Kaya Silberflügel − Das Geheimnis der magischen Federn - Nelly Möhle - E-Book

Kaya Silberflügel − Das Geheimnis der magischen Federn E-Book

Nelly Möhle

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Beschreibung

Allein kannst du fliegen, doch gemeinsam erobern wir den Himmel! Die zehnjährige Kaya weiß nicht, dass sie ein Avanost ist, bis eines Tages eine vornehme alte Dame auftaucht, Kaya ein wunderschönes Medaillon um den Hals legt und sie sich plötzlich in einen Vogel verwandelt. Denn Kaya trägt eine uralte Magie in sich und kann, mit Hilfe des Schmuckstücks, zwischen Mensch- und Vogelgestalt wechseln. Von da an wird Kayas Leben ordentlich durcheinandergewirbelt. Sie muss nicht nur lernen, sich als Avanost zurechtzufinden, sie erfährt auch, dass die Zukunft der Avanoste in Gefahr ist. Deren Oberhaupt Xaver Steinadler verfolgt dunkle Pläne und hat bereits ein wichtiges Element dafür, die magischen Federn, in seinen Besitz gebracht. Die muss Kaya unbedingt zurückholen. Der mysteriöse Milan aus ihrer Schule will ihr dabei helfen – aber kann sie ihm wirklich trauen? Atmosphärisch, spannend, magisch ‒ nach »Der Zaubergarten« entführt dich Nelly Möhle in die phantastische Welt der Vogel-Gestaltwandler. - Große Federn-Fantasy für alle Gestaltwandler-Fans - Die neue Reihe von »Dein-SPIEGEL«-Bestsellerautorin Nelly Möhle (»Der Zaubergarten«) - Mit phantastisch-schönen Illustrationen von Alina Brost

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Seitenzahl: 267

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Nelly Möhle

Kaya Silberflügel

Das Geheimnis der magischen Federn

 

 

Mit Bildern von Alina Brost

Über dieses Buch

 

 

Allein kannst du fliegen, doch gemeinsam erobern wir den Himmel!

 

Die zehnjährige Kaya weiß nicht, dass sie ein Avanost ist, bis eines Tages eine vornehme alte Dame auftaucht, Kaya ein wunderschönes Medaillon um den Hals legt und sie sich plötzlich in einen Vogel verwandelt. Denn Kaya trägt eine uralte Magie in sich und kann, mit Hilfe des Schmuckstücks, zwischen Mensch- und Vogelgestalt wechseln. Von da an wird Kayas Leben ordentlich durcheinandergewirbelt. Sie muss nicht nur lernen, sich als Avanost zurechtzufinden, sie erfährt auch, dass die Zukunft der Avanoste in Gefahr ist. Deren Oberhaupt Xaver Steinadler verfolgt dunkle Pläne und hat bereits ein wichtiges Element dafür, die magischen Federn, in seinen Besitz gebracht. Die muss Kaya unbedingt zurückholen ...

 

Tauch ein in die faszinierende Welt der Vogelwandler – der erste Band der neuen Reihe von »Zaubergarten«-Autorin Nelly Möhle: atmosphärisch, spannend, magisch ‒ mit wunderschönen Illustrationen von Alina Brost

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Nelly Möhle lebt mit ihrer Familie in Offenburg und schrieb sich mit ihrer ersten Kinderbuchreihe »Der Zaubergarten« in die Herzen ihrer Leser*innen. Als Kind hat sie im Garten ihrer Großeltern gerne Vögel beobachtet und sich vorgestellt, wie toll es wäre, fliegen zu können. Nicht mit dem Flugzeug, sondern einfach die Arme ausbreiten und losfliegen – oder eben die Flügel. Und dann von oben die Stadt anschauen, die Landschaft, über den Schwarzwald zu fliegen oder schnell in die Vogesen. Jetzt verleiht sie ihrer neuen Kinderbuchfigur Kaya genau diese magische Eigenschaft.

 

Alle Bände der Reihe Kaya Silberflügel:

Band 1: Das Geheimnis der magischen Federn

Band 2: erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2024

Band 3: erscheint voraussichtlich im Herbst 2023

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

Prolog

Ein Rabe kommt selten allein

Eine unglaubliche Verwandlung

Ein Rotkehlchen weist den Weg

Der Vogel im Spiegel

Schwarzer Rabe, weißer Fleck

Ein Junge mit dunklen Flügeln

Unendliche Peinlichkeit

Unter Beobachtung

Lautes Gurren, neue Freunde

Wozu sind Anführer gut?

Niemand möchte allein sein

Ein Eichelhäher als Späher

Ein Haus wie ein Aquarium

Guter Plan, leider missglückt

Kann ein Dieb engelsgleich singen?

Verfolgung im Mondschein

Hoch über dem Abgrund

Radfahrt mit Feind

Was damals geschah

Nachtflug im Schlafanzug

Ein gutes Versteck

Der Rabe verplappert sich

Kostümprobe

Kaum gefunden, schon gestohlen

Ein sehr mutiges Mädchen

Die Schwaneninsel

Erwischt!

Der große Abend

Vier Damen in einem Kleinwagen

Freunde? Freunde

[Hinweis auf Folgeband]

Öffne deine Flügel und fliege, fliege, fliege!

Rotkehlchen Robin

Prolog

Das erste Mal spürte ich das seltsame Kribbeln an meinem Geburtstag.

Mama hatte den Tisch auf dem Balkon schön gedeckt, in der Mitte stand der Geburtstagskuchen mit den zehn Kerzen. Ich hörte ihr Geklapper aus der Küche, während ich unter dem bunt gestreiften Sonnenschirm saß und auf meine Gäste wartete. Um den Tisch hüpften ein paar kleine Spatzen herum, die den Kuchen aufmerksam beäugten. Ein besonders frecher Spatz setzte sich für einen Moment sogar auf meine Fußspitze und schaute mich erwartungsvoll an.

Da begann das Kribbeln. Ein Gefühl, wie ich es noch nie zuvor gespürt hatte, ein sanftes Zupfen und Flattern, das von den Fingerspitzen bis hinauf in meine Schultern kroch. So als ob unzählige Schmetterlinge in meinen Armen steckten und eifrig mit ihren seidigen Flügeln schlugen. Es hielt einige Augenblicke an, bis es an der Wohnungstür klingelte und die Spatzen erschrocken auseinanderstoben. Sie verschwanden im Geäst der großen Kastanie vor dem Haus, und genauso plötzlich war auch das eigenartige Gefühl in meinen Armen wieder verschwunden. Vorsichtig dehnte und schüttelte ich meine Glieder, doch alles fühlte sich normal an.

Und als dann meine Geburtstagsgäste mit großem Gepolter zu mir auf den Balkon stießen, war ich so abgelenkt, dass ich diesen kribbelnden Vorfall für den Rest des Tages vergaß. Abends vor dem Einschlafen dachte ich noch mal daran, redete mir aber ein, dass dieses Zupfen und Flattern bestimmt von der ganzen Geburtstagsaufregung gekommen war. Auch die nächsten Wochen tauchte das seltsame Gefühl nicht mehr auf. Bis zu diesem einen Montagmorgen.

Ein Rabe kommt selten allein

Dieses Mal setzte es in der Musikstunde ein. Ich war gerade mit meinem Arbeitsblatt fertig geworden und schaute den tanzenden Blättern der alten Eiche vor dem Fenster zu, als ein dunkler Rabe sich näherte und schließlich flatternd auf dem Fenstersims landete. Während ich ihn beobachtete, spürte ich ganz sacht dieses seltsame Kribbeln in meinen Fingern, und es breitete sich rasch als sanftes Flattern in den Armen aus.

Es war das gleiche Gefühl wie an meinem Geburtstag vor einigen Wochen, da war ich mir ganz sicher. Und je länger ich den Raben ansah, wie er da groß und glänzend vor dem Fenster saß, den Blick unverwandt auf unseren Klassenraum gerichtet, wurde es immer stärker. Ich verschränkte die Arme, um das Kribbeln zu unterdrücken, doch es half nicht wirklich.

Stattdessen fiel mir nun das kleine Stück Papier auf. Ich blinzelte kurz, doch es bestand kein Zweifel: Im großen Schnabel des Raben steckte ein gefalteter Brief.

Ein kräftiger Wind ließ das leichte Material so heftig flattern wie die Blätter der großen Eiche. Der Rabe starrte noch immer durchs Fenster ins Klassenzimmer, als würde er auf einen von uns warten.

Noch bevor ich Merle auf den seltsamen Vogel aufmerksam machen konnte, bemerkte unser Musiklehrer Herr Berg das Tier. Er hastete mit schnellen Schritten zum Fenster und öffnete es. Ich hörte ihn etwas murmeln, dann warf er einen kurzen Blick über die Schulter auf unsere Klasse. Ich ließ meinen Lehrer nicht aus den Augen. Irgendwie erwartete ich, dass alle ungläubig die Szene verfolgten. Doch die anderen waren noch mit ihrem Musiktest beschäftigt, und so sah außer mir auch niemand, wie sich Herr Berg den Zettel des Raben schnappte, ihn auseinanderfaltete und einen kurzen Blick darauf warf. Und dann, so schien es mir, schüttelte er genervt den Kopf.

Nur Sekunden später öffnete das Tier seine großen Schwingen und verschwand mit kräftigen Flügelschlägen hinter dem dichten Blätterdach der Eiche. Ich saß auf meinem Fensterplatz in der ersten Reihe und beobachtete gebannt und mit angehaltenem Atem das kleine Schauspiel.

Genau in dem Moment traf mich der Blick meines Lehrers. Mir blieb keine Zeit, um wegzuschauen, seine starren Augen stierten mich an. Eine gefühlte Ewigkeit lang. Gleichzeitig kribbelten meine Hände jetzt so stark, dass ich sie unter dem Tisch zu Fäusten ballen musste, um es auszuhalten. Und selbst als ich den Blick senkte, spürte ich Herrn Bergs Augen noch immer auf mir ruhen, während mein Herz bis in den Hals hinauf pochte. Erst Lena aus der letzten Reihe erlöste mich.

»Herr Berg!«, rief sie. »Ich bin fertig, kann ich schon abgeben?« Sie wedelte mit ihrem Test in der Luft herum.

Endlich wendete sich mein Lehrer mit einem Ruck von mir ab, nickte Lena kurz zu und klatschte nach einem Blick auf die große Wanduhr in die Hände.

»Die Zeit ist um! Lena sammelt die Tests ein.«

Ich atmete langsam aus und schaute noch einmal in den regengrauen Himmel. Doch von dem Raben war nichts mehr zu sehen, und das Kribbeln war so plötzlich wieder aus meinem Körper verschwunden, wie es aufgetaucht war. Aber ich konnte mir das unmöglich nur eingebildet haben. Oder doch?

Die Unruhe in der Klasse nahm ich nur am Rande wahr. Deshalb zuckte ich auch zusammen, als Herr Bergs tiefe Stimme »Ruuuhe!« donnerte. Und als das Gemurmel abgeebbt war, fuhr er fort: »Zum Ende der Stunde noch eine wichtige Sache: Wie ihr alle wisst, proben wir im Chor gerade für unser großes Schulmusical. Leider fällt die Besetzung für die weibliche Hauptrolle, Eulalia, aus. Glänzt in dieser Klasse jemand mit einer kräftigen Stimme, die uns bisher entgangen ist?«

Jonas bemerkte: »Aber Svenja aus der 7a singt doch die Hauptrolle.«

»Äh, nein«, antwortete Herr Berg und fuhr sich durchs lockige Haar. »Leider muss ich die Hauptrolle neu besetzen. Svenja ist am Tag der Aufführung verhindert, und alle anderen haben bereits ihre Rollen.«

Merle packte meinen Arm und rief viel zu laut: »Du musst die Hauptrolle singen, Kaya! Deine Stimme ist Bombe!«

Alle schauten zu uns in die erste Reihe, und auch Herr Berg sah mich wieder lauernd an.

Ich schüttelte hektisch den Kopf. Sagen konnte ich nichts, denn mir stieg gerade die Hitze ins Gesicht. Wenn es eine Sache auf der Welt gab, die ich nicht ertrug, dann war es geballte Aufmerksamkeit. Bestimmt leuchtete ich schon knallrot wie ein Stoppschild!

»Was?«, fragte Felix. »Die stille Kaya ist ein heimlicher Rockstar? Wer hätte das gedacht?«

Einige fielen in sein Lachen ein. Noch einmal schüttelte ich den Kopf und funkelte Merle wütend an. Für mich war es schon der blanke Horror, wenn ich vor der Klasse ein Referat halten musste. Da verhaspelte ich mich andauernd vor Aufregung. Vor anderen zu singen, ginge gar nicht. Da würde ich keinen einzigen Ton herausbringen! Und Merle wusste das auch.

Herr Berg schien meinen glühenden Kopf nicht zu bemerken und hatte offensichtlich beschlossen, mein wildes Kopfschütteln zu ignorieren.

»Sehr schön!«, sagte er bloß und nickte mir mit ernster Miene zu. »Komm bitte zum Vorsingen in die nächste Chorprobe. Ich zähle auf dich, Kaya Silber!«

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, klatschte er wieder in die Hände und verkündete: »Jetzt wünsche ich euch allen einen schönen Resttag!«

Um uns herum erhoben sich alle von ihren Stühlen, es setzte das übliche Gemurmel und Gebrumme ein, während Merle mir kurz an die Schulter fasste und mich entschuldigend ansah.

»Ich singe ganz bestimmt nicht vor«, murmelte ich leise und merkte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. »Nie im Leben!« Wut und Traurigkeit fluteten mich, wie so oft, wenn mir der Mut für etwas fehlte. Eigentlich liebte ich es nämlich, zu singen, aber eben nur zu Hause, ohne Zuhörer.

Jetzt musste ich dringend raus aus dem Klassenzimmer, niemand sollte meine Tränen sehen, außerdem schwirrte mir der Kopf noch immer von dem ungewöhnlichen Besucher am Fenster. Hastig warf ich Mäppchen und Musikheft in meinen Rucksack und schob mich durch die Massen an Kindern und Lehrern hinaus aus unserem Zimmer und raus aus dem Schulgebäude. Auf dem Schulhof fuhr mir der Wind mit voller Wucht ins Gesicht und zerrte an meiner dünnen Frühlingsjacke. Der Himmel hing grau und trüb direkt über meinem Kopf und passte genau zu meiner Stimmung. Ein Tag für schwarze Raben.

»Kaya!« Merle war mir dicht auf den Fersen und zupfte an meinem Jackenärmel. »Warum wartest du nicht auf mich? Bist du sauer, weil ich dich für das Musical vorgeschlagen habe?«

Statt zu antworten, ging ich zügig weiter.

»Hey, jetzt warte doch!«, rief Merle hinter mir. »Ich meinte es echt ernst: Deine Stimme ist der Hammer!«

Ich drosselte mein Tempo ein wenig und drehte mich zu ihr um.

»Findest du das wirklich?«, fragte ich.

»Logisch! Deine Stimme ist tausendmal schöner als meine«, antwortete Merle. Sie war neben Mama die Einzige, mit der ich manchmal laut sang. »Ich höre dich übrigens oft deine Lieblingssongs trällern, wenn dein Zimmerfenster offen ist. So schön, echt!« Merle wohnte im selben Haus wie ich, nur eine Etage unter mir. Klar musste sie mich hören, wenn ich bei offenem Fenster sang. Dass sie meine Stimme so toll fand, hob tatsächlich kurz meine Stimmung. Aber nur, bis mir das Vorsingen und Herrn Bergs Blick wieder einfielen.

»Ich singe auf keinen Fall auf einer Bühne«, schloss ich knapp, dann wechselte ich schnell das Thema: »Hast du in Musik den Raben am Fenster gesehen?«

»Nee, ist mir nicht aufgefallen«, antwortete sie. »Wieso?«

Kurz zögerte ich, dann sagte ich: »Er hat Herrn Berg einen Brief gebracht!«

Merle lachte. »Vielleicht sind Raben die neuen Brieftauben«, antwortete sie, und als sie meinen finsteren Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Und wirklich, ich habe nichts davon mitbekommen, weil ich die ganze Zeit versucht habe, von dir abzuschreiben. Der Test war so was von schwer.«

Damit war für Merle das Thema abgehakt, und sie rief Pauline etwas zu, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite gerade aufs Fahrrad stieg. Ich drehte mich währenddessen einmal um mich selbst und suchte mit den Augen das Klettergerüst und den hohen Schulzaun ab, vielleicht saß der Rabe noch irgendwo? Doch außer zwei dicken Tauben auf dem roten Schuldach konnte ich keine Vögel entdecken. Vermutlich war ich tatsächlich verrückt geworden, und meine Mutter hatte recht, wenn sie mich ständig ermahnte, früher zu schlafen und nicht immer so lange in meinen Büchern zu lesen.

»He, Kaya!«, ertönte wieder Merles Stimme. Sie stand bereits am Schultor und winkte mir zu. »Kommst du? Ich hab Hunger.«

Normalerweise redete Merle auf unserem kurzen Heimweg gern und viel über irgendwelche Vorfälle oder Skandale aus der Schule. Aber ausgerechnet heute wollte sie über mich reden, sie hörte gar nicht mehr auf mit diesem Musical.

»Also, ich finde ja, dass du mit deiner traumhaft schönen Stimme wirklich die Hauptrolle singen solltest«, erklärte sie mir gerade. »Du musst dich einfach trauen!«

Meine Freundin war ein eifriges Chormitglied, und seit wir in die weiterführende Schule gingen, wollte sie, dass ich mich auch im Chor anmelde.

Merle blieb stehen, hielt meinen Arm fest und meinte: »Mein Vater sagt, man sollte seinen inneren Schweinehund regelmäßig überrumpeln.«

Ich zuckte nur mit den Schultern, musste bei der Vorstellung eines Schweinehundes, der in mir drin saß und ängstlich guckte, aber leise kichern.

»Außerdem passt du mit deinen weißblonden Haaren super zur Hauptrolle«, fuhr Merle mit dem leidigen Thema fort, setzte sich aber wieder in Bewegung. »Ich stelle mir die Eulalia zart und hell vor. Und blauäugig. Eben genau wie du! Und wenn ich so eine Stimme hätte wie du, dann würde man mich von der Bühne gar nicht mehr runterkriegen, das sag ich dir. Und das Vorsingen ist bestimmt gar nicht so –«

»O Merle, vergiss es einfach!«, unterbrach ich sie. Merle blendete manchmal einfach aus, dass wir grundverschieden waren. Ich beschleunigte meine Schritte und eilte den Kastanienweg entlang. Genau in dem Moment sah ich den Raben. Er saß auf einem Zaunpfosten auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber von unserem Haus, und schaute zu uns herüber. Es war das Tier von vorhin, kein Zweifel. Die helle Spitze des ansonsten fast schwarzen Schnabels fiel mir sofort ins Auge.

»Merle«, sagte ich leise. »Da ist er wieder! Der Rabe!«

Doch Merle reagierte nicht, sondern stieß hinter mir die knarzende Tür unseres Mietshauses auf. Ich stand wie festgewachsen an der Bordsteinkante des Bürgersteigs und starrte auf die andere Straßenseite. Der Rabe blickte aus seinen dunkel glänzenden Augen zurück. Das schwarze Brustgefieder tanzte im Wind. Ich schluckte laut. In meinen Armen und Händen kribbelte es wieder, als ob eine ganze Schmetterlingsfamilie in ihnen herumspazierte und mit den Flügeln flatterte. Ich hatte mir den Raben nicht eingebildet, irgendetwas Seltsames war hier im Gange, und so langsam wurde es mir unheimlich!

»Was willst du?«, flüsterte ich, doch der Vogel antwortete natürlich nicht.

»Kaya!«, hörte ich dumpf Merles Stimme aus dem Haus, doch bevor ich sie zu mir herrufen konnte, hob der Rabe flatternd vom Zaunpfosten ab. Er musste kräftig mit den Flügeln schlagen, um gegen den Wind anzukommen. Rückwärts schob ich mich durch die schwere Eingangstür, den Blick bis zum Schluss nach oben gerichtet. Doch der seltsame Vogel war nicht mehr zu sehen.

Im windstillen Treppenhaus beruhigte sich mein Atem wieder. Und das Kribbeln auch. Über mir beugte sich Merle über das Geländer: »Wo bleibst du denn?«, rief sie.

Ich antwortete nicht, sondern sprintete nach oben, immer im Kreis. Die imposante Treppe, die sich wie eine Schnecke bis unter das Dach wand, war das Schmuckstück unseres alten und einstmals sehr vornehmen Hauses.

»Irgendwie bist du heute komisch drauf«, bemerkte Merle, als ich sie im dritten Stock vor ihrer Wohnungstür einholte.

»Ach was!«, antwortete ich nur. Es hätte nichts gebracht, noch mal von dem Raben anzufangen, da war ich mir ziemlich sicher. Deshalb wünschte ich schnell: »Guten Appetit!«, und erklomm weiter die Treppe ins Dachgeschoss, weg von dem köstlichen Geruch, der durch die geöffnete Tür ins Treppenhaus drang.

»Dir auch!«, hörte ich Merle eine Etage tiefer noch rufen, bevor die Wohnungstür der Großfamilie Grunemeier zuknallte.

Ich kramte meinen Haustürschlüssel aus dem Rucksack und schloss die rote Tür am letzten Treppenabsatz auf. Stille schlug mir entgegen. Denn außer Mama und mir wohnte keiner in unserer kleinen Wohnung. Und meine Mutter kam erst spät von ihrer Arbeit in der Musikschule nach Hause. Deshalb beneidete ich Merle oft, auf die ein leckeres Essen mit ihren Geschwistern wartete, während ich mir die Reste vom Abendessen aufwärmen musste. Wobei Merles Eltern mich manchmal nach der Schule an ihren Mittagessenstisch einluden, das waren dann meine Glückstage. Aber heute war ich sogar froh, allein zu sein, denn ich wollte einfach schnell in mein Zimmer kommen und von meinem Zimmerfenster aus in die Baumkrone der alten Kastanie schauen. Vielleicht konnte ich den Raben dort noch mal entdecken? Deshalb schleuderte ich meine Turnschuhe unter den Schuhschrank, ignorierte in der Küche den Suppentopf auf dem Herd und schnappte mir stattdessen ein paar schokoladige Kekse.

Einen Keks im Mund und zurück im Flur, spürte ich plötzlich den sanften Luftzug. Und war da nicht ein leises Rascheln zu hören? Leise setzte ich meine Schritte über den gestreiften Läufer, den schmalen Gang entlang. Wieder dieses Rascheln! Es kam eindeutig aus meinem Zimmer. Ganz kurz zögerte ich, die Tür zu öffnen. Doch was sollte schon sein, am helllichten Tag? Wahrscheinlich stand das Fenster auf Kipp und der Wind fuhr durch meine Hefte auf dem vollen Schreibtisch.

Langsam drückte ich mit dem Ellenbogen die Türklinke nach unten, schob die Zimmertür auf und balancierte vorsichtig die Kekse durch den Türspalt. Als Erstes fuhr mir ein kräftiger Windstoß ins Gesicht. Dann hörte ich wieder das Rascheln. Und als ich den Blick zum Fenster hob, zuckte ich so stark zusammen, dass mir der halbe Keks aus dem Mund flog und der Gebäckvorrat, den ich auf meiner Hand balanciert hatte, mit einem unschönen Knirschen auf dem Holzboden aufschlug.

Mitten in meinem Kinderzimmer stand eine kleine Dame!

Sie schaute mich aus bernsteinfarbenen Augen an und hob zum Gruß die schmale Hand. Sehr vornehm sah sie aus, ihr weißes Haar war auf dem Hinterkopf zu einem schneckenförmigen Knoten geschlungen. Auf der hellgrün glänzenden Rüschenbluse baumelte an einer Silberkette ein auffälliges Medaillon.

»Wi-wi-wie sind Sie hier reingekommen?«, fragte ich stotternd, als ich endlich meine Stimme wiederfand.

Eine unglaubliche Verwandlung

Hinter der Fremden stand das Dachfenster meines Zimmers sperrangelweit offen, und der Luftzug ließ die Papiere auf meinem Schreibtisch wild hin und her tanzen. »Und wer sind Sie?«, schob ich dann noch hinterher, bevor ich ängstlich verstummte. Das Kribbeln in meinen Armen und Händen setzte wieder ein, und es schien noch stärker als heute früh in der Musikstunde. Ich verschränkte die Arme hinter meinem Rücken, versuchte, mir selbst ein wenig Halt zu geben.

»Mein Name ist Aurelia«, sagte die Dame freundlich lächelnd. »Ich bin die Großtante deines Vaters Artur. Ich suche dich auf, weil ich denke, dass du ein Teil unseres großen Familiengeheimnisses bist.«

Ich starrte sie an wie ein hypnotisiertes Kaninchen, einzig mein Herz schlug aufgeregt beim Namen meines Vaters. Ich hatte ihn nämlich leider nie kennengelernt. Und bis gerade eben kannte ich auch kein einziges Mitglied aus seiner Familie.

»Mein Vater?«, hauchte ich. »Ein Geheimnis?«

Eigentlich konnte ich natürlich in ganzen Sätzen sprechen, zumindest wenn nicht gerade alle Augen der Klasse auf mich gerichtet waren. Immerhin war ich schon zehn Jahre alt. Aber in dieser Situation war ich klar überfordert. Ich machte noch zwei klägliche Sprechversuche, doch die zierliche Frau ging gar nicht auf mein Gestammel ein, sondern zog sich vorsichtig ihre Halskette über den schön frisierten Kopf. Dann machte sie ein paar kleine Trippelschritte auf mich zu, bis sie direkt vor mir stand. Ihre Augen, mit den vielen strahlenförmigen Fältchen drum herum, schauten mich mit festem Blick an.

»Darf ich?«, fragte sie und hielt fragend die Kette ein wenig in die Höhe. Ich konnte weder nicken noch zwinkern. Aurelia lächelte kurz, und für einen Moment wirkte sie selbst ein wenig nervös. Und dann legte sie mir behutsam ihre Kette um den Hals. Als ich meinen Blick senkte, bestaunte ich das glänzende Silber des schönen Anhängers und spürte darunter mein Herz wie wild klopfen.

»Hab keine Angst«, sagte die Dame leise. Noch bevor ich über ihre Worte nachdenken konnte, drückte sie seitlich am ovalen Anhänger auf einen kleinen Verschluss, der die Form eines runden Silberknopfs hatte, und das Schmuckstück sprang auf. Ich sah gerade noch einen hellen Edelstein aufblitzen, bevor mich ein Rauschen packte und mein Zimmer sich zu drehen schien.

Das Kribbeln tobte in meinen Armen, und nun fühlte es sich fast an wie Feuer, das unter meiner Haut knisterte. Aber es tat nicht weh, sondern war ein warmes Gefühl, wie von Tausenden Wunderkerzen, die gleichzeitig ihre Funken versprühen. Ich stieß einen erstickten Laut aus, dann hörte das Kribbeln schlagartig auf, und ich sah wieder klar. Allerdings schaute ich jetzt direkt auf die geschnürten, etwas altmodischen Absatzstiefeletten von Aurelia und auf den Saum eines weit schwingenden Rocks.

Ich hob meine Arme, doch die waren nicht mehr da! Stattdessen starrte ich auf ein Paar silbrig weiß gefiederte Flügel! Große Schwingen mit unzähligen schimmernden Federn, die ein Rascheln von sich gaben wie das, das ich vorher gehört hatte. Ein Schauder jagte mir über den Rücken, als ich den Blick über einen fedrigen Bauch sowie sacht rosa schillernde Beine gleiten ließ. Auch meine bestrumpften Füße waren weg, stattdessen sah ich ein paar große Vogelfüße. Aber das Unglaublichste war der fedrige Schwanz, den ich entdeckte, als ich mich fassungslos um mich selbst drehte: Er bestand aus sehr langen glänzenden Federn, die in sämtlichen Regenbogenfarben leuchteten und fast den Boden berührten.

»Hilfe!«, hörte ich mich japsen. Meine Stimme funktionierte also noch. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um der alten Dame ins Gesicht schauen zu können. Aurelia tupfte gerade mit einem spitzenbesetzten Tüchlein ein paar Tränen ab, die ihre faltigen Wangen herabkullerten.

Was war hier los? Was passierte mit mir? Ich spürte, wie sich ein Angstgefühl in mir ausbreitete, und meine Flügel fingen an, wild auf und ab zu schlagen. Doch bevor mich die Panik packen konnte, beugte sich die alte Dame zu mir herunter und drückte wieder auf den kleinen Knopf am Rande des geöffneten Medaillons, das auf meiner gefiederten Brust baumelte. Augenblicklich klappte es zu. Und wieder setzte für wenige Sekunden das Rauschen und Drehen und Kribbeln ein. Dieses Mal kniff ich die Augen fest zusammen.

»Es ist vorbei, du kannst deine Augen wieder öffnen!«, hörte ich die Stimme der alten Dame, und ich war mir sicher, dass sie lächelte.

Ängstlich schaute ich an mir herunter, doch alles war ganz normal. Meine Hände ragten aus den Ärmeln meines eisblauen Lieblingskapuzenpullis und meine geringelten Menschenfüße aus den zerschlissenen Jeans.

Ich holte tief Luft, und dann platzte es viel zu laut aus mir heraus: »Was war das? Was haben Sie mit mir gemacht?«

Aurelia legte mir sanft eine Hand auf die Schulter und sagte: »Liebe Kaya, du hast etwas ganz und gar Unvergleichliches von deinem Vater Artur geerbt!«

Mir wurde schwindelig. Raben als Brieftauben, fremde Damen in meinem Zimmer, kribbelnde Arme, die sich in Flügel verwandelten. Das war doch alles irre! Ich wurde verrückt. Eindeutig! Ich blinzelte ein paarmal, doch auch nach dem dritten Versuch stand die Dame noch immer vor mir. Und noch immer schimmerten Tränen in ihren Augen.

»Das ist ganz wunderbar, Kaya!«, sagte sie. »Ich werde dir alles über dein Avanost-Erbe erzählen.«

»Wie bitte?«, musste ich fragen, denn ich verstand überhaupt nichts mehr.

»Du gehörst zur Familie der Avanoste«, fuhr sie fort. »Wir Avanoste sind sowohl Mensch als auch Vogel, alle Fähigkeiten vereint in einem phantastischen Wesen. Weißt du, es gibt uns schon seit jeher hier im Silva-Gebirge.«

»Was?«

Ich träumte wohl! Wovon redete die alte Dame da nur? Ich musste laut gesprochen haben, denn Aurelia unterbrach sich und sagte lächelnd: »Du hast ganz recht, Kind. Ich bin zu schnell, das ist nicht fair. Ich werde dich nach und nach in unser Familiengeheimnis einweihen. Es ist ein Geschenk, du wirst sehen!«

Genau in dem Moment erklang ein lautes Flattern vor dem offenen Fenster, und ein dunkler Schatten landete auf dem dicken Ast der alten Kastanie. Die kleine Aurelia packte energisch meinen Arm und zog mich aus dem Zimmer in den Wohnungsflur. Die Tür schloss sie hinter ihrem Rücken.

Ich hatte den Raben vor meinem Fenster sofort erkannt.

»Ich glaube, der komische Vogel folgt mir«, bemerkte ich leise.

»Seltsam«, murmelte die kleine Dame und zog für einen Moment die Augenbrauen zusammen. Doch dann lächelte sie wieder, strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr und sagte: »Hör zu, Kaya, mach dir keine Sorgen, auch wenn dir gerade alles etwas verrückt vorkommt! Gleich morgen Nachmittag wird dich ein Rotkehlchen namens Robin abholen und zu mir bringen. Vertraue mir. Dann wirst du mehr erfahren.«

Bevor ich antworten konnte, glitt Aurelia Vogelsinger den Flur entlang, öffnete die Wohnungstür einen Spalt und schaute ins Treppenhaus.

»Den Rückweg trete ich lieber als Mensch an und benutze die Treppe«, erklärte sie mit einem Augenzwinkern.

Ich war ihr langsam gefolgt und fragte erstaunt: »Sind Sie etwa vorhin durch mein Fenster gekommen? Fliegend als Ava-Dingsda?«

»Avanost!«, stellte die alte Dame richtig. Für einen kurzen Moment schoss mir durch den Kopf, dass in diesem, mir bisher unbekannten, Avanost lustigerweise der Name meiner Mutter Ava steckte.

Aurelia kam noch mal einen Schritt auf mich zu. In Menschengestalt war sie höchstens einen Kopf größer als ich. Vorsichtig nahm sie mir die Kette vom Hals und legte sie sich selbst wieder um. Dann sagte sie mit eindringlichem Blick: »Erzähle niemandem von unserem Avanost-Geheimnis, das ist wichtig, hörst du?«

»Auch nicht meiner Mutter?«, musste ich fragen, denn ihr erzählte ich normalerweise so gut wie alles. Und Merle natürlich auch.

»Auch nicht deiner Mutter!«, bestätigte Aurelia. »Bald wirst du alles verstehen, ich verspreche es dir!« Sanft umfasste sie meine Schultern. Ich hätte die alte Dame ja gerne noch gefragt, was sie über meinen Vater wusste. Ich hatte ihn nie kennengelernt, und meine Mutter vermied es, über ihn zu sprechen. Er hatte uns bereits vor meiner Geburt verlassen, und ich wusste nicht, wo er lebte. In manchen düsteren Momenten hatte ich mich sogar schon gefragt, ob er überhaupt noch am Leben war. Aber bevor ich meine wirren Gedanken sortiert und zu Sätzen geformt hatte, drehte sie sich schon um, winkte mir noch einmal zu, und ich hörte ihre klackernden Schritte auf der schneckenförmigen Treppe immer leiser werden.

Dann herrschte Stille.

Ich drückte die Wohnungstür ins Schloss und blieb eine Weile reglos stehen.

»Ich hab bestimmt nur geträumt«, flüsterte ich. So was passierte schließlich nicht in Wirklichkeit, sondern nur in meinen Büchern. Aus dem großen Garderobenspiegel blickte ich mir blass und zerzaust entgegen. Da sah ich sie. Im langen, dünnen Pferdeschwanz steckte eine silbrig weiße Vogelfeder. Ich hatte nicht geträumt!

Meine kleine Welt war schlagartig eine andere geworden.

Ein Rotkehlchen weist den Weg

In der folgenden Nacht schlief ich kaum, so aufgeregt war ich wegen all der Geschehnisse mit Aurelia und meiner Verwandlung in einen Vogel. Deshalb überstand ich den Schulvormittag nur mit Müh und Not und ständig gähnend. Meine Gedanken kreisten immer noch ununterbrochen um den Besuch der alten Dame und darum, was sie mir erzählt hatte.

»He, Merle an Kaya«, sagte Merle, als unsere Mathelehrerin Frau Albrecht nach der Stunde endlich aus dem Klassenzimmer rauschte. »Schläfst du noch oder denkst du schon?« Ihr Ellenbogen bohrte sich in meine Seite und riss mich aus meinen Überlegungen.

»Ich schlafe«, antwortete ich und versuchte ein Lächeln. Ich glaube, es misslang, denn Merle schaute mich mit gerunzelter Stirn an.

Doch dann stand sie mit einem Ruck auf und verkündete: »Ich hole uns zwei von Paulines Geburtstagsmuffins. Süßes macht wach.« Schon boxte sie sich durch die Kinder, die eine Traube um Paulines Tisch mit dem Kuchenblech gebildet hatten. Als sich Merle wieder zu mir umdrehte, streckte sie beide Arme in die Höhe, in jeder Hand einen Muffin mit pinkem Zuckerguss, und strahlte über das ganze Gesicht. Ich musste grinsen, und zwar so richtig. Merle schafft es fast immer, mich aufzumuntern.

Irgendwann hatte ich den Schulvormittag endlich überstanden. Ich saß auf unserem kleinen Dachbalkon und starrte nervös in die dicht belaubte Baumkrone der alten Kastanie.

»Hoffentlich kommt dieses Rotkehlchen bald«, sagte ich. Es ist eine blöde Angewohnheit von mir, laut mit mir selbst zu reden. Das hat mir echt schon peinliche Situationen beschert, vor allem in der Schule. Aber wahrscheinlich führe ich so viele Selbstgespräche, weil ich ein Einzelkind bin. Oder weil ich so viel allein bin, mit wem sollte ich auch sonst sprechen? Jedenfalls drehten meine Gedanken Runde um Runde, und im gleichen Takt zwirbelte ich meinen langen Pferdeschwanz, während meine Füße auf der Balkonbrüstung wippten. Diese innere Unruhe hatte mich seit dem Besuch der alten Dame nicht mehr verlassen. Beim Abendessen hatte Mama meine roten Wangen bemerkt und mehrmals ihre Hand auf meine Stirn gelegt.

»Fühlst du dich nicht gut?«, hatte sie gefragt und mich mit ihren hellblauen Augen aufmerksam gemustert. »Du bist heute so schweigsam.«

Doch ich hatte nur den Kopf geschüttelt. Schließlich durfte ich Mama nichts davon erzählen, dass ich vor wenigen Stunden einen regenbogenfarbenen Vogelschwanz getragen hatte. Dabei ging mir der Besuch von Frau Vogelsinger nicht aus dem Kopf. Ich wollte meiner Mutter davon erzählen oder Merle. Doch ich schwieg eisern. Dass in dem Moment das Telefon klingelte, half mir, mich ihren weiteren Fragen zu entziehen.

»Ava Silber«, sagte sie in den Hörer. Dann kuschelte meine zierliche Mutter sich aufs Sofa, zwirbelte ihre weißblonden Ponyfransen und vertiefte sich in das Telefongespräch mit ihrer Freundin Tine.

Hoch oben auf unserm Balkon nahm ich die Füße vom Geländer und beugte mich etwas vor, um einen Blick auf die nahe gelegene Kirchturmuhr zu werfen. Schon kurz nach drei Uhr. Was, wenn kein Rotkehlchen namens Robin kommen würde, um mich abzuholen? Genau in dem Moment hörte ich ein leises Flattern über mir, und als ich blinzelnd in den blassblauen Himmel schaute, erspähte ich einen kleinen Vogel, der Kurs auf unseren Balkon nahm und dann direkt neben mir auf dem verschnörkelten Geländer landete.

Der kleine Vogel spreizte die Flügel. Sein orangerotes Gefieder, das von der Brust bis über den Schnabelansatz und die Augen reichte, wirkte wie ein Mäntelchen. Er legte den Kopf schief und guckte mich aus pechschwarzen und kugelrunden Äuglein an. Dabei wippte sein Schwanz aufgeregt auf und ab, auf und ab. Sofort setzte das unruhige Flattern in meinen Händen ein. Schnell schob ich die kribbelnden Finger in die Hosentaschen meiner Jeans, um dieses seltsame Gefühl zu unterdrücken.

»Hallo!«, sagte ich leise zu dem kleinen Vogel.

Wieder wippte das Rotkehlchen, dieses Mal mit dem Kopf.

Also fragte ich: »Bist du Robin?«

Dabei kam ich mir etwas blöde vor, denn natürlich wusste ich, dass Vogel und Mensch nun mal nicht dieselbe Sprache sprechen. Ich hatte aber keinen Schimmer, was ich sonst tun sollte. Das Tier stieß einen leisen Laut aus, senkte nochmals den Kopf und hob dann vom Geländer ab. Sehr langsam drehte es eine kleine Runde über dem Balkon, bevor es sich flügelschlagend am Haus hinabgleiten ließ und aus meinem Blickfeld verschwand. Hastig beugte ich mich über die Brüstung. Sofort wurde mir schummrig, da ich leider keinerlei Höhe ertragen konnte. Aber jetzt musste es sein. Wo war das Rotkehlchen?

»Warte!«, rief ich laut hinunter auf die Straße, mein Schwindelgefühl ignorierend. Da sah ich ihn: Der Vogel saß auf dem Pfosten neben unserer Haustür und schaute zu mir hoch. Das war Robin, ganz eindeutig! Von Aurelia geschickt, um mich zu ihr zu bringen. Genau wie sie angekündigt hatte. Es war kein Traum gewesen.

»Ich komme!«, rief ich also die Hausfassade hinunter, dann hastete ich in den Flur, schlüpfte in meine Turnschuhe und klaubte den Haustürschlüssel von der kleinen Flurkommode. Krachend fiel die Tür hinter mir ins Schloss, da eilte ich schon die Treppe hinab.