Karriere mit Berufsbildung (E-Book) - Andrea Eller - E-Book

Karriere mit Berufsbildung (E-Book) E-Book

Andrea Eller

0,0

Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Viele Eltern sind im Dilemma. Ist der Weg ins Gymnasium oder ein Einstieg über eine Berufslehre geeigneter für die berufliche Karriere des Sohns oder der Tochter? Welcher Weg eröffnet eine solidere Berufskarriere? Auf solche existenziellen und bildungspolitischen Fragen von Eltern, Lehrer*innen und Firmenchef*innen versucht dieses Buch Antworten zu geben. Erläutert werden auch die gegenwärtigen Reformbestrebungen und Herausforderungen der Abschlüsse der höheren Berufsbildung und der Fachhochschulen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 204

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die technische Herstellung dieses Buches wurde von der

Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW finanziell unterstützt.

Abbildung Umschlag: SVK

Ea Eller, Rudolf H. Strahm, Jörg Wombacher

Karriere mit Berufsbildung

Warum der Arbeitsmarkt Fachkräfte mit Berufslehre am meisten begehrt

Ein Wegweiser zur Berufsbildung

ISBN Print: 978-3-0355-1964-8

ISBN E-Book: 978-3-0355-1965-5

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.ch

DIE MACHER UND MACHERINNEN DIESES BUCHES

Die Autorin und Autoren(Curricula am Schluss des Buches)

Ea Eller

Rudolf H. Strahm

Jörg Wombacher

Der Verlagslektor

Christian de Simoni, Germanist

Der Buchgestalter und die Buchgestalterin

Joel Kaiser, Typograf

Barbara Büschi, Typografin

Der Korrektor

Frank Giesenberg, Philosoph, Germanist

Die Druckerin

Zdenka Šimková, Drucktechnologin

Die Werberin

Sonja Schneider, Marketingexpertin

VORWORT – IHR NUTZEN AUS DIESEM WEGWEISER

Die Wahl «Berufslehre oder Gymnasium» berührt das Leben junger Menschen geradezu existenziell und treibt auch ihre Eltern um. Eine solche Richtungswahl ist ein Schlüsselentscheid in jeder Familie mit Oberstufen-Kindern. Sie ist auch ein ständig neu diskutiertes Kernthema in der schweizerischen Bildungspolitik. Denn sie beeinflusst auch die Fachkräfteproblematik und die arbeitsmarktliche Zukunft des Landes.

Dieses Buch vermittelt als Ratgeber und Wegweiser verständliches Grundwissen zum schweizerischen Bildungssystem und zu den Bildungsentscheiden. Es ist von Praktikerinnen und Praktikern mit Erfahrung für Eltern, Lehrpersonen und Berufsberaterinnen verfasst. Und es dient ebenso den Berufsbildnerinnen, Berufsbildnern und Chefs und Chefinnen in den Lehrbetrieben.

Die duale schweizerische Berufslehre wird zwar allseits gelobt und als karrierefördernd und unentbehrlich für die Wirtschaft bewertet. «Dual» bedeutet die Kombination von betrieblicher Praxisausbildung und staatlicher Berufsfachschule. Doch in der Praxis des Richtungsentscheids «Berufslehre oder Gymnasium» gibt es viel Unkenntnis und Verunsicherung. Eltern mit akademischem Hintergrund, die die schweizerische Berufslehre und die arbeitsmarktlichen Realitäten nicht aus eigener Erfahrung kennen, drängen ihren Nachwuchs ins Gymnasium oder in die Kantonsschule.

Aber auch viele Eltern, die die Berufslehre früher durchliefen, wissen nicht, dass das Bildungssystem heute durchlässig ist nach dem Motto «Kein Abschluss ohne Anschluss». Und auch nicht, dass es karriereorientiert ausgestaltet ist.

Expats und Eltern mit Migrationshintergrund wiederum kennen die schweizerische Bildungssystematik nicht. Sie betrachten aus der Optik ihres Herkunftslandes allein das Abitur, das Baccalauréat oder andere Lyceumsabschlüsse als unerlässliche Vorbereitungen für die Berufskarriere. Gerade zu solchen Ansprüchen an das schweizerische Bildungssystem mit der unentwegten Forderung nach mehr Gymnasiumsklassen bringt dieser Wegweiser klärende Analysen.

Dieser vielseitige Akademisierungsdruck seitens der Bildungselite führt dazu, dass viele Jugendliche sich lustlos durchs Gymnasium quälen müssen und sich dabei von einem prekären Notendurchschnitt zum nächsten hangeln. Und nach der Maturität fühlen sie sich dennoch verloren in der Studienwahl. Es gilt die Faustregel, die wir in diesem Buch belegen, dass nur etwa die Hälfte jener Jugendlichen, die ins Untergymnasium eintreten, einen Bachelor-Abschluss an der Uni erreichen, der dann für sich oft nicht einmal arbeitsmarktbefähigend ist.

Wir zeigen auch, dass heute nach vielen universitären Abschlüssen eine feste Anstellung weniger garantiert ist als nach einer Berufslehre mit Weiterbildung. In aller Stille hat sich der Arbeitsmarkt gewandelt: Fachkräfte mit einer berufspraktischen Grundbildung (Berufslehre und danach Berufsmaturität und Fachhochschule oder auch Abschluss in Höherer Berufsbildung) werden heute in manchen Wirtschaftszweigen des privaten Arbeitsmarktes mehr begehrt als Diplomierte mit akademischem Abschluss.

Die schweizerische Berufsbildung fördert und qualifiziert neben der schulisch-kognitiven Wissensaneignung auch die praktische Intelligenz, also die Fähigkeit, Fachwissen in der Berufspraxis anwenden zu können. Und zudem vermittelt die Berufslehre «Soft Skills», also jene betriebliche Arbeitskultur, die von Exaktheit, Zuverlässigkeit, Termintreue, Verantwortungsbewusstsein und Teamfähigkeit geprägt ist. Aus all diesen Gründen hat die Schweiz mit dem System der dualen Berufsbildung und verglichen mit den andern Berufsbildungsländern die tiefste Jugendarbeitslosigkeit und gleichzeitig die höchste wirtschaftliche Performance.

In diesem Buch stellen wir die Berufswahlentscheide in einen Beurteilungsraster. Eine erfahrene Berufsberaterin aus unserem Autorenteam zeigt die Tücken und Probleme der oft schwierigen Berufswahlentscheide. Sie geht auf die Fragen ein, die sich Eltern und Lehrpersonen beim Richtungsentscheid «Berufslehre oder Gymnasium» stellen müssen. Sie zeigt auch, welche Kriterien in der Szene der Berufs- und Laufbahnberatung angewandt werden. ▶ Erstes Kapitel

Das heutige Berufsbildungssystem mit seiner Durchlässigkeit und den zahlreichen Karrieremöglichkeiten mit Berufsmaturität, Höherer Berufsbildung, Höheren Fachschulen und Fachhochschulen wird von einem erfahrenen Ökonomen beschrieben, der bei der Berufsbildungsreform hautnah mitgewirkt hatte. Auch die heutigen Institutionen der dualen Ausbildung mit der Kombination von betrieblicher Lehre und staatlicher Berufsfachschule und deren Anforderungen werden beschrieben. ▶ Zweites Kapitel

Wir zeigen mit Statistiken die heutigen Karrierechancen im schweizerischen Arbeitsmarkt. Wir spüren zweifellos einen Fachkräftemangel bei ausgewählten akademischen Mangelberufen wie Ärzten, Informatikern, Ingenieuren (MINT-Berufe). Aber zahlenmässig noch dringender zeigt sich der Fachkräftebedarf besonders bei jenen, die eine Berufslehre absolviert und danach eine Höhere Berufsbildung oder eine Fachhochschule durchlaufen haben. Der Ärztemangel in den Spitälern wird heute überlagert durch den Mangel an diplomierten Pflegefachpersonen aller Stufen. Der Ingenieurmangel in der Energieszene wird überlagert durch den der Monteure und Installateure in Gebäudetechnik. Der Wirtschaft fehlen die Techniker, Teamchefs und mittleren Kader mit Berufslehre und Weiterbildungen.

Es zeigt sich auch, dass die Digitalisierung der Wirtschaftswelt gerade nicht nur auf der akademischen Bildungsstufe, sondern bei fast allen Berufen und in allen Berufsfeldern gefragt ist. Die sich stets wandelnden digitalen Kompetenzen lassen sich nicht ein für alle Mal in einer Grundbildung oder einem Grundstudium erwerben. In den nächsten Jahrzehnten sind neue, heute noch nicht entwickelte Digitaltechniken auf allen Stufen gefragt, und deshalb erhält die fachspezifische Weiterbildung im Sinne des lebenslangen Lernens immer grössere Bedeutung. ▶ Drittes Kapitel

Fachhochschulen gelten heute als Königsweg der Fachkräfte-Ausbildung für die Wirtschaft. Ein Fachhochschuldozent in unserem Autorenteam beschreibt die spezifischen Anforderungen und er erklärt die Reform-Baustellen in den Fachhochschulen. Er thematisiert auch den Zugang zu den Fachhochschulen und deren schwierige Position zwischen Universitäten und Höheren Fachschulen. ▶ Viertes Kapitel

Die Schweiz ist im internationalen Performance-Vergleich unter den reichsten westlichen Industriestaaten geradezu «unanständig» konkurrenzfähig. Dies trotz hoher Löhne und Preise. Anhand eines Bündels von Wirtschaftsindikatoren werden hier internationale Performance-Vergleiche mit Grafiken präsentiert. Die Länder Europas, die eine duale Berufslehre kennen, stehen meist in der industriellen Konkurrenzfähigkeit an der Spitze. Wir präsentieren hier aktualisiert jene Vergleichsindikatoren, die wir zuvor in einem für China publizierten Buch zum schweizerischen Berufsbildungssystem mit dem Titel 有教无类, 因材施教. 瑞士双轨制职业教育体系 zusammengestellt hatten. ▶ Fünftes Kapitel

Das Bildungssystem muss sich wandeln und weiterentwickeln. Im sechsten Kapitel beschreiben wir die wichtigsten Baustellen der schweizerischen Berufsbildungspolitik und besprechen die Reformanforderungen an das Berufsbildungssystem. ▶ Sechstes Kapitel

Wenn wir dieses Buch vor allem auf das Berufsbildungssystem und dessen Institutionen und Weiterbildungsstufen fokussieren, heisst das nicht, dass wir den akademischen Bildungsweg der gymnasialen Maturität zur Universität abwerten. Wo Jugendliche stark sind in der Schule und gerne weitere Jahre zur Schule gehen, sollen sie für den gymnasialen Weg gefördert werden. Wir widersetzen uns aber jener elitären Bildungsdoktrin, die eine «Matura für alle» propagiert oder die Digitalisierung zur Rechtfertigung für eine Akademisierung nach dem Muster der lateinischen und südeuropäischen Länder benützt.

Ein Wort zur gewählten Sprache in diesem Buch. Dieser Wegweiser soll auch ausserhalb der pädagogischen Fachkreise verstanden werden. Wir benutzen deshalb die traditionellen umgangssprachlichen Ausdrücke wie «Berufslehre» oder «Lehrling» gleichwertig wie die neugesetzlichen Begriffe «berufliche Grundbildung» und «Lernende» gemäss Berufsbildungsgesetz BBG. Die wissenschaftlichen und statistischen Quellen benennen wir nur dort, wo es um die Daten der Grafiken und wichtige Zitate geht. In einem kleinen Serviceteil verweisen wir auf wichtige Adressen und Links. Auf weiterführende Literatur verweisen wir in jedem Kapitel. Bei den genderspezifischen Bezeichnungen halten wir uns in der Regel an die Empfehlungen der Erziehungsdirektoren-Konferenz EDK.

Wir hoffen, mit diesem Wegweiser zu einer fruchtbaren Diskussion über die Berufsbildung und die Akademisierungstendenzen im Lande beizutragen. Und wir möchten damit auch allen Lehrpersonen, Berufsbildnern, Ausbilderinnen, Berufsberatenden, interessierten Eltern und natürlich auch allen Lernenden zu mehr Selbstvertrauen verhelfen. Kurz, wir möchten dem schweizerischen Berufsbildungssystem, das unser Land reich machte, zu jener gesellschaftlichen Bedeutung verhelfen, die es verdient.

Ea Eller, Rudolf Strahm, Jörg Wombacher

Bern und Basel, im März 2023

INHALTSVERZEICHNIS

Abkürzungsverzeichnis

1 Wie weiter nach der Schule: Berufslehre oder Gymnasium?

Ea Eller

2 Wie das Berufsbildungssystem in der Schweiz funktioniert – und warum es funktioniert

Rudolf H. Strahm

3 Wie die Wirtschaft die Berufspraxis bevorzugt

Rudolf H. Strahm

4 Mit Lehre zum Studium 129

Jörg Wombacher

5 Bildungssystem und Stärken des Wirtschaftsstandorts Schweiz

Rudolf H. Strahm

6 Wie das Berufsbildungssystem weiterentwickelt wird

Ea Eller, Rudolf H. Strahm

Die Autoren

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

ABU Allgemeinbildender Unterricht während einer beruflichen Grundbildung (EBA und EFZ)

BBG Berufsbildungsgesetz

BBS Bildungsbericht Schweiz

BFS Bundesamt für Statistik

BIZ Berufsinformationszentrum, in jedem Kanton vorhanden

BM Berufsmaturität, parallel oder nach einer EFZ-Ausbildung machbar

BMS Berufsmaturitäts-Schule

BP Berufsprüfung, ein Weiterbildungsabschluss

BRIC Brasilien, Russland, Indien, China

BSc/BA Bachelor of Science, Bachelor of Arts, erster Abschluss auf FH/PH/Uni/ETH-Stufe

EBA Eidgenössisches Berufsattest, nach Abschluss einer 2-jährigen beruflichen Grundbildung

EDK Erziehungsdirektoren-Konferenz der Kantone

EFZ Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis, nach Abschluss einer 3- oder 4-jährigen beruflichen Grundbildung

EHB Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung

EQR Europäischer Qualifikationsrahmen

ETH Eidgenössische Technische Hochschule

EU Europäische Union

Eurostat Statistiksystem der Europäischen Union (Statistk Schweiz ist beteiligt)

FaGe/FaBe Fachangestellte Gesundheit/Betreuung

FH Fachhochschule

GfS Gesellschaft zur Förderung praktischer Sozialforschung (Marktforschung)

HBB Höhere Berufsbildung, umfasst BP, HFP und HF

HF Höhere Fachschule, eine längere Weiterbildung nach beruflicher Grundbildung.

HFP Höhere Fachprüfung, ein Weiterbildungsabschluss

ICT /IKT Informations- und Kommunikationstechnologie, Branchenbezeichnung

IMX International Management Development Institute

INSOS Branchenverband der Dienstleister für Menschen mit Behinderung

Invol Integrations-Vorlehre

KMU Kleinere und mittlere Unternehmen in der Schweiz (< 250 Mitarbeitende)

KV Kaufmännischer Verein, umgangssprachlich Synonym für eine berufliche Grundbildung im kaufmännischen Bereich.

LENA Lehrstellennachweis der Kantone, zu finden auf berufsberatung.ch

MINT Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik

MSc/MA Master of Science, Master of Arts, zweiter Abschluss auf FH/PH/Uni/ETH-Stufe

NQR Nationaler Qualifikationsrahmen

OdA Organisation der Arbeitswelt (Verbände Arbeitgeber und Arbeitnehmer)

OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

PH Pädagogische Hochschule

PPP Public-Private-Partnership

PrA Praktische Ausbildung nach INSOS

QV Qualifikationsverfahren zum Abschluss der beruflichen Grundbildung

RAV Regionale Arbeitsvermittlung, die Aussenstelle der Arbeitslosenversicherung

SBFI Staatsekretariat für Bildung, Forschung und Innovation

Seco Staatssekretariat für Wirtschaft

SKBF Schweiz. Koordinationsstelle für Bildungsforschung

ÜK Überbetriebliche Kurse im Rahmen einer beruflichen Grundbildung

VA Vorläufig aufgenommene Migrationspersonen

WEF World Economic Forum

ZGB Zivilgesetzbuch

1

Wie weiter nach der Schule: Berufslehre oder Gymnasium?

Wegweiser für die Berufswahl

Foto: Manu Friederich/SwissSkills

Sie finden in diesem Kapitel Antworten auf folgende Fragen:

A Was passiert nach der Schule?

B Wer begleitet auf dem Weg zu einer ersten Berufsentscheidung?

C Welche Möglichkeiten gibt es nach der obligatorischen Schulzeit?

D Was ist richtig, falsch oder passend?

E Wie das Richtige finden?

F Was ist das ideale Timing für den Ablauf?

 

Wie gehts weiter, nach der Schule? Jedes Jahr endet für rund 85 000 Jugendliche in der Schweiz die obligatorische Schulzeit. Diese Jugendlichen stehen an einem entscheidenden Punkt: Ein neuer Abschnitt in ihrem Leben beginnt. Die erste grosse Berufsentscheidung steht an. Und das in einem Alter, das alles andere als einfach ist.

Welche gesellschaftlichen Normen spielen in diesen Entscheid hinein? Welche Erwartungen müssen erfüllt werden? Welchen Einfluss haben zum Beispiel die Eltern auf ihre Kinder? Dieses Kapitel handelt vom Einfluss der Erziehungsberechtigten und erklärt, welche weiteren Akteure an diesem Prozess beteiligt sind. Es ist heute ein gut eingespieltes System aus Schule und Berufsberatungen, welches den Jugendlichen Unterstützung und Begleitung anbieten kann.

Damit ein guter Entscheid getroffen werden kann, wird differenziert, was die verschiedenen Auswahlmöglichkeiten voneinander unterscheidet – denn Vor- und Nachteile gibt es bei allen Optionen, sie werden individuell aber sehr unterschiedlich bewertet.

Diese Kapitel bietet ausserdem Hilfestellung für alle Beteiligten, indem es aufzeigt, wie man das Passende finden und Schritt für Schritt dem Entscheid näherkommen kann. Ein ungefährer Fahrplan wird aufgezeigt und auch dem Umgang mit Absagen und Entscheidungsschwierigkeiten wird Platz eingeräumt.

 

Die grosse Freiheit nach der Schule?

Die obligatorische Schulzeit lässt kaum Raum für eigene Entscheidungen. Die Schulfächer werden von einem Lehrplan definiert, die Teilnahme ist obligatorisch. Und dann plötzlich, zu ihrem Ende, steht für die Jugendlichen eine erste grosse Entscheidung an. Und eine, die man auch noch selbst verantworten muss. Eine solche Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, ist schon für erwachsene Menschen nicht einfach. Ganz besonders schwierig ist sie aber für Jugendliche, denen bisher immer das Systeme (die Schule) oder Erwachsene (die Eltern oder Erziehungsberechtigten) alles vorgegeben haben.

Aber auch der Zeitpunkt der Entscheidung (und alle Schritte, die davor nötig sind) ist herausfordernd. All das muss nämlich passieren, während die Jugendlichen noch in der Schule sind, und somit noch ganz andere Erwartungen auf ihnen lasten. Sie müssen neuen Schulstoff lernen, sich mit ungeliebten Fächern herumschlagen, Prüfungen bestehen, sich im Klassenverband zurechtfinden, Freundschaften knüpfen und Erlebnisse mit anderen sammeln.

Gleichzeitig befindet man sich, im Alter von ungefähr 14 Jahren, mitten in der Pubertät – das Gehirn wird gerade grundlegend umgebaut. Die Wichtigkeit der Eltern als Bezugspersonen nimmt langsam ab, die Wichtigkeit der Gleichaltrigen nimmt langsam zu und trotzdem ist man noch nicht volljährig und damit unabhängig. Dieser Prozess läuft meistens nicht ohne Störgeräusche ab, er stellt das Leben ziemlich auf den Kopf.

Da erstaunt es nicht, dass auch Eltern und Erziehungsberechtigte sich nicht selten schwer damit tun, ihrem Kind diesen Entscheid zu überlassen. Schliesslich ist man (zumindest formal) ja auch noch verantwortlich und möchte nur das Beste für sein Kind.

Für die Jugendlichen selbst stellen sich vor dieser ersten grossen Entscheidung viele verschiedene Fragen. Was geschieht, wenn meine Vorstellung gar nicht so einfach umzusetzen ist? Was, wenn meine Noten dafür nicht reichen? Was ist, wenn die Arbeitswelt oder die gewählte weiterführende Schule nicht so ist, wie ich sie mir vorgestellt habe? Was passiert, wenn die Arbeitswelt sich verändert und mir das in zehn Jahren alles nichts mehr nützt? Was ist, wenn meine Eltern oder Freunde meine Wahl nicht verstehen? Was, wenn meine Familie sich meinen Wunsch nicht leisten kann? Was kann ich tun, wenn ich mich nicht bereit fühle, jetzt zu entscheiden? Was ist, wenn ich mir gar nicht sicher genug bin, was ich will? Und was passiert eigentlich ganz generell, wenn ich mich falsch entscheide?

Die Wahl ist zudem auch gar nicht so frei, wie sie den Anschein macht. Formal existieren zwar ungefähr 250 verschiedene Angebote (Lehrberufe oder weiterführende Schulen). Auf der individuellen Ebene gibt es jedoch viele Faktoren, die die Wahlfreiheit einschränken. Die Schulnoten und das Schulniveau sind die offensichtlichsten Einschränkungen – je nach Noten und Niveau fallen gewisse Wahlmöglichkeiten als erster Schritt nach der Schule weg. Auch persönliche Eigenschaften schränken die Wahl ein: Stärken, Schwächen, Interessen, Persönlichkeitseigenschaften etc. passen nicht zu allen Möglichkeiten.

Der Arbeitsmarkt und das Angebot an Lehrstellen sind zudem regional sehr heterogen. Gewisse Berufslehren sind in Teilen der Schweiz für viele Jugendliche zugänglich, in anderen Regionen gibt es wenige bis keine Lehrstellen. Es gibt Branchen, die nicht sehr viele Lernende ausbilden oder sehr begehrt sind, so dass es nicht einfach ist, dort unterzukommen. Gleiches gilt für die schulischen Wege – nicht alle Schulen oder Schultypen sind überall in der Schweiz zu finden, nicht alle Kantone pflegen die gleichen Strukturen.

Dass sich die Jugendlichen und Eltern oft ein bisschen überfordert fühlen von der Gesamtsituation, ist daher kein Wunder: viele Anforderungen treffen auf viele Unsicherheiten.

Zum Glück steht der Entscheid nicht von einem Tag auf den anderen an. Und die weitere gute Nachricht: Man wird begleitet in diesem Prozess.

Die Begleiterinnen: Wer kann mithelfen auf dem Weg der Entscheidungsfindung?

Damit man sich sicher sein kann, richtig zu entscheiden, braucht es Vorbereitung. Verschiedene Begleiterinnen machen den Weg der Entscheidungsfindung weniger einsam. Dabei haben unterschiedliche Begleiterinnen unterschiedliche Kompetenzen und nehmen entsprechende Rollen ein.

Die Schule

Die Rolle der Schule hat sich im Bereich «Berufswahl» in den letzten Jahren stark verändert. Das Fach «berufliche Orientierung» wurde obligatorisch in den Lehrplan aufgenommen – und damit haben die Jugendlichen aller Niveaus in der Sekundarstufe mindestens eine Jahreslektion Unterricht, der sich um Berufsthemen dreht. In der Regel wird dieses Fach von einer Lehrperson betreut, die sich in ihrer Ausbildung dafür vorbereitet hatte. Es werden zahlreiche Methoden und Mittel eingesetzt wie Führen eines Berufswahltagebuchs, Vorstellung verschiedener Berufe oder Berufsfelder, Firmenbesuche, BIZ-Besuch, Üben eines Bewerbungsschreibens und so weiter. In einigen Kantonen wird das Fach mit je einer Wochenstunde von der 7. bis 9. Klasse behandelt, in anderen Kantonen nur in der 8. Klasse.

Inhaltlich geht es darum, die Jugendlichen in ihrem Prozess der Wahl ihrer zukünftigen Bildungs- und Berufsziele zu unterstützen und anzuleiten. Wie dies inhaltlich umgesetzt wird, ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Die Jugendlichen knüpfen im Unterricht Kontakte zur Arbeitswelt, sie lernen verschiedene Ausbildungen und Berufe kennen (über Vorträge, Recherchen im Internet, Besuche von Betrieben etc.), werden darauf vorbereitet, dass sie sich bewerben müssen (Wie schreibt man ein Bewerbungsschreiben? Was ist ein Lebenslauf?).

Die verwendeten Lehrmittel sind ähnlich aufgebaut. Die Jugendlichen lernen sich selbst und ihre Möglichkeiten besser kennen und erhalten Information und Anleitung zu Bewerbungen, Schnupperlehren und Vorstellungsgesprächen Den Lehrpersonen ist es ein Anliegen sicherzustellen, dass alle in der Klasse eine Anschlusslösung finden. Dabei kann eine Lehrperson begleiten und anleiten, vor allem im Klassenverband. Wenn es Schwierigkeiten gibt oder Unsicherheiten entstehen, kann sie auch an weitere Stellen verweisen (zum Beispiel die Berufsberatung).

Die Lehrpersonen legen zudem Wert darauf, dass die Jugendlichen selbst einschätzen können, was zu ihnen passen könnte.

Die Eltern oder Erziehungsberechtigten

Aus der Forschung wissen wir: Die Eltern sind nachweislich die wichtigsten Begleiter im Berufswahlprozess (siehe Neuenschwander, Stamm). Sie sind die wichtigsten Gesprächspartner der Jugendlichen und auch aus rechtlicher Sicht in der Pflicht als Verantwortliche für die Erstausbildung ihres Kindes. Wie sich die Rolle der Eltern im Berufswahlprozess ausgestaltet, ist unterschiedlich, je nach Situation, vorhandenen Ressourcen und Beziehung zueinander.

1.1

Wer die Wahl «Gymnasium oder Berufslehre» am stärksten beeinflusst

Akteure beim Richtungsentscheid nach der obligatorischen Schule.

 Quelle: Markus P. Neuenschwander et al.: Schule und Beruf © Strahm

Viele Eltern stellen sich die Frage: Was können wir tun, damit wir unser Kind gut unterstützen? Es gibt eine ganze Reihe an Möglichkeiten, was hilfreiche Unterstützung sein kann:

Zeit nehmen:

Die Berufs- oder Schulwahl ist ein Prozess, das Thema wird sich nicht innert zwei Wochen lösen lassen. Wenn man sich bewusst ist, dass ein solcher Prozess Zeit braucht, kann man sich auch Zeit nehmen, an den verschiedenen Fragen und aktuellen Schritten dranzubleiben. Die Vorbereitungen auf die Wahl passieren teilweise schon recht früh; bereits in der 7. Klasse wird Berufswahl in der Schule zum Thema – obwohl der definitive Entscheid erst später folgt. Aber diese Vorlaufzeit ist wichtig, um langsam dem Entscheid näher zu kommen.

Sich informieren:

Die Berufs- und Schulwelt hat sich verändert, seit die Eltern selbst vor der ersten grossen Wahl standen. Neue Berufe sind entstanden, neue Schulen haben sich etabliert, gewisse Branchen haben sich grundlegend geändert. Als Eltern kann man sich einen Überblick über das Angebot und die jeweiligen Vor- und Nachteile verschaffen. Das Internet, die Berufsberatung und die Schulunterlagen der Jugendlichen sind gute Quellen.

Strukturieren helfen:

Die Berufs- oder Schulwahl ist für Jugendliche eine schwer zu überblickende Aufgabe. Eltern können behilflich sein, eine Struktur zu finden und den ganzen Prozess in kleinere Teilschritte zu unterteilen – zum Beispiel abzumachen, dass für die nächsten Ferien eine Schnupperlehre organisiert werden sollte. Damit wird der Prozess fassbarer und lösbarer. Es ist auch spannend zu hören, was in der Schule gerade behandelt wird, damit man die familieninternen Schritte mit dem, was in der Schule passiert, abgleichen kann.

Über Berufliches sprechen:

Das Thema Arbeit und Beruf wird in dieser Zeit wichtiger. Eltern können auch vom eigenen Beruf erzählen, vom eigenen Werdegang und von den eigenen Wünschen. Dies hilft, eine realistische Vorstellung davon zu entwickeln, was «Arbeiten» eigentlich heisst und wie andere Menschen diesen Entscheidungsprozess gemeistert haben.

Fremdeinschätzungen abgeben:

Was man besonders gut kann oder wo die Talente und Stärken liegen, ist für Jugendliche teilweise noch schwer zu beantworten. Eltern und weitere Bezugspersonen kennen die Jugendlichen aus einem anderen Kontext als der Schule – und können so wertvolle Inputs beisteuern, wo Talente liegen oder Stärken sind.

Kontakte vermitteln:

Aus dem eigenen Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis können sich über Kontakte gute Gelegenheiten für Schnupperlehren ergeben – so kann man mithelfen, Einblicke zu erhalten. Auch Schnuppertage bei Bekannten oder erste Gespräche sind hilfreich.

Offenheit:

Was die Wünsche der Jugendlichen sind und welche Traumberufe sie auch haben – vielleicht gibt es noch Alternativen, die man nicht kennt, oder andere Wege, um zum Ziel zu kommen. Eltern können diese Offenheit fördern, wenn sie selbst auch offen bleiben.

Unterstützen und ermutigen:

Der Prozess kann lang und manchmal steinig sein – auch Absagen und Misserfolge kommen oft vor – und dies ist schmerzhaft. Eltern können in solchen Phasen Mut machen und dazu ermutigen, trotzdem weitere Schritte zu unternehmen und auch bei Schwierigkeiten dran zu bleiben.

Zwei Punkte sind in Bezug auf die Rolle der Eltern wichtig zu erwähnen:

Begleiten heisst nicht selbst machen: Eltern, die für ihre Kinder in einem Lehrbetrieb anrufen oder gleich Bewerbungen schreiben – das kommt in den meisten Fällen nicht gut an. Die Jugendlichen müssen langsam selbständig werden. Das heisst auch, dass sie Dinge anders machen, als die Eltern sich das vorstellen, oder länger dafür brauchen. Das ist nicht einfach auszuhalten, die Rolle der Eltern verändert sich aber, das Kind wird immer selbstständiger und soll diese Schritte selbst erledigen können.

Eltern und Jugendliche sind sich nicht immer einig: Die Wünsche der Eltern und die Interessen der Jugendlichen können sich unterscheiden. Das ist auch in Ordnung so. Wichtig ist es, trotzdem im Gespräch zu bleiben. Was erhoffen sich die Jugendlichen von ihrer Wahl? Warum haben die Eltern andere Ideen? Was spricht dafür oder dagegen? Gibt es vielleicht noch Alternativen? Im Zweifelsfall hilft vielleicht auch das Gespräch mit anderen Personen, seien es Freunde, Bekannte oder Fachpersonen wie die Berufsberatung.

Die Berufsberatung

Wenn der Berufs- und Schulwahlprozess ins Stocken gerät, kann man sich in allen Kantonen kostenlos an die Berufsberatung wenden. Die spezifisch ausgebildeten Fachleute können in einer solchen Situation als Aussenstehende neue Inputs bieten, was meistens viel Bewegung in den Prozess bringt.

Der Vorteil liegt darin, dass die Berufsberatenden neutrale Personen sind. Neutral heisst: Sie haben keine Meinung, welcher Weg «der Beste» ist, sondern sind daran interessiert, individuell die bestpassende Lösung zu finden. Sie kennen die Arbeits- und Ausbildungswelt, verschiedene Alternativen und auch ungewöhnliche Wege und Varianten, es ist schliesslich ihr Job, sich jeden Tag damit auseinanderzusetzen.

Das kann Inputs bringen, an die bisher noch niemand gedacht hat, oder Vorurteile entkräften, die auf verschlungenen Wegen entstanden sind.

Zudem sind die Fachleute der Berufsberatung psychologisch geschult und können auf viele Hilfsmittel und diagnostische Verfahren zurückgreifen. Mit dem Einsatz von Testverfahren entstehen zusätzliche Erkenntnisse, die auf dem Weg zum Entscheid weiterhelfen.

Manchmal ist es hilfreich zu wissen, dass sich eine Fachperson Zeit nimmt, die Lage in Ruhe zu besprechen, nachzufragen und gemeinsam Schritte festzulegen, wie es weitergehen könnte.

Wer also unsicher, unentschieden oder unter Druck geraten ist, eine neue Perspektive braucht, eine Sicht von aussen oder schlicht die Zeit und den Raum, um sich mit sich selbst und den Möglichkeiten auseinanderzusetzen, kann von der Berufsberatung profitieren. Die Services sind in der ganzen Schweiz für die Jugendlichen kostenlos.

Nicht alle Jugendlichen kommen im Berufswahlprozess mit der Berufsberatung näher in Kontakt. Die meisten Jugendlichen haben aber Berührungspunkte: Sie sind vielleicht im BIZ und benutzen die Infothek, sie haben ein kurzes Gespräch im Rahmen einer Schulhaussprechstunde oder besuchen zusammen mit den Eltern eine Infoveranstaltung.

Indirekt hat die Berufsberatung mit der Schule zusammengearbeitet (Absprachen mit den Schulen, Organisation von Infotagen, Weiterbildungen für die Lehrpersonen, Konferenzen mit den Lehrpersonen), damit möglichst viele Bausteine gut aufeinander abgestimmt sind.

Reflexionsfragen für Eltern, Lehrpersonen und Berufsberatende

Bei Begleitprozessen lohnt es sich, seine eigenen Bilder und Vorstellungen genauer anzuschauen – damit man merkt, welche bisher vielleicht unbewussten Ideen, Vorstellungen oder auch Vorurteile man hat. Hier sind Fragen zusammengetragen, die diese Reflexion unterstützen.

Wie erlebe ich Arbeit? Ist Arbeit für mich das Gleiche wie Erwerbsarbeit? Macht mir arbeiten Freude? Würde ich lieber etwas anderes machen? Falls ja: Warum? Falls nein: Warum nicht?

Wie sieht meine Berufswahl-Biografie aus? Welche Ausbildung(en) habe ich gemacht? Warum? Welche hätte ich gerne gemacht? Warum? Welche habe ich ausgeschlossen? Warum?

Wie hat sich mein Berufsweg entwickelt? Warum habe ich in den jeweiligen Situationen so entschieden – und nicht anders? Welche Alternativen hätte es gegeben? Welche Faktoren und Personen haben für mich eine Rolle gespielt?

Wenn ich in der heutigen Welt und in der jetzigen Situation wieder 14 Jahre alt wäre – was könnten für mich interessante Optionen sein? Warum sind für mich gewisse Optionen interessanter als andere?

Habe ich eine eigene Meinung dazu, welche Wege und Möglichkeiten für wen passend sind? Hat der Charakter der Person einen Einfluss – und wenn ja, welchen? Hat das Geschlecht der Person einen Einfluss – und wenn ja, welchen? Hat die Herkunft der Person einen Einfluss – und wenn ja, welchen? Hat das Schulniveau der Person einen Einfluss – und wenn ja, welchen? Welche Wege oder Ausbildungen kann ich aus vollem Herzen empfehlen? Welche nicht?

Wie erlebe ich den Zusammenhang von Arbeitsinhalten und Arbeitsumfeld? Ist mir das eine wichtiger als das andere? Gibt es weitere Faktoren, die für mich wichtig sind?