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Seitenzahl: 226
Sechzehn heitere Erzählungen
von
Josephine Siebe
Mit vier farbigen Vollbildern und zahlreichen Textillustrationen von Carl Schmauk
Dritte Auflage
Stuttgart Verlag von Levy & Müller
Seite b Nachdruck verboten. Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten.
Druck vom Chr. Verlagshaus in Stuttgart.
Seite cOberheudorferBuben- und Mädelgeschichten
An einem Frühlingstage kamen drei junge Männer auf ihrer Wanderung durch das deutsche Land nach Oberheudorf, das zwischen Gebirg und Ebene liegt. Als sie in das Dorf einzogen, lief ihnen unversehens ein Schweinchen in den Weg. Da rief der erste, der sich leicht über jeden Quark ärgerte: „Pfui, ist das ein abscheuliches, schmutziges Dorf! Hier laufen ja die Schweine auf der Straße herum! Und was für häßliche, baufällige Häuser das Dorf hat!“ Er sah dabei immer nur des Schnipfelbauers alten Ziegenstall an, die andern Häuser würdigte er keines Blickes. Schnurstracks eilte er von dannen, und in sein Reisebuch schrieb er: „Oberheudorf ist klein, schmutzig und häßlich.“
Der zweite, der zu denen gehörte, die alles besser haben wollen, sah, als er durch das Dorf ging, immer in die Luft und rief: „Wie niedrig die Berge sind! Und wie weit der Wald entfernt ist! Auf einem der Berge müßte eine Burg stehen. Der Bach müßte breiter sein und brausend bergab stürzen. Ja, dann möchte mir das Dorf gefallen!“
Flugs lief auch er von dannen, und in sein Reisebuch schrieb er: „Es lohnt sich nicht, Oberheudorf anzusehen, es hat keine schöne Lage.“
Der dritte der jungen Leute aber blieb mitten im Dorf stehen und schaute sich um. Er sah die blühenden Fliederbüsche in des Schnipfelbauers Garten und übersah darüber den baufälligen Ziegenstall. Er sah die kleine weiße Kirche, deren spitzes Türmchen sich scharf von dem lichten Frühlingshimmel abhob. Er sah die roten Ziegeldächer der Bauernhäuser in der Sonne leuchten und sah, wie liebevoll der große Apfelbaum seine blütenschweren Zweige über Muhme Lenelis' Häuschen breitete. Wohl waren die Berge nicht allzu hoch, aber schöner, dichter Tannen- und Laubwald bedeckte sie, auf dessen Boden weiche Moosteppiche lagen und zarte, helle Blumen blühten. Wohl war das Bächlein schmal, aber es plätscherte und brauste vergnügt durch das grüne Wiesental und sah aus wie ein aus Silberfäden gesponnenes Gürtelband. Kein Winkelchen im Dorf ließ der junge Mann unbesehen. Er trat auch ein in die Häuser, und freundlich hießen ihn die Bauern willkommen. Er saß dann in den niedrigen, holzgetäfelten Stuben, freute sich über die alten, buntbemalten Truhen, über die großen Schränke mit den dunklen Schnitzereien und die grünen Kachelöfen in den Ecken. Er ließ sich die Milch und das Brot schmecken, das die Bäuerinnen ihm vorsetzten, und freute sich, wie sauber die Höfe und Ställe aussahen, und wie viele, viele Blumen in den winzigen Gärten blühten.
Er saß dann noch lange auf der grünen Bank vor Schuster Pechdrahts Haus unter dem dicken Pfingstrosenbusch und ließ sich allerlei von dem Schuster erzählen. Mit lachendem Behagen sah er den Kindern zu, die auf der Dorfstraße spielten.
Da kam ein dicker, blonder Bub heran und sagte: „Ich bin Schulzens Jakob.“
Und ein anderer, der lang und dünn war und struppige schwarze Haare hatte, rief: „Ich bin Anton Friedlich, und das da ist der blaue Friede!“ Er zeigte dabei auf einen Buben, der blaue Hosen, eine blaue Jacke, blaue Strümpfe und blaue Augen hatte.
„Ich bin Heine Peterle!“ rief ein anderer und spielte sehr vergnügt mit seinen Holzpantoffeln Fangball.
Ein kleines Mädchen trippelte an des Schusters Haus vorbei. Sie hatte braune Zöpfe und braune Schelmenaugen und flüsterte: „Ich heiße Annchen Amsee, und dort kommt Waldbauers Mariandel!“
Hinter ihr kam ein Mädelchen, rosig wie ein Borsdorfer Apfel, mit Haaren, die so gelb waren wie das reifende Korn. Es kamen noch mehr Buben und Mädel, die ihren Namen nannten, es kamen blonde und braune, kleine und große, kecke und schüchterne.
Der junge Fremde nickte allen zu und sprach mit ihnen, und sie zeigten ihm ein großes, rotes Haus, das inmitten grünender und blühender Bäume lag, und sagten: „Das ist die Schule!“ Als der Fremde aber mehr von der Schule wissen wollte, liefen sie fort und lachten.
Als die Sonne sank und ihr Widerschein rot glühend auf den Dächern der Häuser lag und die Wipfel der Bäume aussahen, als wären sie in flüssiges Gold getaucht, nahm der Fremde Abschied von Oberheudorf. Leise rauschte der Abendwind, die Vögel tauschten zwitschernd ihre Abendgrüße, und die Ferne versank in blauer Dämmerung. Heiter ging der Fremde von dannen, und in sein Reisebuch schrieb er: „Oberheudorf ist ein anmutiges, freundliches Dörfchen in schöner Lage. Es ist dort gut sein, ich werde es bald wieder aufsuchen!“
Das tat er auch. Er reiste im Sommer hin, als das Korn reif war und schwerbeladene Erntewagen in das Dorf einfuhren. Dann kam er im Herbst wieder, als alle Äpfel-, Birnen- und Pflaumenbäume voll Früchte hingen und die Kinder von früh bis abend Obst aßen; ja manche nahmen sich Pflaumen oder Äpfel mit ins Bett. Der Fremde kam auch im Winter wieder, aber da wäre er beinahe an Oberheudorf vorbeigelaufen. Das lag so in Schnee gebettet, daß gerade noch die roten Ziegeldächer herausguckten. Das ganze Tal glich einem riesigen Backtrog voll Mehl, und die Häuser lagen darin wie Rosinen im Teig; alles hatte weiße Mützen auf, der Kirchturm, die Dächer, selbst die Fahnenstange vor dem Schulhaus. Und überall standen Schneemänner. Jeder Bube, ja selbst jedes Mädel hatte seinen Schneemann, einer war immer schöner als der andere.
So sah der Fremde Oberheudorf zu jeder Jahreszeit, und immer gefiel es ihm, und jedesmal dachte er: „Wirklich, hier ist es doch gut sein!“
Vielleicht gefällt den Kindern, die dieses Buch lesen, Oberheudorf auch so gut, und wenn sie einmal nicht hinreisen können, so denken sie vielleicht manchmal an das freundliche Dörfchen, das irgendwo im deutschen Vaterland liegt, und in dem sich Buben und Mädel so herzensfroh ihres Lebens freuen.
In Oberheudorf kennt wohl jeder den Heine Peterle, selbst die Pferde, Kühe, Schafe und Hunde kennen ihn, auch die Gänse, Hühner und Enten auf der Dorfstraße, sogar Leinwebers lahme Ziege. Kommt der Bube pfeifend die Straße entlang, die Hände in den Hosentaschen, die kleine, dicke Stupsnase keck in die Luft gereckt, mit seinen Holzpantoffeln klappernd wie die Wassermühle im Tal, dann sagt gewiß der oder jener: „Aha, da kommt Heine Peterle, der Städter!“ Und Schuster Pechdraht, der ein Spaßmacher ist, der zwinkert mit den Augen und ruft: „Heine Peterle, du, morgen fahre ich zur Stadt, magst mit?“
Hei, da wird Heine Peterle rot wie die Glaskirschen im Pfarrgarten, und patzig begehrt er auf: „Mag net!“ und dann läuft er davon, so schnell er nur kann, und seine Holzpantoffel klappern, daß man es im letzten Haus des Dorfes noch hört.
Mit Heine Peterle und der Stadt ist das nämlich eine eigene Sache, und fuchsteufelswild kann der Bube werden, wenn seine Kameraden ihn spottend den „Städter“ nennen.
Lange ist es noch nicht her, da gefiel es auf einmal dem Heine Peterle nicht mehr zu Hause. Im Frühjahr war ein Vetter der Mutter aus der Stadt zu Besuch dagewesen. Der hatte viel erzählt, wie schön es in der Stadt sei, und beim Abschied hatte er Heine Peterle eingeladen, ihn einmal zu besuchen. Seitdem dachte der Bube viel an die Stadt, manchmal sogar in der Schule, und gerade mußte ihn dann der Lehrer nach etwas fragen, was Heine Peterle natürlich nicht wußte, und dann tanzte der Stock des Herrn Lehrers mitunter recht unsanft auf seinem Rücken herum.
Einmal war es ihm nun in der Schule wieder recht schlecht gegangen. Darum sagte er beim Mittagessen, als ihm die Mutter gerade den fünften Speckkloß auf den Teller legte: „Ich möcht' zur Stadt!“
„Heine Peterle!“ schrie die Mutter und ließ vor Schreck den Kloß fallen.
„Heine Peterle!“ jammerte die alte Muhme Rese, und ein großer Bissen blieb ihr im Halse stecken, und Martin, der Knecht, mußte ihr erst tüchtig auf den Rücken klopfen, ehe sie wieder sprechen konnte.
„Zur Stadt?“ fragte der Vater und ließ die Gabel sinken.
„Ja,“ rief Heine Peterle keck, „ich mein', mir gefällt's dort besser als hier!“
„Heine Peterle!“ schrien nun auch Knecht und Magd.
„Halt den Mund, dummer Bub!“ sagte der Vater, da waren alle still.
Weil es aber dem Heine Peterle am andern Tage in der Schule wieder schlecht ging, begann er bei Tisch von neuem: „Ich möcht' zur Stadt zum Herrn Vetter!“
Diesmal sagte niemand etwas, nur der Vater brummte: „Meinetwegen geh in die Stadt!“
Und nach drei Tagen durfte Heine Peterle wirklich in die Stadt fahren. Friede Hopserling, der Müllerknecht, der Mehl zur Stadt bringen mußte, meinte, er wolle den Buben gern mitnehmen, früh um drei Uhr solle die Fahrt beginnen.
Und Heine Peterle stand zur rechten Zeit in seinem Sonntagsanzug vor der Haustür. Es war zwar ein recht warmer Sommermorgen, aber er hatte doch seine runde Pelzkappe aufgesetzt, die er besonders schön fand. Seine Mutter hatte ihm noch einen dicken, hellgrünen Schal um den Hals gebunden. Weil seine Stiefel gerade zerrissen waren, mußte er in Holzpantoffeln gehen, aber Muhme Rese hatte gemeint, das schade nichts, weil er so wunderschöne, hellrote Strümpfe trage. Die Mutter brachte einen großen Sack Kartoffeln und ein Körbchen voll Eier für den Herrn Vetter, ihrem Buben aber gab sie noch ein tüchtiges Stück Kirschkuchen mit auf den Weg. Schuster Pechdraht kam aus seinem Hause, und als er Heine Peterle so ausgerüstet stehen sah, fragte er: „Kannst du auch einen Diener machen? Das ist in der Stadt die Hauptsache!“
„Freilich kann ich das,“ rief Heine Peterle geringschätzig und verneigte sich so schnell und so tief, daß er dabei Muhme Rese den Kaffeetopf aus der Hand stieß und seine Pelzmütze bis auf die Dorfstraße kugelte.
„Bewahre, was ist das für ein Junge!“ schrie die Muhme, ihren zerbrochenen Topf betrachtend, und Schuster Pechdraht sagte lachend: „Na, dir wird es schon gut gehen in der Stadt! Auf Wiedersehen – heute abend!“
Da wurde Heine Peterle krebsrot vor Zorn über diesen Spott, und hochfahrend erwiderte er: „Gar nicht komme ich wieder! Ein Herr werde ich in der Stadt!“ Darauf nahm er Abschied von Vater, Mutter, Muhme, Knecht und Magd, kletterte zu Friede Hopserling auf den Wagen, und fort ging die Reise. Unterwegs erzählte er viel, was er alles in der Stadt werden wolle, Prinz wenn möglich oder mindestens General. Die Fahrt dauerte ziemlich lange. Heine Peterle wurde stiller und stiller, zuletzt schlief er ein und schlief, bis Friede Hopserling ihm einen derben Rippenstoß gab und rief: „Wir sind da!“
Weit riß der Bube seine Augen auf. Da war er ja wirklich in der Stadt! Rechts und links schaute er sich um, da waren Häuser, lauter Häuser, nichts wie Häuser. „Du, Friede Hopserling,“ fragte er, „warum sind denn hier so arg viel Häuser?“
„Na,“ gab der zur Antwort, „eben weil's eine Stadt ist. In welcher Straße wohnt denn der Herr Vetter?“
„In der – in der – der – in, halt ein Mannsname ist's,“ stotterte Heine Peterle verlegen, „und eine 5 hat's Haus, soviel Finger ich hab',“ und dabei hielt er eine seiner kleinen, braunen Hände dem Friede vor die Nase.
Der sann ein Weilchen nach, dann sagte er: „Hier ganz nahe gibt's eine Albertstraße, könnt's die wohl sein?“
„Freilich, freilich,“ rief Heine Peterle, „das ist ja ein Mannsname, der Schmied heißt ja so!“
Bald hielt der Wagen vor einem großen, weißen Hause mit einem sehr zierlichen Vorgarten, den ein reich verziertes eisernes Gitter von der Straße trennte. „Fein wohnt der Herr Vetter, das muß man sagen,“ meinte Friede Hopserling bewundernd und warf den Kartoffelsack vom Wagen. Heine Peterle nickte stolz, nahm seinen Eierkorb und sah sich nach dem Kirschkuchen um.
„Halt, hinten auf den Hosen klebt dir ja der Kuchen,“ rief Friede lachend. „Du Dösbartel, hast dich im Schlaf auf deinen Kuchen gesetzt!“
Beschämt legte Heine Peterle den zerquetschten Kuchen in eine Wagenecke und kletterte dann herab. „Laß dir's gut gehen, und wenn ich einmal wiederkomme, besuche ich dich. Adjüs, hüh hott!“ sagte Friede Hopserling und fuhr die Straße hinab.
Da stand nun Heine Peterle vor dem hohen Gitter und versuchte mit bange klopfendem Herzen die Türe zu öffnen, aber soviel er auch rüttelte, schüttelte und klopfte, die Tür ging nicht auf. Ein Herr, der gerade vorbeikam, lachte und rief: „Klingle doch, Junge!“
„Hm,“ sagte Heine Peterle, „'s ist ja keine Schelle da!“
„Drück nur auf den weißen Knopf dort,“ riet der Herr und ging weiter.
Und Heine Peterle folgte dem Rat und drückte auf den weißen Knopf, drückte und drückte, aber es wollte nicht klingeln, er drückte fester, aber er hörte nichts. Auf einmal aber kam ein Mann aus dem Hause gelaufen, der einen feinen, mit goldenen Tressen besetzten Rock trug. Als er Heine Peterle sah, schrie er zornig: „Infamer Bengel, warum klingelst du denn so stark?“
„Ich hör's doch nicht,“ sagte Heine Peterle und drückte ruhig weiter auf den Knopf. Aus dem Hause kam ein zweiter Mann gelaufen. „Aufhören, aufhören!“ schrie er und fuchtelte wild mit einem Stock in der Luft herum.
Verdutzt sah Heine Peterle ihn an. Er konnte nicht begreifen, daß er es nicht klingeln hörte. „Was willst du denn hier?“ herrschte der Mann mit dem Tressenrock ihn an.
„Ich bin Heine Peterle aus Oberheudorf und möchte den Herrn Vetter besuchen,“ stammelte der Bube.
„Dummer Bengel, hier wohnt der Herr Graf von Dippelskirchen und nicht dein Vetter. Mach, daß du weiter kommst!“
Die beiden Männer entfernten sich, und Heine Peterle stand ganz verdattert da. Auf einmal aber besann er sich und rief: „Herr Graf, Herr Graf, wo wohnt denn der Herr Vetter?“
Der eine der Männer kam einige Schritte zurück, sah den Buben an und lachte ein wenig. „Ja, weißt du denn die Straße nicht?“
„Halt ein Mannsname ist's,“ meinte Heine Peterle kleinlaut.
„Ein Mannsname? Nein, so ein dummer Junge! Was denn für ein Mannsname? Kann's vielleicht Karlstraße sein?“
„Freilich, freilich, so heißt ja Schnipfelbauers Knecht!“ rief Heine Peterle.
„Na, dann geh mal rechts um die Ecke herum, dann links, dann die Straße hinunter, dann wieder rechts, dann bist du da. Verstanden?“
„Freilich,“ sagte Heine Peterle, nahm seufzend seinen Sack auf den Rücken, den Eierkorb in die Hand und trollte davon. Erst ging er links statt rechts, weil er ein Linkshänder war, dann ging er rechts, dann wieder links. Klipp, klapp, klipp, klapp! trappten seine Holzpantoffel auf dem Steinpflaster. Die Leute, die auf der Straße gingen, blieben stehen und schauten lächelnd dem Buben nach, dem die hellen Schweißtropfen über das runde, rote Gesicht liefen. Endlich meinte dieser, er sei nun oft genug links und rechts gegangen, und als er ein Haus mit einer Fünf fand, trat er ein. Im Hausflur kam ihm eine Frau entgegen, die fragte er: „Wohnt hier der Herr Vetter? Ich bin Heine Peterle aus Oberheudorf.“
„Ich kenne deinen Vetter nicht,“ entgegnete die Frau. „Geh mal eine Treppe hinauf, dort wohnt der Wirt.“
„Ei,“ dachte Heine Peterle, „ich wußte doch gar nicht, daß der Herr Vetter ein Wirtshaus hat. Aber ein feines Wirtshaus ist das!“ Keuchend kletterte er die Treppe hinauf. Oben war wieder so ein weißer Knopf, den der Bube mißtrauisch betrachtete; mit dem Ding ließ er sich nicht mehr ein, und kräftig schlug er mit der Faust an die Türe.
Scheltend öffnete eine Magd. „Warum machst du denn solchen Lärm und klingelst nicht?“
Heine Peterle wurde verlegen und stotterte sein Sprüchlein hervor. Die Magd sah ihn etwas verwundert an; weil sie aber noch nicht lange im Hause war, dachte sie, die Sache könnte wohl richtig sein, und führte den Buben in ein großes, helles Zimmer und hieß ihn warten. Der sah sich mit erstaunten Augen um. Hui, war es hier aber fein! So etwas Schönes hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Bilder hingen an den Wänden, und die Stühle waren mit heller Seide bezogen und – beinahe wäre Heine Peterle hingefallen vor Schreck, da stand ja ein Bube, der gerade so aussah wie er selbst. Heine Peterle grinste verlegen und kratzte sich hinter den Ohren. Der Bube tat dies auch. Da merkte Heine Peterle erst, daß er in einen Spiegel sah. Es dauerte und dauerte, der Herr Vetter kam nicht. Heine Peterle war müde. Verlockend winkten die hellen Seidenstühle, und so leise er konnte mit seinen Holzpantoffeln, schlich er näher und setzte sich. Potztausend, saß sich das gut auf dem Polster! Gerade hatte er sich so recht bequem hingesetzt, da öffnete sich die Türe, und eine Dame trat ein und betrachtete Heine Peterle erstaunt von oben bis unten.
Der starrte die Dame, die ein langes, hellrotes Kleid trug, mit offenem Munde an. Ja, war das vielleicht gar eine Prinzessin? So fein sah sie aus.
„Was willst du denn von mir, mein Kind?“ fragte diese freundlich.
Heine Peterle stand auf, hielt seinen Eierkorb mit beiden Händen an seinen Leib gepreßt und stotterte: „Ich bin Heine Peterle aus“ – Da fiel ihm mitten in seiner Rede Schuster Pechdrahts Ermahnung ein, in der Stadt den Diener nicht zu vergessen, und flugs verneigte er sich, verneigte sich so tief, daß er ausrutschte. Platsch lag er, so kurz er war, auf dem Boden, der Eierkorb kam gerade unter sein Bäuchlein zu liegen, und eine gelbe Tunke rann über den hellen Teppich. „Himmel, was soll das?“ schrie die Dame händeringend, und auf ihr Geschrei eilten der Hausherr, die Tochter und die Magd herbei und schrien weh und ach, als sie den Heine Peterle in seiner Eiertunke auf dem Boden liegen sahen.
„Was ist denn das für ein Bengel?“ rief der Hausherr.
„Der schöne Teppich!“ klagten Frau und Magd, und das Töchterlein quiekte: „Mama, Papa, seht doch her, er hat auf den Sessel einen großen Fleck gemacht,“ und zeigte auf das helle Seidenpolster, das Spuren von Heine Peterles Kirschkuchen trug, auf dem er während der Fahrt gesessen hatte.
Dem Buben war es himmelangst. „Könnt' ich nur raus!“ dachte er. „Das ist ja gar nicht der Herr Vetter! Oh je, oh je, wie wird mir's gehen!“
Na, es ging noch glimpflich ab. Ein paar Maulschellen gab's, ein paar Ermahnungen, sich nie wieder blicken zu lassen, und dann saß Heine Peterle auf einmal draußen auf der Treppe neben seinem Kartoffelsack und heulte vor Hunger, vor Schmerz und Müdigkeit.
Oberheudorfer Buben- und Mädelgeschichten. Seite 16.
Einige Leute kamen herbei und fragten teilnahmsvoll nach seinem Kummer, und Heine Peterle erzählte, und als er sagte, einen „Mannsnamen“ sollte die Straße haben, da lachten sie alle, und eine Dame meinte freundlich: „Aber mein Kind, die Straße hier heißt Rosengartenstraße. Das ist doch kein Männername. Kann es vielleicht Friedrichstraße sein? Die ist hier in der Nähe.“
„Freilich, freilich,“ schluchzte Heine Peterle, „so heißt ja der Schneider bei uns.“
Freundlich zeigte ihm die Dame den Weg, und müde und hungrig schleppte Heine Peterle seinen Sack weiter und war froh, als er endlich vor dem Haus mit der Nummer 5 anlangte. War das Haus einmal groß! Schier unheimlich erschien es dem Buben, und zaghaft trat er ein. Innen war alles feierlich still. Heine Peterle kletterte eine Treppe empor und betrat einen langen Gang, auf den viele Türen mündeten. „Arg viele Stuben scheint der Herr Vetter zu haben,“ dachte Heine Peterle und klopfte kräftig an die erste Türe. „Herein!“ klang es von drinnen, und Heine Peterle trat ein. Ja, aber was war denn das?
„Uf!“ schrie Heine Peterle vor Schreck. Das war ja eine Schule! Hilf Himmel, er war in eine Schule geraten! Lauter kleine Mädchen saßen da und starrten ihn an, und am Pult stand der Herr Lehrer und – hielt einen großen Stock in der Hand. „Nur raus, nur fort!“ dachte Heine Peterle, und wutsch war er draußen. Aber da, potz Apfelkern und Pflaumenmus! ihm gegenüber öffnete sich auch eine Tür, und heraus kamen viele, viele kleine Mädchen, rechts und links; hinter ihm, überall taten sich Türen auf. Er sah viele Lehrer kommen und eine Unzahl kleine und größere Mädchen, und eine namenlose Angst ergriff ihn. Keuchend, den Kartoffelsack nach sich ziehend, wollte er die Treppe hinunterlaufen, aber der schwere Sack kam ihm zwischen die Füße, und holter die polter purzelten und kollerten Holzpantoffel, Pelzmütze, Heine Peterle und die Kartoffeln die Treppe hinunter. Das rumpelte und pumpelte nur so, und oben schrien, quietschten, lachten und kicherten all die großen und kleinen Mädchen, wie junge Böcklein sprangen einige von ihnen die Treppe herab dem Buben nach. Es war ein Höllenlärm, und als Heine Peterle verwirrt aufsah, da sah er mehrere Lehrer neben sich stehen, der mit dem Stock war auch dabei.
Heine Peterle besann sich nicht lange. Er ließ Holzpantoffel und Kartoffeln im Stich, nahm nur seine Mütze und raste in wilder Hast aus dem Hause hinaus, die Straße entlang. Hinter sich hörte er rufen, aber er sah nicht rechts, nicht links, er lief und lief immer weiter und weiter, stieß alle Menschen an, denen er begegnete, und es regnete Verwünschungen auf ihn herab. Man suchte ihn zu fangen. Bald lief eine Anzahl Menschen hinter ihm her, und einige Buben schrien: „Es brennt, es brennt!“ Aber je mehr sie schrien, desto mehr rannte Heine Peterle, und zuletzt lief er einem Schutzmann in die Arme. Der hielt ihn fest, und nun sollte Heine Peterle Rede und Antwort stehen.
„Was hat er getan?“ „Was hat er getan?“ „Warum rennt er so?“ „Warum hat er keine Schuhe an?“ so riefen und fragten die Menschen um ihn herum, aber Heine Peterle sagte immer nur: „Heim! Heim!“ weiter nichts.
„Heine Peterle, was machst du denn da?“ rief in dieser Not plötzlich eine Stimme, und Friede Hopserling hielt mit seinem Wagen an, er hatte von seinem erhöhten Sitz aus den Buben an seiner Pelzmütze erkannt.
„Ich will heim,“ schrie Heine Peterle, „heim!“ aber der Schutzmann ließ ihn nicht so schnell los, erst sollte er sagen, was er getan, und schluchzend erzählte er seine Erlebnisse. Da fingen alle an zu lachen, Friede Hopserling schüttelte sich ordentlich vor Lachen, selbst der Schutzmann lachte mit und hob den Buben selbst auf den Wagen.
Muckstill saß Heine Peterle, solange der Wagen noch durch die Stadt fuhr. Erst als das freie Feld kam, wagte er sich umzusehen, und da erblickte er in der Wagenecke auch seinen zerdrückten Kirschkuchen. Heisa, der schmeckte ihm wie noch nie! Daß er breitgesessen war, schadete gar nichts.
Der Wagen rollte auf der Landstraße dahin, Friede Hopserling war schweigsam wie immer, und wieder schlief Heine Peterle ein, und wieder weckte ihn sein Reisegefährte mit einem Rippenstoß: „Wir sind da!“ und Heine Peterle riß die Augen auf. Der Wagen fuhr die Dorfstraße entlang, da schrien einige Buben: „Da kommt Heine Peterle, Heine Peterle ist wieder da!“ Der Ruf pflanzte sich fort, die Mutter und Muhme Rese kamen aus dem Hause gelaufen, die Nachbarn kamen herbei, alle wollten sie wissen, warum Heine Peterle schon zurück sei.
Der Vater stand in der Haustür und lachte, und Friede Hopserling erzählte alles. „Dösbartel,“ rief der Vater, „Christianstraße heißt's, wie der Schäfer, und Nummer 10 ist es, dummer Junge, du hast doch zwei Hände!“
Da lachten ihn alle aus, aber Heine Peterle machte sich nichts daraus, er war nur froh, daß er wieder daheim war. An diesem Abend aß er sieben Brotschnitten, eine halbe Schlackwurst und einen Handkäse, und sicher hätte er noch mehr gegessen, wenn er nicht beim siebenten Butterbrot eingeschlafen wäre, so fest, daß er gar nicht merkte, wie ihn die Mutter ins Bett trug.
Wie Buben und Mädel wohl manchmal denken, so dachten auch die Oberheudorfer Kinder mitunter: „Wenn heute doch keine Schule wäre!“ – Sie dachten das bei den verschiedensten Gelegenheiten, zum Beispiel wenn im Winter schöne Eisbahn war oder im Frühling die ersten Veilchen blühten, wenn im Sommer die Kirschen reiften oder in Niederheudorf Vogelschießen war. Hundert Gründe gab es für den Wunsch, und die faulsten Buben und Mädel fanden wohl noch den hundertundeinsten Grund.
Einige ganz besondere Faulpelze, wie Bäckermeisters Mariele, Anton Friedlich und Schulzens Jakob, die wünschten sogar, es möchte gar keine Schule geben. „Wenn doch der Kaiser mal die Schule verbieten möchte!“ seufzte Anton, wenn er seine Rechenaufgabe nicht gemacht hatte.
„Oder der Sturm das Dach abdeckte!“ rief Mariele.
Letzthin hatte nämlich der Wind drei Ziegel vom Backofendach heruntergeworfen, seitdem ärgerte sich die Kleine, daß bei der Gelegenheit nicht das Schuldach ein bißchen kaput gegangen war.
Aber nichts dergleichen geschah. Breit und stattlich stand das Schulhaus da, von roten Ziegeln erbaut und von einem hübschen Garten umgeben. Schien die Sonne darauf, dann sah das Schulhaus so lustig aus, als lachte es alle faulen Buben und Mädel aus. Der Herr Lehrer war auch immer freudig bei seiner Arbeit, die nicht gerade leicht war, und für schulfreie Tage außerhalb der Ferien war er nicht sehr eingenommen.
Im Juni war es. Die Sonne brannte so heiß, daß es einem schon leicht zu warm werden konnte, und die Oberheudorfer Kinder meinten, es könnte schon gut mal hitzefrei sein, – zumal im Walde die Erdbeeren reif waren. Aber an so etwas dachte der Herr Lehrer jetzt weniger als je, denn in diesen Junitagen wurde der neue Herr Schulrat zur Inspektion erwartet. Da gab es dreimal so viel Hausarbeit als sonst, und wehe dem, der schlecht gelernt hatte. In dieser Zeit verstand der Herr Lehrer keinen Spaß, denn er wollte Ehre einlegen mit seiner Klasse. Und doch guckte die Sonne so vergnügt in die Schulstube hinein, und der Gedanke an die Erdbeeren im Kuhberger Walde saß wie ein kleiner Kobold in den Kinderköpfen.
„Ach, der Herr Schulrat!“ seufzte Heine Peterle, als er eines Morgens seinen Ranzen nahm, um in die Schule zu gehen.
„Wie heißt er denn?“ fragte Muhme Rese.
„Müller,“ brummte Heine Peterle und stapfte davon; er konnte es nämlich nach seinen Erlebnissen in der Stadt nicht leiden, wenn man ihn nach einem Namen fragte.
„Ach, der Herr Schulrat!“ seufzte Anton Friedlich, und Bäckermeisters Mariele heulte ein wenig, weil ihr alles mögliche tausendmal mehr Freude machte als der Schulrat.
„Bim bam, bim bam,“ dröhnte die Schulglocke, und flink liefen alle Faulpelze in das rote Schulhaus, es half ja doch nichts.