Kaya - frei und stark: Kaya 4-6 (Sammelband zum Sonderpreis) - Gaby Hauptmann - E-Book

Kaya - frei und stark: Kaya 4-6 (Sammelband zum Sonderpreis) E-Book

Gaby Hauptmann

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Beschreibung

Band 4: Eingepackt wie ein Geschenk steht plötzlich ein fremdes Pferd im Stall. Die edle Stute gehört Laras Tante, die über die einfachen Verhältnisse im Stall die Nase rümpft. Ihr Pferd soll sich nicht verletzen – daher die "Schutzkleidung" – , keinen Kontakt mit anderen Pferden haben und auch sonst nichts tun, was Spaß macht. Kaya und ihre Freundinnen haben Mitleid und führen die Stute eines Tages heimlich auf die Weide. Was aber keine von ihnen bemerkt: Der Hengst Brioso reißt den Trennungszaun zwischen den Koppeln ein ... Band 5: »German Friendship« ist das Reit-Turnier, zu dem Jugendliche aus aller Welt anreisen. Die deutschen Reiter stellen ihren Gästen die Pferde vor, um anschließend internationale Teams zu bilden. Chris wird mit seinen Ponys dort starten und Kaya ist überglücklich: Sie darf zu seiner Unterstützung mit - zusammen mit ihrem Pferd Sir Whitefoot. Als dann aber die Team-Partner ausgelost werden und Chris eine rassige Brasilianerin bekommt, ist Kaya sauer. Nur weil die ordentlich mit dem Po wackeln kann, muss er Kaya noch lange nicht wie seinen Turniertrottel behandeln. Das soll Liebe sein? Band 6: Kaya hat Geburtstag und veranstaltet im Restaurant ihrer Eltern eine wilde Küchenparty. Die Familie von Jo kommt nun definitiv auch in die Nähe, und Kaya möchte sie mit ihrem Pony Andy gern zu Claudia in den Stall bringen. Es fehlt für Andy, der ja immerhin Deutscher Meister in der Pony-Vielseitgkeit ist, aber an richtigen Trainingsmöglichkeiten im Gelände und deshalb lassen sich Kaya und ihre Freundinnen allerhand einfallen. Es wird turbulent, und dann ist da ja auch noch Chris, der in Jo vor allem eine Reit-Konkurrentin sieht.

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Für Claudia,

die es wirklich gibt :–)

»Pferde haben immer sehr viel mehr kapiert,

als sie sich anmerken ließen.«

Douglas Adams

Kaya hielt zwei rote Christbaumkugeln in der Hand. Sie war unentschlossen. Wohin damit?

Sie trat zwei Schritte zurück, um ihr Werk zu begutachten. So ganz toll sah der Baum nicht aus, unten war er viel zu buschig, da passte kaum eine Kugel zwischen die Zweige, und oben war er ziemlich kahl. Sie hatten sich mal wieder viel zu spät gekümmert und das war das beste Stück, das noch zu haben war. Um genau zu sein, war es das letzte Bäumchen, das auf dem großen, leeren Platz, der zwei Wochen zuvor noch völlig überfüllt war, einsam und verlassen dastand.

Was soll’s, dachte Kaya, auch ein hässlicher Christbaum hat ein Recht darauf, geliebt zu werden. Er kann schließlich nichts dafür.

Trotzdem wusste sie noch immer nicht, wohin mit den beiden Kugeln. Unten konnte sie nichts mehr dazwischenquetschen, außerdem mussten die Kerzen ja auch noch einen Platz finden.

»Wie sieht denn der aus …!«

Ihre Schwester. Das war typisch. Nichts zum Werk beitragen, aber meckern.

»Wie wohl«, sagte Kaya, ohne sich nach Alexa umzudrehen. »Ich würde mal sagen, wie ein Christbaum halt aussieht!«

»Von der Heilsarmee. Oder was? Wollen wir heute unter der Brücke feiern?«

»Arrogante Nuss!«

Jetzt drehte sich Kaya doch um. Alexa stand in der Türe, die Arme verschränkt. Sie machte sich erst gar nicht die Mühe, näher zu kommen. »Wo sind Mama und Papa?«, fragte sie stattdessen.

»Noch unterwegs, das Reh für heute Abend fangen!«

Alexa verzog das Gesicht. »Reh esse ich nicht!«

»Ja, glaubst du, so ein Kälbchen stirbt lieber?«

Jetzt trat Alexa doch heran. Sie nahm Kaya eine Kugel aus der Hand und hängte sie oben in die Spitze. Mit ihren 17 Jahren war Alexa die entscheidenden Zentimeter größer als Kaya, die ja erst im Juni 14 wurde.

»Da muss der Wachsengel hin«, wandte Kaya ein. »Es ist die völlig falsche Stelle für eine Kugel!«

»Na gut, dann hol sie halt wieder runter!« Alexa sprach’s und ging.

Der Teufel hol ältere Schwestern, dachte Kaya und schaute zur Tannenspitze hoch. Wie sollte sie jetzt dort hinaufkommen?

Stunden später zog Bratenduft durch das Haus. Das roch so verlockend, dass Kaya ihre Zimmertüre offen ließ. Ihr Vater kochte. Das tat er eigentlich nur an Weihnachten, weil er nebenan in ihrem Restaurant ständig kochen musste. Weihnachten aber war ein Fest, da konnte man sich als völlig normale Familie fühlen. Alle waren zu Hause, es gab kein ständiges Hin- und Herrennen zwischen Restaurant und Wohnung, man musste die Eltern nicht ständig suchen, wenn man mal was wollte, und man bekam auch nicht dauernd die Auskunft: »Tut mir Leid, keine Zeit!« Über die Feiertage hatten die Birks ihr Restaurant Zum Landsknecht nämlich geschlossen und das war das größte Geschenk, das sich Kayas Eltern jährlich machten: keinen anderen Menschen sehen zu müssen.

Aber in diesem Jahr kam noch etwas anderes dazu. Kaya saß in ihrem Zimmer und betrachtete immer wieder all die Fotos, die sie an die Wand gepinnt hatte. Es waren nicht nur geglückte Aufnahmen – auf einer war der Kopf viel zu groß, da sah er fast aus wie eine Kuh, auf einem anderen war das Hinterteil zu dicht an die Kamera geraten, aber Kaya liebte sie alle, denn die Bilder zeigten doch irgendwie alle dasselbe: Sir Whitefoot, ein abgezehrtes Pony mit vier weißen Beinen, das ihre Eltern beim Weihnachtsreiten in einer spontanen Aktion gekauft und ihr zu Weihnachten geschenkt hatten. Noch immer lief es Kaya eiskalt über den Rücken, wenn sie daran dachte. Sie hatten fünf freilaufende Pferde eingefangen, die nachts auf der Landstraße herumirrten. Die Tiere waren völlig abgemagert und verwahrlost und ein Besitzer hatte sich nicht gemeldet. Das Fuchspony, das sie Sir Whitefoot genannt hatte, weil es so schön weiß gestiefelt war, hatte sie von der ersten Minute der nächtlichen Begegnung an ganz fest in ihr Herz geschlossen. Ach, wenn es doch nur …, aber sie hatte gewusst, dass ihre Eltern kein Geld hatten. Sie hatten erst vor kurzem ihr Haus umgebaut und schufteten Tag und Nacht in ihrem Restaurant, um die Bankschulden abzubezahlen. Und trotzdem hatten sie, als Kaya und ihre Freundinnen während der Weihnachtsfeier für die fünf verwaisten Pferde einen neuen Besitzer suchten, in der festlich geschmückten Reithalle nach dem Mikrofon verlangt – und was Kaya da zu hören bekam, würde sie nie mehr vergessen können. Klar und deutlich hatte sie die Stimme ihres Vaters vernommen: »Meine Frau und ich möchten unserer Tochter Kaya das Pony schenken, das sie gerettet hat, ihren Sir Whitefoot. Wir lieben sie sehr und jetzt kann sie diese Liebe weitergeben!« Das war der schönste Moment in ihrem ganzen Leben.

Kaya drückte einem der Fotos einen Kuss auf und ordnete dann noch einmal schnell ihre Geschenke, die sie liebevoll eingepackt hinter sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Normalerweise war sie nicht die große Künstlerin, was Geschenke anging, aber in diesem Jahr hatte sie sich besonders viel Mühe gegeben, schließlich war es auch ein besonderes Fest.

Das helle Glöckchen hätte sie fast überhört. Aber Alexa, die ihr Zimmer auf dem langen Gang vor ihr hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass da etwas passierte. Ihre Tür schlug so laut zu, dass auch der letzte Träumer davon wach geworden wäre. Kaya schreckte jedenfalls hoch und griff nach ihren Geschenken. Viel war es nicht, schließlich hatte sie ja auch kein Geld. Für ihren Vater hatte sie auf dem Weihnachtsmarkt einen Zeitungsständer aus geflochtenem Bast gekauft. Das Besondere an ihm war, dass er knallrot war – so passte er zu dem Lieblingssessel, in dem ihr Vater meist seine freie Zeit verbrachte und die Zeitschrift GEO las. Und ihre Mutter konnte sich ebenfalls freuen – endlich würden die Hefte nicht mehr auf dem Boden um den Sessel herumliegen. Damit hatte sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

Ihrer Mutter hatte sie ein Duschgel besorgt, es war genau deren Parfümmarke und in einer Aktion des Drogeriemarktes zu einem noch bezahlbaren Preis zu haben. Und für Alexa? Sie hatte lange überlegt, aber es waren ihr immer nur boshafte Sachen eingefallen. Bücher mit einem entsprechenden Titel, oder einen rosa Lippenstift, wo Alexa doch rosa hasste, oder die DVD Zickenkrieg.

Dann hatte sie sich aber wieder darauf besonnen, dass es ja das Fest der Liebe sein sollte, und so kaufte sie die neue CD ihrer Lieblingsgruppe. Das hatte den Vorteil, dass sie die gleich für sich selbst kopieren konnte.

Alexa stand an der Wohnzimmertür und wartete auf sie. Komisch, dass dieser Moment direkt vor der Bescherung jedes Mal aufs Neue schön und spannend war.

»Na, Kleine, bereit?«, fragte sie und bevor sie sich über das Kleine ärgerte, dachte Kaya: Es ist das Fest der Liebe, also nickte sie bloß lächelnd.

Alexa lächelte ihr ebenfalls zu und drückte die Türklinke herunter. Gemeinsam traten sie ein. Der ganze große Raum lag im Dunkeln, nur der Christbaum strahlte mit den Eltern, die davor standen, um die Wette. Die Kerzen brannten, die Kugeln glitzerten und das alles zusammen mit dem üppigen, goldenen Lametta machte aus dem Kümmerbäumchen einen strahlenden, wunderschönen Christbaum. Karin und Harry hatten beide ein Sektglas in der Hand und stießen jetzt miteinander an. Vor dem Tannenbaum lagen zwei kleine Geschenke, das sah für ein Weihnachtsfest zwar etwas mager aus, aber Kaya hatte Sir Whitefoot nicht mit herbringen dürfen, obwohl sie es gern getan hätte. »Unter den Weihnachtsbaum, spinnst du?«, hatte Alexa sie ungläubig gefragt, doch Kaya war überzeugt gewesen, dass ihr Pony ohne Weiteres in das Wohnzimmer marschiert wäre. Dreamy, das Pony, das sie zwischendurch noch ritt, hatte das ja auch schon ohne Zögern gemacht. Damals waren sie vor einem schweren Gewitter mit Hagel geflohen und in einem Wintergarten gelandet.1

»Frohe Weihnachten!«, riefen ihre Eltern und kamen auf sie zu. Beide hatten sich festlich gekleidet. Harry, der Anzüge und Krawatten hasste, hatte immerhin ein Jackett zur dunkelgrauen Hose an und Karin trug ein Cocktailkleid mit tiefem Ausschnitt. Kein Wunder, dass ihr Vater so erfreut aussah, dachte Kaya, ihre Mutter präsentierte ihre Vorzüge aber auch ganz schön scharf.

»Frohe Weihnachten«, rief Kaya nun ebenfalls, legte aber zunächst mal ihre Geschenke zu den beiden anderen unter den Baum. Das sind ja wirklich winzige Päckchen, dachte sie dabei. Gibt es denn keine Tanten und Onkel mehr, die noch etwas hätten schicken können? Ein Brief fiel ihr auf, der an einen tief hängenden Tannenzweig gelehnt war. Neben ihr ging Alexa in die Hocke. Sie legte drei Geschenke ab, denen unschwer anzusehen war, dass sie eben noch in eiliger Hast zusammengeschnürt worden waren. Na, was soll’s, dachte Kaya, wenigstens hat sie was.

»Stille Nacht«, stimmte ihre Mutter an und wie jedes Jahr retteten sie sich dilettantisch über drei Weihnachtslieder hinweg, was trotzdem immer irgendwie witzig war. Ihre Mutter konnte die Texte zwar, dafür aber die Tonlage nicht halten. Ihr Vater sang ganz gut, konnte die Texte aber nicht. Alexa flötete mit, hatte aber schon seit Jahren den Ausdruck im Gesicht, als ob dieses Geträller irgendwie peinlich sei, und sie, Kaya, versuchte sich mit der zweiten Stimme, was auch nicht immer gelang.

»Noch eines?«, fragte Karin danach und wie jedes Jahr schüttelte Harry den Kopf: »Dann verschmort meine Gans!«

Kaya warf einen schnellen Blick zu dem festlich gedeckten Tisch. Ja, Appetit hatte sie auch schon. Aber weitaus wichtiger war das Auspacken der Geschenke.

»So, meine Kleine«, bei ihrem Vater hörte sich das wenigstens nicht so herablassend an wie bei ihrer Schwester, »dein Hauptgeschenk hast du ja schon, das hier ist nun die Bestätigung, dass er wirklich dir gehört.«

Er bückte sich und gab ihr das eine Geschenk. Es war der Pferdepass. Ihre Eltern hatten ihr Pony bei der Reiterlichen Vereinigung eintragen lassen, jetzt konnte sie auf Turniere gehen – falls Sir Whitefoot dafür überhaupt tauglich war, sie hatte ihn bisher ja noch nicht einmal geritten.

Aber die Freude und das Glück schwappten sofort wieder hoch und sie fiel beiden um den Hals. Das andere Geschenk war ein Flugticket für Alexa. Ein Wochenende in London, mit Übernachtung. Das war wirklich ein starkes Geschenk. Kaya staunte und Alexa freute sich ehrlich. Und der Brief? Onkel Kurt, bei dem Alexa ein Jahr lang gewesen war und dessen Pferde sie beritten hatte, lud die Schwester für die kommenden Sommerferien ein. Falls sie Lust hätte …

»Klar hab ich Lust«, lachte Alexa und es war ihr anzusehen, dass sie an Chicolo dachte, den Hengst, mit dem sie so erfolgreich auf Turnieren gestartet war.

»Pferde, Pferde, Pferde«, sagte Harry und schüttelte den Kopf. »Ein Angler oder Jäger in der Familie wäre praktischer!«

»Ach, du!« Karin gab ihm einen Kuss.

»Und was schenkt ihr euch?«, wollte Kaya wissen.

»Eine Liebesnacht?«, fragte Harry schelmisch, wurde dafür aber von seiner Frau am Ohr gezupft.

»Wir haben doch alles«, antwortete Karin und zuckte die Schultern. Es war klar, dass sie sich nichts schenken wollten, weil sie genug Geld für ihre Kinder ausgegeben hatten. Kaya bückte sich schnell und gab ihnen ihre Geschenke. »Ich hoffe, es gefällt euch!«

Sie freuten sich beide, und ohne sich abgestimmt zu haben, hatte Alexa ähnliche Ideen gehabt. Ihrem Vater schenkte sie ein Jahresabo für GEO und ihrer Mutter die Körperlotion zu ihrer Parfümserie. Zu Kayas CD sagte sie: »Super, hab ich schon«, fügte aber, als sie Kayas enttäuschten Gesichtsausdruck sah, schnell hinzu: »Macht nichts, kann ich umtauschen.«

Und Kaya freute sich wirklich. In dem verknuddelten roten Geschenkpapier mit der dreifach verknoteten Schleife fand sie nagelneue, hellbraune Reithandschuhe aus feinstem Leder. Optisch genau zu Sir Whitefoots Fell passend.

»Oh, Alexa!«, hauchte Kaya. »Vielen, vielen Dank!«

Sie liebte ihre Schwester. Wirklich!

Ein strahlend sonniger Wintertag begrüßte Kaya, als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug. Ein Wunder, dass sie überhaupt hatte schlafen können, so sehr brannte sie darauf, endlich in den Stall zu kommen. Für heute hatte ihr Claudia den ersten Reitversuch auf Sir Whitefoot versprochen. Kaya sprang aus ihrem Bett und lief ans Fenster. Der erste Eindruck täuschte nicht: Sonne und wolkenloser Himmel – und noch besser, es hatte über Nacht geschneit. Der Garten und die Wiesen drumherum waren weiß, der Jägerzaun trug lustige, weiße Hütchen und auf den Ästen der Bäume lag zentimeterhoch weicher, flaumiger Schnee. Einige Vögel suchten nach Fressen und Kaya nahm sich vor, noch vor dem Frühstück das Vogelhäuschen aufzustellen. Sonnenblumenkerne und Meisenringe hatten sie schon gekauft, jetzt mussten das Häuschen im Keller und das Vogelfutter in der Küche nur noch auf der Terrasse zusammenfinden.

Kaya lachte vergnügt, sie hatte unglaublich gute Laune. Heute würde ihr Glückstag werden, sie fühlte es genau.

Wenig später ging sie in Jeans und warmem Rollkragenpulli in Richtung Küche. Die Schlafzimmer lagen rechts und links des langen Gangs im ersten Stock. Ihres war ganz hinten, auf der anderen Seite gab es ein kleines Gästezimmer, das aber meistens von alten Kleidungsstücken, Bügelwäsche und ausrangierten Gebrauchsgegenständen belegt war, und am Ende des Flurs befand sich das Badezimmer. Vorne, direkt an der Treppe, war das Zimmer ihrer Eltern und das von Alexa lag genau gegenüber. Kaya blieb mitten im Gang stehen und lauschte. Nichts zu hören. Was, wenn alle im Haus noch schliefen und sie mit dem Frühstück warten musste? Das könnte entsetzlich lang dauern. Sie sprang extra laut und mit den Füßen stapfend die Treppe hinunter. Hoffentlich zeigte das Wirkung.

Unten bestätigten sich ihre Befürchtungen. Noch kein Mensch da, dabei war es nun schon halb neun. Ihr lief der Tag davon. Unentschlossen blieb sie stehen.

Das Geschirr hatten sie gestern noch in die Küche geräumt, trotzdem wäre einiges zu tun, wenn man nur Lust dazu hätte: die vielen kleinen Sterne zusammensuchen, die sie als Dekoration um die Teller gelegt hatten, die etwas mitgenommene Tischdecke durch eine frische ersetzen, die abgebrannten Kerzen am Baum erneuern, mal kurz über das Parkett fegen, den Geschirrspüler ausräumen, den Tisch frisch decken – kurz, es war zu viel für so einen Morgen. Kaya entschloss sich, zunächst mal im Keller nach dem Vogelhaus zu suchen. Vielleicht hatte sie ja Glück und ihre Eltern waren dann endlich aufgewacht. Doch als sie mit dem Vogelhaus zurückkam, war noch immer niemand zu sehen. Sie füllte es auf dem ohnehin schmutzigen Tisch mit frischem Futter und öffnete dann die Terrassentüre, um es hinauszutragen und aufzustellen. Mit ihren Hüttenschuhen blieb sie im Neuschnee stehen. Es war zu schön. Frostige Kälte schlug ihr entgegen, aber sie spürte die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Ob sie wirklich wärmten, vermochte Kaya nicht zu sagen, das Gefühl aber war unbeschreiblich schön. Sie schloss die Augen, reckte die Nase der Sonne entgegen und verharrte regungslos, bis sie die kalten Füße spürte. Es ist Koppelwetter, dachte sie. Harter Boden und Neuschnee, das musste die Pferde vor Freude in den Wahnsinn treiben. Sie drehte auf dem Absatz um, zog die Terrassentüre hinter sich zu und hinterließ eine Schneespur quer durchs Wohnzimmer bis zur Garderobe. Dort tauschte sie ihre Jeans gegen die Reithose, kramte warme Stiefel hervor, schlüpfte in ihre Reitjacke, die ihr eigentlich schon zu klein war, und klemmte sich ihre Handschuhe unter den Arm. Sekunden später war sie draußen, auf dem Weg in den Reitstall.

Dort herrschte bereits voller Betrieb. Klar, alle, die am Nachmittag mit ihrer Familie den ersten Weihnachtsfeiertag genießen wollten, mussten jetzt aufs Pferd. Trotzdem stutzte Kaya. Irgendwas anderes musste hier noch im Gang sein. Um Claudia, die Stallbesitzerin, hatten sich ein paar Leute geschart. Das war an sich nicht ungewöhnlich, aber die Art, wie sie gestikulierte, war seltsam. Im Normalfall machte sie immer aufmunternde Gesten: Auf, auf, Pferde richten! Parcours aufbauen! Hindernisse wegräumen! Pferdeäpfel aufsammeln! Tut was! Jetzt sprach sie aber beruhigend, hielt die Handflächen nach unten – auf die Entfernung sah es aus, als ob sie einem Fahrschüler eine 30-Stundenkilometer-Zone erklären wollte: Cool down, langsam! Kaya beschleunigte ihren Schritt. Sie erkannte einige Erwachsene, aber auch ihre Freundinnen Minka und Reni. Minka trug eine neue rote Strickmütze, die sie sich bis zu den Augen heruntergezogen hatte, die muskulöse Reni dagegen hatte nicht einmal eine Jacke an. Die beiden entdeckten Kaya und gingen auf sie zu.

»Hi!«, sagte Kaya. »Brennt’s schon wieder?«

Reni musste lachen. »Schon wieder? Es hat noch nie gebrannt, Gott sei Dank!« Aber sie zog Kaya bedeutungsvoll am Ärmel. »Das musst du gesehen haben!«

Minka nickte ernsthaft, um gleich darauf den Kopf zu schütteln. »Völlig schräg!«, sagte sie.

»Etwas mit Sir Whitefoot?«, fragte Kaya schnell. Mit meinem Pony hatte ihr auf der Zunge gelegen, aber das klang zu großkotzig.

Minka verneinte auch gleich: »Nee. Der tut nichts anderes als fressen! Wenn er so weitermacht, platzt er oder du musst ihn auf Sägemehl stellen.«

Kaya lächelte selig. Wie schön. Sie hatte Verfügungsgewalt, sie hatte Verantwortung, sie war die Hauptperson für Sir Whitefoot, sie konnte entscheiden und dafür sorgen, dass es ihm gut ging. Es war ein unglaublich gutes, ein unglaublich erwachsenes Gefühl.

Minka zog sie in die andere Richtung, von Sir Whitefoots Box weg. »Sollte ich nicht erst …«, begann Kaya, aber Reni schnitt ihr das Wort ab. »Gleich, gleich!«

Was hatten die? Minka lief bedeutungsvoll vorweg. Ihr Reitstall bestand aus lauter zusammengewürfelten Gebäuden. Wann immer in den letzten Jahren der Platz eng geworden war, war stets wieder irgendwas angebaut worden. Zu den Boxen kamen Paddocks hinzu, damit die Pferde nicht nur drinnen stehen mussten, sondern auch ins Freie konnten. Eine Führanlage fand Platz in einer freien Ecke, überall war etwas Neues aus dem Boden geschossen, sodass die Wege etwas länger waren als bei einer modernen, klar gegliederten Reitanlage. Aber gerade deshalb war Claudias Stall, den sie zusammen mit ihrem Mann Reiner führte, so irre gemütlich. Im alten Stallgebäude gab es noch einen richtigen Heuboden, in dem sich die Mädchen ein Lager eingerichtet hatten und wo sie im Sommer manchmal übernachten durften. Jedenfalls war Claudias Stall für manche der Mädchen mehr das Zuhause als die eigenen vier Wände.

Sie liefen um eine über und über mit Mist beladene Schubkarre herum, als Reni plötzlich stehen blieb. Kaya hob den Blick. Vor ihr, in dem etwas abseits gelegenen Paddock, stand ein von Kopf bis Huf eingepacktes Pferd.

»Was ist denn das?«, fragte Kaya und vergaß vor Staunen den Mund zu schließen.

Reni und Minka hatten das erwartet und lachten beide los.

»Ein gaaaanz wertvolles Dressurpferd«, flötete Reni und verbeugte sich zu einem Kompliment, stellte wie ein Edelmann im Rokoko das eine Bein nach hinten, knickte mit dem anderen ein und machte einen tiefen Bückling. Es sollte elegant wirken, aber Reni sah eher wie ein Preisboxer aus, der von seinem Gegner Maß nimmt.

»Dressurpferd?« Kaya staunte noch immer. »Ja, und? Was ist da so Besonderes dran?«

»Sie darf sich nicht verletzen«, Reni machte einen weiteren Hofknicks. »Deswegen muss sie bis zu den Ohren bandagiert werden!«

»Aha!« Kaya schüttelte den Kopf.

»Und sie darf auch nicht mit unseren gewöhnlichen Pferden in Berührung kommen. Könnte Läuse oder Revoluzzergedanken bekommen.«

»Hmm!« Kaya verschränkte die Arme. Das Stütchen drehte den Kopf und linste zu ihr herüber. Sie war eine hübsche, zierliche Rappstute, obwohl man von ihrem Fell tatsächlich nicht viel sah.

»Isolationshaft also. Hat sie was verbrochen?«

Minka lachte.

»Höchstens, dass sie sich nicht weggeduckt hat, als Laras Tante sie kaufen wollte!«

»Wer??«

Lara hatte einen reichen Vater und ihr Edelpony Black Jack stand natürlich in einem noblen Reitstall in der Stadt. Kaya hatte Lara immer bewundert, bis sie bei einem gemeinsamen Turnier sehen musste, wie sie ihrem Pony brutal ins Maul riss, weil sie dieses eine Mal nicht gewonnen hatte.2 Seitdem konnte sie das Mädchen mit ihrem zickigen Angebergehabe nicht mehr leiden.

»Wieso Laras Tante? Was will die denn hier?«

»Nur übergangsweise.« Minka ging zu der zierlichen Stute hin, die ihr neugierig den Kopf entgegenstreckte, und streichelte ihre Nüstern. »Sie ist von Hamburg hierher gezogen, hat in Laras Superstall aber so schnell keine Box bekommen, weil erst ab Januar etwas frei wird – also hat sie sich herabgelassen …«

»Ach, nee!« Kaya trat neben Minka. »Ist ’ne Hübsche! Was geht sie denn, dass sie so behütet wird?«

Renis Grinsen war so spöttisch, dass Kaya eine Augenbraue hob.

»Du denkst jetzt an S? St. Georg? Intermediaire?« Sie ließ ein Schnalzen hören und schüttelte den Kopf. »Sie geht M. Das tun etliche aus unserem Stall auch, aber das ist natürlich nicht dasselbe.«

»Das Gleiche«, korrigierte Kaya automatisch.

»Wie, das Gleiche! Es ist nicht dasselbe!«

»Es kann nicht dasselbe sein, weil es dasselbe nur einmal gibt. Deshalb ist es das Gleiche!«

»Jedenfalls kann sie einem leid tun!« Reni nickte. »Sie darf gar nichts, außer eingepackt herumstehen und dann eine Stunde durch die Halle traben. Selbst das Paddock war dieser Schnalle schon zu viel. Eine große Box mit einem ordentlichen Namensschild wollte sie haben, eine Box im Stallinneren, damit das Tier nicht von Nebensächlichkeiten abgelenkt oder gar aufgeregt wird!« Reni runzelte die Stirn. »Einzelhaft, damit sie 23 Stunden über ihre heilige LPO--Aufgabe nachdenken kann!«

Kaya griff in ihre Jackentasche und zog eine Mohrrübe hervor, die eigentlich für Sir Whitefoot gedacht war. Sie brach sie in der Mitte durch. »Paradox. Hier steht ein reiches Pferd, das trotzdem arm dran ist …« Sie gab der Stute den Leckerbissen. »Aber jetzt schau ich nach meinem Kleinen! Bei dem dreht sich das hoffentlich um!«

»Wie?«, fragte Reni.

»Na, der war arm dran und wird jetzt reich beschenkt!« Kaya grinste und winkte mit der halben Karotte. »Trotzdem!« Im Gehen blickte sie noch einmal zurück: »Haben wir Lara jetzt auch am Hals?«

Reni und Minka schauten sich an und zuckten mit den Schultern.

»Hab sie noch nicht gesehen«, sagte Minka.

»Ist auch besser so!«, erwiderte Kaya.

Sir Whitefoot stand auf seinem Paddock, das hoch wie eine Terrasse angelegt war und von dem er einen Blick auf den Sandplatz und die Putzstelle hatte. Überall waren Pferde, die gestriegelt und gesattelt wurden, ihr Atem stand weiß in der Luft und die Reiter waren dick in Jacken, Schals und Mützen eingepackt. Sir Whitefoot schaute interessiert zu. Er trug eine dicke Decke aus Jute, eine alte Militärdecke, die Claudia noch irgendwo aufgetrieben hatte. »Er ist ein Paddock sicherlich nicht gewöhnt«, hatte sie gesagt und seinem Fell nach hatte sie recht. Es war zwar Winterfell, aber längst nicht so dick, wie es Pferde in Offenstallhaltung hatten. So stand er jetzt da, trug die alte Decke stolz wie einen königlichen Ozelotmantel und betrachtete das Treiben um sich herum mit der Gelassenheit eines Stars. Kaya blieb mit einigem Abstand vor ihm stehen und musterte ihn zärtlich.

Mein Gott, das war jetzt ihr Pony! Ihr eigenes Pony! Sie konnte es noch immer nicht glauben, so ungeheuerlich war der Gedanke. Sie, Kaya, war Besitzerin eines Ponys! Sie war stolz und kam sich unglaublich privilegiert vor. Und sie überlegte, wie sie ihren Eltern bei der monatlichen Miete, dem Hufschmied und allen anderen Kosten helfen könnte. Zeitung austragen? Oder im Service arbeiten?

Sie stand noch immer fasziniert da und holte tief Luft. Dann rief sie: »Sir Whitefoot!«

Er wieherte nicht, aber er drehte ihr den Kopf zu. Bald wirst du schnauben, wenn du mich siehst, dachte sie, und wiehern, und überhaupt! Kaya lief zu ihm hin, quetschte sich durch die Stangen ins Paddock und fiel ihm um den Hals. Es war ihr egal, wenn andere das sahen. Man konnte nicht nur immer cool sein, manchmal waren die Gefühle einfach stärker.

Apropos Gefühle. Seit gestern Abend schwirrten ihr die Gedanken nur so durch den Kopf, aber sie wollte es sich selbst nicht eingestehen. Jetzt konnte sie es tun. Mit ihrem Pony im Arm konnte sie auch an Dinge denken, die schmerzlich waren. Von Chris hatte sie nichts gehört. Kein Anruf, keine SMS, nichts. Gut, mochte sein, dass man als 15-Jähriger Weihnachten unspannend fand. Aber dafür konnte sie ja schließlich nichts. Sie fand nicht nur Weihnachten spannend, sondern auch Chris. Und es war eigentlich gar nicht die Art von Waldmanns, seinen Eltern, nicht an sie zu denken.

Schließlich hatten die Waldmanns für ihre 12-jährige Tochter Flying Dream gekauft, jenes Pony, das Kaya früher immer geritten hatte und mit dem sie bei dem Springturnier in Aach so erfolgreich gewesen war. Und jetzt durfte sie Dreamy, wie alle ihn nannten, immer noch reiten. Einfach so. Zur Korrektur, hatte Herr Waldmann gesagt, aber ein bisschen war Kaya schon klar, dass sie einfach gutmütig waren und ihr das Pony nicht ganz wegnehmen wollten. Und dann durfte sie sogar mit in einen berühmten Ausbildungsstall, wo Chris sein neues Pony bekam, ein Springpony, das schon bei einer Europameisterschaft gestartet war. Jetzt aber, ausgerechnet an Weihnachten, sollten sie sie einfach vergessen haben?

Lesen Sie weiter in der vollst?ndigen Ausgabe!

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