0,00 €
Gratis E-Book downloaden und überzeugen wie bequem das Lesen mit Legimi ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 216
The Project Gutenberg eBook, Deutsche Jugend in schwerer Zeit, by Josephine Siebe, Illustrated by Ernst Liebermann
This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
Title: Deutsche Jugend in schwerer Zeit
Erzählung für die Jugend; Dritte Auflage
Author: Josephine Siebe
Release Date: February 1, 2015 [eBook #48127]
Language: German
Character set encoding: UTF-8
***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHE JUGEND IN SCHWERER ZEIT***
E-text prepared by Norbert H. Langkau and the Online Distributed Proofreading Team (http://www.pgdp.net)
Anmerkungen zur Transkription
Im Original gesperrter Text ist so gekennzeichnet.
Im Original in Antiqua gesetzter Text ist so gekennzeichnet.
Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches.
Erzählung für die Jugend
von
Josephine Siebe
Mit Bildern von Professor Ernst Liebermann
Dritte Auflage
Verlag von A. Anton & Co. in Leipzig
Printed in Germany.
Alle Rechte vom Verlage vorbehalten
Otto Wigand'sche Buchdruckerei G. m. b. H., Leipzig.
In das große Wohngemach des Herrenhauses zu Kloningken drang der Duft der blühenden Holunderbüsche. Die Sonnenstrahlen lugten durch das dichte Laub des Pfeifenkrautes, welches die Südwand des Hauses umzog, sie malten große leuchtende Flecke auf den weißgescheuerten Fußboden und sie flimmerten auf den steifen, weißlackierten Möbeln. Das Zimmer war ganz in einen grüngoldenen Glanz getaucht, selbst die alte Kastenuhr in der Ecke hatte noch etwas von dem Schimmer abbekommen. An einem der weitgeöffneten Fenster saß eine schlanke Frau, die Herrin des Hauses, Friederike von Seeheim. Die Frau trug ein schwarzes Gewand, ein weißes Flortuch war um ihre Schultern geschlungen, und durch das volle aschblonde Haar zogen bereits silberne Fäden. Wie ein schönes steinernes Bild, so saß die Frau in all dem strahlenden Frühlingslicht, selbst das leise Lachen, das mitunter wie Vogelgezwitscher durch das Zimmer tönte, fand keinen Widerschein auf ihrem blassen, fast finsteren Gesicht. Das Lachen kam von dem andern Fenster her, dort saßen mehrere Kinder traulich beisammen. Ein Mädchen von vielleicht vierzehn Jahren hatte den Platz vor einem zierlichen Nähtisch inne. Renate von Bergen, so hieß die Kleine, trug ein weißes Kleid, das ihr bis auf die Knöchel herabfiel und noch die in Kreuzbänderschuhen steckenden Füßchen sehen ließ, eine schwarze Schärpe schlang sich dicht unter der Brust um das Kleid. Dichte Zöpfe hingen ihr auf den Rücken herab und das Blondhaar legte sich schlicht um ein sanftes liebliches Gesicht. Sie zeigte einem jüngeren Mädchen einige Stiche an einer linnenen Decke, sie tat es mit viel freundlicher Geduld, ohne daß es ihr gelang, die Aufmerksamkeit der Gefährtin zu fesseln. Diese andere, die Tochter des Kloningkener Pfarrers, Luise Flemming, war ganz das Gegenteil von Renate, dunkles, lockiges Haar umkrauste eine niedrige Stirn und braune Schelmenaugen blitzten unter langen Wimpern hervor. Sie schnitt allerlei Grimassen zu zwei Knaben hinüber, ihrem Bruder Walter und Hans-Heinrich von Seeheim, dem Sohn des Hauses. Beide Knaben saßen dicht nebeneinander, sie lasen eifrig in einem Buch und sie achteten wenig auf das, was um sie herum geschah. Luise konnte viel nicken und kichern, »die Leseratten«, wie sie schmollend die beiden nannte, merkten nichts von ihren Schelmereien. Desto mehr Beifall aber fanden diese bei ihrem jüngeren Bruder, dem vierjährigen Fritz. Dessen rundes Apfelgesichtchen strahlte, er fand alles was die Schwester tat sehr komisch, und immer wieder durchtönte sein Lachen die Stille des Zimmers. Dann flog jedesmal ein mißbilligender Blick der Hausfrau zu den Kindern hin und Renate bat ängstlich: »Sei doch still, Luise!«
Plötzlich wurde hastig die Tür geöffnet und eine dicke ältere Frau trat rasch ein. Auf ihrem Haupte thronte eine weiße, mit feuerroten Schleifen geschmückte Riesenhaube, und als die Frau den Kindern zunickte, nickten die Schleifen mit, wie ein paar Mohnblumen im Winde. Luise kicherte leise und Fritz lachte laut. Die Eingetretene aber machte vor Frau von Seeheim eine sehr tiefe, sehr kunstvolle Verbeugung und sagte: »Wollen die gnädige Frau Baronin nicht die Güte haben hinauszukommen, der alte Barduwik aus Schönheide ist da, um etwas zu bestellen. Er ist sehr embarrasiert von wegen seiner schmutzigen Stiefel und wagt nicht, im Chambre der gnädigen Frau seine Devotion zu machen.« –
Ein flüchtiges Lächeln huschte über das ernste Gesicht der Hausfrau, sie legte sorgsam ihre Arbeit zusammen und ging, die Nachrichten zu hören, die ihr ihre Verwandten sagen ließen. Jungfer Karoline oder, wie sie sich lieber nennen hörte, Demoiselle Karoline, folgte in zierlichem Tanzschritt ihrer Herrin nach. Die Jungfer war ein rechtes Faktotum in Kloningken, sie vereinigte viele Ämter in einer Person und war Wirtin, Gesellschafterin und Kammerzofe zugleich. Vor allem aber war sie die Vertraute ihrer Herrin in vielen Dingen. Sie war in der Jugend Frau von Seeheims Spielgefährtin gewesen und hatte die heiteren Mädchenjahre mit ihr verlebt. Später hatte sie dann mehrere Jahre in einem reichsgräflichen Hause als Zofe gedient und hatte dort, wie sie stets betonte, feine Manieren und Sprache gelernt, durch die sie nun im Dorf Kloningken und bei den übrigen Dienstboten in besonderem Ansehen stand.
Kaum hatte Herrin und Dienerin das Zimmer verlassen, als Luise aufsprang. »Uf,« rief sie, »gut, daß die Frau Pate hinausgegangen ist, Renate, schilt nicht, ich kann nicht mehr arbeiten, ich bin schon ganz steif von diesem ewigen Stillsitzen.« Sie warf die Leinewand, an der sie gearbeitet hatte, hoch empor und fing sie lachend wieder auf. »Kinder, hört, ich muß wirklich einmal in den Garten gehen.« Sie raffte ihr Rosakleid zierlich zusammen und machte eine tiefe Verbeugung, genau so wie vorher Jungfer Karoline, und sagte feierlich: »Wollen die Demoiselle mich gnädigst entschuldigen, und wenn der Herr Junker und der Herr Bruder mich gütigst begleiten wollen, möchte ich anjetzo eine Promenade in den Park unternehmen!« –
»Ob du wohl jemals ernsthaft sein kannst, Luise,« sagte der ältere der beiden Knaben etwas vorwurfsvoll. Er war ein hoch aufgeschossener Jüngling von sechzehn Jahren, ebenso dunkelhaarig wie die Schwester, mit feurigen, braunen Augen und einem trotzig ernsten Zug in dem hübschen Gesicht. Sein Gefährte war kleiner und er sah, trotzdem er nur einige Monate weniger zählte, viel jünger aus. Er glich im Schnitt des Gesichtes, in Haar- und Augenfarbe der Dame des Hauses, nur lag in seinen Zügen eine frohsinnige Heiterkeit, und er schien auch mehr Lust zu haben, auf Luises Scherz einzugehen.
»Warum schiltst du mich, Walter?« schmollte diese. Sie verzog weinerlich die roten Lippen, während große Tränen in ihre Augen traten. Klagend sagte sie: »Sieh doch, wie die Sonne scheint, alles blüht draußen, die Vögel singen, ach, es ist so schön, aber wenn ich mich freuen will und lachen, dann werde ich scheel angesehen!«
Begütigend nahm Renate ihre Hand, »Walter hat es nicht böse gemeint, lache du nur ruhig, wenn es dir danach zu Sinn ist. Nimm Fritz und gehe mit ihm in den Garten, die Frau Tante wird nicht schelten, ich werde rasch deinen Saum fertig nähen!«
»Renate hat recht, Walter! Laß Luise sich doch freuen, sie ist ja noch ein Kind!«
Luise hob das Köpfchen und warf trotzig die Locken in den Nacken. »Pah, ich bin kein Kind, ich werde im November zwölf Jahre alt und du bist noch nicht mal sechzehn!«
Hans-Heinrich lachte. Er verbeugte sich sehr tief und sehr feierlich und bat schelmisch: »Wollen Euer Gnaden mir gnädigst Verzeihung gewähren, und darf ich die Ehre haben, die furchtbar alte Demoiselle in den Garten zu geleiten?«
Von Luises Gesicht wich rasch alle Trauer. Sie hing sich lachend an des Freundes Arm, nahm Fritz an die Hand, und die kleine Gesellschaft verließ unter munterem Geplauder das Zimmer. Bald erschallten vom Garten herauf ihre heiteren Stimmen, erst nah, dann fern und ferner, zuletzt verhallten sie ganz und in dem Zimmer war es wieder still geworden. Mit einem leisen Seufzer beugte sich Renate wieder über die Arbeit und emsig flog die Nadel auf und ab. Walter las weiter in seinem Buche. Er hatte alles um sich herum vergessen und er schrak ordentlich zusammen, als leise die Tür klappte und Frau von Seeheim wieder das Zimmer betrat. »Die andern sind in den Garten gegangen,« sagte Renate, die den fragenden Blick der Tante verstand.
»Luise kann es nie bei einer Arbeit aushalten,« sagte diese ein wenig mißbilligend. Sie nahm ihren Platz am Fenster wieder ein, sie nahm ihre Arbeit aber nur lässig in die Hand. Der sorgenvolle Ausdruck auf ihrem Gesicht hatte sich vertieft und immer wieder ruhten ihre Blicke auf einem Bild, das ihr gegenüber an der Wand hing.
Es stellte einen Offizier in Kürassieruniform dar, einen schönen Mann, mit einem heiteren, frohen Ausdruck im Gesicht, um den Rahmen aber schlang sich ein schwarzes Florband.
Renate sah dies wohl. »Die Tante hat Sorgen,« dachte sie schmerzlich bewegt, »vielleicht hat sie eine traurige Nachricht bekommen! Was mag es sein?«
Fast beklemmend wurde die Stille im Zimmer, zuletzt ließ auch Renate ihre Arbeit sinken und starrte hinaus in den vom Sonnenschein überfluteten Garten. Draußen war es so schön und friedlich, trotzdem stieg in dem Herzen des jungen Mädchens eine heiße Angst empor, sie meinte in der Ferne ein dumpfes Dröhnen zu hören. Sie hatte ein Gefühl, als käme ein Unheil näher und näher und bange lauschte sie.
Man schrieb das Jahr 1812. Seit sechs Jahren war Frau Friederike von Seeheim, die Herrin von Kloningken, Witwe. Ihr Gatte war in der unglückseligen Schlacht bei Jena gefallen und wenige Wochen später war ihr ältester Sohn bei Eylau tödlich verwundet worden. Man hatte den jungen Fähnrich nach Kloningken gebracht und dort war er nach etlichen Tagen in den Armen seiner Mutter gestorben.
Seit jener Zeit hatte Frau von Seeheim das Gut nicht mehr verlassen. Sie widmete sich ganz der Erziehung ihres jüngsten Sohnes Hans-Heinrich, des einzigen, der ihr von vier Söhnen geblieben war. Die anderen beiden waren schon im zartesten Alter gestorben. Tatkräftig, mit starker Hand verwaltete Frau Friederike ihren Besitz, sie war nicht milde und darum oft mehr gefürchtet als geliebt von ihren Untergebenen, aber sie war gerecht. Freilich ihre Liebe konnte sie niemand geben, die gehörte fast ausschließlich ihrem Sohn. Der war ihr Abgott, ihr Liebstes auf der Welt, und im Herzen zitterte immer die heimliche Angst, der Sohn könne eines Tages den Beruf des Vaters ergreifen wollen. Im Äußeren glich Hans-Heinrich seiner Mutter, im Wesen seinem Vater. Er besaß die gleiche heitere Liebenswürdigkeit und den sorglosen Mut wie sein Vater, der am Morgen der Schlacht mit einem Lachen auf den Lippen in den Kampf gezogen war. Wohl blieb der Ernst der Zeit nicht ohne Einfluß auf den Knaben und er konnte mit blitzenden Augen und heißen Wangen mit seinem Freunde Walter Flemming von Krieg und Freiheit sprechen. Dann aber tollte er auch wieder übermütig durch den Park und verschmähte es nicht, mit Luise und Fritz Flemming Ritter und Räuber zu spielen oder auf dem See, der dicht bei dem Gute lag, lustige Wasserfahrten mit ihnen zu unternehmen.
Walter Flemming war viel ernster als Hans-Heinrich, trotzdem er so wenig älter war. Auf dem hochbegabten Knaben lastete die Stille von Kloningken oft schwer, die Heimat erschien ihm oft so eng und klein, und er sehnte sich hinaus in die weite Welt, in den Kampf. Er war vor einem Jahre etliche Wochen in Königsberg gewesen und dort hatte er, durch einen Vetter, einen Kreis junger Männer kennen gelernt, die alle älter als er, eine Art Bund geschlossen hatten, der nur den einen Zweck kannte, Befreiung von dem Joch der Fremdherrschaft. Alle diese jungen Leute waren entschlossen, ihr Leben für die Freiheit des Vaterlandes einzusetzen, sie alle hofften sehnsüchtig auf die Stunde, da der Krieg gegen Frankreich losbrechen würde.
Seither lebte in Walters Seele ein leidenschaftlicher Haß gegen Napoleon, gegen alles was französisch war. Seine Eltern sahen dies oft mit Bangen, und sie versuchten es durch Güte und Strenge, das wilde Wesen des Sohnes in ruhigere Bahnen zu leiten.
In Frau von Seeheims Hause hatte noch eine Nichte von ihr Aufnahme gefunden, Renate von Bergen, eine Waise. Die Kleine war durch die tiefen Schatten, die so früh die Sonne ihres jungen Lebens getrübt hatten, still und ernst geworden. Sie war sehr sanft, aber von scheuem, zurückhaltendem Wesen, und sie verstand es wenig, der Pflegemutter Herz zu gewinnen. Mit großer Liebe aber hingen ihre Gespielen an ihr, und »Mütterchen« Renate, wie sie sie oft nannten, war ihnen Hilfe und Zuflucht in allerlei Kümmernissen des täglichen Lebens.
Wie um die Kinder, so schlang sich auch um die Eltern ein Freundschaftsband, und der Verkehr vom Herrenhaus zum Pfarrhaus in Kloningken war ein reger und kein Tag kam und verging, an dem es nicht ein Hinundher zwischen beiden Häusern gab. Freilich war hier Frau Friederike mehr die Nehmende, sie nahm alle herzliche Liebe und Treue, die ihr Pfarrer Flemming und seine Frau Charlotte darbrachten, als selbstverständlich an, ohne selbst viel Liebe zu geben.
Auch an diesem hellen Frühlingstag dachte Frau Friederike an die Vergangenheit und sie merkte nichts von Renates wachsender Angst.
Aber plötzlich ließ Walter erschrocken sein Buch sinken und lauschte.
»Was war das nur?« Durch die Stille klang es wie ein fernes, dumpfes Gewitterbrausen, es war als erzitterte der Boden unter den Füßen. »Hörst du was, Renate?« flüsterte der Knabe.
Diese nickte beklommen und sah ängstlich zu ihrer Tante hin, auch Frau von Seeheim horchte mit erblaßtem Gesicht. »Hans-Heinrich,« murmelte sie erschrocken, denn in jeder Gefahr galt ihre erste Sorge dem Sohn.
Draußen erschallte auf einmal ein wildes Rufen und Schreien, man hörte Jungfer Karolines jammernde Stimme und jäh riß Hans-Heinrich die Tür auf und stürmte über die Schwelle. Ihm folgte weinend Luise mit dem kleinen Fritz.
»Sie kommen, Mutter, sie kommen,« schrie Hans-Heinrich, und seine grauen Augen blitzten in heftigem Zorn. »Hört ihr es denn nicht, wie es dröhnt, wir haben auf der Erde im Garten gelegen, da hört man es noch deutlicher. Vogt Schwarze sagt, vom Heuboden aus kann man sie kommen sehen, ich will rasch hinaus laufen!«
»Sie kommen, sie kommen,« tönte von draußen das Jammergeschrei, und einige Mägde stürzten verzweifelt in das Zimmer.
Frau Friederike griff entsetzt nach der Hand des Sohnes. »Du bleibst hier,« stieß sie hervor, »ihr Kinder dürft das Haus nicht verlassen.«
Ein rascher, fester Schritt kam draußen über den Flur und Pfarrer Flemming trat hastig ein. Sein freimütiges, kluges Gesicht trug den Ausdruck hoher Erregung, sein Anzug und seine Schuhe waren bestaubt und auf der Stirn perlten ihm große Schweißtropfen. »Ich komme von Schönheide,« sagte er, »ich habe mich so beeilt, um Sie, teure Freundin, vorzubereiten, die Franzosen kommen. Die Generale Regnier und Gouvion St. Cyr sind auf dem Durchmarsch, im Dorf ist bereits eine Abteilung eingetroffen, und sie verlangen Wagen und Pferde bis G., außerdem Lebensmittel. In wenig Minuten werden sie auch hier im Schloß sein.«
»Um hier zu hausen wie eine Räuberbande,« unterbrach ihn Frau Friederike empört. »Mögen sie alles fortschleppen, ihr aber, Kinder, geht in das blaue Zimmer hinauf, eure Augen sollen das französische Gesindel nicht sehen, das ich hasse, hasse wie –«
Der Pfarrer hatte die Hand der Frau ergriffen und sagte traurig: »Hassen ist ein furchtbares Wort, liebe Freundin. Wenn Sie auf diejenigen Ihren Haß werfen, die heute hier durchziehen, dann trifft es unsere eigenen Landsleute, denn diese Armee besteht aus Sachsen und Bayern. Die Leute sind Deutsche wie wir, auch kommen sie nicht als Feinde, unser König, den Gott erhalten möge, ist der Verbündete des Kaisers, wie die meisten deutschen Fürsten.«
»Deutsche, Deutsche,« murmelte Frau Friederike. »Deutsche an seinen Siegeswagen gespannt, o mein Gott, deine Hand ruht schwer auf uns!«
Von draußen erklang jetzt lautes Sprechen und starke Schritte klirrten auf dem Steinboden des Flurs. Man hörte Poltern und Schreien, Waffen rasselten und dazwischen tönte die ängstliche Stimme der Jungfer Karoline. Der Pfarrer öffnete schnell die Tür, und an ihm vorbei drängten sich zwei Offiziere in das Zimmer, während mehrere Soldaten draußen blieben. Der ältere der Offiziere trat auf Frau von Seeheim zu. Er war klein und seine blitzenden, dunkeln Augen, die gebräunte Gesichtsfarbe verrieten den Südländer. Er verneigte sich sehr höflich vor der Hausfrau und sagte mit einem liebenswürdigen Lächeln: »Madame, ick komme zu bitten für meine Soldaten, wir haben noch einen langen Weg, wir brauchen Wagen, Pferde, wir sein hungrik, wir wollen essen, verstehen, Madame?«
Als Frau von Seeheim schwieg und ihn finster ansah, fügte er ein wenig drohend hinzu: »Wir sind Freunde von Ihre Könik, Freunde, verstehen mir?«
»Ich verstehe schon, was an Vorräten vorhanden ist, können Sie erhalten!«
»O, Madame sind liebenswürdik,« sagte er verbindlich, »kann nix for Krieg, ist serr bös, ick verstehen!«
Der andere Offizier, ein junger hochgewachsener Mann, mit offenen Zügen, hellblondem Haar und freundlichen blauen Augen, hatte der Verhandlung wenig Aufmerksamkeit geschenkt, er war zu den Kindern getreten, die sich auf ihrem Platz am Fenster zusammengedrängt hatten, und richtete einige Fragen an sie. Seiner Sprache hörte man den Süddeutschen an und Walter dachte erbittert: »Er ist ein Deutscher!« Renate war die einzige, die Antwort gab. Fritz hatte ängstlich seinen Kopf in ihren Schoß geborgen, Hans-Heinrich und Walter aber setzten allen Fragen des Offiziers trotziges Schweigen entgegen; auch Luises sonst so beredter Plaudermund war geschlossen und scheu sah sie zu dem Offizier empor. »Wie ein richtiger Hasenfuß,« dachte Walter, der sich über die Schwester ärgerte, doch auch Renates ruhige Antworten empörten ihn, und er warf der Freundin einen zornigen Blick zu. Der Offizier merkte wohl den Zorn des Knaben, er lächelte ein wenig spöttisch und sagte mit leichter Neckerei: »Ei, ei, der junge Herr scheint eifersüchtig zu sein.«
Walter sah wohl, wie seines Vaters Augen mahnend auf ihm ruhten, aber er konnte nicht schweigen, heiße Glut stieg ihm ins Gesicht und seine Stimme klang fast rauh vor zorniger Erregung, als er erwiderte: »Ich bin ein Preuße und liebe mein Vaterland, soll ich lachen, wenn – wenn!« Er stockte und fügte dann leise aber fest hinzu: »Die Feinde im Lande sind.«
Renate war totenbleich geworden, sie preßte angstvoll die Hände zusammen, aber doch ruhten ihre Augen stolz auf dem Freund. Hans-Heinrich hatte sich straff emporgerichtet, und seine blauen Augen blitzten und flammten, beinahe hätte er Bravo gerufen.
Von dem Gesicht des Offiziers war das Lächeln geschwunden, er war blaß geworden. Einige Minuten sah er die Knaben fest an, nicht zornig, fast traurig war sein Blick. Dann wandte er sich ohne Gruß ab und schritt auf den Pfarrer zu: »Wer ist jener, mit dem dunkeln Haar?« forschte er.
»Mein Sohn,« gab der Gefragte ruhig zur Antwort.
»Tapferer Junge,« murmelte der Offizier. »Gott erhalte ihn, ich gratuliere zu solchem Sohn.« Er trat rasch, ohne eine Entgegnung abzuwarten, auf seinen Kameraden zu und drängte diesen beinahe schroff zur Eile. Nach wenigen Minuten verließen denn auch die beiden Offiziere das Haus, der Franzose mit höflichen Abschiedsworten, der Deutsche stumm und finster.
Frau von Seeheim aber ging in Vorratskammer und Keller, um die Wünsche der Offiziere zu erfüllen. Der alte Vogt ließ unter schweren Seufzern das Vieh aus den Ställen treiben und die Wagen anschirren. Nach kaum einer Stunde fuhr, von Soldaten eskortiert, ein hochbeladener Wagen nach dem andern von Gut und Dorf Kloningken aus nach der eine halbe Stunde entfernten Straße hin, auf der in endlosen Kolonnen die große Armee Kaiser Napoleons nach der russischen Grenze zog.
Die heimlichen Flüche der Männer, das laute schmerzvolle Klagen der Frauen folgte dem Heere. Das zog mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel dahin und die Waffen und Uniformen blitzten im Sonnenschein. Unabsehbar waren die langen Züge der Wagen und Kanonen, und manch einem ergrauten Krieger wurde das Herz schwer, wenn er die unzähligen Gepäckwagen sah, die das Fortkommen im feindlichen Lande sehr erschweren mußten. Die Landleute wurden gezwungen, mit ihren Pferden zu Hilfe zu kommen, sie mußten auch an Lebensmitteln geben, was sie nur auftreiben konnten. Es waren ja nicht Feinde, Freunde sollten es sein, die das Land durchzogen. Kaiser Napoleon hatte mit dem tiefgebeugten König von Preußen ein Bündnis geschlossen, und die noch zu zahlende Kriegsentschädigung der unglücklichen Jahre von 1806/07 war in Lieferungen von Schlachtvieh, Korn und anderen Lebensmitteln umgewandelt worden. Außerdem durften die durchziehenden Truppen noch Lebensmittel nach Bedarf einziehen.
»Als wäre, wie zu Moses Zeiten, ein Heuschreckenschwarm über das Land gezogen,« so klagte Vogt Schwarze in Kloningken bei seiner Heimkehr. Er ballte die Hände zur Faust, und über sein Gesicht liefen Tränen, die ersten vielleicht, die er seit dem Tode des jungen Herrn geweint hatte. »Seht, Jungfer Karoline,« sagte er zu dieser, »was einem geradezu das Herz im Leibe umdreht, das ist, daß so viele Deutsche dabei sind, Deutsch reden sie, Herrgott, möchten sie auch deutsch denken! Das wurmt mich, wünschen möchte man, daß sie alle drinnen in Rußland ihren Tod fänden; und dann erbarmt's einem wieder das Herz, wenn man an all das ehrliche, deutsche Blut denkt, das da vergossen wird, für was?«
Mit gebeugtem Haupt ging der alte Mann in seine Kammer, und vorsichtig verschloß er hinter sich die Türe. Aus seinem Bettsack wühlte er ein altes, etwas verrostetes Schwert heraus, damit hatte Anno 1758 sein Vater bei Zorndorf unter dem alten Fritz gefochten. Mit finsterer Miene wog der Vogt Erdmann Schwarze das Schwert in der Hand, und dreimal hieb er zu, daß es sausend die Luft durchschnitt, ja er konnte es noch führen. Dann faltete er seine harten Arbeitshände über dem Schwert zusammen und wie ein Schrei brach es aus seiner Brust: »Herr Gott, erbarme dich unserer Not!«
In jenen Tagen klang dieser Ruf aus Tausenden von Herzen angstvoll zum Himmel empor. Bis in den Herbst hinein dauerten die Durchzüge der Truppen, und bei dieser ungeheuren Masse von Soldaten wurde die Angst wach, was wird geschehen, wenn der Siegeszug in Rußland beendet ist, dann bewahre uns der Herr vor dem Übermut des Siegers! Traurig aber sahen die Landbewohner auf ihre zerstampften Felder, in ihre verödeten Ställe und leeren Vorratskammern, und sie dachten voll Sorge an den kommenden Winter.
Die Sorge der Erwachsenen dämpfte auch die heitere Kinderlust etwas, immerhin gab es auch in diesem harten Sommer manche frohe Stunde für die Kinder in Kloningken. Die Winterangst lastete nicht allzu schwer auf ihnen, und namentlich Hans-Heinrich, Luise und Fritzel fanden immer neue Gründe zum Frohsein. Sacht wandelten sich die Sommertage in Herbsttage und der Wald begann in bunten Farben zu schimmern. Die schlanken Birken hatten ihr lichtgrünes Sommerkleid mit einem goldgleißenden Prachtgewand vertauscht, und im Sonnenschein sah der Wald aus wie der goldene Wald des Märchenlandes. In dem Kloningkener Garten standen die Obstbäume fruchtbeladen und Jungfer Karoline hatte es sehr eilig, den Vorrat von Obst in Sicherheit bringen zu lassen. Die Angst, es könnten neue Truppen kommen und die Bäume plündern, veranlaßte sie, mit allen ihr zu Gebote stehenden Kräften die Obsternte zu halten. Sogar Vogt Schwarze half mit, er tat dies freilich etwas widerwillig und er brummelte genug dabei, denn er dachte an die verwüsteten Felder, die in diesem Sommer wenig genug Korn geliefert hatten.
An einem schönen warmen Oktobertag saßen Renate und Luise unter einem breitästigen Apfelbaum und Renate war eifrig damit beschäftigt, Obst zu schälen, das zum Winterbedarf getrocknet werden sollte. Luise hatte auch ein Messer in der Hand, aber statt zu schälen, biß sie soeben mit ihren weißen Zähnen in einen großen, rotbäckigen Apfel; »wirklich, Renate, er ist zu gut, um ihn zu trocknen,« versicherte sie. Renate lachte, »ich glaube Luise, du hast schon etliche gefunden, die sich besser zum Essen eignen, wenn du dich nicht eilst, werden wir bis zum Vesperbrot nicht fertig mit unserer Arbeit.«
Seufzend begann Luise nun einen Apfel zu schälen, als sie den zweiten ergriff, seufzte sie tiefer, beim dritten aber sank ihr das Messer aus der Hand und sie klagte halb lachend, halb traurig: »Ich weiß gar nicht, wie das kommt, Renate, dir fliegt jede Arbeit von der Hand, du bist darin gerade wie meine Mutter, wenn die nur etwas anschaut, so ist es schon fertig, aber mir gelingt nichts ordentlich. Nun sieh nur einmal, du kannst jeden Apfel schälen, daß seine Schale ganz bleibt, während es bei mir lauter kleine Stücke werden, es ist zum Verzagen, wenn man so ungeschickt ist.« Ein Weilchen schälte sie wieder eifrig, dann sprang sie plötzlich auf und rief stolz: »Da, jetzt habe ich auch eine Schale ordentlich lang bekommen. Sieh nur wie fein! Nun werde ich das Orakel fragen, wie mein künftiger Gemahl heißt.«
Sie trat einige Schritte vor und warf lachend die Schale hinter sich, dann drehte sie sich blitzschnell um, und o weh – die Schale baumelte an einem Strauch.
Renate rief mit schelmischer Neckerei: »Keinen Mann bekommst du, wer wird auch solchen kleinen Quirl zum Weibe nehmen!«
Luise war rot geworden, sie setzte sich schweigend wieder an ihre Arbeit. »Bist du böse, weil ich dich neckte?« Renate bog sich vor und sah forschend in das traurige Gesichtchen der kleinen Freundin.
Die schüttelte betrübt den Kopf. »Böse? Ach nein, ich bin nur schrecklich traurig, weil ich so dumm und ungeschickt bin. Ach, Renate, ich wollte, ich wäre wenigstens auch eine Johanna von Orleans, wie in dem schönen Buch des Herrn Schiller, das uns Vater neulich vorgelesen hat. Ich wollte, ich könnte auch so im Kampf voranziehen. Du lieber Himmel, denke doch nur, Renate, wie wundervoll das wäre, wenn ich auch mit einem goldenen Helm auf dem Kopfe ankäme und sagte: ›Jetzt ziehe ich in den Krieg!‹ Nachher würde ich in Berlin einziehen und vor den König hintreten und sagen: ›Gnädiger Herr König, ich habe den Bonaparte gefangen genommen und alle Franzosen fortgejagt!‹ Hurra, das wäre mal was!«
Luise war aufgesprungen. Die Äpfel, die sie auf dem Schoß gehabt hatte, kollerten auf die Erde, und in ihrem Eifer warf die Kleine noch einen gefüllten Obstkorb um. Sie achtete gar nicht darauf, sie stand mit blitzenden Augen vor der Freundin und schrie: »Sieh, Renate, so würde ich es machen!« Sie schwang in der erhobenen Hand drohend das Obstmesser und rief laut: »Hurra, hurra, nieder mit den Feinden!«