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Kasperle auf Reisen: Eine lustige Geschichte E-Book

Siebe, Josephine

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The Project Gutenberg EBook of Kasperle auf Reisen, by Josephine SiebeThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.orgTitle: Kasperle auf ReisenAuthor: Josephine SiebeIllustrator: Karl PurrmannRelease Date: July 23, 2011 [EBook #36813]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KASPERLE AUF REISEN ***Produced by Jens Sadowski

Kasperle auf Reisen

Eine lustige GeschichtevonJosephine Siebe

Mit vier farbigen Vollbildern von Karl Purrmann

Vierte Auflage

Verlag von Levy & Müller in Stuttgart

Nachdruck verboten Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten Druck: Chr. Verlagshaus, G. m. b. H., Stuttgart

Inhalt

Erstes Kapitel. In Meister Friedolins Haus

Zweites Kapitel. Der alte Schrank

Drittes Kapitel. Was am Waldsee geschah

Viertes Kapitel. In Protzendorf beim Bauer Strohkopf

Fünftes Kapitel. Gänse hüten

Sechstes Kapitel. Kasperle im Schloß

Siebentes Kapitel. Rosemarie

Achtes Kapitel. Ein neues Heimathaus

Neuntes Kapitel. Kasperle in der Schule

Zehntes Kapitel. Eine neue Gefahr

Elftes Kapitel. Abenteuer über Abenteuer

Zwölftes Kapitel. Kasperle wird ein Gespenst

Dreizehntes Kapitel. Der bunte Garten

Vierzehntes Kapitel. Die Reise mit Herrn Severin

Fünfzehntes Kapitel. Wieder daheim im Waldhaus

Erstes Kapitel In Meister Friedolins Haus

Mitten im Walde stand irgendwo vor etwa hundert Jahren ein altes Haus. Wie alt es war, wußte niemand ganz genau; die Leute in der Umgegend sagten, ein paar hundert Jahre könne es schon stehen. Früher war der Wald drum herum groß und weit gewesen, man hatte sich recht darin verlaufen können. Dann waren die Dörfer näher gerückt, am Rande war viel abgeholzt worden, und vom uralten Häuschen führten schließlich drei Straßen ins Land.

Überall da, wo die Straßen endeten, lag ein Dorf, im Osten Schönau, im Süden Lindendorf und im Westen war eins, das die Leute Protzendorf nannten. Dort wohnten lauter sehr reiche Bauern, die arg hochmütig waren. Mit den Bewohnern der andern Dörfer verkehrten sie gar nicht, und die Kinder aus Protzendorf kamen auch nie zum Waldhäuschen gelaufen. Das taten die Kinder aus den andern Dörfern nämlich sehr gern, denn im Waldhäuschen lebte ein Holzschnitzer, der gar wunderliche, schnurrige Dinge schnitzte. „Kasperleschnitzer“ hieß er in der Umgegend; er schnitzte emsig den ganzen lieben Tag lauter Kasperlepuppen, und seine kleine Frau Annettchen zog die Puppen an. Da saß manchmal eine bunte Gesellschaft auf der Holzbank im Waldhäuschen, und die Kinder aus Schönau und Lindendorf kamen oft gelaufen, sich die Kasperlepuppen anzusehen. Sie erfuhren es immer, wenn wieder eine Anzahl Puppen zum Verschicken in die weite Welt fertig waren. Liebetraut, des Kasperleschnitzers Pflegetochter, kam dann geschwind in eins der Dörfer gelaufen und sagte es den Kindern, denn das Mädchen war mit allen Kindern gut Freund. Ja, manchmal hängte Liebetraut vor eins der kleinen Fenster im Waldhäuschen einen roten Vorhang; dann spielte sie mit den Puppen den Kindern etwas vor, und das ganze kleine Waldhaus war umjauchzt von Lachen. Den Kindern wurde das Abschiednehmen von den Kasperlepuppen immer sehr schwer, doch die wurden in eine große Kiste gepackt, reisten in die weite Welt hinaus, und keine kehrte mehr ins Waldhaus zurück.

In Lindendorf und Schönau wußten die Leute nicht viel davon, daß der Kasperleschnitzer eigentlich ein berühmter Mann war. Aber auf den Jahrmärkten und Messen im weiten deutschen Land und darüber hinaus, da war sein Name bekannt, und jeder, der ein Kasperletheater besaß, schätzte sich glücklich, wenn er Puppen hatte, die von dem Meister Friedolin geschnitzt waren. Alle sagten es, weit und breit seien keine lustigeren und vergnüglicheren Puppen zu finden. Und angezogen waren sie — ei Potzwetter! Frau Annettchen und Liebetraut wußten für die Kittelchen und Mützchen immer wieder etwas Neues zu ersinnen, ganz wundernett putzten sie die Puppen heraus.

Es ging friedlich und fröhlich zu im kleinen Waldhaus. Reichtümer gab’s nicht darin, aber Hunger brauchten die Bewohner auch nie zu leiden. Meister Friedolin selbst war ein stiller Mann; er saß von früh bis spät bei seiner Schnitzarbeit, aber er hörte es gern, wenn seine Frau Annettchen lachte und Liebetraut sang. Von draußen rauschten die Bäume herein, der Vögel Stimmen erschallten, und Frau Annettchen sagte manchmal: „So schön wie bei uns ist es nirgends.“

Die blonde Liebetraut war auch ein rechtes Sonnenkind. Woher sie gekommen, wußte niemand; ein Wanderbursch hatte eines Tages im Herbst ein kleines Bündel ins Waldhaus gebracht und gesagt: „Hier, Frau, das habe ich draußen auf der Straße gefunden.“ Aus dem Bündelchen hatten Frau Annette zwei große, blaue Augen angestrahlt, und da hatte die gleich gerufen: „O so ein liebes, trautes Kindle! Das möchte ich gleich behalten!“ Und beim Behalten war es geblieben. Niemand wußte, wem das Kind gehörte, niemand kannte seine Eltern. Da taufte der Pfarrer in Schönau die Kleine auf den Namen Liebetraut, und Meister Friedolin und Frau Annette wurden ihre Eltern. Das war aber schon lange her, inzwischen war Liebetraut ein hübsches, großes Mädchen geworden, an dem seine Pflegeeltern eine rechte Herzensfreude hatten.

Meister Friedolin bei der Arbeit

Auch Liebetraut fand, im Waldhäuschen sei es am allerschönsten in der Welt. Mit den Kasperlepuppen hatte sie immer ihren besonderen Spaß. Sie sagte oft: „Schade, daß sie nicht lebendig sind!“ Und wie sie das einmal wieder sagte, an einem rechten Wintertag war es, — draußen schneite es in großen Flocken, alle Wege waren schon verschneit, und um das Waldhäuschen brauste der Sturm — da sagte plötzlich der sonst so stille Friedolin: „Einen lebendigen Kasper hat mein Ur-Ur-Urgroßvater besessen.“

Darob mußte Liebetraut herzhaft lachen. Aber der Meister belehrte sie ganz ernsthaft: „Nein, nein, Kind, darüber ist nicht zu lachen, das ist wahr. Du weißt es doch, daß mein Ur-Ur-Urgroßvater schon ein Holzschnitzer war und hier im Waldhause gewohnt hat. Der hat nun freilich keine Kasperlefiguren geschnitzt, sondern Heiligenbilder und feine, schöne Dinge für den Hausrat.“

„Wie die Uhr,“ rief Liebetraut dazwischen. Sie schaute auf die alte Kastenuhr, die ein zierliches Schnitzwerk umrankte. Da gab’s Bäume und Blumen und allerlei Getier des Waldes.

Der Meister Friedolin nickte. „Ja freilich,“ sagte er, „die Uhr hat mein Ahn geschnitzt und sonst noch allerlei für Kirchen und Schlösser. Er war ein angesehener Mann, und sein Schnitzwerk hatte großen Ruf. Da ist er denn auch manchmal über Land gegangen und hat da und dort wochenlang gearbeitet; auf manchem großen Schloß ist er gewesen. Er hat alleweil gesagt, schön sei das schon, auf einem Schloß wohnen, aber er bleibe doch lieber in seinem Waldhaus.

Und einmal, da ist er wiederum auf der Heimreise gewesen, und weil er solche Sehnsucht nach zu Hause gehabt, hat er sich recht gesputet. Der Wald, der damals unser kleines Haus umgab, war viel größer als jetzt. Bei Nachtzeit ist es nicht recht geheuer darin gewesen, und es hat sich selten jemand getraut, in der Dunkelheit durch den Wald zu gehen. Mein Ahn aber hat gedacht: Ach was, mitten im Wald liegt ja mein Haus, bis dahin werde ich schon kommen! Es ist ganz heller Mondschein gewesen, wie Silber ist es an den hohen Bäumen heruntergeflossen, und die Waldwiesen haben ordentlich geglänzt. Da, in dieser stillen Helle, hat mein Ahn auf einmal ein sonderbares Geräusch gehört; als ob jemand lachte, so hat es geklungen. Er ist stillgestanden und hat sich umgeschaut, und auf einmal sieht er einen ganz wunderfitzigen kleinen Kerl auf einer Lichtung immer Purzelbäume schlagen. Flink ist er hingegangen, und schwipp — schwapp hat er das Kerlchen am Hosenboden gepackt. Das war nun allerdings ein närrischer Kumpan, den er da erwischt hatte. So groß wie ein Büble von sieben bis acht Jahren ist er gewesen. Das Bürschchen hat eine große Hakennase gehabt und einen riesengroßen Mund. Auf dem Kopf hat es eine feuerrote Zipfelmütze getragen mit lauter goldenen Glöckchen dran; dazu hat der kleine Kerl ein ganz buntes Kleid angehabt, das aber so zerrissen gewesen ist, als hätte er’s schon fünfzig Jahre auf dem Leibe.

‚Wer bist denn du?‘ hat mein Ahn gefragt.

Der kleine Kerl hat erst sein Gesicht ganz wunderlich verzogen und zum Antworten so recht keine Lust gezeigt. Doch weil mein Ahn ihn mit einem gar festen Griff hielt, hat er ihm endlich doch Auskunft gegeben. Er sei ein echtes, rechtes, lebendiges Kasperle, hat er gesagt. Hoch im Norden habe er bei einem berühmten Magier gelebt, der dort in einer alten Stadt ein uraltes Haus besessen habe. Der Magier habe ihn immer fest verschlossen gehalten und oft seinen rechten Spaß an ihm gehabt. Aber das einsame Leben in dem uralten Hause sei ihm, dem Kasperle, langweilig geworden, und eines schönen Tages, als der Magier nicht alles fest verschlossen gehabt habe, sei er ausgerissen. Seit vielen Jahren treibe er sich nun in der Welt herum; jahrelang sei er Hofnarr bei einem Fürsten gewesen, dann habe er auf Messen und Märkten sein Wesen getrieben.

Mein Ahn dachte bei sich: Ein richtiges Kasperle zu finden ist ein schönes Ding, den nimmst du mit heim. Und er nahm den Kleinen, der auch ganz gutwillig folgte, mit sich in das Waldhaus. Dort hat das Kasperle nun viele Jahre gelebt. Mein Ahn hat angefangen nach seinem Gesicht Puppen zu schnitzen, und weil das Kasperle die sonderbarsten und merkwürdigsten Gesichter ziehen konnte, sind die Puppen ganz besonders gut geraten. Bald wollten viele Leute solche Kasperlepuppen haben, und als schließlich mein Ahn starb und sein Sohn an seine Stelle trat, gab der es auf, anderes Schnitzwerk zu machen, sondern schnitzte nur noch Kasperlepuppen. So ist es dann auch geblieben. Der Sohn lernte immer vom Vater die Kunst, und wenn ich selbst einen Sohn hätte, sollte mir der auch Kasperleschnitzer werden.“

Meister Friedolin schwieg, und Liebetraut fragte ganz aufgeregt: „Aber das Kasperle, Vater, wo ist denn das Kasperle geblieben?“

Der Meister schnippelte nachdenklich an einer Puppe herum. „Ja, wenn ich das wüßte!“ brummelte er. „Mein Großvater selig hat’s noch gewußt; aber der ist eines Tages so schnell verstorben, und mein Vater ist damals noch ein ganz kleiner Junge gewesen, da hat er das Geheimnis nicht erfahren. Mein Großvater soll’s einem Freund gesagt haben, aber wer der gewesen ist und wohin der gekommen ist, das weiß kein Mensch. Jedenfalls, ich hab’ das Kasperle mein Lebtag nicht gesehen und mein Vater selig auch nicht.“

„O wie schade!“ rief Liebetraut. „Wie wäre das lustig und vergnüglich, hätten wir ein richtiges Kasperle hier!“

Der Meister schmunzelte. „Das glaube ich wohl, du Tollkopf,“ sagte er, „das könnte dir gefallen, ihr kaspertet den ganzen lieben langen Tag hier im Häuschen herum!“

„Jetzt kommt er schon wieder!“ unterbrach auf einmal Frau Annettchen das Gespräch. Sie schaute ordentlich etwas ärgerlich zum Fenster hinaus; der Gast, der draußen ankam, schien ihr gar nicht zu gefallen. Aus einem Schlitten, der vor der Haustür hielt, stieg ein dicker Mann in einem Pelzrock; der schüttelte sich erst draußen etwas den Schnee ab, dann kam er in das Häuschen. Er öffnete die Tür zur Wohnstube und schrie laut und sehr freundlich „guten Tag“ hinein.

Sein Gruß wurde sehr kühl erwidert; Liebetraut lief gleich davon, und die sonst so freundliche Frau Annettchen sagte gar nichts. Das schien indes Herrn Pumpel, der ein Händler und Hausierer war, gar nicht anzufechten. Er setzte sich auf einen Stuhl und fing an, mit seiner lauten, lärmenden Stimme allerlei zu erzählen, dies und das von seinen Fahrten, von seinen Geschäften, was er alles kaufte und verkaufte, und da sagte auf einmal Frau Annettchen ganz laut und streng: „Unsere alten Schränke kriegen Sie aber doch nicht, Herr Pumpel. In unserem Häuschen wird nichts gerührt und gerückt, solange mein Mann und ich leben.“

„Na, na, na!“ brummte Herr Pumpel, er zwinkerte mit den Augen und sah aus wie jemand, der sich eben sehr geärgert hat.

„Gelt, Friedolin,“ rief Frau Annettchen, „unsere Schränke kriegt Herr Pumpel nicht?“

„I wo!“ Der Meister schüttelte bedächtig den Kopf. „Ich hab’ einmal nein gesagt, und dabei bleibt’s.“

Da wußte Herr Pumpel, er war wieder einmal vergeblich gekommen, und nach ein paar Augenblicken nahm er Abschied und fuhr brummend und verstimmt wieder davon.

Kaum war er zum Zimmer hinaus, da steckte Liebetraut den Kopf zur Türe herein und fragte froh: „Ist er wieder weg? Hat er wieder die alten Schränke gewollt?“

Frau Annette bejahte, und dann redeten die drei Bewohner des Waldhäuschens von Herrn Pumpel und warum der in aller Welt nur ihre alten, wurmstichigen Schränke kaufen wollte. Schon sein Vater hatte das gewollt, aber da hatte Meister Friedolins Vater nein gesagt, und jetzt sagte Meister Friedolin auch nein.

Die Schränke, um die es ging, standen im Obergeschoß des Häuschens. Sie waren uralt, zeigten ein wenig Schnitzwerk, waren aber von keiner besonderen Schönheit. Sie hatten wohl immer schon an ihrem Platz gestanden und sollten weiter dort stehen, mochte Herr Pumpel so viel darum gefahren kommen, wie er wollte.

„Gut, daß er wieder weg ist,“ rief Liebetraut. Sie rückte ihr Stühlchen dicht neben Meister Friedolins Platz, nahm ein schwefelgelbes Puppenröckchen in die Hand, um daran zu nähen, und bat: „Vater Friedolin, erzähl’ noch was von deinem Ahnen, der das Kasperle fand.“

Und Meister Friedolin schnitzte und erzählte dazu, Frau Annettchen und Liebetraut nähten, und alle drei fanden wieder einmal, nirgends auf der ganzen Welt könnte es schöner sein als in ihrem uralten Waldhäuschen.

Zweites Kapitel Der alte Schrank

Herr Pumpel fuhr ganz bitterböse davon. Er ärgerte sich gewaltig, daß er die alten Schränke nicht hatte haben können. Er brummte und schalt darob so viel, daß sein Kutscher dachte: Was er nur an den alten Schränken hat? Immer wieder fährt er danach; ich denke beinahe, es wird etwas Besonderes damit sein. Vielleicht steckt ein verborgener Schatz drin, denn sonst fährt doch wirklich kein vernünftiger Mensch bei einer solchen Kälte in den Wald.

Es war wirklich sehr, sehr kalt, und es blieb noch viele Tage so. Auf einmal aber kam der Tauwind; der fing ein gewaltiges Blasen an, und da schmolz der Schnee und lief davon — heidi, weg war er! Um das Waldhäuschen sauste und brauste es mächtig in diesen Tagen, aber Liebetraut lief trotz dem Sturm immer wieder vor die Türe, steckte ihre kleine Nase hinaus und rief jubelnd: „Es riecht nach Frühling; ganz gewiß, er kommt bald.“ Und dann patschte sie einmal draußen im feuchten Walde herum, und als sie wiederkam, brachte sie für Mutter Annettchen die ersten Schneeglöckchen mit.

Das gab eine Freude im Waldhäuschen! Ein richtiges kleines Fest wurde es, denn auf den Frühling freuten sich die Waldhausleute immer. Und diesmal ließ sich der Frühling gar nicht wie sonst manchmal sehr lange bitten. Er kam ganz geschwinde angezogen, und bald konnte Frau Annettchen sagen: „Nun heizen wir nicht mehr, jetzt wärmt schon die Frühlingsluft.“ Da wurden alle Fenster weit aufgemacht, und durch einen Schlitz zwischen zwei großen Tannen guckte die liebe Sonne gerade in das Häuschen hinein. Wunderherrlich war es! Liebetraut lief alle Tage und pflückte Frühlingsblumen. Damit füllte sie lauter bunte Töpfchen, und wenn die Kinder aus Schönau und Lindendorf gelaufen kamen, dann gefiel es ihnen noch besser als sonst im Waldhäuschen. Putzniedlich fanden sie es und wären am liebsten gleich drin geblieben.

An einem dieser schönen Frühlingstage war es, da saß der Meister Friedolin noch fleißiger als sonst an seinem Arbeitstisch. Es sollte in den nächsten Tagen eine Kiste Kasperlepuppen in die weite Welt gehen, und einige Figuren mußte er vorher noch fertig schnitzen. Wie er so recht mitten in der Arbeit war, brach ihm an seinem Schnitzmesser die Spitze ab. Das war nun wirklich ärgerlich. Obgleich gerade Frau Annettchen vom Frühling redete, brummelte er doch eine ganze Weile, bis er sich endlich erhob, um aus dem Vorratsschrank ein neues Schnitzmesser zu holen. Er stieg die alte Treppe hinauf, die unter jedem Schritt ächzte und krachte, just als wollte sie etwas aus vergangenen Zeiten erzählen. Oben auf dem halbdunklen Flur des oberen Stockwerkes standen ein paar alte große Schränke. Das waren die, welche Herr Pumpel so gerne hatte haben wollen. In diesen Schränken wurde seit langen, langen Zeiten alles verwahrt, was Meister Friedolin zu seiner Kasperleschnitzerei brauchte.

An diesem hellen Frühlingstag flitzte die Sonne auch durch das kleine Flurfenster; die beiden Schränke bekamen einen Schein von ihrem Lichte ab. Das kam dem Meister Friedolin sehr zu passen. Er öffnete erst den einen Schrank, und als er das Gesuchte darin nicht fand, tat er den andern auf. Weil es gerade so hell war, kramte er ein bißchen in den Schränken herum. Er sah nach, ob dies und das noch da war, und dabei fiel ihm auf einmal in dem einen Schrank auf, daß auf der einen Seite ein Spältchen offen war. Na nu, dachte er, der Schrank wird wohl altersschwach und platzt noch gar! Er schob, zog ein bißchen an dem Spalt, und da ging auf einmal ein Türlein auf, und der Meister Friedolin sah zu seinem Erstaunen in einem schmalen Fach eine Figur stehen, die war etwa so groß wie ein sieben- bis achtjähriger Bub. Die hatte er doch noch nie gesehen! Der Meister schüttelte erstaunt den Kopf. Wo kam das Ding nur auf einmal her? Endlich aber faßte er danach und zog die Puppe aus dem Fach heraus. Und wie er sie so anfaßte, war es ihm, als rühre sich die Gestalt. Er stellte sie flink auf die Erde und sah sich das Ding an. „Nein, so etwas!“ rief er. „Das ist ja wirklich ein Kasperle!“

Der Meister macht einen Fund

Kaum hatte er das gesagt, da fing der kleine Kerl an sich zu schütteln und zu bewegen, er nickte mit dem Kopf, hob die Arme, und eine dicke, dicke Staubwolke ging von ihm aus.

„Hatzi — hatzi — hatzi!“ Der Meister nieste, der sonderbare kleine Kerl nieste, und Frau Annettchen, die das unten hörte, rief: „Friedolin, du kriegst wohl einen Schnupfen?“

Die Stimme von unten schien das Männlein aus dem Schranke ganz munter zu machen. Er fing auf einmal an zu lachen, und hops — hallo! lief es die Treppe hinab. Der Meister Friedolin starrte dem Dinge höchlichst verwundert nach. Er konnte sich die Sache gar nicht erklären. Und niesen mußte er immer wieder, er nieste und nieste, und inzwischen polterte unten das kleine seltsame Ding in die Wohnstube hinein.

Frau Annettchen schrie laut auf vor Entsetzen, und Liebetraut, die gerade mit Blumen in der Hand in das Zimmer trat, ließ die erschrocken fallen. „O du meine Güte,“ rief Frau Annettchen, „was ist denn das für ein Popanz!“

Der kleine Kerl blieb mitten in der Stube stehen, er sah sich rund um, schüttelte den Kopf, und wieder flog eine dichte Staubwolke auf. „Hatzi, hatzi!“ nieste er, Frau Annettchen nieste, Liebetraut nieste, und Meister Friedolin kam niesend in die Stube. „Hallo, da ist das Ding!“ rief er und packte den wunderlichen Gesellen. „Jemine, das sieht ja beinahe wie ein Kasperle aus!“

„Ich bin doch Kasperle!“ sagte der Kleine kläglich. „Wo ist denn die Madame Erdmute und der Meister Ephraim?“

„Was schwätzt du da?“ Meister Friedolin schlug sich plötzlich mit der Hand vor die Stirn. „Das waren ja meine Urgroßeltern. Heiliger Bimbam, ich glaube gar, das ist das verschwundene Kasperle! Du,“ — er schüttelte den Kleinen, daß der Staub nur so herumflog, — „besinne dich mal: wie bist du denn in den Schrank gekommen, und was hast du drin gemacht?“

„Ich hab’ doch geschlafen!“ Der Kleine gähnte laut. Und auf einmal fing es in ihm an ganz erschrecklich zu knurren; das rumpelte und pumpelte wie die Wackersteine im Magen des schlimmen Wolfes. „Oh, oh, oh,“ jammerte er, „ich hab’ solchen Hunger, ach, so schrecklichen Hunger.“

„Um Himmels willen,“ schrie Frau Annettchen, „der stirbt ja noch vor Hunger! Wer weiß, wie lange der nichts gegessen hat!“

„Kann sein bald hundert Jahre,“ murmelte Meister Friedolin. „Nu, nu, das ist doch nicht möglich, daß der so lange im Schranke gesteckt hat!“

„Hunger, au, au, ich hab’ so schrecklichen Hunger!“ schrie der kleine Gast, und da rannten Mutter Annettchen und Liebetraut erschrocken in die Küche und brachten herbei, was nur da war. Brot, Wurst, Butter, Milch, und alles stopfte der wunderliche Geselle in seinen großen Mund. Er schluckte und schluckte, wurde zusehends dicker, bis er endlich beide Backen aufblies und sehr vergnügt rief: „Ich kann nicht mehr!“

„Na, das ist ein Glück!“ sagte Meister Friedolin. „So eine Esserei hab’ ich mein Lebtag nicht gesehen. Aber nun sag mir mal, du —“

„Kasperle heiß ich,“ rief der Kleine.

„Also gut, du Kasperle, wie bist du in den Schrank gekommen?“

Kasperle riß seine Augen weit auf, den Mund dazu, dann seufzte er, schüttelte sich wieder und murmelte: „Ich weiß nicht.“

„Aber besinn dich doch,“ mahnte der Meister, „du mußt es doch wissen!“

Kasperle sah sich in der Stube um, fremd und erstaunt, doch plötzlich erblickte er die große alte Kastenuhr und schrie: „Die hat der Meister gemacht.“

Den Waldhausleuten wurde es ganz unheimlich. War der schnurrige Kauz nun wirklich das Kasperle, das einst mit den Urahnen zusammengelebt hatte? Wie war es in den Schrank gekommen? Hatte es wirklich so viele, viele Jahre geschlafen?

„Besinn dich doch!“ sagte Meister Friedolin.

„Ich weiß nicht.“ Kasperle suchte wieder, das Nachdenken schien ihm arge Mühe zu machen. Ganz traurig wurde darüber sein Schelmengesicht. „Ich weiß nicht,“ sagte er nur immerzu kläglich. Und wieder schüttelte er sich heftig, und dabei fiel ein großer vergilbter Zettel von seinem Kittel ab.

Liebetraut hob den geschwinde auf. Sie blickte drauf und rief: „Da steht etwas über Kasperle, hier, Vater, sieh!“

Meister Friedolin nahm den Zettel, setzte bedächtig seine Brille auf und las: „Wer dies Kasperle findet, der soll es fein sorgsam hüten, bis es aufwacht, sintemalen es ein echtes Kasperle ist. Mein Lehrjunge Johann Heinrich Pumpel hat böswilligerweise dem Kasperle einen Schlaftrunk gegeben, ein Wunderelixier, das einstens mein Großvater aus dem Lande Italien mitgebracht hat. Davon kann einer viele, viele Jahre in Schlaf sinken. Nach Ablauf der Zeit wacht er dann lebendig wieder auf. Doch ist es ein Teufelszeug, und es weiß jetzt kein Mensch mehr, wie es gemacht wird. Das Kasperle schläft nun schon die vierte Woche, und weil ein Gerede in der Gegend ist, ich hätte einen Zauber im Haus, schließe ich es lieber in den Schrank ein. Dieses schreibe ich auf, weil niemalen ein Mensch weiß, wie seines Lebens Gang ist, und es könnte sein, das Kasperle geriete einst in fremde Hände. Der Pumpel hat seinen Teil gekriegt, mehr Haue, als ihm lieb war; er wird wohl zeitlebens daran denken. Mein Sohn soll das Geheimnis wissen, der soll es wieder seinem Sohne sagen und so fort, bis einmal das Kasperle wach wird. Es soll auch jeder gut und freundlich zu dem Kasperle sein, ihm kein Leid tun. Nur muß man es sorgsam hüten, denn das Kasperle bekommt manchmal, sonderlich im Frühling, eine törichte Lust auszureißen, und es könnte ihm schlimm ergehen in der weiten Welt, doch bekommt es immer wieder Sehnsucht nach dem Waldhaus.“

„Das hat der Meister Ephraim, der Urgroßvater, geschrieben,“ sagte Meister Friedolin, als er fertig gelesen hatte. „Und nun weiß ich auch, warum der Händler Pumpel so gern den Schrank wollte; der wußte, wer drin steckte. Das echte Kasperle, nein so etwas! Und geschlafen hat es fast neunzig Jahre.“

„Ein Wunder, wirklich ein Wunder!“ Frau Annettchen war die Geschichte ordentlich unheimlich, und sie sah das Kasperle mißtrauisch von der Seite an.

Dieses nickte immer vor sich hin, ein bißchen nachdenklich und ein bißchen betrübt, und Liebetraut fühlte plötzlich tiefes Mitleid mit dem kleinen Kerl. Sie trat zu ihm, streichelte ihn sanft und sagte freundlich: „Ein neues Kittelchen muß er aber haben; da seht nur, seins ist ja ganz morsch.“

Kasperle blickte zu dem schönen Mädchen auf, und er sah die Güte in ihren Augen strahlen; da gewann er sie lieb. Er lehnte sich an sie an und bettelte: „Näh’ mir gleich ’nen Kittel! Ich will dir auch immer folgen.“

Liebetraut fielen die Worte des Meisters Ephraim ein, und sie fragte schnell: „Immer folgen und auch nicht ausreißen?“

„Nein, nicht ausreißen,“ versprach Kasperle treuherzig.

„Gibst du dein Wort, kleines Kasperle?“ Liebetraut hielt des Kleinen Hand fest, und der nickte wieder und beteuerte: „Ich reiße nicht aus, aber — ich will auch nicht mehr in den Schrank.“

„I bewahre, da kommst du nicht mehr hinein!“ sagte Meister Friedolin. Der hatte nämlich sein Schnitzmesser genommen und begann der Puppe, die er schnitzte, Kasperles Gesicht zu geben, wie der flehend zu Liebetraut emporsah. Hei, wie das ging! So flink war das Schnitzen noch nie gegangen. Der Meister dachte bei sich: Ei, nun sollen Meister Friedolins Kasperlepuppen erst recht auf Messen und Märkten gefallen!

Das Kasperle aber rieb sich jetzt den letzten Schlaf aus den Augen, und je mehr es sich umsah, desto besser gefiel es ihm wieder im Waldhaus. Da schoß es plötzlich vor Freude einen Purzelbaum, hopp! hoch über Mutter Annettchen hinweg. Und ehe die kleine Frau noch wußte, wie ihr geschah, saß das Kasperle schon auf ihrem Wandbrett und begann mit den schönen blanken Zinntellern Fangeball zu spielen.

„Warte, du Irrwisch!“ schalt Mutter Annettchen, und dann tat sie einen Seufzer. „I, da haben wir ja einen rechten Kobold im Haus!“

Ein Kobold war nun Kasperle gerade nicht, aber ein unnützer Schelm war er. Das merkten die Waldhausleute gleich am ersten Tag. Das polterte, klirrte und krachte nur so im kleinen Haus, mal saß Kasperle oben, mal unten. Er kroch in alle Ecken, und fand er ein Stück vom uralten Hausrat, erhob er ein großes Geschrei. Viel zu erzählen, wie es damals gewesen war, wußte er freilich nicht, das hatte er alles verschlafen. Nur die Sachen erkannte er wieder und die Namen wußte er noch. Frau Annettchen nannte er immer Madame Erdmute. Der gefiel das gar nicht. Ihr war das Kasperle überhaupt etwas gar zu wild, und sie war froh, als es Zeit war, schlafen zu gehen. Sie mahnte: „Ins Bett, ins Bett! Abends Licht verbrennen und morgens die Sonne unnütz scheinen lassen, ist Verschwendung. Flink, ins Bett!“

Da erhob Kasperle ein großes Geschrei. „Ich will nicht schlafen gehen, ich will nicht schlafen gehen! Ich habe doch fast neunzig Jahre geschlafen und bin nicht mehr müde.“

„Potzwetter, das muß ich sagen, neunzig Jahre, da sollte einer wirklich ausgeschlafen haben!“ sagte der Meister. „Kasperle mag aufbleiben.“

„Allein aufbleiben? I du meine Güte, der möchte eine nette Wirtschaft anrichten! Das geht nicht,“ meinte Mutter Annettchen.

„Ich will mit aufbleiben, ich nähe gleich seinen Kittel fertig.“ Liebetraut war schon dabei, für Kasperle ein neues Röcklein zu nähen.

Erst sah Mutter Annettchen etwas bedenklich drein, das Aufbleiben mochte ihr nicht recht gefallen. Aber Meister Friedolin meinte, so schlimm wäre das nicht, und ein ordentlicher Kittel täte Kasperle wirklich not.

So durfte denn Liebetraut aufbleiben. Die Pflegeeltern gingen zu Bett, und das zappelige Kasperle versprach, es würde stille sein und nicht Tische, Stühle und Schränke und sonst allerlei umwerfen. Es setzte sich in eine Sofaecke und schaute ganz brav zu, wie Liebetraut nähte. „Mach’ einen Kittel, wie ihn kleine Menschenjungen tragen,“ bettelte er.

„Warum denn?“ Liebetraut sah den Kleinen erstaunt an. Da schlitzte der ein wenig die Augen zu und brummelte: „Es brauchen doch nicht alle zu sehen, daß ich ein Kasperle bin!“