um 19.00 Uhr gemeinsam mit den beiden Köchen und den vier Servicekräften verlassen. Im ‚Paradis‘ tranken wir noch ein Feierabendbierchen“, berichtete Jasper. „Gegen 20.30 Uhr haben wir uns voneinander verabschiedet.“ Müller hakte nach: „Verließen Sie das Restaurant gemeinsam? Gingen Ihre Kolleginnen und Kollegen von dort direkt nach Hause?“ Jasper zuckte mit den Achseln. „Dit wees ick ooch nich, ick bin doch nicht deren Kindermädchen.“ Er reichte Müller eine Liste mit den Namen und Telefonnummern der Mitarbeiter: „Rufen Sie die Kollegen doch selber an.“ Nachdem Müller ein Foto von Jaspers Personalausweis gemacht und ihm seine Visitenkarte überreicht hatte, entließ er den Koch. „Halten Sie sich für Nachfragen bereit. Wir haben sicherlich welche.“ Ohne sie eines Blickes zu würdigen, stopfte sich Jasper Müllers Visitenkarte in die Hosentasche.

Kurz darauf traf Müller den Eigentümer des Restaurants. Streifenpolizist Ingo Schachtmann hatte Gebhard Fies gerade noch vor der Hintertür abgefangen, sich nach dessen Anliegen erkundigt und die Personalien aufgenommen. „Der Todesfall ist eine Tragödie“, brach es aus Fies heraus. „Der Betrunkene hat sich vermutlich im Raum geirrt und ist erfroren statt sich aufzuwärmen. Was machen wir nur mit den Handwerkern?“ Doch der Gastronom wechselte erstaunlich rasch das Thema und begann, sich über die Zusammenhänge zwischen prämierter Küche und der guten Stimmung seiner Gäste auszulassen. Müller fuhr ihm umgehend in die Parade. „Herr Fies, wir sind nicht zum Plaudern hier, sondern um einen Todesfall in Ihrem Kühlraum aufzuklären. Berichten Sie mir bitte detailliert, was Sie am gestrigen Tag gemacht haben.“ Müller hatte eine Fülle von Fragen, er interessierte sich für sämtliche Dienstleister und Lieferanten, für die Dienstpläne der Mitarbeiter und die Schlüsselliste. „Wer hat das Restaurant hier eigentlich errichtet?“ fragte Müller. „Ich möchte das Übernahmeprotokoll des Bauträgers sehen. Square Meters oder Bygge A/S, nehme ich an? Und ich hätte gern eine Liste mit sämtlichen am Innenausbau des Restaurants beteiligten Firmen. Wurde das Schloss nach der Fertigstellung der Räumlichkeiten ausgetauscht? Haben Sie den Schlüssel zum Kühlraum bei sich?“ Fies hatte sich Notizen gemacht, erstaunt blickte er auf: „Ich führe stets die Schlüssel meiner Objekte mit“, antwortete er mit Nachdruck. „Die Bygge A/S hat den Komplex errichtet, diverse örtliche Lieferanten und Handwerker sollten eigentlich heute den Innenausbau beenden und die Schlüssel abgeben. Danach werden die provisorischen gegen die endgültigen Sicherheitsschlösser ausgetauscht. Die Bauschlösser sind leicht nachzumachen, wie viele im Umlauf sind, kann ich nur raten. Macht aber nichts, noch gibt es nicht viel zu stehlen. Wo steckt eigentlich mein Koch? Kommen Sie, wir gehen in den Kühlraum und gucken uns den Schlamassel mal an.“ Müller schüttelte den Kopf: „Sie dürfen den Fundort gar nicht betreten, den besuche ich nachher ohne Sie.“ Gebhard Fies zeigte sich wenig beeindruckt: „Quatsch, hier habe ich das Hausrecht, und das gedenke ich auch auszuüben, basta!“ Müller lachte auf. „Sie haben gleich ein neues Zuhause, Herr Fies. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft. Also Vorsicht, sonst bekomme ich sofort wieder schlechte Laune.“ Müller fischte eine weitere Visitenkarte aus dem Sakko und reichte sie Herrn Fies. „Hier, an diese Mailadresse schicken Sie mir bitte Ihre Unterlagen, und zwar zügig!“ Grußlos drehte Müller sich um und ließ Gebhard Fies einfach stehen.

Volker Theissen schritt währenddessen die komplette Hafenpromenade ab, sammelte Eindrücke und machte sich Notizen. Auf dem Rückweg entdeckte er Jo Thaler, der mit der Besatzung des Polizeischiffs „Staberhuk“ auf dem Anleger stand. „Moin, haben die Herren etwas Sachdienliches?“ – „Moin, Volker, leider nein, bin gerade fertig geworden. Die Jungs legten in der Nacht zu einer Routinefahrt ab, bemerkten weder davor noch danach etwas Auffälliges.“ Die Mannschaft der Wasserschutzpolizei verabschiedete sich und versprach, Augen und Ohren offen zu halten und sich zu melden. Theissen bat seinen Kollegen, den Hafenmeister um die Namen der Segler zu bitten. Nachdenklich kehrte er schließlich zum Restaurant zurück, vor dem Ingo Schachtmann unverändert den Tatort bewachte. „Ingo, wollen wir uns mal den Kühlraum ansehen?“ rief er ihm zu, während er seine warmen Sachen aus dem Auto zog und in einen dicken Pulli schlüpfte. „Hat irgendjemand etwas verändert?“ Schachtmann schüttelte den Kopf. „Wir haben hier niemanden hereingelassen und nichts angefasst. Genauso haben wir den Kühlraum vorgefunden.“ Die beiden zogen Schutzanzüge und Überstiefel an und öffneten die Tür zur Kammer. Schachtmann wies auf das an der Wand hängende Thermometer. „Minus 12 Grad, gut, dass Du warme Klamotten mitgebracht hast. Hier holt man sich sonst den Tod. Apropos Tod: Jo und ich sind keine Mediziner, aber wir gehen von Tod durch Erfrieren aus. Verletzungen mit Todesfolge haben wir am Toten nämlich nicht entdeckt. Merkwürdigerweise hatte er keinerlei persönliche Sachen bei sich, dabei geht heutzutage doch niemand ohne Handy aus dem Haus!“

Während die schwere Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, ließ Theissen den Blick über die in Reih und Glied aufgereihten Produkte schweifen und wunderte sich. Für die meisten hier gelagerten Gemüsesorten war es viel zu kalt, einheimisches Gemüse und Obst wird um null Grad gelagert, wusste Theissen, und selbst Grün- und Rosenkohl nehmen bei mehr als minus zehn Grad Schaden. War das gerade erst eingebaute Thermostat bereits kaputt, oder wurde der Raum bewusst so stark heruntergekühlt? Schweigend näherte sich Theissen dem nur leicht bekleideten Toten. Mit geschlossenen Augen, ausgestreckten Beinen und am Körper anliegenden Armen lag er im hüfthohen zweiten Regalfach von unten. Dass der Mann aus eigener Kraft ins Kühlfach gekrochen war, schloss Theissen aus. Hier hatte jemand Hand angelegt, das wurde ihm rasch klar. Dabei hatte der Täter praktisch und kräfteschonend gedacht, ging es Theissen durch den Kopf. In dieser Höhe hatte der Täter sein Opfer ziemlich mühelos ins Regal schieben können. Während Theissen noch gedankenverloren vor dem Toten stand, klopfte es an der Tür. Er öffnete und blickte in ein vertrautes Gesicht. „Hallo, Volker, dürfen wir reinkommen?“ fragte die gerade aus Flensburg eingetroffene Fachärztin für Rechtsmedizin, Dr. Andrea Mayer. „Ich habe Dr. Michael Kühn mitgebracht, Ihr kennt euch ja noch vom jüngsten Fall im vergangenen Jahr. Frau Schmeichel und Herrn Just von der Spurensicherung haben wir auch gleich mitgenommen. Eine tiefgefrorene Leiche in einem Kühlraum hört sich nach Verbrechen an.“ Während sich die beiden Spurensicherer wortlos an die Arbeit machten, informierte Theissen die Rechtsmediziner über den aktuellen Erkenntnisstand. „Mein Kollege Ingo Schachtmann war als erster vor Ort“, stellte er den neben ihm stehenden Beamten vor. „Wir haben hier nichts verändert. Die Tür zur Kühlkammer war vor dem Auffinden des Toten geschlossen, aber nicht verriegelt. Wäre sie geöffnet gewesen, hätte der Kälteverlust Alarm ausgelöst, sagte uns der Koch. Was mich wundert, ist die extreme Temperatur, bei der frische Ware wie Salat und Gemüse gefriert. Darauf kann ich mir noch keinen Reim machen, denn kaputt wird das neue Thermostat ja wohl nicht sein.“ Theissen rieb sich die kaltgewordenen Hände. „Schön, dass Ihr so schnell gekommen seid“, sagte er an Dr. Mayer gewandt. „Komm, Ingo, wir lassen die Experten jetzt mal in Ruhe arbeiten. Wir sehen uns danach, Andrea.“

Vor dem Restaurant hatten Lokalreporter Position bezogen und hofften auf Informationen aus erster Hand. Einen von ihnen erkannte Theissen sofort. Mit ihm hatte er zwiespältige Erfahrungen gemacht. In der letztjährigen Berichterstattung hatte dieser weniger die Fakten, denn die eigene Phantasie bemüht und damit die Ermittlungsarbeiten erschwert. Theissen ließ ihn daher links liegen und ging zielstrebig auf einen ihm unbekannten Reporter zu. „Moin, Sie sind Herr…?“ begrüßte Theissen den Journalisten freundlich. „Ich heiße Kaiser wie König, Gustav Kaiser“, antwortete dieser. „Ich bin bei den ‚Schlei-Nachrichten‘ der Nachfolger von dem Herrn dort drüben, der nun für das ‚Rendsburger Tageblatt‘ tätig ist. Sie kennen ihn ja bestimmt.“ Theissen nickte kurz und kam ohne Vorrede auf den Punkt: „Natürlich kenne ich Ihren Vorgänger und habe offen gestanden ambivalente Erfahrungen mit ihm gemacht. Er hat sich so manche Geschichte aus den Fingern gesogen. Ich hoffe, Sie arbeiten solider.“ Kaiser lächelte. „Sauber recherchierte, belastbare Fakten sind in dieser Zeit, in der soziale Medien unbekannter Herkunft uns mit Fake News und ‚alternativen Fakten‘ manipulieren wollen, wichtiger denn je. Darauf weist uns der Verleger der ‚Schlei-Nachrichten‘ regelmäßig hin. Wir halten uns strikt daran!“

Einen ersten Beleg für seine journalistischen Qualitäten hatte Kaiser gleich mitgebracht. „Es heißt, bei dem Toten handele es sich um Vinst Rosenborg“, sagte der Reporter sichtlich zufrieden mit seinem Rechercheergebnis. Theissen blickte ihn irritiert an. Woher hatte Kaiser seine Information? Warum wusste er etwas, was Theissen nicht wusste. „Woher haben Sie diesen Namen?“ fragte Theissen. „Hier, sehen Sie“, Kaiser hielt Theissen das Display seines Mobiltelefons hin, „heute um 8.30 Uhr erhielt ich diese anonyme SMS: ‚Vincentius mortuus est. Quaesitio in Olpenitz‘. Hatten Sie Latein in der Schule? ‚Vincent ist tot. Suche in Olpenitz‘, heißt die Botschaft auf Deutsch. Die anderen Reporter bekamen keine Nachricht, so behaupten sie. Da ich als erster in Olpenitz war und erkannt wurde, war es nur eine Frage von Minuten bis zum Erscheinen der Wettbewerber.“ Theissen schwankte, ob er seinen Mitarbeitern gram oder Kaiser dankbar sein sollte. Entweder der Koch hatte den Toten doch erkannt und zuerst die Presse informiert, oder er war nicht der erste gewesen, der den Erfrorenen gefunden hatte. „Herr Theissen?“ Kaiser riss ihn aus seinen Gedanken. Theissen sammelte sich. „Seit wann liegt denn Vinst Rosenborg bereits dort?“ Theissen zuckte mit den Achseln. „Es hat noch keine Obduktion stattgefunden, noch können wir darüber nur spekulieren.“ Kaiser blieb dran: „Aber Sie werden doch eine Vermutung haben. Die Crew des Restaurants hatte gestern mit den Vorbereitungen auf die Eröffnung alle Hände voll zu tun. Vor deren Feierabend kann doch keiner den Toten unbemerkt in den Kühlraum gebracht haben.“ Theissen lachte kurz auf. „An Ihnen ist ja ein echter Kriminologe verloren gegangen. Sie hätten bei uns statt bei den ‚Schlei-Nachrichten’ anheuern sollen.“ Theissen blickte zur Uhr. „So, Herr Kaiser, was werden Sie schreiben? Was wird morgen früh in den ‚Schlei-Nachrichten‘ stehen?“ Kaiser fasste das Gespräch zusammen und bedankte sich für Theissens Offenheit. „Kein Wort zu den Kollegen“, ermahnte ihn Theissen, „sonst endet unsere Zusammenarbeit, bevor sie richtig begonnen hat. Also bleiben Sie bei den Fakten.“

Kaum hatte sich Theissen von Kaiser verabschiedet, stürmte ein weiterer Reporter auf ihn zu. „Herr Theissen, Sie kennen mich doch wohl noch. Wir ermittelten im vergangenen Jahr gemeinsam, jeder auf seine Weise, Sie erinnern sich. Ich schreibe jetzt fürs ‚Rendsburger Tageblatt‘“. Theissen tat so, als erkenne er den Reporter erst jetzt. „Mensch, Sie habe ich ja gar nicht erkannt. Leider kann ich über die laufenden Ermittlungen rein gar nichts sagen, wir befinden uns noch im Frühstadium unserer Recherchen.“ Theissen ließ den enttäuschten Journalisten stehen und ging zügig auf die Terrasse des Nachbarrestaurants ‚Paradis‘ zu. Er hatte keinerlei Interesse, bei dem Journalisten Spekulationen zu befeuern und morgen darüber zu lesen.

Die beiden Flensburger Rechtsmediziner hatten ihre Arbeit fürs Erste beendet. Michael Kühn half der Spurensicherung beim Verstauen der Ausrüstung im Laborwagen, Andrea Mayer ging zu Theissen ins ‚Paradis‘ und setzte sich zu ihm. „Wir haben alles fotografiert und ein paar Haare des Toten gesichert“, sagte sie nachdenklich. „Irgendetwas stimmt mit dem Mann nicht. Der sieht so klar und frisch aus, richtig gesund. Wenn wir ihn auftauen würden, liefe er uns womöglich davon. Es ist völlig untypisch für eine tiefgefrorene Leiche, dass sie keinerlei Frostbrand, Vereisungen oder abgefrorene Gliedmaßen aufweist. Dabei ist der Tote sogar deutlich kälter als der Kühlraum. Steht man neben ihm, läuft man regelrecht Gefahr, sich Erfrierungen zuzuziehen. Ich bin gespannt, was wir noch finden.“ Zuordnen konnte Dr. Mayer diese Informationen noch nicht. „Vielleicht war er zu gesund, und das gefiel jemandem nicht?“

Während des gemeinsamen Mittagessens führten Dr. Mayer und Theissen ihr Gespräch fort, obwohl der gebratene Fisch so gar nicht zum tiefgefrorenen Toten passen wollte. „Du meinst also, der Mann wurde ermordet, tiefgefroren und erst dann hergebracht?“ fragte Theissen. „Ja und nein, der Fundort muss nicht der Erfrierungsort sein. Der Mann wurde innerhalb kurzer Zeit bei sehr tiefen Temperaturen eingefroren. Der Kühlraum lässt sich dem Hersteller zufolge bis auf minus 24 Grad kühlen, das Thermostat ist funktionstüchtig, das haben wir überprüft. Um frische Lebensmittel zu kühlen, bedarf es solcher Temperaturen jedoch nicht. Wir müssen daher alles in Erwägung ziehen, ein Verbrechen, aber auch einen Unfall. Lieber Volker, es ist Deine Aufgabe, festzustellen, wo der Mann ursprünglich herkam und wie er schließlich in den Kühlraum geriet.“ Theissen hob die Augenbrauen. „Dann kühlt der Tote den Kühlraum und nicht andersherum, die gute Isolierung verhindert ein rasches Auftauen!“ Dr. Mayer wiegte den Kopf und hatte ein Anliegen. „Für eine fachgerechte Obduktion benötige ich eine funktionierende Kühlkette bis Flensburg. Bis zum Eintreffen des Kühllastwagens müssen wir den Tatort versiegeln, bewachen und dessen Temperatur aufrechterhalten. Kannst Du das bitte veranlassen? Dafür lade ich Dich zum Abendessen ein, wann passt es Dir?“ Dr. Mayer öffnete ihren elektronischen Terminkalender und blickte den überrumpelten Beamten fragend an. Theissen nickte. „Ähm, natürlich, klären wir noch. Wann kann ich denn mit dem Ergebnis der Obduktion rechnen?“ Dr. Mayer zögerte. „In dieser Woche werden wir vermutlich niemanden mehr aufschneiden und zersägen. Morgen halte ich einen Vortrag, am Donnerstag und Freitag sind Dr. Kühn und ich auf einem Seminar in Hamburg. Es läuft wohl auf die nächste Woche hinaus.“ Theissen blieb nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben. Während die beiden einen Augenblick schweigend ihren Fisch genossen, klingelte Theissens Mobiltelefon. Fragend blickte er Dr. Mayer an. „Na klar, geh‘ ran“, sagte sie lächelnd. „Hallo, Chef, Müller hier“, war aus dem Smartphone zu hören. „Ich habe mittlerweile mehr als ein Dutzend Personen befragt. Langsam geht mir das Publikum aus, zumal die meisten in ihre Ferienwohnungen zurückgekehrt sind. Hier gibt es ja doch nichts zu se