Kein bisschen Frieden - Christoph Bausenwein - E-Book

Kein bisschen Frieden E-Book

Christoph Bausenwein

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Beschreibung

Die »Totalverweigerer« rebellierten gegen den Zwang, die Wehrpflicht zu erfüllen. Sie verweigerten nicht nur den Wehrdienst, sondern auch den Zivildienst, den sie als »Kriegsdienst ohne Waffen« betrachteten. Einige Hundert wurden angeklagt und verurteilt wegen »Fahnenflucht« oder »Dienstflucht«. Christoph Bausenwein war einer von ihnen.

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Christoph Bausenwein

KEIN BISSCHEN FRIEDEN

Christoph Bausenwein

KEINBISSCHENFRIEDEN

Eine Rebellion gegen die Wehrpflicht

Der Verlag behält sich das Text-und Data-Mining nach §44b UrhG vor, was hiermit Dritten ohne Zustimmung des Verlages untersagt ist.

1. Auflage 2024

© edition einwurf GmbH, Rastede

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-89684-721-8 (Print)

ISBN 978-3-89684-722-5 (Epub)

Satz und Gestaltung: 

Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.edition-einwurf.de

„Das Mittel zur Abschaffung des Krieges besteht darin, dass die Menschen, die den Krieg nicht brauchen, nicht mehr in den Krieg ziehen.“

Leo Tolstoi („Karthago delenda est“, 1898)

„Alles verändert sich, wenn du es veränderst. Doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist.“

Ton Steine Scherben

Inhalt

Einleitung

Vorspiel

Im Jahr des Friedens (1986, 1. Teil: Bayreuth)

Prüfung ohne Gewissen (Rückblick 1964 bis 1982)

Unter Gefangenen (1986, 2. Teil)

Totalverweigerer vor Gericht (1982 bis 1985)

Erprobung ohne Gnade (1986, 3. Teil)

Gedanken auf Freigang (1986, 4. Teil)

Wehrpflicht am Ende (1987 bis 2011)

Nachwort: Eine neue Wehrpflicht?

Abkürzungsverzeichnis

Bildnachweis

Dank

Der Autor

EINLEITUNG

Als sogenannter „Boomer“ – also einer aus den geburtenstarken Jahrgängen um 1960 – im Rentenalter angekommen und daher zunehmend erinnerungsselig geworden, war ich im Februar 2024 damit beschäftigt, meine Notizen aus den turbulenten 1980er-Jahren aufzuarbeiten – und meine etwas spezielle persönliche Geschichte darin –, um eventuell eine Art politische Biografie daraus zu destillieren. Damals war etwas entstanden, was später als „links-versifftes alternatives Milieu“ beschimpft worden ist, und ich wollte einfach mal festhalten, was uns bewegte, worüber wir diskutierten, welche Ideen und Texte uns faszinierten, wie wir uns in „Beziehungskämpfen“ ineinander verhakten, vor allem aber: wogegen wir rebellierten und wie wir uns im Protest engagierten. Ich war damals nur eine Randfigur, aber eine, die oft mittendrin stand und das Geschehen aufmerksam beobachtete. So gehörte ich zu jenen „Rebellen gegen die Wehrpflicht“, die nicht nur den Kriegsdienst mit der Waffe, sondern als Totalverweigerer auch den zivilen Zwangsdienst verweigert hatten. Anders als heute war der Begriff damals genuin politisch und noch nicht missbraucht als beleidigende Bezeichnung für Grundsicherungsempfänger, denen vorgeworfen wird, aus purer Faulheit eine zumutbare Arbeit abzulehnen. Wir hingegen – also diejenigen, die in den sogenannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ aktiv waren – empörten uns vor allem über das Fehlen einer elementaren Grundsicherheit. Getrieben von der Angst vor menschengemachten Bedrohungen, die das Überleben der Menschheit gefährden könnten, sahen wir uns provoziert zu einer Art multiplen Selbstverteidigung: gegen die Wehrpflicht, gegen NATO und Atomraketen, gegen AKWs und WAAs, gegen die Auswüchse von Kapitalismus und Leistungsgesellschaft, gegen die Zerstörung der Umwelt, gegen den im Zuge der Terrorismusbekämpfung entstandenen Überwachungsstaat, gegen Nazis in politischen Ämtern, gegen eine militaristische Erinnerungskultur, gegen Rassismus usw. usf. Die Worte „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ wurden damals ganz groß geschrieben, es war die Zeit, als die Frauenbewegung mit Macht in den Vordergrund rückte, als Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen auf ihre Rechte pochten, als Betriebe und Initiativen aus dem Boden schossen, in denen „Kollektive“ dem Ideal eines hierarchiefreien Miteinanders nahezukommen versuchten. So entstand eine eigene, eben „alternative“ Kultur, in der die Utopie gepflegt wurde, dass alles anders werden könnte: friedlicher, freundlicher, ökologischer, vielfältiger, sozialer und gerechter. Aus heutiger Sicht mögen wir in mancher Hinsicht hoffnungslos naiv gewesen sein, unmittelbar erreicht haben wir nur wenig, gänzlich ohne Wirkung geblieben ist unser Gegenprogramm trotzdem nicht. Vieles von dem, was wir damals gefordert oder experimentell ausprobiert haben, ist heute in abgewandelter Form selbstverständlich geworden.

Und dann baute sich da mit dem Angriffskrieg von Putins Russland auf die Ukraine unvermittelt die scharfkantige Fratze einer schrecklichen Gegenwart vor meiner in Teilen durchaus rosigen Erinnerungswelt auf – und ließ sie platzen wie eine Seifenblase. Der Schock saß bei mir so tief, dass ich die Arbeit erst mal liegen lassen musste. Denn was hat meine Generation bzw. der Teil von ihr, der sich politisch engagiert hat – auf Großdemonstrationen, in kleinen Aktionen, durch individuelle Verweigerungen und Gruppeninitiativen verschiedenster Art –, heute, da die Angst vor einem Krieg plötzlich ganz nahe gerückt ist, noch zu sagen? Frieden schaffen ohne Waffen: Das war damals die Losung von Kriegsdienstverweigerern auf beiden Seiten der in „West“ und „Ost“ geteilten Machtblöcke, die sich in der DDR genauso wie in der BRD der Logik von Zwang und Gewalt entziehen wollten. Von einer blockübergreifenden Friedensbewegung von unten ist in den heutigen, komplizierter und rauer gewordenen Zeiten nicht einmal in Ansätzen etwas zu sehen, überlegte ich verzagt. Können also unsere Programme von damals, die stets einhergingen mit einer ausgeprägten Staatsverdrossenheit und einem Gestus des „Widerstands“, auf den wir uns mächtig etwas einbildeten, heute noch als Ratgeber dienen? Ist jetzt nicht etwas ganz anderes gefordert? Ist es nicht geboten, sich auch militärisch wehrhaft zu machen gegen eine neue Art von Bedrohungen, die wir einstige Weltverbesserer uns so nicht hätten ausdenken können? Und hatten die Grünen, die in ihren Ursprüngen als Protestpartei unsere Sehnsüchte wenigstens teilweise zum Ausdruck gebracht hatten, als aktuelle Regierungspartei die Wende hin zu einem Deutschland, das sich verteidigungsfähig machen muss, nicht schon längst vollzogen?

Zeitenwende, Sondervermögen und Personalsorgen: Die deutsche Politik und die Bundeswehr jedenfalls sahen sich nach dem 24. Februar 2022 plötzlich vor ganz neue Herausforderungen gestellt. „Wir sind da, um unseren Frieden und Freiheit zu erhalten und das im Zweifel auch zu verteidigen“, erklärte Ruprecht von Butler, Kommandeur der 10. Panzerdivision, den Besuchern beim „Tag der Bundeswehr“ am 17. Juni 2023 im unterfränkischen Veitshöchheim. Die während des Kalten Krieges ausschließlich zur Landes- und Bündnisverteidigung an der deutschdeutschen Grenze konzipierte Bundeswehr war im letzten Vierteljahrhundert, konsequent vor allem nach Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011, zu einer Kriseninterventionsarmee im Ausland umgebaut worden. Das sollte sich mit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine nun wieder ändern. „Mit neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert, erfolgt derzeit eine Rückbesinnung auf den alten Kernauftrag“, verkündete die Bundeswehr auf ihrer Webseite. Aber war sie überhaupt gewappnet dafür, den alten Kernauftrag zu erfüllen? Trotz einer Personaloffensive war die Truppenstärke, u. a. auch durch einen plötzlichen Anstieg der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung, im Jahr 2023 sogar geschrumpft, nämlich auf 181.500 Soldatinnen und Soldaten. Auf wenigstens 203.000 FWDLs (Freiwillig Wehrdienstleistende) sollte sie zunächst aufgestockt werden, doch bereits das Erreichen dieses recht bescheidenen Ziels stellte sich als ziemlich ambitioniert heraus. In den schicken Karrierecentern meldeten sich einfach zu wenige, die dienen wollten.

Und so kam sie denn in Gang, die Diskussion über eine Reaktivierung der Wehrpflicht. Immer mehr Politiker meldeten sich zu Wort, etliche hochrangige Generäle, die Wehrbeauftragte Eva Högl oder Experten wie der seit Beginn des Krieges in Talkshows omnipräsente Militärhistoriker Sönke Neitzel aus Potsdam. Zu alldem passte, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schon seit längerem die Idee einer sozialen Pflichtzeit ventiliert und die CDU sich für die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahrs ausgesprochen hatte. Warum also nicht ein verpflichtendes, entweder im zivilen oder militärischen Bereich abzuleistendes „Dienstjahr für Deutschland“?

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hingegen, ein ehemaliger Kriegsdienstverweigerer, versuchte im Mai 2024, die aufgeregte Debatte herunterzudimmen. Einen „Wehrdienst wie früher“ werde es nach seiner Überzeugung nicht mehr geben, man werde nicht wieder zurückkehren zu einer Wehrpflichtarmee alten Stils. Für die Einberufung eines kompletten Jahrgangs wie anno 1980, als die Truppenstärke fast eine halbe Million Soldaten betragen hatte, fehlten die Infrastruktur und die organisatorischen Ressourcen, so etwas „würde nicht mehr funktionieren“. Und man verfolge auch keinen solchen Plan, all das würde ja gar nicht benötigt, denn die Bewältigung des Personalmangels bei der Bundeswehr sei eine „überschaubare“ Aufgabe. Und so kam es, dass der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius seine eigentlich viel weitergehenden Vorstellungen abspecken musste und lediglich das Ausfüllen eines Fragebogens für junge Männer zur Pflicht machen durfte. Vorläufig also würde es keine „richtige“ Wehrpflicht geben. Aber die Diskussion, da war ich mir sicher, würde weitergehen.

Unverkennbar ist: Im Angesicht neuer Bedrohungen sind die Aufgaben der Bundeswehr, das Thema Wehrhaftigkeit und die Begriffe Pflicht und Zwang wieder in den Fokus gerückt, und zudem hat sich die Tonlage geändert, in der über all das diskutiert wird. Als der Bundestag am 25. April 2024 mit großer Mehrheit die Einführung eines Veteranentags beschloss, mit dem jedes Jahr am 15. Juni den ehemaligen Soldaten Anerkennung und Dank ausgedrückt werden soll, war deutlich geworden, in welche Richtung sich der Wind der Moral gedreht hatte: Denjenigen, die uns verteidigen, soll nun wieder Ehre zuteilwerden; der zivile Ungehorsam von Kriegsdienstgegnern und Pazifisten hingegen, der lange die Stimmung in der Bundesrepublik geprägt hatte, haben als Leitbilder ausgedient in einer Zeit, in der die Fähigkeit zu militärischer Abschreckung als das Gebot der Stunde erscheint. Damals pochten wir darauf, Soldaten unter Berufung auf ein Tucholsky-Zitat als Mörder bezeichnen zu dürfen, und wir setzten uns dafür ein, dass Deserteure der Wehrmacht umfassend rehabilitiert und mit Denkmälern bedacht würden. Heute hingegen scheint es so, dass es bald wieder Staatsbegräbnisse und neue Ehrenmale für gefallene Helden geben könnte.

Kaum mehr vorstellbar ist, dass – wie noch zu Beginn des „Einstein-Jahres“ 2005 – am Bundeskanzleramt der Einstein-Spruch angebracht würde: „Der Staat ist für die Menschen und nicht die Menschen für den Staat.“ Das vollständige Zitat wurde freilich schon damals unterschlagen, wohl mit gutem Grund. Denn so geht es in „Mein Weltbild“ weiter: „Der Staat soll also unser Diener sein, nicht wir Sklaven des Staates. Das Gebot verletzt der Staat, wenn er uns mit Gewalt dazu zwingt, Militär- und Kriegsdienst zu leisten, zumal dieser knechtische Dienst zum Ziel und zur Wirkung hat, Menschen anderer Länder zu vernichten oder in ihrer Entwicklungsfreiheit zu schädigen“.

Einstein ist wiederholt als konsequenter Pazifist und Militärdienstgegner aufgetreten, der im Gedenken an die Verheerungen des Ersten Weltkriegs zur Verweigerung des Militärdienstzwanges aufrief und die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern als „Schande“ für einen modernen Staat bezeichnete. Andererseits wurde ihm später bewusst, dass ein lupenreiner Pazifismus nicht ausreicht, wenn es gilt, skrupellosgewalttätiger Expansion und Herrschaft zu begegnen. „Bis 1933 habe ich mich für die Verweigerung des Militärdienstes eingesetzt. Als aber der Faschismus aufkam, erkannte ich, dass dieser Standpunkt nicht aufrechtzuerhalten war, wenn nicht die Macht der Welt in die Hände der schlimmsten Feinde der Menschheit geraten soll. Gegen organisierte Macht gibt es nur organisierte Macht; ich sehe kein anderes Mittel, so sehr ich es auch bedaure.“

Heute, da das Grundgesetz sein 75. Jubiläum feiern durfte, geht es wieder um die beiden von Einstein angesprochenen Fragen: Wie ist der Kriegsgefahr zu begegnen? Und wie kann angesichts eines Rechtsrucks in Europa – in der deutschen Parteienlandschaft symbolisiert durch die Wahlerfolge der AfD –, ein neuer Faschismus verhindert werden? Kurz: Es geht um Frieden und Freiheit. Denn es steht ja nicht nur die Drohung eines Krieges im Raum, sondern auch die Gefahr, dass all die freiheitlichen Errungenschaften, die seit den 1980er-Jahren selbstverständlich geworden zu sein schienen, im Zuge eines Abdriftens in Richtung Diktatur wieder rückabgewickelt werden könnten. Und in diesem Zusammenhang überlegte ich: Da wir – jedenfalls als kulturschöpfende Kräfte – mit unserer Agenda von damals keineswegs völlig gescheitert sind, könnte es im Licht der aktuellen Geschehnisse und Diskussionen eben doch recht aufschlussreich sein, sich einmal zurückzubeamen in die wilde Zeit der frühen 1980er-Jahre. Denn es war eine Zeit, in der nicht nur die Protesthaltung der Jugend hohe Wellen schlug, sondern in der auch ein emanzipatorischer Aufbruch begann, der in den folgenden Jahren die Gesellschaft der Bundesrepublik wesentlich mitprägte und neue Standards des Miteinander setzte.

Als roter Faden führt meine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem im Jahr 1949 in den Katalog der Grundrechte aufgenommenen Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Artikel 4 Absatz 3) durch dieses Buch. Wie viele andere auch berief ich mich auf die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte, die im Artikel 1 Absatz 2 des Grundgesetzes „als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ definiert sind. Wenn heute eine Mehrheit der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen meint, dass Waffengewalt nur durch die Drohung mit Waffengewalt und der Bereitschaft, sie im Zweifel auch einzusetzen, bekämpft werden kann, dann ist es umso wichtiger, daran zu erinnern, dass die Gewährung von Menschenrechten auch mit der „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ einhergeht, sie „zu achten und zu schützen“. So steht es im Absatz 1 des Artikels 1, es ist der erste und zentrale Satz des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Vermutlich dringender als je zuvor geht es heute um die ganz große Frage: Wie kann die freiheitlich-demokratische Grundordnung der BRD, die Grundlage unserer Art des Zusammenlebens, gegen ihre Feinde von außen und von innen so verteidigt und geschützt werden, dass dabei ihre eigenen Werte nicht verraten werden?

VORSPIEL

Isjum, 2022 und 1943

Nur wenige Tage, nachdem der von Putin befohlene Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 begonnen hatte, versuchten russische Truppen, einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt zu erobern: Die am Fluss Siwerskij Donez gelegene Kleinstadt Isjum in der Oblast Charkiw. Bis Anfang April brachten die Angreifer die weitgehend zerstörte Stadt, in der es nun keinen Strom, keine Heizung und kein Wasser mehr gab, unter ihre Kontrolle. Regelrechte Menschenjagden der Besatzer auf ukrainische Kämpfer und Zivilisten setzten ein, die eiligst in Richtung Russland deportiert wurden.

Nachdem der Versuch, Kiew zu erobern, gescheitert war, gruppierten sich die russischen Verbände neu. Isjum hatte dabei die Rolle eines wichtigen Angelpunktes, um weitere Angriffe in südlicher Richtung zu starten. Am 20. April berichtete das US-amerikanische „Institute for the Study of War“ (ISW), dass russische Truppen südwestlich und südlich von Isjum in Richtung Barvinkove und Slowyansk vorgestoßen seien. Das Ziel des russischen Vorstoßes bestehe darin, russische Operationen im Gebiet Luhansk zu unterstützen und die ukrainischen Streitkräfte im Osten großräumig einzukesseln. Es sei allerdings „alles andere als klar“, ob diese Truppen stark genug seien, um eine solche Aufgabe zu erfüllen.

Isjum! Als ich den Namen dieser Stadt zum ersten Mal in den Nachrichten hörte, war ich wie elektrisiert. Ich war nie dort, auch nicht während meiner Ukraine-Reise im Jahr 2010, aber ich kannte den Namen gut. Wie 2022 hatte der Verlauf des Siwerskij Donez auch im Jahr 1943 den Verlauf der Kämpfe zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee bestimmt, damals waren deutsche Truppen in jenen Stellungen gesessen, die nun von den Ukrainern verteidigt wurden. Mein Onkel und der erste Mann meiner Mutter hatten an der Isjum-Schleife des Donez ihre letzten Einsätze.

Kurz hintereinander erhielten mein Großvater Robert und meine Mutter zwei der gefürchteten Briefe. „Es ist mir eine schmerzliche Pflicht“, schrieb ein Major Standl an den „hochverehrten Herrn Plank“, „Ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Sohn, Leutnant Hans Plank, seit den schweren Kämpfen südwestlich Isjum am 16.8.1943 vermisst wird. Gegen eine gewaltige Übermacht an Menschen und Material hielt das Sturmbataillon, dem Ihr Sohn angehörte, auch dann noch heldenhaft stand, als der Feind beim rechten und linken Nachbarn durchgebrochen war. Trotz aller Anstrengungen gelang es nicht, die Eingeschlossenen zu entsetzen, die durch ihr Opfer die Wucht des feindlichen Angriffs gebrochen und damit die Voraussetzung für den Abwehrerfolg in diesem Abschnitt geschaffen hatten.“ Der an die „hochverehrte Frau Wolf “ gerichtete Brief des Majors Richter lautete so: „In kameradschaftlich tiefer Trauer obliegt mir die schwere Pflicht, Sie vom Heldentod Ihres am 18.8.43 in den harten Abwehrkämpfen südwestlich Isjum am Donez bei Wakulowskij gefallenen Gatten zu benachrichtigen. Als Kommandeur des II. Btl. wehrte er in vorbildlicher Einsatzbereitschaft einen Bolschewiken-Ansturm ab. Er fiel durch einen Granatvolltreffer und war ohne leiden zu müssen sofort tot. … Mit mir bedauert das ganze Regiment, besonders sein Bataillon, dessen Kommandeur er war, den schmerzlichen Verlust dieses vorbildlich tapferen Offiziers, unseres lieben Kameraden. Wir kämpfen für ihn weiter und ehren dadurch am besten sein heiliges Vermächtnis, wie er auch in unseren Herzen weiterlebt. Möge diese unsere Anteilnahme Ihnen ein kleiner Trost in diesem harten Schicksalsschlag sein. Die Kämpfe verlaufen erfolgreich, der starke Bolschewistensturm wird durch die deutsche Front zerschlagen zum Heile unseres Vaterlandes im letzten Entscheidungskampf. Auch sein Opfer ist nicht umsonst.“

Während die Leiche des Hans Plank nie gefunden wurde, konnten die sterblichen Überreste von Eduard Wolf geborgen werden. Sie wurden auf dem „Heldenfriedhof “ von Nova Dmytrivka, etwa 12 Kilometer nordostwestlich von Barvinkove, beigesetzt. Beide Orte spielten auch in den Berichten über die Kämpfe von 2022 eine Rolle. Beim Vorstoß der Angreifer in Richtung Barvinkove wurde die Gegend um Nova Dmytrivka von russischer Artillerie geradezu perforiert. Und eben dort, auf Höhe des Dorfes Nova Dmytrivka, meldete der ukrainische Generalstab am 26. April, hätten ukrainische Streitkräfte den russischen Vorstoß in Richtung Slowyansk zum Stehen gebracht. Der meist ungezielte und militärisch weitgehend sinnlose Artilleriebeschuss auf ukrainische Stellungen dauerte noch bis August an, dann mussten sich die Angreifer im Zuge der ukrainischen Gegenoffensive in der Region Charkiw hektisch und oft ungeordnet zurückziehen. Bis zum 10. September war nicht nur der Frontvorsprung weggeschrumpft, sondern auch die Stadt Isjum wieder in ukrainischer Hand.

Beerdingung des Hauptmanns Eduard Wolf im August 1943 auf dem „Heldenfriedhof“ beim Ort Nova Dmytrivka in der Ukraine.

Am 15. September war die internationale Empörung groß, als in den Wäldern in der Nähe der Stadt mehrere Hundert Gräber gefunden wurden – nicht nur mit Leichen von Kriegsopfern, sondern auch von Gefolterten und Hingerichteten. Der bei den ersten Exhumierungen anwesende Spiegel-Reporter Alexander Sarovic bekannte, dass ihm die Erinnerung an die Gräber von Isjum wohl für immer bleiben werde. Das nicht weit davon entfernte Gräberfeld von Nova Dmytrivka markierte kein Kriegsverbrechen, es ist inzwischen längst verschwunden und vergessen – ich selbst kenne es nur von zwei unscharfen alten Fotos her –, und doch ging es mir nicht aus dem Kopf. Ich stellte eine Anfrage beim Volksbund Kriegsgräberfürsorge. Die Antwort: „Eduard Georg Alexander Wolf konnte im Rahmen unserer Umbettungsarbeiten nicht geborgen werden. Die vorgesehene Überführung zum Sammelfriedhof in Charkiw war somit leider nicht möglich. Sein Name wird im Gedenkbuch des Friedhofes verzeichnet.“ Auf den Friedhof in Charkiw wurden bis zum Beginn des neuen Krieges insgesamt 47.993 deutsche Soldaten umgebettet. Der Name und die persönlichen Daten des Verschollenen Hans Plank wurden im Gedenkbuch des Sammelfriedhofs von Kyjiw (Kiew) verzeichnet. Gesamtbelegung dort: 26.558 „geborgene“ Tote.

Das Geschehen bei Isjum löste in meinem Hirn einen eigenartigen Gedanken aus: Da lagen in ukrainischer Erde die Knochen eines Mannes, der einen Sohn hätte zeugen können, der dann nicht ich gewesen wäre. Meine Existenz und der „Heldentod“ des Eduard Wolf hängen unmittelbar zusammen. Ergibt sich die Frage: Was trieb eigentlich der spätere Vater in dieser Zeit?

Der eigenmächtig Abwesende

Auch mein Vater, Jahrgang 1920, war wie Millionen andere Deutsche damals in der Ukraine unterwegs gewesen, als Sanitätssoldat. Erzählt hat er außer ein paar Kriegsanekdoten nur sehr wenig. Eine Geschichte allerdings war sehr interessant. Er hat sie mehrmals in Andeutungen berichtet, aber nie komplett auserzählt und immer etwas im Ungefähren belassen. Sie ging etwa so:

Soldaten des Armee-Feldlazaretts 3/552 im Juni 1942 auf dem Weg nach Kiew. Zweiter von links, unten: Jörg Bausenwein.

Über den Jahreswechsel 1942/43, sein Armee-Feldlazarett war da noch im Kaukasus unterwegs, hatte der Vater zum ersten Mal seit Beginn des Ostfeldzuges Urlaub erhalten. Es war genau die Zeit, da die 6. Armee in Stalingrad kurz vor der Kapitulation stand. Als er am letzten Tag seines Urlaubs beim Wehrmeldeamt in Kempten erschien, habe er dort den Bescheid bekommen, dass er zu einer anderen Einheit versetzt sei. Ihm sei sofort klar gewesen, dass es sich dabei nur um ein „Todeskommando“ handeln könne. Es habe sich um eine frische und völlig unerfahrene Einheit aus dem Westen gehandelt. Ihr Auftrag: den Rückzug im Süden der Ostfront zu decken. Am 6. Februar 1943, also zwei Tage, nachdem die letzten Einheiten der 6. Armee in Stalingrad kapituliert hatten, schickte der Sanitätssoldat B. seinem Vater einen kurzen (und nicht überlieferten) Bericht über seine Reise zur Front. Der antwortete: „Du hast wieder ein hübsches Fleckchen Erde gesehen und bildest dich zum Kenner der südöstlichen und östlichen Länder aus. Der 2. Teil deiner Fahrt wird weniger schön sein, ein Einrücken bei deiner Einheit erst möglich sein, wenn die Gegend um Rostow für Bahn- und Straßennachschub wieder freigekämpft ist.“

Doch mit diesem Freikämpfen war es nicht so einfach. Die gesamte südliche Ostfront stand kurz vor dem Zusammenbruch, eine massive sowjetische Gegenoffensive trieb die Deutschen vor sich her, deren Verbände splitteten sich auf, und durch diese Frontlücken konnten die Spitzen der Roten Armee für kurze Zeit fast bis an den Dnepr vorstoßen. Als Adolf Hitler am 17. Februar von der Wolfsschanze in Ostpreußen ins Hauptquartier der Armeegruppe Süd nach Saporischschja flog, um sich dort mit deren Oberbefehlshaber Generaloberst Erich von Manstein zu besprechen, waren die sowjetischen Panzerspitzen bereits bis auf 36 Kilometer an den dortigen Flughafen herangerückt. Und als seine Condor zwei Tage später wieder abhob, war „der Russe“ nur noch ganze 15 Kilometer von ihm entfernt. (Nebenbei: Beim Alarmeinsatz gegen die vorgedrungenen Spitzen der Sowjets waren auch Reste der zerschlagenen Einheit des Leutnants Eduard Wolf dabei, die sich gerade „zur Auffrischung“ in Saporischschja befand.)

In diesen hektischen Tagen – Goebbels proklamierte am 18. Februar in seiner Rede im Berliner Sportpalast den „totalen Krieg“ – hätten sich die Sowjets nicht nur den „Führer“ fast geschnappt, sondern auch meinen Vater. Der trieb sich irgendwo zwischen Saporischschja und Rostow herum, als er mitten in den russischen Angriff hineingeriet. Von der Einheit, bei der er habe einrücken sollen, seien fast alle tot gewesen, berichtete er. Dann sei er von der Front überrollt worden. Er habe sich schließlich auf eigene Faust durch das feindliche Hinterland geschlagen, bis er nach einigen Tagen und mehreren Übernachtungen bei freundlich gesonnenen Bauern – und wohl auch dank des angelaufenen Gegenstoßes der Wehrmacht – die deutschen Linien erreicht habe. Dann habe er sich bei einer Wehrmachtstelle gemeldet – vermutlich war es in Stalino (heute Donezk) – und dort den Befehl erhalten, sich genau dorthin wieder zurückzubegeben, wo er gerade hergekommen war. Diesen Befehl habe er ignoriert. Er sei bereits in dem Zug gesessen, der Richtung Osten fahren sollte, als auf dem Gleis gegenüber ein Kohlezug in entgegengesetzter Richtung eingefahren sei. Da sei er kurzerhand aus- und auf diesen Zug aufgestiegen. Irgendwie schaffte er es danach, seine Papiere so „zurechtzubiegen“, dass er durch die Kontrollen kam. Und tatsächlich gelang es ihm Anfang März, in Winnyzja wieder zu seinem alten „Haufen“ zu stoßen, der sich dort bereits auf die Verladung zum Bahntransport nach Frankreich vorbereitete. Er wurde mit Freuden empfangen. Der Chefarzt habe darüber hinweggesehen, dass seine Papiere nicht ganz korrekt waren. Der sei in Ordnung gewesen, erinnerte sich später der von mir befragte Kamerad Adolf E.: „Der hat deinen Vater gedeckt und mit den Papieren alles wieder in Ordnung gebracht.“

Ungefähr so verlief also die sieben Wochen andauernde Irrfahrt meines Vaters während des russischen Angriffs. Die Sache klingt abenteuerlich, war aber wohl nicht ganz so ungewöhnlich. Während des gesamten Russlandfeldzuges glich die Situation hinter der Front einem Ameisenhaufen. Tausende waren da unterwegs. Nicht nur Einheiten, die vor– oder zurückverlegt wurden oder für den Nachschub zuständige Truppenteile. Unterwegs waren auch viele Einzelne oder kleine Gruppen, die irgendeinen Auftrag zu erledigen hatten – Essensbesorgung, Reparatur eines Gerätes, Abholung eines Kraftfahrzeugs, Besorgung eines bestimmten Materials und Ähnliches. Viele von diesen „Sonderbeauftragten“ versuchten, die Dauer ihres Einsatzes möglichst zu verlängern und drückten sich unter fadenscheinigen Gründen hinter der Front herum. Dazu kamen die Urlauber, die entweder von der Front weg- oder wieder zu ihr hinstrebten und dort ihre inzwischen oft woandershin verlegten Einheiten suchten. War die Front in Bewegung geraten und dadurch unübersichtlich geworden oder durch russische Angriffe gar völlig durcheinandergewürfelt, gesellte sich zu all diesen Reisenden auch noch eine große Anzahl von Versprengten.

Der Missbrauch von Marsch- und Reiseausweisen und anderer Papiere war während des gesamten Russlandfeldzuges weit verbreitet. Je länger der Krieg angedauert habe, erzählte mir ein ehemaliger Wehrmachtssoldat, desto mehr Leute hätten sich – im wahrsten Sinne des Wortes – möglichst weitab vom Schuss herumgetrieben. Gleichzeitig wurden natürlich auch die Kontrollen schärfer. Frontleitstellen, Frontsammelstellen und Versprengentsammelstellen waren zu größter Sorgfalt bei der Prüfung der Ausweispapiere durchkommender Soldaten angehalten. Aber für die Kontrolleure war es nicht einfach, in jedem Fall mit hinreichender Sicherheit festzustellen, ob es sich bei demjenigen, den sie vor sich hatten, tatsächlich um einen schuldlos Versprengten, einen ehrlichen „Sonderbeauftragten“ oder einen Urlaubs-Rückkehrer auf der Suche nach seinem Truppenteil handelte – und nicht um einen Drückeberger oder gar einen Fahnenflüchtigen.

Tatsächlich machten es die oft zerstörten Verkehrsverbindungen und sonstige chaotische Verhältnisse selbst denen, die ernsthaft zu ihrer Truppe strebten, äußerst schwer, ihr Ziel ohne lange Umwege und Wartezeiten zu erreichen. Gleichzeitig hatten es aber viele von denen, die gerade weit weg vom feindlichen Feuer waren, überhaupt nicht eilig, einen Bestimmungsort zu erreichen, an dem es mit großer Wahrscheinlichkeit gefährlicher war als dort, wo sie sich gerade befanden. Es war nicht ohne Risiko, vor allem in Zeiten einer unübersichtlichen Frontlage aber durchaus möglich, weit länger als nötig unterwegs zu sein und den Weg zu seinem „Haufen“ nicht zu finden. Wer mit falschen oder gefälschten Papieren oder gar ohne Papiere erwischt wurde, musste natürlich mit dem Kriegsgericht rechnen. Doch wer sich geschickt anstellte, konnte es durchaus schaffen, seine Einheit „aus Versehen“ zu verfehlen und sich neue Legitimation für seinen Aufenthalt zu verschaffen. Der jeweiligen Standortkommandantur blieb in der Regel gar nichts anderes übrig, als einen neuen Marschbefehl auszustellen, mit dem der Suchende erneut auf den Weg geschickt wurde. So tummelten sie sich auf den Bahnhöfen und –strecken, ohne dass sie wirklich dazu gezwungen gewesen wären.

Das Militärstrafgesetzbuch in der Fassung von 1940 sah bereits für eine unerlaubte Entfernung im Felde, die länger als einen Tag andauerte, Strafen von bis zu zehn Jahren Haft vor. Wenn sie im Zuge einer „kriegerischen Unternehmung“ bestimmter Dauer und aus „Furcht vor persönlicher Gefahr“ geschah, konnte dies auch als Fahnenflucht gewertet und mit der Todesstrafe geahndet werden. Mein Vater hatte also großes Glück, dass er sein „Ausweichen“ hat vertuschen können. Er überlebte – und bekam so die Chance, Kinder zu zeugen. Das führt zu dem eigenartigen Schluss: Ich verdanke meine Existenz einem „Heldentod“ und einer (vorübergehenden) Desertion!

Ordenskisten

Im elterlichen Erinnerungs-Schrank waren insgesamt 13 Eiserne Kreuze aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg aufbewahrt, davon sechs „1. Klasse“, dazu noch ein ganzer Sack weiterer Orden, von denen der Bayerische Militär-Sanitätsorden der höchste und wertvollste war. Der gehörte meinem 1929 als Generalarzt aus dem Dienst ausgeschiedenen Großvater Alfred, der im Alter von 84 Jahren einen friedlichen Tod gestorben war. Ich sah ihn als Fünfjähriger am 20. Juli 1964 zum letzten Mal im offenen Sarg in der Aussegnungshalle, am Fußende waren auf einem Kissen seine militärischen Auszeichnungen aufgereiht. Eine Ehrenformation aus ehemaligen Soldaten samt Standarten und knatternden Fahnen geleitete den Toten zum Grab. Ich war schwer beeindruckt.

Mein Großvater Alfred, am 20. Juli 1964 aufgebahrt samt Ordenskissen in der Aussegnungshalle.

Der Beitrag meines Vaters zu der Sammlung gestaltete sich recht bescheiden. Neben der Medaille „Winterschlacht im Osten 1941/42“ (im Wehrmacht-Jargon als „Gefrierfleischorden“ bezeichnet) und dem Verwundetenabzeichen in Schwarz (für ein- und zweimalige Verwundung) konnte ich ihm lediglich ein Eisernes Kreuz 2. Klasse zuordnen, das er sich noch kurz vor Torschluss 1945 im Endkampf an der Oder gesichert hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte das an etwa drei Millionen Wehrmachtsoldaten verliehene EK 2 den Charakter einer „echten“ Auszeichnung freilich längst verloren. Ganz anders verhielt es sich mit der Ordenskiste des im Feld gebliebenen ersten Mannes meiner Mutter, die des erwähnten Hauptmanns Eduard Wolf. Da waren nicht nur Eiserne Kreuze drin, sondern u. a. auch ein Deutsches Kreuz in Gold (das als eine Art Ersatz-Ritterkreuz eingeführt worden war, um diese höchste Auszeichnung nicht zu entwerten), der Orden des Sterns von Rumänien für Kriegsverdienst (den konnten auch deutsche Offiziere erhalten, die an der Seite von rumänischen Truppen gekämpft hatten), Nahkampf-Spangen, Infanterie-Sturmabzeichen, vier Sonderabzeichen für das Niederkämpfen von Panzerkampfwagen durch Einzelkämpfer, das Verwundetenabzeichen in Silber und der – an die (vorübergehenden) Eroberer der Krim verliehene – Krimschild.

Dieser Hauptmann Wolf, ein gut aussehender und sportlicher Typ, war ein wahrhafter Vorzeige-Soldat. Es darf angenommen werden, dass er, ehe er selbst fiel, etliche russische Ehefrauen und Mütter einsam gemacht hat. Eine posthume Nennung im „Ehrenblatt des Deutschen Heeres“ im Oktober 1943 war die letzte Auszeichnung des Mannes, der in Nürnberg eine 23 Jahre alte Witwe zurückließ. Die erhielt noch im selben Monat die Mitteilung, dass der Gefallene rückwirkend befördert worden sei und sie daher ab 1. Dezember eine Rente als Majorswitwe erhalte. „Ja, vieles steht uns noch bevor – / Gar schnell wird man im Krieg Major!“ hatte der Großvater Robert zur Hochzeit am 26. Juni desselben Jahres gedichtet. Ganz so schnell hätte es nun wohl doch nicht gehen sollen.

Jahre später formulierte meine Mutter in der Kurzbiografie zu ihrer Dissertation im Fach Medizin, sie habe die Entscheidung zu ihrem Studium „nach dem Heldentod“ ihres Mannes getroffen. Als sie kurz darauf, am 20. April (!) 1950, mit meinem Vater zum zweiten Mal vor den Traualtar trat, trug sie Schwarz – sie war ja immer noch eine Kriegerwitwe. Der gefallene Major Wolf blieb indes auch die folgenden Jahre und Jahrzehnte allgegenwärtig. Meine Mutter hatte eine Künstlerin damit beauftragt, nach der Vorlage einer Fotografie des Wehrmacht-Offiziers ein Ölgemälde anzufertigen. Das Porträt des Kriegshelden, der für die in Unwissenheit gehaltenen Kinder als „Onkel Edi“ firmierte, hing bis zu ihrem Tod über dem Esstisch des Elternhauses. Erstaunlicherweise hat mein Vater den ständigen Anblick seines Vorgängers ohne Murren hingenommen – diesbezügliche Beschwerden sind mir jedenfalls nie bekannt geworden. Gemurrt hat er allerdings, als ich ihm 1977 unter den Augen des Hauptmanns Wolf und unter Bezugnahme auf die Ordenskisten erklärte, dass die Familie genug an blutiger vaterländischer Pflichterfüllung verrichtet habe und ich als Kriegsdienstverweigerer aus der Reihe der selbst im Unrecht noch Gehorsamen austreten werde. Im Laufe der Zeit hat mein Vater diese Entscheidung halbwegs akzeptieren können, völlig aus der Fassung aber brachte den ehemaligen Leutnant der Wehrmacht, dass ich 1982 auch noch den Zivildienst abbrach und damit zum Totalverweigerer und Straftäter wurde. Für meine Thesen, dass der Zivildienst nichts anderes als ein Kriegsdienst ohne Waffen sei, dass jeder Zwangsdienst zur Kriegsvorbereitung verweigert und die Wehrpflicht abgeschafft werden müsse, da in Zeiten des atomaren Wettrüstens ein Krieg nicht mehr führbar sei, zeigte er keinerlei Verständnis.

Besonders erboste meinen Vater, dass sich meine (Un-)Tat über die Medien weit herumgesprochen hatte. Die Sache war dann auch bei einem Kameradentreffen der Veteranen des Feldlazaretts, in dem er Dienst getan hatte, ein Thema. Sein ehemaliger „Spieß“ habe ihn damit aufgezogen, „was er denn da in der Erziehung falsch gemacht“ habe, berichtete er verärgert. Da er mir genügend Erzählmaterial in die Hand gegeben hatte, konnte ich grinsend erwidern: „Du bist doch selbst ein Deserteur gewesen! Was hast du also gegen mich einzuwenden?“ Sein Verhalten habe mit Desertion nichts zu tun gehabt, erwiderte er empört, er habe sich ja damals bei seiner Einheit gemeldet, er habe nur nicht sinnlos sterben wollen. Aha, sagte ich. Sinnlos sterben wolle ich auch nicht. Nur leider könne man sich dem im Fall eines Atomkrieges nicht entziehen. Also müsse man rechtzeitig etwas gegen die Gefahr des sinnlosen Sterbens tun. Zum Beispiel dadurch, dass man mit der totalen Verweigerung jeglicher Beteiligung an Kriegsdiensten ein Zeichen setzt gegen den Rüstungswahnsinn. Mit diesem „Zeichen“ würde ich lediglich als Straftäter meine Zukunft aufs Spiel setzen, sagte er, es würden durch meine Tat weder die Wehrpflicht noch die Atomrüstung abgeschafft. Es fiel mir nicht leicht, diesem Einwand etwas Schlüssiges entgegenzuhalten. Ich antwortete etwa so: In Anbetracht der Weltsituation dürfe man sich nicht damit herausreden, dass etwas schwierig oder gar aussichtslos erscheine, irgendjemand müsse ja mal anfangen mit dem Widerstand. Zudem sei ich ja keineswegs allein. Es war die Zeit der Friedensbewegung, Millionen gingen damals auf die Straße und protestierten gegen die Politik der atomaren Hochrüstung. Ein Satz machte die Runde: Ziviler Ungehorsam ist das Gebot der Stunde. Ganz in diesem Sinn verstand ich auch meine totale Kriegsdienstverweigerung.

Ziviler Ungehorsam

In seinem Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1971, dt. 1979) definierte der Philosoph John Rawls zivilen Ungehorsam als „öffentliche, gewaltfreie, gewissenhafte und zugleich politische Handlung, die gegen das Gesetz verstößt und in der Regel mit dem Ziel erfolgt, eine Änderung des Gesetzes oder der Politik der Regierung herbeizuführen“. In Deutschland setzte sich u. a. Jürgen Habermas mit dem Begriff auseinander. Er versteht darunter einen moralisch begründeten Protest mit bewusster, offen angekündigter und gewaltfreier Verletzung von Rechtsnormen. Ziviler Ungehorsam will nicht die Rechtsordnung im Ganzen angreifen, sondern einen bestimmten Missstand. Es handelt sich also einerseits um „Akte, die ihrer Form nach illegal sind“, andererseits aber werden sie „unter Berufung auf die gemeinsam anerkannten Legitimationsgrundlagen unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung ausgeführt“. Die Regelverletzung habe, so Habermas weiter, „ausschließlich symbolischen Charakter“. Sie verlange aufseiten der Protestierenden „die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen“ und aufseiten der Vertreter des Rechtsstaates eine Reaktion, die nicht an seiner Substanz zehrt, sondern souverän seinen liberalen Charakter bestätigt. Insofern sei der Zivile Ungehorsam also ein „Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“, in dem es seine Grundprinzipien zu bestätigen gelte (der Text findet sich in dem 1983 von Peter Glotz herausgegeben Suhrkamp-Band „Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat“.)

Der Autor (Mitte) im Jahr 1983 als Demonstrant unterwegs.

Habermas’ Definition kann an einem aktuellen Beispiel veranschaulicht werden: Wenn die sogenannten „Klimakleber“ ihren Protest so gestalten, dass er in letzter Konsequenz zu einer Gefährdung von Menschenleben führen könnte, verlassen sie die Grenzen des Zivilen Ungehorsams und betreten die Sphäre einer mit der vollen Härte des Gesetzes zu verfolgenden Straftat. Und umgekehrt: Wenn die Staatsvertreter Klimaaktivisten zu Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung im Sinne von § 129 StGB erklären oder sie in mehrwöchigen polizeirechtlichen Präventivgewahrsam nehmen, dann verteidigen sie damit nicht den Rechtsstaat, sondern sie unterminieren im Gegenteil gerade das Fundament, auf dem er ruht.

Habermas hatte bei seiner Definition zunächst vor allem die Aktionen der Friedensbewegung im „heißen Herbst 1983“ im Auge, als Tausende versuchten, mit Sitzblockaden vor Stützpunkten der US-Army die im Zuge der sogenannten „Nachrüstung“ geplante Stationierung von Atomraketen zu verhindern. An Kriegsdienstverweigerer dachte er dabei nicht. Warum hätte er das auch tun sollen? Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung war ja im Grundgesetz verbürgt. Zumindest scheinbar. Meiner Auffassung und meinen Erfahrungen nach aber wurde dieses Grundrecht vom Staat und seinen Vertretern damals nicht so interpretiert und geschützt, wie das richtig, angemessen und notwendig gewesen wäre. Die beiden wichtigsten Punkte: Erstens war die Möglichkeit, dieses Grundrecht in Anspruch zu nehmen, nicht garantiert, sondern vom Bestehen einer fragwürdigen „Gewissensprüfung“ abhängig, zweitens war es verknüpft mit einem Zwangs-Zivildienst, der als Kriegsdienst ohne Waffen konzipiert und somit der Wehrpflicht untergeordnet blieb. In Konsequenz dessen hatte ich, eben als Akt des zivilen Ungehorsams, meinen Zivildienst abgebrochen. Diese „totale“ Kriegsdienstverweigerung hatte eine Serie von Prozessen und am Ende eine 16-monatige Freiheitsstrafe zur Folge. Kurz vor dem Antritt meiner Haft, im Spätherbst 1985, wurde ich an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Büro des berühmten Philosophen vorstellig, von dem ich mir aufgrund seiner intellektuellen Disposition ein Verständnis für meine Situation erhoffte. Ich lasse die Geschichte an dieser Stelle beginnen …

Im Jahr des Friedens(1986, 1. Teil: Bayreuth)

In einer Zeit, in der die Menschheit von der Vernichtung durch Atomwaffen bedroht ist, sei es absurd, von einem ernsthaften Kriegsdienstverweigerer zu verlangen, dass er die Wehrpflicht erfüllt, erläutere ich Habermas. Deswegen hätte ich meinen Zivildienst in einem Behindertenheim nach einem Jahr abgebrochen. Ich verstünde meine „Totalverweigerung“ als Akt des zivilen Ungehorsams, wie er ihn in seinem einschlägigen Text definiert habe, nämlich als einen symbolischen Akt des Widerstands gegen die Politik der atomaren Abschreckung. Wegen meiner Tat sei ich zu einer Gefängnisstrafe von zweimal acht Monaten verurteilt worden – acht Monate nach dem Abbruch meines Zivildienstes und weitere acht Monate nach Nichtbefolgung der Aufforderung, meine restliche Zivildienstzeit von vier Monaten abzuleisten –, die Strafe hätte ich demnächst in Frankfurt abzusitzen. Da in Hessen für Erstbestrafte der offene Vollzug mit der Möglichkeit des sogenannten „Freigangs“ vorgesehen sei, wolle ich nun versuchen, während der Haft mein bereits in der Endphase befindliches Magisterstudium der Philosophie fortzusetzen, die Zwischenprüfung hätte ich im Vorjahr an der Universität Erlangen abgelegt. Um einen entsprechenden Antrag stellen zu können, müsse ich allerdings nicht nur eine Immatrikulationsbescheinigung vorlegen, sondern auch – quasi als Ersatz für die in diesem Fall nicht gegebene Funktion eines „Arbeitgebers“ – die Bestätigung eines Ansprechpartners an der Uni. Da hätte ich an ihn gedacht, da er ja nicht nur der wohl renommierteste Professor an der Fakultät sei, sondern sich auch mit Fragen des Zivilen Ungehorsams beschäftigt habe und von daher, wie ich mir erhoffen würde, möglicherweise Verständnis für meine Situation aufbringe.

Der vielbeschäftigte Professor hatte sich meinen kurzen Vortrag mit zappeliger Ungeduld angehört. Mein Besuch ist ihm spürbar lästig und es bleibt unklar, ob er überhaupt erfasst hat, worum es geht. Offensichtlich hegt er den Verdacht, dass sich da einer auf besonders geschickte Weise bei ihm einschleimen will, um als Doktorand angenommen zu werden. „Ich nehme keine neuen Doktoranden mehr an“, zischelt er leicht genervt. Darum gehe es ja gar nicht, erläutere ich ihm, ich hätte ja noch nicht mal meinen Magister abgeschlossen. „Ja, aber Doktorand können Sie bei mir trotzdem nicht werden, da müssen Sie sich einen anderen suchen.“ Ich hätte wirklich ganz und gar nicht im Sinn, bei ihm eine Doktorarbeit anzumelden, betone ich noch einmal. Es gehe mir lediglich um eine Bestätigung, dass ich bei ihm mein Studium fortsetzen werde. Habermas zeigt sich weiterhin ziemlich unwillig und auch ein wenig hilflos, irgendwie hat er keinen Plan, wie er mit diesem Störenfried und dessen ungewöhnlichem Anliegen umgehen soll. Schließlich ruft er aber doch seine Sekretärin.

„Hiermit bestätige ich“, diktiert er, „dass sich Herr Bausenwein an der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main immatrikuliert hat.“ Dann zögert er wieder. Was soll da sonst noch stehen? Es wäre schon nötig, sage ich, mindestens zu erwähnen, dass ich bei ihm an der Uni auch tatsächlich studiere. Habermas diktiert: „Ich hielte es für sinnvoll, wenn Herrn Bausenwein auch während seiner Haftzeit die Gelegenheit gegeben würde, durch das Studium der einschlägigen Literatur seine wissenschaftlichen Arbeiten weiterzuführen.“ Mehr könne er nicht schreiben, meint er, ich sei ja noch nie in einem seiner Seminare gewesen und er kenne mich ja auch überhaupt nicht. Dass in Hessen der offene Vollzug für Erstbestrafte Regelvollzug ist und es von daher möglich sein sollte, im Freigang auch Seminare und Vorlesungen zu besuchen – und seine Bestätigung in diesem Sinne formuliert sein sollte –, kann ich ihm leider nicht begreiflich machen. Der Theoretiker des kommunikativen Handelns scheint von einem eigentümlichen Skrupel geplagt. Der Mann ist den Umgang mit Straftätern nicht gewohnt, mache ich mir klar. Vielleicht befürchtet er, ähnlich wie mein Vater, sich auf irgendeine Weise der „Beihilfe zu einer Straftat“ schuldig zu machen. Jedenfalls ist deutlich zu merken, dass er sich unsicher fühlt und auf diesem ihm unbekannten Terrain jeden Fehler, den er später eventuell bereuen könnte, vermeiden will. Sei’s drum, denke ich mir, Hauptsache, ich habe überhaupt irgendwas in der Hand, und bedanke mich für das karge Attest.

Gerne hätte ich mit dem berühmten Philosophen noch ein wenig diskutiert über die widersprüchlichen Konnotationen aller Formen von Zivilem Ungehorsam, aber leider hat er dafür keine Zeit, und ohnehin scheint seine Geduld bereits aufgebraucht. Also lasse ich mich hinauskomplimentieren und bleibe mit meinen Fragen allein. Denn ist es nicht kurios? Symboltäter wie ich provozieren eine Bestrafung, da sie nur so das Verhalten des Staates skandalisieren können. Je höher die Strafen, desto größer der Skandal. Gäbe es nur noch niedrige Freiheitsstrafen auf Bewährung oder Geldstrafen, gäbe es keine Aufmerksamkeit mehr für Totalverweigerer. Und von der anderen Seite her gilt: Käme es nur noch zu Freisprüchen, wäre die Wehrpflicht de facto abgeschafft. Dasselbe würde im Übrigen auch für Sitzblockaden gelten: Wären sie als eine Wahrnehmung des Demonstrationsrechtes straffrei, wäre eine effektive Verteidigungspolitik mit Waffen unter Umständen gar nicht mehr möglich. Was also will ich als Totalverweigerer? Mein Vertrauen in den Rechtsstaat ist durch die skandalöse Höhe der Strafe gegen mich zwar angeknackst, aber eben doch noch nicht ganz aufgebraucht. Es gibt da weiterhin die nebulöse Hoffnung, unter hartnäckiger Berufung auf das Grundgesetz irgendwann die Abschaffung der Wehrpflicht zu erreichen. Die Utopie: ein gesellschaftlicher Zustand, in dem ziviler Ungehorsam nicht mehr nötig ist.

Als der Winter mit Schnee, Eis und ungewöhnlicher Kälte einzusetzen beginnt, gelten meine größten Sorgen freilich nicht der Frage, wie ich mein Handeln zu theoretischer Stringenz bringen könnte, sondern der konkreten Zukunft: dem Knast. Nicht zuletzt auch mit der Absicht, der zu erwartenden Härte in dem als ziemlich unerbittlich geltenden bayerischen Strafvollzug zu entgehen, hatte ich einen Wohnsitz in Frankfurt angemeldet und das den Justizbehörden mitgeteilt. Angeblich sei der Vollzug in Hessen wesentlich komfortabler, hatten meine Recherchen ergeben, vor allem aber seien dort die Chancen, in den Freigang zu kommen, deutlich größer. Die Vollstreckungsbeamten kümmerte das jedoch nicht. Am 27. Dezember fische ich eine Ladung der Staatsanwaltschaft aus dem Briefkasten meiner bisherigen Wohnung in Nürnberg: Das Urteil gegen mich sei am 19. November vollstreckbar geworden, ich müsse mich nun am 7. Januar 1986 zum Strafantritt bei der JVA Nürnberg melden. „Sollten Sie sich nicht rechtzeitig zum Strafantritt einfinden, muss gegen Sie ein Vorführungs- oder Haftbefehl erlassen werden.“

Das alte Jahr endet mit der üblichen Silvesteransprache des Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl. Das neue Jahr 1986, von der UNO wie zum Hohn auf meine Situation zum „Internationalen Jahr des Friedens“ ausgerufen, beginnt mit zwei ungewöhnlichen Fernsehansprachen der Präsidenten der beiden Machtblöcke in Ost und West. Während der US-Präsident Ronald Reagan sich an das sowjetische Volk wendet, hält der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow eine Rede an das amerikanische Volk. Beide unterstreichen ihren Willen zur Abrüstung. Und der ist auch bitter nötig: Mit weltweit etwa 70.000 Atomsprengköpfen hat das Wettrüsten im Kalten Krieg einen perversen Höhepunkt erreicht. Gleichzeitig toben heiße Kriege, vor allem am Golf zwischen dem Iran und dem Irak, wo seit sechs Jahren Tausende sterben. Die Zahl der nach Deutschland strebenden Flüchtlinge nimmt ständig zu.

Briefmarke der Bundespost zum Internationalen Jahr des Friedens.

Am 3. Januar gibt es wieder Post für mich. Die Ladung zum Haftantritt wird korrigiert: Nun soll ich am 13. Januar in der JVA Bayreuth, Markgrafenallee 49, antreten. Den Hintergrund kann ich mir zusammenreimen: Es ist wohl bei den Behörden durchgesickert, dass mein Vater in der JVA Nürnberg als Anstaltsarzt tätig ist, und da will man Irritationen vermeiden. Außerdem bestehen vermutlich Befürchtungen, dass ich in Nürnberg zu viel Trubel aktivieren könnte mit Demonstrationen vor dem Knast und Ähnlichem. Ich habe aber erst mal beschlossen, es meinen Verfolgern auf andere Weise nicht zu einfach zu machen. Unter Nutzung meiner Kontakte zu den „Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges“ („International Physicians for the Prevention of Nuclear War“ / IPPNW), einer internationalen Organisation, die eben erst für ihre Bemühungen zum Brückenbau in Zeiten des Kalten Krieges und die Bewusstseinsarbeit zu den humanitären Auswirkungen eines Atomkrieges den Friedensnobelpreis erhalten hatte, lasse ich mir zwei Atteste ausstellen, die mir eine Haftunfähigkeit wegen „psychosomatischer Überlastung“ bzw. wegen eines „schweren psychovegetativen Erschöpfungssyndroms“ bescheinigen. Zusätzlich nehme ich mir in Frankfurt einen Anwalt, der einen Antrag auf Verlegung in den hessischen Vollzug formuliert sowie einen weiteren Antrag auf Aufschub der Strafvollstreckung bis zur Entscheidung über den Verlegungsantrag. Die Staatsanwaltschaft kümmert das freilich nicht. Am 10. Januar erhalte ich einen Vordruck des Inhalts, dass die Vollstreckung der gegen mich erkannten Freiheitsstrafe nicht eingestellt werde: „Sie werden daher aufgefordert, die Strafe sofort anzutreten.“ Mein Anwalt gibt jedoch noch nicht auf und ist überzeugt, dass die bayerische Justiz wegen meines Wohnsitzes in Frankfurt die Verlegung in den hessischen Vollzug letztlich nicht werde verhindern können. Ich habe indessen beschlossen, am 13. Januar nicht nach Bayreuth zu fahren. Stattdessen lade ich Freunde und Bekannte dazu ein, mich vor dem Eingang der Justizvollzugsanstalt in Nürnberg in den Knast zu verabschieden. Eine Verhaftung zu provozieren ist immer noch besser, als selbst am Knasttor zu klingeln, denke ich mir. Am Abend vor dem Termin schaue ich mir im ZDF die Sendung „Bonner Perspektiven“ (ZDF) an. Dort hat der CDU-Politiker Peter Hintze, Sohn eines Richters, evangelischer Pfarrer und seit 1983 Bundesbeauftragter für den Zivildienst, einen Auftritt. Gefragt, was er denn von den Motiven der sogenannten Totalverweigerer halte, antwortet er: „Wer keinen Dienst leisten möchte, für den habe ich kein Verständnis!“ Dann muss er ja im Umkehrschluss ein volles Verständnis dafür haben, was mir jetzt bevorsteht, denke ich mir.

MONTAG, 13. JANUAR

Etwa dreißig Freunde und Bekannte erscheinen zu meiner Verabschiedung vor dem Eingang der JVA in der Mannerstraße. Mit dabei sind auch der SPD-Landtagsabgeordnete Toni Schimpl und der ehemalige Bundesvorstandssprecher der Grünen, Dieter Burgmann, sowie mehrere Vertreter der Presse. Burgmann verteilt eine Presserklärung der Bundestagsfraktion der Grünen, in der meine Freilassung gefordert wird. Mit Bausenwein habe die BRD „einen weiteren politischen Gefangenen“, lautet eine Formulierung. Plötzlich fahren vier Polizeifahrzeuge vor. Sie verhaften allerdings nicht den anwesenden Totalverweigerer, sondern registrieren stattdessen die Personalien aller Anwesenden. Es bestehe der Verdacht auf eine unangemeldete Demonstration, heißt es, und dies sei ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz. „Aber kein Transparent war zu entdecken, niemand skandiert“, notiert der Reporter der Nürnberger Nachrichten (NN). Eine Leserbriefschreiberin wird später ihren Unmut mit den Worten Ausdruck verleihen: „Das Reizwort ‚Polizeistaat‘ kann von solchen ungerechtfertigten ‚Aktionen‘ nur Auftrieb erhalten.“

Zeitungsartikel zu der Aktion vor der JVA Nürnberg am 13. Januar 1986.

Apropos Polizeistaat. Einer der Anwesenden berichtet nebenbei von den ersten Bauplatzbesetzungen der geplanten Wiederaufbereitungs-Anlage (WAA) im oberpfälzischen Wackersdorf. Die Demonstranten, die sich auf der frischen Rodung im Taxöldener Forst niedergelassen hatten, seien am 16. Dezember „weggeräumt“ worden, über 800 Personen seien vorübergehend festgenommen worden. In der Woche vor Weihnachten sei es weitergegangen, in atemberaubendem Tempo habe man ein Hüttendorf errichtet und dieses – in Anlehnung an die „Republik freies Wendland“ – auf den Namen „Freies Wackerland“ getauft. Die Besetzer seien sehr heterogen gewesen. Da habe man neben dem Kruzifix einer regionalen Gruppe eine Autonomen-Stele mit revolutionärem Stern sehen können, auch etliche Bauern aus der Gegend hätten die Sache unterstützt. Vorige Woche, etwa 1.500 Leute seien bei bitterer Kälte noch da gewesen, dann die zweite Räumung mit einigen hundert Festnahmen. Der Höhepunkt: die spektakuläre Räumung eines Baumhauses durch das SEK per Abseil-Aktion. Am Mittwoch vorige Woche habe die Polizei dann alles mit Bulldozern zusammengeschoben und abgefackelt – totale Zerstörung und ein riesiger Qualmpilz über dem Gelände, eine Szene wie im Dreißigjährigen Krieg. Es werde aber jetzt natürlich weitergehen, er sei schon gespannt auf das nächste Hüttendorf.

Das alles kann der Bekannte mir in aller Ruhe erzählen, da sich die Polizei in keiner Weise für mich interessiert. Ich erfahre auch noch, warum: Es bestehe kein Haftbefehl gegen mich. Eine Aufforderung zum Haftantritt sei was anderes. Also ziehe ich unverhaftet wieder von dannen.

DIENSTAG, 14. JANUAR

Die gescheiterte Verhaftung macht mich ganz kirre. Soll ich jetzt Tage oder vielleicht sogar Wochen darauf warten, bis irgendwann die Polizei auftaucht? Lohnt sich der Stress, bei jedem Klingeln zusammenzuzucken oder bei jedem Verlassen der Wohnung vorsichtig um die Ecke zu lugen, ob da nicht ein paar Häscher auf der Lauer liegen, um mich zu schnappen? Ich fasse schließlich den Beschluss, nun doch nach Bayreuth zu fahren, damit das Ganze endlich ein Ende findet. In Bayreuth könnte ich dann auch einen Antrag auf Ausgang zum Kriegsdienstverweigerungs-Hearing in Bonn am 29. Januar stellen. Dorthin haben mich nämlich die Grünen als „Experten“ eingeladen. Ein Auftritt als „Flüchtiger“, so wurde mir erläutert, sei nicht möglich. Hintergrund des Hearings ist ein von der Fraktion der Grünen im Bundestag eingebrachter Antrag, alle verurteilten totalen Kriegsdienstverweigerer zu amnestieren und aus der Wehrpflicht zu entlassen.

Am Abend gehe ich mit Gitta ins Erlanger Programmkino Manhattan, wir gucken „Tee im Harem des Archimedes“. Der Film schildert das Leben von Madjid und Pat, zwei Jugendlichen in den Pariser Vororten, den Banlieues. Zusammen mit anderen Freunden machen sie mit einem gestohlenen Auto einen Ausflug ans Meer. Sie besprechen, was passieren soll, wenn einer von der Polizei erwischt wird. Dabei fällt der Satz: „Wir stehen an der Straße und warten, bis du vorbeikommst.“ Am Strand erleben sie kurze Momente des Glücks. Polizei erscheint. Während Madjid festgenommen wird, kann Pat entkommen und beobachtet die Verhaftung aus der Ferne. Als der Polizeiwagen losfährt, steht Pat am Straßenrand und wartet; dann hebt er den Arm wie ein Tramper und steigt ein.

Irgendwie genau der richtige Film, um am nächsten Tag in den Knast zu gehen! Ich komme mir seltsam weltfremd vor. Lief nicht mein ganzes bisheriges Denken und Tun komplett behütet ab? Ein bildungsbürgerliches Bürschchen, rundum abgesichert. Kann so einer ernsthaft sagen: „Wir müssen damit beginnen, eine bessere Welt zu bauen, auch ohne große Aussicht auf Erfolg“? Ist das nicht vollkommener Schwachsinn, wenn man kaum eine Ahnung vom richtigen Leben hat? Bis hier war alles nur ein Spiel mit der Konsequenz. Jetzt wird es ernst. Das Vorstellungs-Kino ist vorbei, jetzt kommt der echte Knast. Wäre ich Donald Duck und die ganze Story ein Comic, hätte Erika Fuchs die Szene so betextet: „Zitter!“

Wie Pat werde also auch ich mich jetzt freiwillig stellen. Im Film wirkte das deprimierend und hoffnungsvoll zugleich. Deprimierend, weil die Aktion von Pat eine aussichtslose Situation beschreibt. Hoffnungsvoll, weil sie zugleich das Einzige aufzeigt, was übrig bleibt: Sich innerlich nicht zu unterwerfen, selbst dann, wenn man sich äußerlichen Zwängen fügt. Pat handelte frei und hielt sein Versprechen. Aber was habe ich versprochen? Und wem? Im letzten Kneipen-Gespräch mit Gitta rede ich mir meine Entscheidung schön. Es sei eine freiere Entscheidung, den Knast freiwillig anzutreten, statt zu warten, bis die Häscher kommen. Die Entscheidung beinhalte ein Moment der Selbstbestimmung, mehr jedenfalls als das Warten auf die Verhaftung. Es sind wohl eher hilflose Versuche, mir Mut zu machen und mit mir selbst ins Reine zu kommen. Aber immerhin spüre ich eine gewisse Entlastung. Der Haftantritt lockt beinahe wie eine Erlösung: Endlich diese seit vier Jahren andauernde Hängepartie beenden und die Sache hinter mich bringen … Gestärkt von drei Hefeweizen bin ich voller Mut: Ja, ich werde stark sein und den beschissenen Knast locker auf der linken Arschbacke absitzen! Doch später lässt mich die Angst vor dem Kommenden lange nicht in den Schlaf finden, immer wieder wälze ich mich im Bett hin und her.

MITTWOCH, 15. JANUAR

Beim Aufwachen bin ich wie betäubt, die Welt fühlt sich so an, als sei sie in einen milchigen Schleier getunkt. Wer bin ich? Was habe ich eigentlich mit dem zu tun, was da jetzt abläuft, ablaufen soll, passieren wird? Um 10:30 Uhr krieche ich aus dem Bett. Ein letztes Mal hole ich frische, knusprige Brötchen. Als ich zurückkomme, warten bereits die Freunde: Fred und Jörg. Nach einem kurzen Frühstück starten wir mit meinem alten Opel Kadett und holen noch Ossi ab. Dann geht’s los Richtung Bayreuth. Es ist ein trüber Wintertag, leichter Schneeregen. Aus irgendeinem Grund wähle ich die Landstraße und nicht die Autobahn. Will ich noch mal die unberührte, verschneite Landschaft genießen? Im Radio läuft Grönemeyers „Jetzt oder nie“. Mir kommen die Tränen. Gesprochen wird kaum. Alle blicken trübe vor sich hin. Dann dröhnt Ina Deter aus den Lautsprechern: „Ich sprüh’s auf jede Wand – neue Männer braucht das Land.“ Als wir uns Bayreuth nähern, diskutieren wir über „Brothers in Arms“, den neuen Hit von den Dire Straits, dessen Text sich auf den Falkland-Krieg bezieht.

Ist das ein Kriegslied, weil von „Waffenbrüdern“ die Rede ist? Oder bezieht sich der Ausdruck „Brothers in Arms“ auf beide Parteien, auf Briten und Argentinier? Es singt ein sterbender Soldat, aber die letzte Zeile macht klar, dass es doch ein Anti-Kriegslied ist, auch wenn die Erkenntnis erst nach dem Töten kommt: „We’re fools to make war – On our brothers in arms“. Ich denke an die Versöhnungsszenen zu Weihnachten 1914/15 an der Westfront des Ersten Weltkrieges. Da sollen die Deutschen und Briten sogar miteinander Fußball gespielt haben. Aber es ging eben trotzdem weiter mit dem Krieg, weil die Befehlshaber es so wollten. Und so wird es immer weitergehen. Es könnten Hunderte oder Tausende den Kriegsdienst verweigern und dafür in den Knast gehen – es würde nichts ändern. Das ist doch alles vollkommen sinnlos, sage ich mir zum wiederholten Mal, warum haue ich nicht einfach ab? Du ziehst es jetzt einfach durch, und dann schaust du weiter, fordert eine andere Stimme in mir.

In Bayreuth fahren wir erst mal am Knast vorbei. Wir wollen noch in die Innenstadt, einen letzten Cappuccino trinken. Ossi erzählt ein paar Anekdoten aus seiner Knastzeit. Es ist allerdings nichts dabei, was mich aufmuntern könnte. Er will mir noch ein paar Überlebenstricks mit auf den Weg geben, aber ich bin nicht so recht aufnahmefähig. Die Blase drückt, zweimal muss ich aufs Klo. Das ist wohl das Angstpippi. Als wir endlich aufbrechen, ist es bereits kurz vor 16 Uhr. Wir parken direkt vor dem Knast. Ich habe es jetzt eilig, will keine große Abschiedsszene. Unbeholfene Umarmungen, ein kurzer Kuss und ein „ich liebe dich“ für die zittrige Gitta. Als ich zum Tor gehe, fühle ich mich wie ein fremdgesteuerter Automat. Ich klingle. Das Tor geht auf, ich trete ein. Ossi hilft mir, mein Gepäck in den kleinen Eingangsraum zu stellen, klopft mit auf die Schulter. „Wir sind bei dir!“

Die JVA Bayreuth, Außenansicht.

Ein letzter Blick zurück, ein kleines Winken. Das Tor schließt sich. Jetzt bin ich drin! Allein. Ganz allein.

„Ich muss mich hier stellen“, sage ich zum Pförtner.

„Haben Sie Ausweis und Ladung dabei?“

„Nein.“

„Sie haben überhaupt nichts dabei?!“

„Nein.“

„Wie ist denn Ihr Name?“

Ich sage meinen Namen. Der Pförtner telefoniert und fragt, was er mit mir machen solle. Nach einiger Zeit öffnet er eine weitere Tür, dahinter ein Warteraum. Ich nehme meine Sachen und drehe mich noch mal um, während ich durchgehe. Durch das Panzerglasfenster des Haupttores sehe ich die anderen stehen. Sie gucken traurig. Ossi ballt die Faust und ruft irgendwas, was ich aber nicht mehr verstehen kann. Ich winke unbeholfen ein allerletztes Mal. Dann geht auch die zweite Stahltür zu. Jetzt gibt es nur noch mich.

Ich kenne den Warteraum. Es ist noch nicht so lange her, da habe ich Ossi hier besucht. Heute werde ich allerdings nicht mehr rauskommen. Wie kann man das nur verstehen? Alles muss ein böser Traum sein. Verwundert stelle ich fest, dass der Raum im Grunde ganz freundlich aussieht. Was die Freunde jetzt wohl denken? Was sie wohl sprechen? Vermutlich erzählt Ossi was über die Abläufe, die jetzt folgen werden. Ein paar Wachleute kommen vorbei. Einer grüßt seltsam freundlich. Schließlich holt mich ein anderer ab. Wir passieren mehrere Türen, dann geht es über den Hof zum Verwaltungsgebäude. Ich bin versucht, als Zeichen für die Freunde vor den Mauern irgendwas zu rufen – „ich lass mich nicht unterkriegen“ oder so was –, traue mich aber nicht.

Auf der Verwaltung werde ich vom Oberwachmann zusammengeschissen. „Warum haben Sie denn keinen Ausweis dabei!? Wie laufen sie denn rum!?“ Ich schweige. Der Mann weiß natürlich, wer ich bin. Er führt einige Telefonate. Schließlich hat er mein Aktenzeichen herausgefunden und auch erfahren, dass ich in Frankfurt gemeldet bin. „Der kommt morgen weg mit Effekten“, sagt er schließlich einem Untergebenen, „heute erst mal auf Zugang“. Ich wundere mich, dass gar nichts weiter überprüft wird. Wie können sie sich sicher sein, dass der Typ, der sich hier gestellt hat, wirklich ich bin? Und was sind eigentlich „Effekten“? (Später erfahre ich: Mit Effekten wird in Haftanstalten der Besitz an beweglichen Sachen bezeichnet, also das, was den aufgenommenen Inhaftierten abgenommen und verwahrt worden ist.)

Ein Wachmann – bzw. Wachtl, wie das im bayerischen Knacki-Jargon heißt – bringt mich auf die Kammer. Dort erklärt er, dass ich nicht zu duschen bräuchte und auch nicht eingekleidet werden müsse. Ich käme sofort auf eine Einzelzelle, morgen würde ich mit dem nächsten Schub weggebracht. „Verschubung“ – so wird der Transport von Knast zu Knast genannt. Die beiden Taschen werden einbehalten. Ein Buch, Tabak und Waschzeug darf ich herausnehmen, es wird mir nach einem Kontrollcheck ausgehändigt, ich muss den Empfang per Unterschrift bestätigen. Der Beamte hinter der Theke überreicht mir ein Bündel mit Bettzeug, Schlafanzug und Essgeschirr, dann führt mich mein Begleiter in den Zellentrakt. Es geht um mehrere Ecken, über den Hof, einige Treppen hinauf und hinunter, unterwegs werden etliche Türen aufgesperrt und gleich wieder geschlossen – klack, knarz, rumms, klack. Der Wachtl ist vor allem ein Schließer, denke ich mir. Seine typischen Handbewegungen ergäben ein schönes Rätsel bei Robert Lembkes heiterem Beruferaten „Was bin ich?“. Der Rate-Staatsanwalt Hans Sachs wüsste freilich sofort Bescheid.

Symbol des Wachmannes: Der dicke Schlüsselbund.

Plötzlich spricht der Schließer. „Ihr Kommen war ja schon in der Zeitung angekündigt“, sagt er mit einem gewissen Respekt. Er könne das aber gar nicht verstehen, erklärt er mir, warum ich das alles auf mich nähme. Ein paar Monate Zivildienst, das sei ja wohl nicht so schlimm. „Es geht nicht um den Zivildienst, sondern um die Wehrpflicht“, sage ich matt, aber der Mann will gar nicht wirklich was hören von mir. „Na ja“, meint er knapp, „Sie müssen ja wissen, was sie tun.“

Dann sind wir endlich bei meinem neuen Wohnquartier angekommen. Der Mann öffnet eine mächtig dicke, mit Eisen beschlagene Tür und weist mit einer einladenden Geste in den Raum dahinter: „Bitte sehr!“ Die Zelle ist überraschend geräumig. Es sind wohl etwas mehr als die üblichen acht Quadratmeter, die Decken über 3 Meter hoch. Ein alter Knast ist gut fürs Raumgefühl, stelle ich fest. Kaum eingetreten, fällt auch schon die Tür schwer ins Schloss. Klack-klack, eingesperrt. Ich laufe ein paarmal im Kreis herum, begutachte Bett, Tisch, Stuhl, Waschbecken und Toilette, da tut sich schon wieder was. Ritsch-Ratsch, eine kleine Kostklappe in der Tür öffnet sich. Jetzt werfen Sie gleich irgendeinen Fleischbrocken rein, wie bei einer Raubtierfütterung, denke ich mir. Hereingereicht werden ein Kanten Brot, ein eklig aussehendes Stück Pressack, eine 125 g Dose Iceland-Lachsersatz, eine Kanne seltsam riechender Tee, zwei Äpfel. Ich begnüge mich mit einem Apfel.

Als ich eine Zigarette drehen will, merke ich, dass ich mein Feuerzeug auf der Kammer vergessen habe. Ich gerate darüber fast in Panik. Unvorstellbar, hier drin zu sein und dann auch noch nicht rauchen zu können! Und plötzlich fällt mir auf, dass weitere wesentliche Utensilien fehlen: Stift und Papier. Es dauert fast eine Stunde, bis wieder ein Wachmann durch die Kostklappe guckt. Ich sage ihm, was ich benötige. Wenig später erscheint ein in der Hausverwaltung beschäftigter Gefangener, ein sogenannter „Hausel“, und erfüllt alle Wünsche: Papier, Stift und eine Schachtel Streichhölzer.

Ich rauche, schreibe ein paar Zeilen, beruhige mich. Sehnsuchtsvoll blicke ich zu dem kleinen vergitterten Fenster unter der Decke. Wenn ich mich auf den Tisch stelle, könnte ich vielleicht hinausschauen, überlege ich. Ich klettere also auf den Tisch, und tatsächlich: Auf den Zehenspitzen stehend erheische ich einen Blick auf den Parkplatz vor dem alten Knastgebäude. Drunten steht niemand. Erst jetzt, mit dem Kopf fast unter der Decke, fällt mir auf, dass die Zelle total überhitzt ist. Ich öffne das Fensterchen und drehe die Heizung runter.

Geht doch erst mal ganz gut, rede ich mir zu, und versuche, es mir auf dem Bett gemütlich zu machen. Müdigkeit fährt mir in die Glieder, die Gedanken fließen träge. Dösend zähle ich meine kleinen Freuden auf. Zum Beispiel die, dass ich meine eigenen Kleider noch anhaben darf. Schließlich beschließe ich aber doch, den Knast-Schlafanzug anzuprobieren. Ich werde bald keine eigenen Kleider mehr besitzen, da kann es nicht schaden, sich möglichst früh an die kratzigen Knastklamotten zu gewöhnen.

Ich liege, schaue an die Decke und lausche: Ich höre die Motoren vorbeifahrender Autos, das Piepen von Vögeln, ein paar Wortfetzen vom Gang her. Und ich genieße jeden Laut, als könne er meine einsame Seele trösten. Plötzlich merke ich auf. Schritte nähern sich, dann wieder Stille. Ein kurzes, leises Geräusch – Tschak. Atmet da jemand? Ja, ein Wachmann hat das über der Kostklappe sitzende Guckloch von außen geöffnet. Ich kann seine Augen nicht sehen, ich spürte ihn aber und weiß, dass er mich beobachtet. Nach einer halben Minute wieder ein „Tschak“, Schritte entfernen sich.

Ich setze mich an mein Tischchen und will nachdenken. Da kommt aber nicht viel. Es taumeln einzelne Worte: Absurd, sinnlos, überflüssig, lächerlich. Was soll das bringen, dass ich hier sitzen muss? An meinen Einstellungen wird das nichts ändern. Aber das ist ja wohl auch gar nicht die Absicht hinter der Strafe. Ich muss sitzen, damit andere sich ins Dienen fügen. Es ist schon kurios: Das Jahr 1986, das internationale Jahr des Friedens, werde ich wohl komplett hinter Gittern verbringen. Weil ich versucht habe, durch ein schlichtes Nein zur Wehrpflicht mit dem Frieden ernst zu machen.

Es ist noch nicht einmal 22 Uhr geworden, da geht überall das Licht aus. Ich strecke mich aus, dankbar für die Erschöpfung, die mich rasch einschlafen lassen wird. Für einen kurzen Moment wache ich noch einmal auf und sehe die Schatten der Gitter, die von den Scheinwerfern draußen an die Wand geworfen werden.

DONNERSTAG, 16. JANUAR