Katzenspuk - Anna Hutter - E-Book

Katzenspuk E-Book

Anna Hutter

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Beschreibung

Eine schwarze Katze, eine geheimnisvolle junge Frau und unheimlicher Spuk in Goslars herbstlichen Straßen Eigentlich will die junge Merle Hagedorn nur ein neues Leben beginnen, als sie, ihrer neuen Arbeitsstelle folgend, nach Goslar zieht. Doch mit den Veränderungen, die sich mit einem nächtlichen Besucher in Form einer schwarzen Katze einstellen, hat sie nicht gerechnet. Und wenn schließlich mit Halloween die Ahnenzeit näher rückt und die Schleier zwischen den Welten immer dünner werden, muss Merle erkennen, dass es ihre neuen Fähigkeiten und die Verbindung zu den Nachbarkatzen sind, mit denen sie sich dem durch die umherstreifenden Schreckgestalten drohenden Unheil entgegenstellen muss. Eine unterhaltsame Geschichte um Katzen und Hexen im sagenumwobenen Harz.

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für Mama und Alexandra, die großen Katzenliebhaberinnen in meiner Familie

INHALTSVERZEICHNIS

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

EPILOG

PROLOG

Gespenstisch hob sich der Vollmond gegen das samtige Nachtschwarz des Himmels ab. Weiß wie ein blanker Knochen starrte er von oben herab und leuchtete in das Zimmer, das von dunklen Schatten bevölkert war. Silbrig fielen seine bleichen Strahlen auf ein Bündel Stoff, das sich unruhig auf der Matratze hin und her warf. Irgendwo kreischte etwas, markerschütternd, doch durch das Glas des Fensters nur gedämpft zu hören. Dann war alles still.

Das Bündel auf dem Bett stöhnte. Schließlich fuhr der vordere Teil davon in die Höhe, bis ein verzerrtes Gesicht zum Vorschein kam. Die schwarzen langen Haare hingen in zerzausten Strähnen über Stirn und Augen, bis sie fahrig zurückgestrichen wurden. Die Augen blinzelten verklebt und sahen zum Fenster herüber, hinter dem der Mond höhnisch zu grinsen schien.

Vollmond, natürlich. Aber da war noch etwas anderes.

Schlagartig war der Schlaf aus den Augen gestrichen, damit diese riesengroß und vor Schreck geweitet hinter die Scheibe starren konnten. Ein Schemen hob sich dort, tintenschwarz, vor dem tiefen Blau des nächtlichen und heute nur mit wenigen Sternen geschmückten Himmels ab und gaffte seinerseits ins Innere. Seine Augen waren ebenfalls starr und weit aufgerissen. Und als er sein Maul auftat, kam, wenn auch sehr gedämpft, ein scheußliches Schreien heraus.

Die junge Frau im Bett griff nach ihrem Kopfkissen und schleuderte es gegen die Glasscheibe.

„Verschwinde“, flüsterte sie.

Doch der Schemen blieb und starrte weiter, während der Wind ihm klirrend kalt durch das schwarze Fell fuhr.

Die Frau stöhnte erneut, dann schwang sie die Füße aus dem Bett und ging leise zum Fenster herüber.

„Was willst du?“, flüsterte sie und betrachtete das Wesen, das sie nicht mehr aus den Augen lassen wollte, misstrauisch. „Was willst du hier oben im Dachgeschoss?“

Doch der Quälgeist legte nur den Kopf schief.

„Lass mich schlafen“, sagte sie flehend und strich sich mit der Linken über das Gesicht. Der nächtliche Unruhestifter regte sich ebenso wenig wie der Mond am Himmel. Seufzend drehte die Frau dem Wesen den Rücken zu, hob ihr Kissen vom Boden und schlüpfte ins Bett zurück, das zum Glück noch warm war. Auch diesmal zog sie sich die Decke soweit über den Kopf, dass noch nicht einmal ihr dunkles Haar zu sehen war. Und als es gespenstisch von draußen kreischte, zog sie auch noch das Kissen über ihre Ohren, um auch die letzten Ritzen gegen die mondhelle Nacht und ihre Geräusche zu verstopfen.

KAPITEL 1

Merle Hagedorn war bereits wach, bevor der Wecker klingelte. Und entsprechend matt fühlte sie sich, als sie sich aus dem warmen Bett und mit der Kleidung für diesen grau anbrechenden Tag unterm Arm ins Badezimmer ein Stockwerk unter ihrer Kammer, quälte. Den Blick in den Spiegel wollte sie vor der Dusche kaum riskieren. Und danach war das ehrliche Glas so beschlagen, dass sie es zum Glück nicht mehr ansehen konnte. Also frisierte sie ihr widerspenstiges Haar locker zu einem Pferdeschwanz, ohne sich viel Mühe zu geben, da sie wusste, wie schnell sich die ersten Strähnen wieder daraus hervor und in ihr Gesicht stehlen würden. Dann rückte sie sich die Brille zurecht, holte ihre Tasche und ging die steile enge Treppe herunter.

Ihr Leben befand sich noch im Chaos, denn sie lebte es halb aus Kartons, die ihr die fehlenden Möbelstücke ersetzten und deren Inhalt noch fertig sortiert werden wollte. Und die Dachkammer, die sie hier bewohnte, war auch nicht so übermäßig geräumig. Dafür war sie gemütlich und zumindest mit ihren finanziellen Mitteln erschwinglich. Der Rhythmus wollte sich noch nicht recht einstellen. Auch heute hatte sie sich fest vorgenommen, unterwegs zu frühstücken und musste ihre Sehnsucht nach Wärme und Ankommen arg niederdrücken, als ihr im Flur von den unteren Räumen der angenehme Duft von Kaffee und frischem Brot entgegen strömte. Schmerzhaft hörte sie ihren Magen knurren und peilte umso stärker die Haustür an, als sie von einer tiefen Stimme zurückgerufen wurde.

„Komm rein, Kind, die fünf Minuten wirst du wohl noch haben.“

Wie zur Säule erstarrt verharrte Merle in der Bewegung, die Hand bereits am Türknauf klebend, während ihre Gedanken weiter galoppierten. Schließlich gab sie doch nach und trat in den Wohn- und Kochbereich ihrer Vermieterin, die sie am Eichentisch sitzend und Kaffee schlürfend vorfand.

Die meisten Häuser dieser Gegend Goslars – sie wohnte jetzt im mittleren Teil der Straße „An der Abzucht“ – waren klein und kompakt, sodass auch ihre Räume winzig und eng, aber verwinkelt und gemütlich waren. Die Decken hier waren niedrig, die Ecken nicht alle rechtwinklig, und manche Wand leicht schief, aber gleichzeitig waren die Räume urig und von Leben vieler Generationen so erfüllt, dass sie schnell ein heimeliges Gefühl vermittelten. Der winzige Garten war ein wundervoller Bonus, den nicht alle Häuser in der Altstadt besaßen.

„Guten Morgen, Frau Wiedehopf“, grüßte Merle so leise, dass sie sich nach einem Räuspern wiederholen musste, um sicherzugehen, dass die ältere Dame sie verstanden hatte. Aufmerksam, vielleicht sogar belustigt sah diese über den Rand ihrer Kaffeetasse zu ihr herüber. Frau Wiedehopf war eine Frau unbestimmbaren Alters, so glatt war ihr markantes Gesicht, so dunkel ihr bereits ergrautes Haar, das sie stets zu einem strengen Dutt zurück gebunden trug, und so gerade ihre Körperhaltung. Der Kleidungsstil war schlicht und grau in all seinen Schattierungen, nur selten durchsetzt von dunklen gesetzten Farbklecksen.

„Adele, Kind. Und jetzt setz‘ dich und iss erst einmal was, bevor du hungrig das Haus verlässt. Ein gutes Frühstück, so viel Zeit muss sein.“

Merle starrte verblüfft auf den reich gedeckten Tisch und hörte ihren Magen sich erneut über die Vernachlässigung aufregen. Obwohl ihr Verstand sie wieder ermahnte, fremden Leuten nicht zur Last zu fallen und ihnen Mühe zu bereiten oder andere Umstände, gehorchte ihr Körper bereits und hockte sich vorsichtig auf den Eichenstuhl, der Adele gegenüberstand.

„Dann bin ich Merle. Nur Merle.“

„Nichts anderes habe ich erwartet“, erwiderte die ältere Frau ohne eine Miene zu verziehen und deutete einladend auf das in dicke Scheiben geschnittene Brot und all die herzhaften und süßen Aufstriche, die irgendeinem geheimen Muster entsprechend um den Brotkorb aufgestellt waren. Allein in den grauen Augen Adeles blitzte es vergnügt.

Das Brot war warm und so köstlich locker, dass es ihr fast im Mund zerging. Und der Kaffee genau nach ihrem Geschmack, schwarz und bitter genug, die Lebensgeister zu wecken. Milch gab sie nie hinein, und Zucker nur, wenn sie ihn sonst nicht runter bekam.

Kaum hatte sie zwei Schlucke getan, rauschte auch schon die zweite Frau Wiedehopf hinein, fröhlich, wie es zu dieser Uhrzeit nur ihr möglich war, obwohl sie sogleich klagte, wie morgenmuffelig sie eigentlich sei.

„Ein Gast, wie schön“, sie lächelte und tätschelte Merle die Schulter, bevor sie sich neben sie setzte und sich ein wenig Kaffee in die Tasse gab, um ihn dann großzügig mit Milch und mehreren Löffeln Zucker zu verpanschen. Merle starrte die Frau nur unverhohlen an, unfähig den Blick verlegen von ihr zu lenken. Ihre Antwort – „Guten Morgen, Frau Wiedehopf.“ - ging in Kauen und Nuscheln völlig unter. Adeles Schwester winkte schon ab, bevor Merle sich wiederholen musste.

„Hedwig, Liebes. Nenn mich einfach Hedwig. Frau Wiedehopf klingt ja, als sei ich alt und grau.“, sie lachte vergnügt.

„Was du auch bist“, meinte Adele ungerührt und warf ihr einen halb grimmigen Blick zu.

„Und du bist borstig wie ein Wildschwein, jawohl.“ Das vergnügte Blitzen in den Augen, die bei beiden zeitlos wenn nicht gar jugendlich wirkten, war gleich. Genauso wie die Augenform, die Krähenfüßchen in den Winkeln, wenn sie lächelten, und die Mundpartie. Davon abgesehen waren sie so unterschiedlich, wie Geschwister nur sein konnten. Hedwig nämlich war im Gegensatz zu ihrer Schwester von deutlich kleinerer aber umso beleibterer Statur, die sie gern mit kräftigen Herbstfarben betonte. Auch sie trug ihr Haar im Dutt, umgab ihr runzeliges Gesicht, das immer strahlte, aber gern mit kleinen grauen Löckchen. „Und, Merle, wie lebst du dich ein?“, fragte sie neugierig und strich sich eine dicke Schicht Heidelbeermarmelade auf ihr Brotstück, was Adele missbilligend beäugte, während sie sich selbst eine nicht weniger dicke Scheibe Wurst abschnitt.

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. „Ja, ganz gut.“ Dannsah sie sich etwas genauer in den Räumlichkeiten der Schwestern um. Nichts an ihrer Einrichtung gab auch nur den kleinsten Hinweis auf ihren nächtlichen Besucher. „Ich hab nur nicht so gut geschlafen.“

„Der Vollmond.“ Hedwig nickte wissend. Adele sagte nichts.

„Ja, der auch. Und die schwarze Katze, die auf der Fensterbank gehockt hat.“

Adeles linke Augenbraue wanderte in die Höhe. Hedwigs Mundwinkel zuckte, als sie sprach. „Soso, ein nächtlicher Besucher also?“ Irgendwie schaffte sie es ihre Worte so zu betonen, dass die Röte in Merles Wangen schoss, obwohl sie hier bloß von einem harmlosen Tier sprachen. „Hmm, in Goslar gibt es so einige neugierige Katzen.“

„Und neugierige alte Weiber“, fügte Adele mit einem grimmigen Seitenblick auf ihre Schwester hinzu.

„Unsere war es jedenfalls nicht“, schloss Hedwig mit verträumtem Blick. „Es ist schon länger her, dass wir Katzen hatten. Verstorben, weißt du?“ Der Blick ihrer graublauen Augen richtete sich fest auf Merle. „Katzen kann man schlecht kaufen. Sie suchen sich ihre Gesellschaft selbst. Und wenn sie sich entschieden haben, wird man sie nur schwer wieder los.“

„Ich denke, dass sie weiterziehen wird“, sagte Merle unsicher. „Bei mir gibt es für sie nicht viel zu holen. Außerdem bin ich wahrscheinlich sowieso eher der Hundetyp, oder so.“

Die Wiedehopffrauen schwiegen, und das auf eine belustigte Art und Weise.

Geräuschvoll trank Hedwig den letzten Schluck Kaffee und schenkte sich sogleich weiteren ein, den sie genauso stark verdünnte. „Hmm, der erste Arbeitstag steht dir heute bevor, wie? Wie lang hast zu denn zu tun?“ Sie versuchte gar nicht erst, ihre ständige Neugier zu verbergen.

Merle zögerte. Sie konnte ihre neue Arbeitsstelle und die Chefin noch nicht einschätzen. „Vielleicht bis halb sieben.“

Noch ehe Hedwig auch nur ein Wort über die schon geöffneten Lippen kam, unterbrach Adele sie bestimmt. „Dann sei pünktlich. Es gibt heute Eintopf.“

Er hockte im Gebüsch und starrte sie an, die junge schwarzhaarige Frau, die da, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen und das Gesicht halb im Halstuch vergraben, über das Pflaster schritt. Ihr Blick verlor sich irgendwo an den grauen Wänden oder dem Fachwerk der dicht beieinanderstehenden Häuser. Sie schaute und sah doch nicht richtig hin.

Und er verfolgte sie. Ganz unauffällig und tief in die Schatten versunken folgte er jedem ihrer Schritte. Er mochte es nicht, dass sie hier war. Ganz und gar nicht. Leute wie sie duldete er nicht in seiner Stadt. Besser, sie verstand es…

Es war ein Montag in den ersten Tagen des Oktobers und Goslar versank in der gelben Pracht, die der Herbst ihm auf die Bäume malte. Unzählige Blätter segelten durch die Luft, wenn der Wind sie im Tanz um die Ecken ergriff und sie herumwirbelte. Der Regen trommelte seine ganz eigene Melodie gegen Fensterscheiben, Schindelwände und Dächer, Türen und Pflaster, die mit dem windigen Pfeifen eine herbstliche Sinfonie ergab. Merle fröstelte leicht in dem dicken grauen Rollkragenpullover, den sie über dem etwas dünneren und ebenso grauen, wenn auch schmaleren Modell, trug. Dazu hatte sie hohe schwarze Wildlederstiefel über einer schwarzen enger anliegenden Hose. Der einzige Farbtupfer war das in herbstlichem Gelb und Orange bis Kupferrot gefärbte Tuch, hinter dem sie ihr Gesicht vor dem Wind verbarg. Ihren teichgrünen Regenschirm musste sie gut festhalten, wollte sie nicht, dass der Wind auch ihn auf einen wirbelnden Tanz entführte.

Goslar war eine alte, traumhaft schöne Stadt, die jetzt im Herbst ihren ganz eigenen Zauber hatte, wenn man bereit war, sie auch fernab des frühlinglichen Walpurgisbannes zu betrachten. Mit all ihren verwinkelten schmalen Gassen, den grauen verschindelten Wänden oder Fachwerkbauten hatte sie reichlich Sehenswürdigkeiten zu bieten und wirkte urig und verworren. Wahrscheinlich war es das, was die Touristen von nah und fern hierherzog, die Hoffnung hier hinter der nächsten Ecke eine Hexe herausspringen oder durch die Luft fahren zu sehen. Merle erkannte in dem stürmischen Regen nur wenige Gestalten, die von hier kamen, und mehr von jenen, die mit großen Augen und blitzenden Fotoapparaten durch die Straßen streiften, obwohl die Hauptsaison längst vorbei war. Und einige Katzen hinter Glasscheiben, wo sie es warm und trocken hatten.

Mit fliegenden Schritten bog sie in die Schulstraße, um von dort in die Kornstraße zu hetzen. Eine bimmelnde Bahn in Lokomotivenoptik kam ihr auf dem Marktplatz entgegen, auf dem sie vor dem Rathaus einige Tauben aufscheuchte, die verloren über das nasse Pflaster staksten. Einige Minuten später war sie schon über den Schuhhof und an der Linde vorbei, wo auf dem Stück zwischen dem kleinen Platz und der Hokenstraße der Laden „Die Büchereule“ lag, in dem sie ihre Arbeit ab heute beginnen sollte. Der Buchladen wirkte von außen winzig und war auch von innen nicht sehr groß, dafür verwinkelt und urig, wie man es von einem Laden, in dem auch kleinere und größere Brockenhexen aus deutscher und anderer Herstellung verkauft wurden, erwartet wurde. Die Decke war auch hier niedrig und wurde von freiliegenden dunklen Fachwerkbalken gestützt, die die Inhaberin des Ladens zum Präsentieren der Ware nutzte. Zu Lesen gab es hier sowohl moderne Bestseller als auch einschlägige Klassiker sowie Reiseführer und Hexenliteratur in allen Facetten. Eine wahre Fundgrube für jeden Touristen oder Büchernarr.

Ruhe und Gemütlichkeit hüllten Merle ein, sobald sie die Tür passierte und das Glöckchen über der Tür sie metallisch ankündigte.

Wachsam hob Carla Ehwelt, eine Frau in den Fünfzigern, die weise über den Rand ihrer schmalen und auf der Nasenspitze sitzenden Brille guckend, wie eine erhabene Eule wirkte, ihren Blick.

„Frau Hagedorn, wie schön.“ Sie kam um die Verkaufstheke und gab Merle, die den Schirm in einen dafür vorgesehenen Halter steckte, die Hand. Merles Nervosität ließ auch nach den ersten Sätzen mit der Ladeninhaberin nicht nach, und war bis zur Mittagszeit so deutlich spürbar, dass die junge Frau einfach nicht den Eindruck hinterließ, den sie gern hinterlassen hätte. Krampfhaft versuchte sie alles richtig zu machen und brauchte in ihrer Unsicherheit selbst für die einfachsten Aufgaben die doppelte Zeit. Und das, obwohl sie schon ein paar Jahre Berufserfahrung hatte.

Der Laden war mit seinem kleinen Lager schnell gezeigt, Inhalte, Gepflogenheiten und kommunikative Stolperfallen zügig erklärt, sodass Merle recht umgehend einsteigen konnte. Bis Mittag war es ihre Aufgabe, sich neben dem Einsortieren neuer Ware auch einen Eindruck zu verschaffen, wie es hier ablief.

Kunden waren praktisch immer da. Und ziemlich oft mussten sie, weil sie von fern nach Goslar gekommen waren, auf Englisch bedient werden. Kein Problem für Frau Ehwelt, die diese Sprache fließend beherrschte. Merle, die jedes der geführten Gespräche im Geist auf Englisch mit verfolgte und darüber nachsann, mit welchen Worten sie selbst auf diese oder jene Frage reagiert hätte, war schockiert davon, wie oft sie praktisch auf dem Schlauch stand. Frau Ehwelt würde sie schneller rausschmeißen, als die Kirchenglocken Feierabend schlagen würden.

Pünktlich zu Mittag verabschiedete sich ihre Chefin vorerst, nicht ohne ein kurzes Gespräch mit ihr zu suchen.

„Frau Hagedorn, für den ersten Tag schlagen Sie sich… nun ja…“

Hundserbärmlich, setzte Merle in Gedanken hinzu und sah verlegen auf ihre Schuhspitzen.

„Ich muss für einige Stunden weg und bitte Sie, mich würdig zu vertreten. Gegen vier Uhr sollte ich wieder zurück sein. Dann können wir Ihre Aufgaben, Fragen und Anliegen noch einmal im Einzelnen durchgehen, bevor wir dann gemeinsam abschließen. Trauen Sie sich zu, den Mittagsandrang zu bewältigen?“ Ihr Blick war prüfend und scharf.

Merle nickte langsam.

„Gut“, schloss Frau Ehwelt und lächelte warm. „Sie geben Ihr Bestes.“ Die Frau war eindeutig sympathisch, aber keine Närrin. Spätestens morgen würde Merle sich nach einem neuen Job und vor allem in einer ruhigeren Gegend als der viel besuchten Altstadt umsehen müssen.

An der Tür blieb Frau Ehwelt stehen. „Ich habe Ihnen einen Kaffee gemacht. Schließlich haben Sie bis eben nicht einen Schluck getrunken. Mit Milch und Zucker. Ich hoffe, Sie mögen das.“ Dann war sie auch schon in den Regen getreten, den Kopf unter dem violetten Schirm voll goldener Sternsilhouetten verborgen. Merle versuchte, nicht zu zerknautscht auszusehen. Sie seufzte, sammelte sich und ging zu einem der Regale, dessen oberstes Brett noch umzusortieren war. Wie schön die Eulenbuchstützen waren. Behutsam stellte sie eine auf den Tisch und begann die Bücher, die Sagen und Mythen des Harzes zum Thema hatten, Rücken an Rücken nebeneinanderzustellen. Flüchtig überflog sie die Buchtitel oder einzelne Klappentexte. Einige waren reißerisch aufgemacht und provokant betitelt, die meisten jedoch schienen hochwertig und liebevoll illustriert und recherchiert. Sogar zwei Schätze waren darunter, die Merle sich wirklich für eine eigene Lektüre merken wollte. Neugierig schlug sie eines davon auf, um Inhalt, Überschriften und Illustrationen anzusehen, während sie mit der anderen Hand Buch um Buch einsortierte, bis es krachte. Die Türglocke ging in dem Poltern, mit dem die drei Bücher am anderen Ende des Regalbrettes über die Kante stürzten, beinah unter. Beim Versuch irgendwas aufzufangen glitt ihr jenes, dass sie noch aufgeschlagen in den Händen hatte, ebenfalls aus den Fingern.

Entsetzt fuhr Merle zu dem Kunden herum und versuchte nicht ganz so ertappt drein zu blicken. Der Kunde war eine junge Frau, vielleicht nur einige Jahre älter als Merle selbst, die ihr aus strahlenden hellbraunen Augen schalkhaft entgegenblickte.

„Huch, haben die Hexenbücher heute wieder ein Eigenleben?“, fragte sie mit längerem Blick auf die Titel derer, die so unelegant zu Boden gestürzt waren.

„Ja, hier im Harz fliegen selbst die Hexenbücher.“, versuchte Merle locker zu entgegnen und ein fröhliches Lächeln aufzusetzen, das ihr selbst fratzenhaft wie eine Grimasse vorkam. „Oder aber der Kobold am Tresen hat die Buchstütze vergessen.“

„Kobold, hmm?“ Die Kundin grinste noch breiter. „Das glaube ich weniger. Schließlich habe ich einen im Kräutertopf und weiß, wie die aussehen.“ Mit ihren blassen Fingern zupfte sie sich am wilden fuchsroten Haar, bis die Tropfen auf ihren tannengrünen Schal perlten. „Vielleicht war ja einfach zu viel Magie am Werk.“

„Natürlich, im Harz ist auch jede Frau eine Hexe.“ Merle wusste, dass die Touristen das gern hörten. Schließlich konnten sie mit so einem kleinen Spruch schon ein Stück Harzer Magie an sich selbst, ihrer Ehefrau, Mutter oder Tochter mit nach Hause nehmen. Die Kundin aber lächelte säuerlich.

„Und in Norwegen ist jeder Mann ein Troll? Na ich weiß ja nicht.“

Merle wandte verlegen den Blick ab. Schon wieder war sie ins Fettnäpfchen gesprungen, mit beiden Füßen weit hinein. Wie von allein begannen ihre Hände, die Bücher vom Boden zu sammeln und sie gedankenverloren auf den Verkaufstisch neben die Kasse zu stapeln.

„Hey, du musst neu hier sein. Ich bin Esther, von da drüben.“ Die Frau zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter aus der Glastür heraus. „Esther Feuerstein. Und ich arbeite im Café Mondscheingesüßt dort, auf der anderen Seite des Schuhhofs, du weißt schon, in dem schmalen Haus mit dem grünen Fachwerk und den bunt bemalten Fratzen in den Gefachen.“

Merle zuckte mit den Schultern. „Ich wohne erst seit einigen Tagen in Goslar und habe noch nicht so viel Überblick in der Stadt.“

„Na, dann lass dir gesagt sein, dass mein Café ein echter Geheimtipp ist, auch für Einheimische.“ Esther zwinkerte frech. „Und du bist?“

„Merle Hagedorn.“

„Hocherfreut.“ Esther beobachtete amüsiert, wie Merle einen Schluck von ihrem Kaffee nahm und ein Schütteln zu unterdrücken versuchte. Kalt und voll Milch war das Gebräu so gar nicht ihr Ding. „Du kannst dann jederzeit bei mir im Café vorbeikommen und einen heißen Kaffee bekommen, in Bio-Qualität und mit Gewürzen, wenn du magst.“

„Das ist lieb, danke.“ Merle wurde verlegen.

„Also, ein Buch sollte heute hier für mich ankommen.“

Merle wandte sich zum dafür vorgesehenen Fach und fischte in dickes Buch heraus, das durch einen kleinen Zettel mit dem entsprechenden Nachnamen markiert war. Ein flüchtiger Blick zeigte ihr, dass es großformatig und in beeindruckendem Umfang mit neuen und traditionelle Rezepten ums Backen mit alten Gewürzen und deren Wirkung auf Körper und Seele vollgestopft war. Ein Muss für jede Naschkatze.

„Für neue Anregungen. Nicht, dass mein Kopf nicht schon längst voll von eigenen Ideen wäre. Aber man muss eben am Ball bleiben. Und bei uns gibt es zwar die Klassiker, aber eben auch ganz viel ausgefallene Kuchen und Torten. Jeder Gast kann sich seine heiße Schokolade nach ganz individuellem Geschmack bestellen. Gewürze und Kräuter sind mein Steckenpferd.“

Merle nickte. Das klang wirklich interessant.

„Und was ist das da?“ Während sie sich ihren Schal lupfte, sah Esther fragend auf das Buch herab, das Merle vorhin erst selbst in den Händen gehalten hatte. Merle, die gerade in ihre Kasse tippte, um das Buch abzuziehen, hielt inne.

„Das? Sehr empfehlenswert, würde ich sagen.“

„Dann nehme ich das auch noch mit.“

Merle nickte und hob das Buch auf, um den Preis einzutippen, streifte die Kaffeetasse mit dem Handrücken, sodass diese plötzlich auf den Tisch knallte. Braune Brühe ergoss sich kalt über ein Stück Tischablage, bevor sie über die Kante schwappte und am Holz entlang in die Tiefe lief. Merle zuckte zusammen und begann hektisch nach irgendwas Brauchbarem zu suchen, um es aufzuwischen. Esther hingegen hatte bereits schnell aber entspannt einen Wall aus drei Taschentüchern so auf der Ablage aufgetürmt, dass wenigstens die Bücher vorerst im Trockenen und in Sicherheit vor diesem grässlichen kalten Kaffee blieben.

„Nicht dein Tag heute, was?“, fragte Esther und half Merle den Schaden erst einmal wenigstens oberflächlich zu beseitigen.

„Tag? Bei mir läuft das immer so“, niedergeschlagen zog Merle die Schultern hoch. „Normalerweise hält es sich ja in Grenzen, aber wenn ich nervös bin, wird es schlimmer.“

„Und wenn es ganz schlimm wird, kommst du auf eine heiße weiße Schokolade mit Vanille und Lavendel vorbei. Das hilft.“

Merle seufzte „Ja. Aber nur, wenn Frau Ehwelt mir nicht schon heute Abend wieder gekündigt hat.“

Aufgeregt zuckte die schwarze Nase über dem Boden, als Burgwart an Pflastersteinen und Blättern schnüffelte. Die ganzen Katzen dieser Gegend machten den großen schwarzen Neufundländer nervös, vor allem, wenn sie durch sein Revier streiften, was sie hier „An der Abzucht“ gerne taten. Ulrik Lohgerber beobachtete seinen Hund nur mit halbem Interesse. Gedanklich war er nämlich bereits dabei, die neuen Ergebnisse der Sichtungen aus der Tabelle in sein Dokument am Computer einzutragen und schließlich den längst überfälligen Bericht zu verfassen. An der Tür zu Wiedehopfs Haus schnüffelte der Hund besonders hingebungsvoll, sodass Ulrik ihn schon fast von dem fremden Hauseingang wegzerren musste, wollte er über die schmale Brücke in das gegenüberliegende Haus, in dem er zur Miete wohnte, treten. Höchst widerwillig ließ Burgwart sich wegziehen. Genauso schnell hatte er seinen Widerwillen aber auch vergessen, als er Franzi aus dem gleichen Haus treten und auf die schmale Holzbrücke auf sie zukommen sah.

„Hey, mein Großer“, rief sie und sprang die Bewegungen nachahmend auf den Hund zu. „Hallo Ulrik“, grüßte sie ihn nebenbei, während sie ihre Hände in dem dichten schwarzen Fell am Hals vergraben hatte. „Ich wollte mir gerade etwas zu Essen holen und mein Programm für Morgen durchgehen. Kommst du mit? Oder ist dir eher nach einem Bier in der Kneipe?“

Seine Nachbarin und ehemalige Fachkommilitonin war direkt und gerade heraus und eine gute Naturparkführerin. In ihrem Biologiestudium hatten sie einige sehr spannende Begehungen des großen sehenswerten Gebietes gemacht und sich einige Stunden in der Wildnis um die Ohren geschlagen. Es war kein Zufall, dass Franziska Hoffmann mit ihm im gleichen Haus wohnte, denn sie hatte ihm die vor einigen Jahren plötzlich frei gewordene Wohnung vermittelt und ihren Vermieter ziemlich überreden müssen, den damals völlig mittellosen Ulrik aufzunehmen. Ab und zu liefen sie sich jetzt über den Weg, tranken mal ein Bier zusammen, diskutierten über den Nationalpark und führten Fachgespräche. Franzi war groß, schlank und hatte braune zottelige Haare, die ihr irgendwo zwischen kurz und mittellang auf den Nacken fielen. Ihre Kleidung war derb und den Witterungen der Wildnis, in der sie arbeitete, entsprechend. Und sie war sein bester Kumpel.

„Ich habe noch zu tun“, sagte er und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Klar, dann kommst du einfach nach, wenn du fertig bist.“ Ihr Blick flog von Burgwart zu dem Haus gegenüber. „Na, hat mein Großer schon Witterung aufgenommen?“ Sie sah Ulrik offen an. „Heute Morgen habe ich die jüngere Frau Wiedehopf getroffen, und die erzähle mir frei heraus, dass sie eine neue Mieterin haben. Sie schien mir ganz angetan von dem „Mädchen“.“

Ulrik sagte nichts. Nachbarklatsch war nicht seine Welt.

„Da, ich glaube, dort kommt sie gerade.“ Franzi erhob sich und sah neugierig zu der Gestalt, die sich halb unter den Regenschirm gebückt vom Museum her näherte. Krampfhaft hielt sich die junge Frau am Regenschirm fest, der sich im pfeifenden Wind selbstständig machen wollte, während sie auch zwei Einkaufstüten unter ihre Arme geklemmt hatte. Außerdem hielt sie einen Kaffeebecher und ein Buch in ihren Händen. Eine rote Katze folgte ihr in einiger Entfernung, aufdringlich genug, dass sie immer wieder stehen blieb und sich nervös nach dem Tier umsah. Als sie näher herankam und sich erneut nach der Katze, die jetzt vor Burgwart zurückscheute und sich in sichere Entfernung verzog, umdrehte, landete sie mit beiden Füßen in einer Pfütze. Wasser spritzte empor und traf auf das raschelnde Papier, das es sofort durchweichte. Jetzt hörten sie die Frau niedergeschlagen murmeln. Ihre Füße waren nass, soviel war sicher. Und auch sonst hinterließ sie einen elenden Eindruck, wie sie da so grau und im eisigen Wind zitternd in der Pfütze stand, während es ihr pfeifend den Schirm umdrehte. Widerspenstig quollen ihre schwarzen Haare aus dem Zopfband hervor und flatterten vor dem Gesicht, sodass sie mehr als zwei Hände brauchte, wollte sie nicht, dass sich die gekaufte Ware schon vor ihrer Tür aus den nassen Tüten stahl.

„Du meine Güte.“, murmelte Franzi neben ihm. Ulrik lächelte freundlich, als die neue Nachbarin in ihre Richtung sah, rot anlief und sich sofort wieder wegdrehte. Hastig versuchte sie nach ihrem Haustürschlüssel in der Hosentasche zu fischen, während ihr nicht nur die Einkäufe, sondern auch der zwischen Kinn und Schulter eingeklemmte Schirm abzuhauen drohten. „Ein kleines Häufchen Elend.“ Er hörte, wie bei Franzi der Beschützerinstinkt erwachte. „Halt Burgwart fest, sonst mischt der Gute sich auch noch ein, sodass sie am Ende dreimal von der Leine umwickelt zu gar nichts mehr kommt. Außerdem ist diese Katze immer noch da.“

Ulrik nickte. Er hätte der neuen Nachbarin zu gern den Schirm gehalten, wusste aber, wie freudig sein Hund an Leuten, die ihm sympathisch waren, hochspringen konnte. Und das wollte er ihr ersparen.

„Na, dann bring euch beide mal ins Trockene.“, Franzi strich Burgwart zwischen den Ohren und winkte lässig. „Und ich sehe, was ich für das Mädchen dort tun kann, bevor es noch elender für sie wird und sie sich vor uns gar nicht mehr auf die Straße traut.“ Dann war sie auch schon über die Brücke und vor dem Nachbarhaus, wo ihnen auch die jüngere Frau Wiedehopf von der Tür aus zu Hilfe kam.

Peinlich berührt zog die junge Frau, Merle Hagedorn, wie er sie sich Franzi vorstellen hörte, den Kopf noch weiter zwischen die Schultern. Dann trat er durch die Tür, um den halb durchweichten Burgwart endlich aus dem Regen zu ziehen und der jungen Frau nicht das Gefühl zu geben, dass er sie, von ihrem Elend gut unterhalten, begaffte.

Sacht aber stetig trommelten die Regentropfen gegen das Fenster, während der Wind nach wie vor heulend um die Ecken zog. Merle schauderte unter ihrer warmen Bettdecke, die sie sich bäuchlings auf ihrem Bett liegend, um den durchgefrorenen Körper geschlungen hatte. Der deftige Eintopf, den Adele ihr in unbezwingbarer Menge vorgesetzt hatte, hatte wirklich ihr Inneres gewärmt. Und nach einem Tag wie heute war die Fürsorge und das Abendessen mit den Tanten wirklich Balsam für die Seele. Jetzt genoss sie die Wärme ihrer weichen Daunendecke, die ihr endlich auch bis hinunter in die eisigen Zehen kroch und sie wie ein schützender Mantel umgab. Die kleine Nachttischlampe, die auf dem Boden gleich neben dem niedrigen Bett stand, warf ihr spärliches warmes Licht in den kleinen Raum, den sie hier unter dem Dach bewohnte. Das freiliegende Gebälk nutzte sie als Regale, den früheren Nachttisch als Ablage für ihre kleine tragbare Kochplatte, denn sie wollte nicht immer unten kochen und den beiden Schwestern Wiedehopf Umstände bereiten. An die Holzbalken gelehnt stapelten sich Bücher und noch zur Hälfte beladene Umzugskartons. Ansonsten konnte sie noch einen runden Rattansessel ihr Eigen nennen, sowie einen Schreibtisch, ein niedriges Schränkchen und zwei Stühle.

Die Worte, die sie las, wollten sich einfach nicht greifen lassen, sondern rieselten durch ihre ratternden Gedanken wie Sand. Also klappte sie das Buch über die Sagen und Mythen des Harzes, das sie im Buchladen gekauft hatte, zu und schob es zu den anderen. Die Ereignisse an diesem ersten Arbeitstag waren noch so präsent, dass sie sich auf nichts anderes konzentrieren konnte.

Frau Ehwelt hatte ihr nicht gekündigt, aber Merle ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit war, wenn sie weiterhin solche Leistungen erbrachte. Einige Kunden waren schwierig gewesen, da sie immer nur die Dinge aus dem Schaufenster hatten ansehen wollen, obwohl sie die auch noch in vielfältiger Ausführung in den Regalen hatten. Ihre beiden kleinen Unfälle hatte Merle vor ihrer Chefin nicht mehr angesprochen, und war froh, dass sie schließlich trotz gebrochenen Englisch und unzureichender Erklärung bei wirklich kniffligen Fragen, einige Sachen verkauft hatte. Die Schwestern Wiedehopf waren großartig, wenn auch etwas anstrengend, da sie sich scheinbar auf die Fahne geschrieben hatten, Merle etwas aufzupäppeln. Ihr Plan sah vor, ab jetzt immer für sie mitzukochen, was sie in den Zwang versetzte, sehr pünktlich Schluss zu machen und ohne Umwege direkt zu ihrem Haus zu eilen. Morgen, so hatte sie sich vorgenommen, wollte sie den Beiden eine Kleinigkeit aus der Stadt mitbringen, als kleines Dankeschön für den herzlichen Empfang. Einer der wenigen Lichtblicke an diesem Tag war Esther, die Merle wirklich mochte. Sie hoffte, dass der Eindruck, den sie bei der Frau hinterlassen hatte, nicht zu schlimm war. Viel schlimmer war das, was ihre Nachbarn von ihr denken mussten, nachdem sie Merle heute in völligem Durcheinander und in totaler Auflösung erlebt hatten. Franziska Hoffmann schien ganz nett zu sein, sehr zupackend, wie sie Merle die Einkaufstüten abgenommen und gewartet hatte, dass Adele sie entgegen nahm, nachdem ihre Schwester Merle bereits den Schirm entwendet und das Buch vor dem Regen in Sicherheit gebracht hatte. Das Mitleid in Franziskas Blick hatte sich tief in Merles Verstand gegraben. So etwas wollte sie in fremden Augen nicht sehen. Was der Kerl von gegenüber dachte, der sie erst so warm angelächelt und sich dann so schnell verzogen hatte, konnte sie nur vermuten. Aber eigentlich war es besser, dass er in dem Chaos, das so plötzlich um ihre graue unscheinbare Person betrieben worden war, nicht auch noch mitgemischt hatte. Und sein großer, wenn auch – zumindest auf den ersten Blick – freundlicher Hund war Merle auch nicht so ganz geheuer. Auch in seinen Augen glaubte sie, diesen Ausdruck gesehen zu haben. Und das, obwohl sie sich so sehr wünschte, ein nettes Verhältnis zu ihren Nachbarn zu haben.

Franziska hatte sie abends noch auf ein Bier in die Kneipe eingeladen, damit sie ihr näheres Umfeld, mit dem sie sich und Ulrik – ihren Nachbar? – meinte, schon einmal kennenlernen konnte. Merle hatte es abgesagt, ohne überhaupt einmal darüber nachzudenken. Es war ihr so peinlich den beiden noch einmal gegenüberzutreten, dass sie sich vornahm, ihnen ab jetzt ein bisschen aus dem Weg zu gehen.

Sie seufzte und vergrub ihr Gesicht im Kissen, als das Kreischen von draußen an ihre Ohren drang. Gequält hob sie den Kopf und spähte über den Rand des kupferfarben karierten Bezuges hinweg aus dem Fenster. Undeutlich war ein schwarzer Schemen hinter der Glasscheibe zu erkennen, der sich kaum vom tiefen Graublau des Nachthimmels abhob. Grüne Augen starrten ins Innere des Dachgeschosses, geradewegs auf Merles Gesicht gerichtet. Sie schauderte.

„Nicht du schon wieder“, flüsterte sie halb in ihr Kissen. „Schwarze Katzen bringen Unglück. Und bei mir läuft es zurzeit nicht sehr gut. Glaubst du also, ich kann noch mehr davon gebrauchen?“

Der Schemen rührte sich nicht, sondern fixierte sie weiter mit schräg gelegtem Kopf. Er starrte ihr bis auf die Tiefen ihrer Seele, tastete sie mit seinem grünen Blick ab, bis ihm nichts mehr verborgen blieb.

Endlich konnte Merle sich rühren.