Karibische Affäre - Agatha Christie - E-Book

Karibische Affäre E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Natürlich, die karibische Sonne tut ihren vom Rheuma geplagten Gliedern gut, ansonsten aber langweilt sich Jane Marple fürchterlich in der Karibik. Doch dann wird Major Palgrave, einer der Hotelgäste ermordet. Noch am Vortag hat er Miss Marple ein mysteriöses Foto zeigen wollen. Nun ist er tot und das Foto unauffindbar. Wer hatte ein Interesse an seinem Tod? Warum verhalten ich die anderen Gäste so seltsam? Eines ist sicher: Über Langeweile kann Miss Marple sich nicht mehr beschweren.

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Seitenzahl: 270

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Agatha Christie

Karibische Affäre

Ein Fall für Miss Marple

Aus dem Englischen von Christa Broermann

Atlantik

Für meinen alten Freund John Cruikshank Rose in glücklicher Erinnerung an meinen Besuch auf den Westindischen Inseln

1Major Palgrave erzählt eine Geschichte

»Nehmen wir nur mal die Sache mit Kenia«, sagte Major Palgrave.

»Wer redet da nicht alles munter drauflos, obwohl er keine Ahnung hat von dem Land! Aber ich habe vierzehn Jahre meines Lebens dort verbracht. Und sie gehörten zu meinen allerbesten …«

Die alte Miss Marple neigte den Kopf.

Es war eine zarte Geste der Höflichkeit. Während Major Palgrave sich weiter über die wenig spannenden Erinnerungen an sein gesamtes Leben ausließ, hing Miss Marple friedlich ihren eigenen Gedanken nach. Diese Übung war ihr vertraut. Der Schauplatz wechselte. Früher war es meist Indien gewesen. Majore, Oberste, Generalleutnants – und eine wohlbekannte Reihe von Wörtern: Shimla. Träger. Tiger. Chota Hazri – Tiffin. Khitmagars und so weiter. Bei Major Palgrave lauteten die Begriffe etwas anders. Safari. Kikuyu. Elefanten. Swahili. Aber das Schema war im Wesentlichen das gleiche. Ein älterer Mann, der einen Zuhörer brauchte, damit er in der Erinnerung noch einmal glückliche Tage von einst durchleben konnte. Tage, als sein Rücken noch gerade, seine Augen scharf und seine Ohren hervorragend waren. Von diesen Erzählern waren manche gutaussehende, schneidige alte Knaben gewesen, manche aber auch beklagenswert unattraktiv, und Major Palgrave mit seinem purpurroten Gesicht, seinem Glasauge und seiner auffallenden Ähnlichkeit mit einem ausgestopften Frosch gehörte zur zweiten Kategorie.

Miss Marple hatte ihnen allen mit der gleichen milden Nachsicht gelauscht. Sie hatte aufmerksam dagesessen, von Zeit zu Zeit freundlich zustimmend den Kopf geneigt, sich dabei ihren eigenen Gedanken überlassen und genossen, was es jeweils zu genießen gab: in diesem Fall das tiefe Blau des Karibischen Meers.

Wie nett von dem lieben Raymond, dachte sie dankbar, wirklich sehr fürsorglich und aufmerksam … Warum er sich seiner alten Tante zuliebe so viel Mühe machte, wusste sie nicht zu sagen. War es Pflichtbewusstsein oder Familiensinn? Vielleicht hatte er sie ja auch aufrichtig gern …

Alles in allem mochte er sie wohl tatsächlich gern – er hatte sie immer gemocht –, wenn auch mit einer Prise Ungeduld und Herablassung! Er versuchte stets, sie auf den neuesten Stand zu bringen. Schickte ihr Lesestoff, moderne Romane. Ausgesprochen schwierig – alle über so unangenehme Menschen, die so merkwürdige Dinge taten und offenbar nicht einmal Freude daran hatten. Das Wort »Sex« hatte man in Miss Marples Jugend nicht in den Mund genommen; aber es hatte jede Menge davon gegeben – sie hatten nicht groß darüber geredet, sondern ihn genossen, und zwar viel mehr als heute, wie ihr schien. Zwar hatte er damals üblicherweise als Sünde gegolten, aber sie wurde das Gefühl nicht los, das sei immer noch besser als das, was er heute zu sein schien – eine Art Pflichtübung.

Ihr Blick fiel auf das Buch in ihrem Schoß, das auf Seite 23 aufgeschlagen war – weiter war sie noch nicht gekommen (und würde sie auch nicht mehr kommen!).

»›Heißt das etwa, du hast noch gar keine sexuellen Erfahrungen gemacht?‹, fragte der junge Mann ungläubig. ›Mit neunzehn? Aber du musst. Unbedingt.‹

Das Mädchen ließ unglücklich den Kopf hängen, und ihr glattes Haar fiel in fettigen Strähnen nach vorn in ihr Gesicht.

›Ich weiß‹, murmelte sie. ›Ich weiß.‹

Er schaute sie an: fleckiger alter Pullover, bloße Füße, schmutzige Zehennägel, der Geruch von ranzigem Fett … Er fragte sich, warum er sie so wahnsinnig attraktiv fand.«

Miss Marple fragte sich das auch! Und überhaupt! Sexuelle Erfahrung aufgenötigt zu bekommen, als wäre sie ein Eisentonikum! Die armen jungen Dinger …

»Meine liebe Tante Jane, warum musst du den Kopf immer in den Sand stecken wie ein bezaubernder Vogel Strauß? Dich ganz und gar in dein idyllisches Landleben vergraben? Was zählt, ist doch das WIRKLICHE LEBEN!«

Also sprach Raymond – und seine Tante Jane hatte gebührend betreten dreingeschaut und gesagt, ja, sie fürchte, sie sei tatsächlich ziemlich altmodisch.

Allerdings war das Landleben in Wirklichkeit alles andere als idyllisch. Leute wie Raymond hatten ja keine Ahnung. Im Rahmen der Aufgaben, die sie in ihrer Kirchengemeinde erfüllte, hatte Jane Marple eine umfassende Kenntnis der ländlichen Verhältnisse erworben. Sie verspürte keinen Drang, darüber zu reden, geschweige denn darüber zu schreiben – aber sie kannte sie. Jede Menge Sex, normaler und unnormaler. Vergewaltigung, Inzest, Perversionen aller Art. (Auch solche, von denen offenbar selbst die klugen jungen Männer aus Oxford, die Bücher schrieben, noch nie etwas gehört hatten.)

Miss Marple kehrte in die Karibik zurück und nahm den Faden von Major Palgraves Erzählung wieder auf …

»Eine sehr ungewöhnliche Erfahrung«, sagte sie ermunternd. »Höchst interessant.«

»Ich könnte Ihnen noch viel mehr erzählen. Manches davon eignet sich natürlich nicht für die Ohren einer Dame …«

Mit der Leichtigkeit langer Gewohnheit senkte Miss Marple die Lider und ließ sie ein wenig flattern, und Major Palgrave setzte seine Schilderung von Stammessitten in einer jugendfreien Version fort, worauf Miss Marples Gedanken zu ihrem liebevollen Neffen zurückkehrten.

Raymond West war ein sehr erfolgreicher Schriftsteller mit einem stattlichen Einkommen, und er tat aufmerksam und gewissenhaft alles, was er konnte, um seiner alten Tante das Leben zu erleichtern. Im letzten Winter hatte sie eine böse Lungenentzündung gehabt, und nach ärztlicher Meinung brauchte sie jetzt Sonne. Mit fürstlicher Großzügigkeit hatte Raymond eine Reise auf die Westindischen Inseln vorgeschlagen. Miss Marple hatte sich dagegen gesträubt – wegen der Kosten, der Entfernung, der Beschwerlichkeit der Reise, und weil sie dann ihr Haus in St. Mary Mead im Stich lassen musste. Raymond hatte sich um alles gekümmert. Ein Freund, der gerade an einem Buch schrieb, suchte dafür einen ruhigen Rückzugsort auf dem Land. »Bei ihm ist das Haus in besten Händen. Er legt größten Wert auf einen tadellosen Haushalt. Er ist schwul. Ich meine …«

Er hatte innegehalten, ein wenig verlegen – aber selbst die gute alte Tante Jane hatte doch sicher schon einmal von Schwulen gehört.

Dann kam er zum nächsten Punkt. Reisen war heute doch keine große Sache mehr. Sie würde fliegen – eine Freundin, Diana Horrocks, wollte nach Trinidad und würde Tante Jane bis dorthin unter ihre Fittiche nehmen. In St. Honoré konnte sie im Golden Palm Hotel wohnen, das von den Sandersons geführt wurde, dem nettesten Ehepaar der Welt. Bei ihnen wäre sie gut aufgehoben. Er würde ihnen sofort schreiben.

Wie sich herausstellte, waren die Sandersons inzwischen nach England zurückgekehrt. Aber ihre Nachfolger, die Kendals, hatten prompt und sehr freundlich geantwortet und Raymond versichert, er brauche sich wegen seiner Tante keine Gedanken zu machen. Es gebe für den Notfall einen sehr guten Arzt auf der Insel, und sie würden auch selbst ein Auge auf sie haben und für ihr Wohl sorgen.

Und sie hatten Wort gehalten. Molly Kendal war eine unkomplizierte Blondine in den Zwanzigern, die offenbar immer gute Laune hatte. Sie hatte die alte Dame sehr herzlich begrüßt und tat alles, damit sie sich wohlfühlte. Ihr Mann, Tim Kendal, schlank, dunkelhaarig und in den Dreißigern, war ebenfalls äußerst liebenswürdig gewesen.

Und hier war sie nun, dachte Miss Marple, weit weg von der Unbill des englischen Klimas, hatte einen hübschen Bungalow ganz für sich allein, wurde von freundlichen westindischen Mädchen bedient, von Tim Kendal im Speisesaal erwartet, mit einem Scherz empfangen und bei der Auswahl des Menüs beraten, hatte von ihrem Bungalow aus einen angenehmen Weg ans Meer hinunter und zum Badestrand, wo sie in einem bequemen Korbstuhl sitzen und den Leuten beim Baden zuschauen konnte. Es gab sogar einige ältere Gäste, die sich als Gesellschaft anboten: den alten Mr Rafiel, Dr. Graham, den Domherrn Prescott und seine Schwester sowie ihren gegenwärtigen Kavalier, Major Palgrave.

Was konnte sich eine ältere Dame noch mehr wünschen?

Leider – und Miss Marple konnte es sich nicht einmal selbst eingestehen, ohne Schuldgefühle zu bekommen – war sie nicht so zufrieden, wie sie hätte sein sollen.

Heiter und warm, ja – und so gut für ihr Rheuma – und eine sehr schöne Landschaft, wenn auch vielleicht – eine Spur eintönig? So viele Palmen. Jeden Tag dasselbe – es passierte einfach nie etwas. Nicht wie in St. Mary Mead, wo immer etwas passierte. Ihr Neffe hatte das Leben in St. Mary Mead einmal mit Schwimmschlamm auf einem Teich verglichen, und sie hatte ihn empört darauf hingewiesen, dass man diesen nur auf eine Glasplatte streichen und unters Mikroskop legen müsste, um jede Menge Leben darin zu entdecken. Ja, in St. Mary Mead war immer etwas los. Ein Vorfall nach dem anderen schoss Miss Marple durch den Kopf – die fehlerhafte Mischung des Hustensafts für die alte Mrs Linnett, das äußerst merkwürdige Verhalten des jungen Polegate, der Besuch, den Georgy Wood von seiner Mutter bekommen hatte (aber war sie überhaupt seine Mutter?), der wahre Grund für den Streit zwischen Joe Arden und seiner Frau. So viele interessante menschliche Probleme, die Gelegenheit für viele Stunden genussvoller Spekulationen boten. Wenn es hier nur, wie sollte sie sagen, eine Nuss gäbe, die es zu knacken galt.

Erschrocken merkte sie, dass Major Palgrave inzwischen Kenia verlassen hatte und gerade erzählte, was er in der Nordwestlichen Grenzprovinz in Britisch-Indien als Leutnant erlebt hatte. Unglücklicherweise fragte er sie nun mit großem Ernst: »Meinen Sie nicht auch?«

Lange Übung hatte Miss Marple die Wendigkeit verliehen, auch damit mühelos fertig zu werden.

»Ich fürchte, ich habe nicht wirklich genügend Erfahrung, um mir da ein Urteil erlauben zu können. Ich habe ein recht behütetes Leben geführt.«

»Und das ist auch gut so, gnädige Frau, so soll es sein«, rief Major Palgrave galant.

»Aber Ihr Leben war ja so abwechslungsreich«, fuhr Miss Marple fort und beschloss, ihre bisherige angenehme Unaufmerksamkeit wiedergutzumachen.

»Nicht schlecht«, sagte Major Palgrave zufrieden. »Ganz und gar nicht schlecht.« Er blickte sich anerkennend um. »Herrlich, dieser Ort.«

»Ja, wirklich«, sagte Miss Marple, und dann rutschte ihr unwillkürlich heraus: »Ob hier jemals etwas passiert?«

Major Palgrave riss erstaunt die Augen auf.

»Aber ja doch. Jede Menge Skandale – oho! Sachen könnte ich Ihnen erzählen …«

Aber Skandale waren nicht das, wonach es Miss Marple verlangte. Skandale gaben einem heutzutage keine Nüsse mehr zu knacken. Männer und Frauen tauschten lediglich die Partner und lenkten auch noch die Aufmerksamkeit darauf, statt zu versuchen, es dezent zu vertuschen und sich angemessen dafür zu schämen.

»Sogar einen Mord hat es hier vor ein paar Jahren gegeben. Es ging um einen gewissen Harry Western. Gab einen Riesenwirbel in den Zeitungen. Daran erinnern Sie sich bestimmt.«

Miss Marple nickte ohne Begeisterung. Es war nicht ihre Art von Mord gewesen. Der große Wirbel hatte sich vor allem der Tatsache verdankt, dass alle Betroffenen steinreich waren. Es schien damals sehr wahrscheinlich, dass Harry Western den Grafen de Ferrari – den Liebhaber seiner Frau – erschossen hatte, und ebenso wahrscheinlich, dass sein perfektes Alibi gekauft war. Anscheinend waren alle betrunken gewesen, und eine Handvoll Drogensüchtige war auch mit von der Partie. Keine wirklich interessanten Leute, befand Miss Marple – wenn auch zweifellos spektakulär und etwas fürs Auge. Aber ganz entschieden nicht ihr Fall.

»Und wenn Sie mich fragen, war das zu dieser Zeit auch nicht der einzige Mord.« Er nickte und zwinkerte ihr zu. »Ich hatte so meine Vermutungen – also – na ja …«

Miss Marple fiel ihr Wollknäuel hinunter, und der Major bückte sich und hob es für sie auf.

»Apropos Mord«, fuhr er fort. »Mir ist einmal ein sehr merkwürdiger Fall begegnet – allerdings nicht persönlich.«

Miss Marple lächelte ermutigend.

»Eines Tages saßen eine Menge Leute im Club und unterhielten sich, wissen Sie, und jemand begann eine Geschichte zu erzählen. Ein Arzt. Einen seiner Fälle. Ein junger Mann kam mitten in der Nacht zu ihm und holte ihn aus dem Bett. Seine Frau hatte sich aufgehängt. Sie hatten kein Telefon, daher hatte der Mann den Strick durchgeschnitten und getan, was er konnte, dann war er ins Auto gesprungen und losgerast, um einen Arzt zu suchen. Sie war noch nicht tot, allerdings fehlte nicht mehr viel. Aber sie kam durch. Der junge Mann schien sehr an ihr zu hängen. Weinte wie ein Kind. Ihm war aufgefallen, dass sie in letzter Zeit merkwürdig gewesen war, Anfälle von Depression gehabt hatte. Aber das war es erst einmal. Alles schien in Ordnung. Doch einen Monat später nahm die Frau eine Überdosis Schlaftabletten und starb. Trauriger Fall.«

Major Palgrave hielt inne und nickte ein paarmal. Da er offensichtlich noch mehr zu sagen hatte, wartete Miss Marple ab.

»Das war’s, könnte man denken. Nichts weiter. Eine neurotische Frau eben, nichts Ungewöhnliches. Aber etwa ein Jahr später saß dieser Arzt mit einem Kollegen zusammen, sie tauschten Fallgeschichten aus, und der andere erzählte ihm von einer Frau, die versucht hatte, sich zu ertränken, ihr Mann zog sie aus dem Wasser, holte einen Arzt, und sie brachten sie wieder zu sich – und ein paar Wochen später steckte sie den Kopf in den Gasofen und war tot.

So ein Zufall, was? Die gleiche Geschichte. Mein Bekannter sagte: ›Genauso einen Fall hatte ich auch. Er hieß Jones (oder wie auch immer), wie hieß denn Ihrer?‹ ›Weiß ich nicht mehr. Robinson, glaube ich. Jedenfalls nicht Jones.‹

Die beiden sahen einander an und sagten, das sei doch ziemlich eigenartig. Dann zog mein Bekannter einen Schnappschuss aus der Tasche. Er zeigte ihn dem anderen. ›Das ist er‹, sagte er. ›Ich war am nächsten Tag noch einmal dort, um die Formalitäten zu erledigen, und mir fiel ein prächtiger Hibiskusstrauch direkt neben der Haustür ins Auge. Es war eine Art, die ich in diesem Land noch nie gesehen hatte. Mein Fotoapparat lag im Auto, und ich machte eine Aufnahme. Gerade als ich auf den Auslöser drückte, kam der Mann aus dem Haus, deshalb erwischte ich ihn zufällig ebenfalls. Ich glaube nicht, dass er es gemerkt hat. Ich fragte ihn nach dem Hibiskus, aber er konnte mir den Namen nicht sagen.‹ Der zweite Arzt schaute sich den Schnappschuss an. ›Er ist ein bisschen unscharf‹, sagte er. ›Aber ich könnte schwören – jedenfalls bin ich mir so gut wie sicher –, es ist derselbe Mann.‹

Ich weiß nicht, ob sie der Sache nachgegangen sind. Aber wenn, ist nichts dabei herausgekommen. Ich schätze, Mr Jones oder Robinson hatte seine Spuren zu gut verwischt. Aber merkwürdige Geschichte, nicht wahr? Man sollte nicht glauben, dass so etwas passieren kann.«

»Oh doch, ich schon«, sagte Miss Marple gelassen. »Praktisch jeden Tag.«

»Ach, kommen Sie, das ist doch ein bisschen übertrieben.«

»Wenn ein Mann eine Methode findet, die funktioniert, dann hört er nicht auf. Er macht weiter.«

»Wie dieser Frauenmörder mit den Bräuten in der Badewanne?«

»Ja, so ähnlich.«

»Der Arzt hat mir den Schnappschuss überlassen, einfach als Kuriosum …«

Major Palgrave begann in seiner prall gefüllten Brieftasche zu kramen und murmelte dabei vor sich hin: »Alles mögliche Zeug hab ich hier drin – ich weiß gar nicht, warum ich das alles aufhebe …«

Miss Marple meinte es zu wissen. Der Inhalt gehörte zu Major Palgraves festem Repertoire. Er illustrierte seine Geschichten. Was er gerade erzählt hatte, war vermutlich ursprünglich nicht ganz so abgelaufen, sondern beim wiederholten Vortragen stark aufpoliert worden.

Der Major suchte noch immer herum und murmelte: »Ach, die Geschichte hatte ich auch ganz vergessen. Sie war eine so gutaussehende Frau, man hätte nie gedacht – aber wo … Ah – da fällt mir ein – was für Stoßzähne! Das muss ich Ihnen zeigen …«

Er zog ein kleines Foto heraus und betrachtete es.

»Möchten Sie mal ein Bild von einem Mörder sehen?«

Er wollte es ihr gerade reichen, da hielt er mitten in der Bewegung inne. Mit einem Blick, der Major Palgraves Ähnlichkeit mit einem Frosch noch steigerte, schien er über ihre rechte Schulter hinwegzustarren – von woher sich Schritte näherten und Stimmengewirr zu hören war.

»Oh verdammt – ich meine …« Er stopfte alles wieder in seine Brieftasche und steckte sie hastig in die Tasche.

Seine Gesichtsfarbe wechselte von Purpurrot zu Dunkelviolett, und er rief mit lauter, gekünstelt klingender Stimme:

»Wie gesagt – ich hätte Ihnen gerne diese Stoßzähne gezeigt – größter Elefant, den ich je geschossen habe! – Ach, hallo!« Seine Stimme bekam einen etwas unechten jovialen Klang.

»Sieh mal an, wer kommt denn da? Das berühmte Quartett – Flora und Fauna – na, Glück gehabt heute?«

Die herannahenden Schritte entpuppten sich als die von vier Hotelgästen, die Miss Marple schon vom Sehen kannte. Es waren zwei Ehepaare, und obwohl Miss Marple ihre Nachnamen noch nicht erfahren hatte, wusste sie, dass der große Mann mit dem zu Berge stehenden dicken grauen Schopf »Greg« genannt wurde, dass seine goldblonde Frau Lucky hieß und dass das andere Ehepaar, der dunkle, schlanke Mann und die gutaussehende, aber recht wettergegerbte Frau, Edward und Evelyn waren. Sie waren Botaniker, hatte sie mitbekommen, und interessierten sich auch für Vögel.

»Überhaupt kein Glück«, sagte Greg. »Zumindest kein Glück mit dem, worauf wir aus waren.«

»Ich weiß nicht, ob Sie Miss Marple schon kennen? Colonel Hillingdon und Frau, Greg und Lucky Dyson.«

Sie begrüßten sie freundlich, und Lucky sagte laut, sie würde tot umfallen, wenn sie nicht auf der Stelle einen Drink bekäme.

Greg winkte Tim Kendal, der ein Stückchen weiter weg mit seiner Frau über den Geschäftsbüchern saß.

»Hallo, Tim. Bringen Sie uns bitte etwas zu trinken.« Er wandte sich an die anderen. »Planter’s Punch?«

Sie stimmten zu.

»Für Sie auch, Miss Marple?«

Miss Marple dankte, wollte aber lieber frisch gepresste Limette.

»Dann frisch gepresste Limette für Sie«, sagte Tim Kendal, »und fünfmal Planter’s Punch.«

»Setzen Sie sich zu uns, Tim?«

»Würde ich gern. Aber ich muss mich um die Bücher kümmern. Ich kann Molly nicht alles allein machen lassen. Heute Abend spielt übrigens eine Steelband.«

»Prima!«, rief Lucky. »Verflixt«, jammerte sie. »Ich bin ganz voller Dornen. Autsch! Edward hat mich absichtlich in einen Dornbusch geschubst!«

»Wunderhübsche rosa Blüten«, sagte Hillingdon.

»Und wunderhübsche lange Dornen. Du bist ein Scheusal, Edward!«

»Ganz anders als ich«, sagte Greg grinsend. »Ich bin voll von Milch der Menschenliebe.«

Evelyn Hillingdon setzte sich neben Miss Marple und begann sich zwanglos und freundlich mit ihr zu unterhalten.

Miss Marple ließ ihr Strickzeug in den Schoß sinken. Langsam und wegen ihres Rheumas im Nacken etwas mühsam drehte sie den Kopf, um über ihre rechte Schulter hinter sich zu blicken. Ganz in der Nähe stand der große Bungalow, in dem der reiche Mr Rafiel wohnte. Aber dort rührte sich nichts.

Sie erwiderte das Passende auf Evelyns Bemerkungen (wie liebenswürdig die Menschen doch zu ihr waren!), aber ihre Augen musterten unauffällig die Gesichter der beiden Männer.

Edward Hillingdon sah aus, als wäre er ein netter Mann. Ruhig, aber mit einer Menge Charme … Und Greg – groß, ungestüm und fröhlich. Er und Lucky waren wohl aus Kanada oder Amerika, dachte sie.

Sie blickte auf Major Palgrave, der noch immer eine etwas übertriebene Jovialität an den Tag legte.

Interessant …

2Miss Marple zieht Vergleiche

I

An jenem Abend ging es im Golden Palm Hotel sehr beschwingt zu.

Miss Marple saß an ihrem kleinen Tisch in der Ecke und schaute sich interessiert um. Der Speisesaal war ein großer, auf drei Seiten offener Raum, durch den die warme, dufterfüllte Luft der Westindischen Inseln streichen konnte. Auf den Tischen standen kleine Lämpchen, alle in gedämpften Farben. Die meisten Damen trugen Abendkleider: Leichte, bunte Baumwollkleider, die ihre gebräunten Schultern und Arme frei ließen. Miss Marple war von der Frau ihres Neffen, Joan, in sehr zartfühlender Weise gedrängt worden, doch »einen kleinen Scheck« anzunehmen.

»Weißt du, Tante Jane, dort drüben wird es ziemlich heiß sein, und ich vermute, dass du keine leichten Kleider hast.«

Jane Marple hatte ihr gedankt und den Scheck angenommen. Sie war in einer Zeit aufgewachsen, in der die Alten es normal fanden, die Jungen zu unterstützen, aber ebenso die Menschen in mittleren Jahren, für die Alten zu sorgen. Sie konnte sich allerdings nicht dazu durchringen, etwas wirklich Leichtes zu kaufen! In ihrem Alter war ihr selbst bei heißestem Wetter selten mehr als angenehm warm, und die Temperaturen auf St. Honoré waren nicht so hoch, dass man von »tropischer Hitze« sprechen konnte. An jenem Abend war sie nach bester Tradition einer englischen Dame vom Land gekleidet – in graue Spitze.

Sie war keineswegs die einzige ältere Person im Raum. Sämtliche Altersgruppen waren vertreten. Ältere Großindustrielle mit ihren jungen dritten und vierten Gattinnen. Paare mittleren Alters aus Nordengland. Eine fröhliche Familie aus Caracas mit einer ganzen Kinderschar. Auch die verschiedenen Länder Südamerikas waren gut vertreten, wie lebhaftes Stimmengewirr auf Spanisch und Portugiesisch verriet. Zwei Geistliche, ein Arzt und ein pensionierter Richter hatten einen soliden englischen Hintergrund. Sogar eine chinesische Familie war darunter. Die Bedienung im Speisesaal besorgten überwiegend Frauen, große, dunkelhäutige Mädchen mit stolzer Haltung, die strahlend weiß gekleidet waren, aber die Aufsicht führte ein erfahrener italienischer Oberkellner. Weiter gab es einen französischen Weinkellner, und auch Tim Kendal behielt alles wachsam im Auge. Er ging von Tisch zu Tisch und blieb hier und dort stehen, um ein paar freundliche Worte mit den Gästen zu wechseln. Seine Frau stand ihm kompetent zur Seite. Sie sah blendend aus. Ihr Haar war von Natur aus goldblond, und sie hatte einen großen, sinnlichen Mund, der gern lachte. Es kam nur sehr selten vor, dass Molly Kendal schlecht gelaunt war. Ihre Angestellten arbeiteten mit Begeisterung für sie, und sie stimmte ihr Verhalten sorgfältig auf ihre verschiedenen Gäste ab. Mit den älteren Herren lachte und flirtete sie, den jungen Frauen machte sie Komplimente über ihre Kleider.

»Oh, Sie tragen heute Abend ein umwerfendes Kleid, Mrs Dyson. Ich bin so neidisch, dass ich es Ihnen glatt vom Leib reißen könnte.« Dabei sah sie in ihrem Kleid selbst sehr gut aus, wie Miss Marple fand: einem weißen Etuikleid und einer blassgrünen Stola aus bestickter Seide um die Schultern. Lucky befühlte die Stola. »Wunderschöne Farbe. So eine hätte ich auch gerne.« »Sie bekommen sie in einem Geschäft ganz in der Nähe«, sagte Molly und ging weiter. An Miss Marples Tisch blieb sie nicht stehen. Ältere Damen überließ sie im Allgemeinen ihrem Mann. »Die alten Tantchen haben viel mehr Freude an einem Mann«, pflegte sie zu sagen.

Tim Kendal kam zu Miss Marple und beugte sich zu ihr herab.

»Haben Sie einen besonderen Wunsch?«, fragte er. »Sie brauchen es nur zu sagen – ich könnte es extra für Sie zubereiten lassen. Hotelessen, und halb tropisches obendrein, ist nicht gerade das, was Sie von zu Hause her gewohnt sind, nicht wahr?«

Miss Marple meinte lächelnd, das gehöre zu den Freuden eines Auslandsaufenthalts.

»Umso besser. Aber wenn Sie doch irgendetwas Spezielles möchten …«

»Wie etwa?«

»Nun …« Tim Kendal sah sie ratlos an. »Brotpudding?«, schlug er aufs Geratewohl vor.

Schmunzelnd erwiderte Miss Marple, sie halte es im Augenblick sehr gut ohne Brotpudding aus.

Sie griff zu ihrem Löffel und begann vergnügt ihren Eisbecher mit Passionsfrüchten zu verspeisen.

Dann fing die Steelband an zu spielen. Die Steelbands gehörten zu den Hauptattraktionen der Inseln. Um die Wahrheit zu sagen: Miss Marple hätte sehr gut auf sie verzichten können. Sie fand, dass sie einen fürchterlichen, völlig unnötigen Lärm machten. Dass alle anderen an ihnen Vergnügen fanden, ließ sich jedoch nicht leugnen, und Miss Marple beschloss mit jugendlichem Sportsgeist, sich irgendwie mit ihnen anzufreunden, wenn sie sich schon nicht vermeiden ließen. Sie konnte von Tim Kendal schwerlich verlangen, von irgendwoher die gedämpften Klänge der Blauen Donau herbeizuzaubern. (Wie anmutig doch ein Walzer war!) Heutzutage tanzten die Leute auf eine äußerst merkwürdige Weise. Sie schüttelten und verrenkten die Glieder, dass man sich nur wundern konnte. Na ja, junge Leute sollten ihren Spaß haben … Ihr Gedankenfluss stockte. Denn wenn sie es recht bedachte, dann waren nur ganz wenige Leute hier tatsächlich jung. Der Tanz, die Lichter, die Musik einer Band (selbst einer Steelband), all das war doch sicherlich für die Jugend gedacht. Aber wo war die Jugend? Sie studierte an einer Universität, nahm sie an, oder war berufstätig – mit vierzehn Tagen Urlaub im Jahr. Ein Ort wie dieser war zu weit weg und zu teuer für sie. Dieses ganze fröhliche und sorglose Leben war für die Dreißig- und Vierzigjährigen bestimmt – und die alten Männer, die sich mühten, das Niveau ihrer jungen Frauen zu erreichen (was ihnen leider oft gelang). Irgendwie war das doch sehr schade.

Miss Marple seufzte im Namen der Jugend. Natürlich war da Mrs Kendal. Sie war vermutlich nicht älter als zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig, und sie schien sich zu amüsieren – aber letzten Endes war das hier ihre Arbeit.

An einem Tisch in der Nähe saßen Domherr Prescott und seine Schwester. Sie winkten Miss Marple zum Kaffee an ihren Tisch, und sie ging hinüber. Miss Prescott war eine dünne, strenge Frau, der Domherr war ein runder, rosiger Mann, der Leutseligkeit verströmte.

Der Kaffee wurde gebracht, und man rückte die Stühle ein wenig von den Tischen weg. Miss Prescott öffnete einen Handarbeitsbeutel und zog ein paar ausnehmend hässliche Tischsets heraus, die sie umsäumte. Sie erzählte Miss Marple von ihren Erlebnissen des Tages. Am Morgen hatten sie eine neue Mädchenschule besucht. Nach der Mittagsruhe waren sie durch eine Zuckerrohrplantage spaziert und zum Tee in eine Pension gegangen, in der gerade Freunde von ihnen logierten.

Da die Geschwister Prescott schon länger im Golden Palm waren als Miss Marple, konnten sie sie über die anderen Gäste aufklären.

Dieser sehr alte Herr dort, Mr Rafiel. Er kam jedes Jahr. Steinreich! Eigentümer einer riesigen Supermarktkette in Nordengland. Die junge Frau, die er dabeihatte, war seine Sekretärin, Esther Walters – eine Witwe. (Alles ganz korrekt, natürlich. Nichts, was sich nicht gehörte. Schließlich war er fast achtzig!)

Miss Marple quittierte die Schicklichkeit dieser Beziehung mit einem verständnisvollen Nicken, und der Domherr bemerkte:

»Eine sehr nette junge Frau, ihre Mutter ist, soviel ich weiß, Witwe und lebt in Chichester.«

»Mr Rafiel hat auch einen Diener dabei. Oder vielmehr eine Art Pfleger – ich glaube, er ist ausgebildeter Masseur. Jackson heißt er. Der arme Mr Rafiel ist fast gelähmt. Sehr traurig – und das bei so viel Geld.«

»Ein großherziger und williger Spender«, sagte Domherr Prescott anerkennend.

Das Publikum gruppierte sich neu, manche entfernten sich etwas von der Steelband, andere drängten nach vorn. Major Palgrave hatte sich zum Quartett Hillingdon-Dyson gesellt.

»Und diese Leute …«, sagte Miss Prescott und senkte ganz überflüssigerweise die Stimme, denn die Steelband übertönte sie sowieso.

»Ja, ich wollte gerade nach ihnen fragen.«

»Sie waren letztes Jahr auch hier. Sie verbringen jedes Jahr drei Monate auf den Westindischen Inseln und besuchen eine nach der anderen. Der Große, Dünne ist Colonel Hillingdon, und die dunkelhaarige Dame ist seine Frau – sie sind Botaniker. Die anderen beiden, Mr und Mrs Gregory Dyson – die sind Amerikaner. Ich glaube, er schreibt über Schmetterlinge. Und alle interessieren sich für Vögel.«

»Wie schön für die Leute, wenn sie ihren Hobbys an der frischen Luft nachgehen können«, meinte Domherr Prescott wohlwollend.

»Ich glaube, sie würden es nicht gerne hören, dass du von Hobbys sprichst, Jeremy«, entgegnete seine Schwester. »Ihre Aufsätze werden in Zeitschriften wie National Geographic und Royal Horticultural Journal veröffentlicht. Sie nehmen sich sehr ernst.«

Eine Lachsalve erscholl von dem Tisch her, den sie im Auge hatten. So laut, dass sie sogar die Steelband übertönte. Gregory Dyson ließ sich auf seinem Stuhl nach hinten fallen und trommelte auf den Tisch, seine Frau protestierte, und Major Palgrave leerte sein Glas und schien dann Beifall zu klatschen.

Im Moment sahen sie keineswegs aus wie Leute, die sich ernst nahmen.

»Major Palgrave sollte nicht so viel trinken«, sagte Miss Prescott säuerlich. »Er hat hohen Blutdruck.«

Eine neue Runde Planter’s Punch wurde an den Tisch gebracht.

»Es ist sehr angenehm, wenn man die Leute einordnen kann«, sagte Miss Marple. »Als ich sie heute Nachmittag kennenlernte, war ich mir nicht ganz sicher, wer mit wem verheiratet ist.«

Es entstand eine kleine Pause. Miss Prescott hüstelte einmal kurz und sagte dann: »Also, was das angeht …«

»Joan«, sagte der Domherr mit warnender Stimme. »Vielleicht wäre es klüger, nichts weiter zu sagen.«

»Ich wollte ja gar nichts sagen, Jeremy. Nur, dass wir letztes Jahr – ich weiß gar nicht, warum – irgendwie auf die Idee kamen, Mrs Dyson sei Mrs Hillingdon, bis uns jemand eines Besseren belehrte.«

»Komisch, was man manchmal für einen Eindruck gewinnt, nicht wahr?«, sagte Miss Marple mit Unschuldsmiene. Ihre Augen begegneten für einen Moment denen von Miss Prescott. Ein Blick, und die beiden Frauen hatten sich verstanden.

Ein sensiblerer Mann als Domherr Prescott hätte sich vielleicht wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt.

Die Frauen tauschten einen weiteren Blick aus. Er sagte so deutlich, als wäre es ausgesprochen worden: »Ein andermal …«

»Mr Dyson nennt seine Frau ›Lucky‹. Ist das ihr richtiger Name oder ein Kosename?«, fragte Miss Marple.

»Ich denke, es wird kaum ihr richtiger Name sein.«

»Zufällig habe ich ihn danach gefragt«, warf der Domherr ein. »Er sagte, er nenne sie ›Lucky‹, weil sie sein Glücksbringer sei. Wenn er sie verlieren würde, meinte er, würde er sein Glück verlieren. Sehr hübsch ausgedrückt, fand ich.«

»Er macht gerne Scherze«, sagte Miss Prescott.

Der Domherr sah seine Schwester zweifelnd an.

Die Steelband übertraf sich selbst mit einer wild explodierenden Kakofonie, und eine Gruppe Tänzer rannte auf die Tanzfläche.

Miss Marple und die anderen drehten ihre Stühle um, damit sie ihnen zuschauen konnten. Miss Marple mochte den Tanz lieber als die Musik, ihr gefiel das Schleifen der Füße und das rhythmische Wiegen der Körper. Es wirkte sehr echt und drückte eine Art gebändigte Kraft aus.

Heute Abend fühlte sie sich erstmals ein wenig in ihrer neuen Umgebung zu Hause. Bis jetzt hatte sie etwas vermisst, was ihr normalerweise sofort ins Auge fiel, nämlich Ähnlichkeiten zwischen Leuten, die ihr begegneten, und Menschen, die sie kannte. Vielleicht war sie von den bunten Kleidern und den exotischen Farben geblendet gewesen, aber sie spürte, dass sie bald einige interessante Vergleiche würde ziehen können.

Molly Kendal war beispielsweise wie das nette Mädchen, dessen Name ihr nicht mehr einfiel, das aber Schaffnerin im Bus nach Market Basing war. Sie half einem beim Einsteigen und gab nie das Klingelzeichen zum Weiterfahren, ehe sie sich überzeugt hatte, dass man sicher saß. Tim Kendal war ein wenig wie der Oberkellner im Royal George in Medchester. Selbstbewusst und doch gleichzeitig immer in Sorge. (Er hatte einmal ein Magengeschwür gehabt, wusste sie noch.) Major Palgrave glich aufs Haar General Leroy, Captain Flemming, Admiral Wicklow und Commander Richardson. Sie ging zu jemand Interessanterem über. Greg, zum Beispiel? Greg war schwierig, weil er Amerikaner war. Ein Anflug von Sir George Trollope vielleicht, der bei den Treffen des Zivilschutzes immer so gerne Witze gemacht hatte, oder vielleicht von Mr Murdoch, dem Metzger. Mr Murdoch hatte einen ziemlich schlechten Ruf gehabt, aber manche Leute meinten, das sei nur Klatsch und Tratsch und Mr Murdoch mache es auch noch Spaß, die Gerüchte selbst anzuheizen! Und »Lucky«? Das war leicht – Marleen in den Three Crowns. Evelyn Hillingdon? Evelyn konnte sie nicht genau einordnen. Von der Erscheinung her passten viele Vorbilder zu ihr – große, dünne, wettergegerbte Engländerinnen gab es reichlich. Lady Caroline Wolfe, Peter Wolfes erste Frau, die Selbstmord begangen hatte? Oder Leslie James – diese stille Frau, die selten ihre Gefühle zeigte und die ihr Haus verkauft hatte und weggegangen war, ohne es vorher einer Menschenseele zu sagen. Colonel Hillingdon? Kein spontaner Einfall. Sie musste ihn zuerst ein wenig kennenlernen. Einer dieser ruhigen Männer mit guten Manieren. Man wusste nie, was sie gerade dachten. Manchmal überraschten sie einen. Major Harper hatte sich eines Tages in aller Stille die Kehle durchgeschnitten, fiel ihr wieder ein. Niemand hatte je erfahren, warum. Miss Marple meinte es zu wissen – aber sie war sich nie ganz sicher gewesen …

Ihre Augen wanderten zu Mr Rafiels Tisch hinüber. Über Mr Rafiel wusste man hauptsächlich, dass er unglaublich reich war, jedes Jahr auf die Westindischen Inseln kam und halb gelähmt war. Er sah aus wie ein faltiger alter Raubvogel. Seine Kleidung hing lose um seinen ausgezehrten Körper. Er konnte ebenso gut siebzig wie achtzig oder sogar neunzig sein. Er hatte einen scharfen Blick und war oft grob, aber die Leute waren selten gekränkt, teils weil er so reich war, teils weil seine überwältigende Persönlichkeit einen in hypnotischen Bann zog und einem das Gefühl gab, Mr Rafiel hätte irgendwie ein Recht darauf, sich ungehobelt zu benehmen.

Neben ihm saß seine Sekretärin, Mrs Walters. Sie hatte weizenblondes Haar und ein freundliches Gesicht. Mr Rafiel war oft grob zu ihr, aber sie schien es nie zu bemerken. Nicht aus Unterwürfigkeit, sondern weil sie einfach blind dafür war. Sie verhielt sich wie eine gut ausgebildete Krankenschwester. Vielleicht, dachte Miss Marple, hatte sie ja früher in einem Krankenhaus gearbeitet.

Ein großer, gutaussehender junger Mann in einem weißen Jackett kam und stellte sich neben Mr Rafiel. Der alte Mann blickte zu ihm auf, nickte und wies ihm einen freien Stuhl zu. Der junge Mann setzte sich gehorsam. »Mr Jackson, vermute ich«, sagte Miss Marple zu sich selbst. »Sein Diener und Pfleger.«