Kein Land in Sicht? - Johannes Zang - E-Book

Kein Land in Sicht? E-Book

Johannes Zang

0,0

Beschreibung

Wann wurde Rafah geteilt? Wer verdient am Tunnelgeschäft? Was bedeutete das Bertini-Abkommen für die Fischer Gazas? Welcher hochrangige israelische Politiker versicherte schon vor Jahren, die Palästinensische Autonomiebehörde sei »eine Last«, die Hamas dagegen »ein Gewinn«? Anhand von gut hundert Fragen skizziert der Journalist Johannes Zang mosaik­artig Geschichte und Gegenwart des Gazastreifens, den er selbst etwa drei Dutzend Mal besuchte. Bündig skizziert er die britische Mandatszeit und die zwei Jahrzehnte unter ägyptischer Verwaltung. Er geht auf die Besatzung und die Blockade seit 2007 ein, womit eine längere Abriegelungspolitik Israels weiter verschärft wurde, die auch internationale Medien betrifft. Der Band beleuchtet Entwicklung und Verankerung der Hamas sowie die Rolle, die Israel bei deren Entstehung spielte. Zang befasst sich mit dem Massaker vom 7. Oktober 2023, der Vorgeschichte, den ignorierten Warnungen und dem darauffolgenden Krieg. Internationale Analysen, in Deutschland kaum abgebildet, werden ebenso herangezogen wie Stimmen aus israelischen Friedens- und Menschenrechtsgruppen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 371

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Neue

Kleine Bibliothek 343

Johannes Zang

Kein Land in Sicht?

Gaza zwischenBesatzung, Blockade und Krieg

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-89438-835-5 (Print)

ISBN 978-3-89438-902-4 (Epub)

© 2024 by PapyRossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln

Luxemburger Str. 202, 50937 Köln

E-Mail: [email protected]

Internet: www.papyrossa.de

Alle Rechte vorbehalten – ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

Umschlag: Verlag, unter Verwendung einer Abbildung © by Naeblys | iStock [1739123779]

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Inhalt

Widmung

Vorwort

I.Von der frühesten Zeit bis 1967

II.Die israelische Militärbesatzung 1967 bis heute

III.Die Blockade bzw. die Verschärfung der Blockade

IV.Die Hamas

V.Vom widerständigen Alltag in Gaza

VI.Der 7. Oktober 2023

VII.Der Krieg ab dem 7. Oktober 2023 und seine Folgen

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Literaturempfehlungen

Zeittafel

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Dieses Buch widme ich Menschen, die ich im Gazastreifen kennenlernte

Dem Tagelöhner und Straßenkehrer am Grenzübergang Erez,dessen Frau seinerzeit das 17. Kind erwartete;

Fawaz Abu Sitta, dem Bob-Marley-Fan,der schon vor Jahren nach Berlin geflohen ist;

Suhaila Tarazi, die tapfer das Al-Ahli-Krankenhaus leitet(e);

dem Taxifahrer Maher,dem ich aus Jerusalem Bier und Wein mitbrachte;

’Aez, einem Sanitäter und Krankenwagenfahrer,der mit mir immer Hebräisch sprechen wollte,da ihn dies an die beste Zeit seines Lebens in Tel Aviv erinnerte;

Dr. Maher Ayyad, der immer vom Frieden sprach;

Raji Sourani, dem Menschenrechtsanwalt,der den »Müll der Besatzung« satt hatte;

Abed Shokry, der mit den Jahrenimmer verzweifeltere Briefe nach Deutschland schickte.

Ich habe versucht, euch allen durch meine Reportagenund Interviews ein Sprachrohr zu sein,eure Stimmen wurden nicht gehört oder beherzigt.Sonst wäre es nie zum 7. Oktober 2023 gekommen …

Der Satz des Physikers Albert Einstein:»Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil«gilt im israelisch-palästinensischen Konflikt mehr als anderswo.

Ich widme das Buch auch allen,die unter unbeschreiblichen UmständenMenschen unter Trümmern bergen,Verletzte behandeln und Hungernden beistehen;

und den 17.000 Kindern,die nun Waisen sind wie der 13-jährige Mohammad Al Yazji,der sich um sechs jüngere Geschwister kümmern muss.

Ich widme es auchden jüdischen und arabischen Aktivisten von Standing Together,die ab März 2024 Lebensmittellieferungenzu einem der Gaza-Übergänge brachten,während gleichzeitig ultrarechte Israelissolche Konvois blockierten oder behinderten;

den israelischen und palästinensischenHinterbliebenen im Parents Circle,dem das israelische Erziehungsministeriumim August 2023 die »Dialogtreffen«in israelischen Schulen untersagt hatteund die im Mai 2024 vor Gericht das Recht erstritten,diese Treffen wieder aufzunehmen.Dieser Elternkreis ist ein wahrerHoffnungsstrahl in dunkelsten Zeiten.

Möge dieses Buch»die Axt sein für das gefrorene Meer in uns« (Franz Kafka)!

Vorwort

Es war ein Kulturschock, als ich das erste Mal im Gazastreifen ankam: im Januar 1986. Der Kontrast zum Kibbuz Be’eri, wo ich seit den letzten Dezembertagen 1985 Orangen, Zitronen, Grapefruits und Pomelos pflückte, war augenfällig und enorm: Hier europäischer Komfort in der grünen, gepflegten, ruhigen Oase; dort Lärm und Schmutz, Menschen über Menschen, ungewohnte, viel zu laut aufgedrehte Musik, aber: Herzlichkeit allerorten. Dorthin waren wir, einige andere deutsche Volontäre und ich, trotz Gaza-Besuchsverbots durch den Kibbuz, gefahren. Seitdem bin ich der Region Israel/Palästina verbunden; »verfallen« wäre das falsche Wort. Auch »Verliebtheit« träfe es nicht. Ich komme einfach vom heillos unheiligen Land nicht mehr los. Als spürte ich eine Verpflichtung den Menschen gegenüber, die ich kennenlernen durfte. Und deren Geschichten ich weitererzählen muss …

Nie hätte ich mir träumen lassen, dass es Be’eri einmal ins ZDF oder in Die Zeit schaffen würde. Der Grund könnte trauriger nicht sein: über 100 Menschen – Zivilisten, Soldaten, Sicherheitskräfte – verloren dort, in der Wohlfühloase, am 7. Oktober 2023 ihr Leben, wurden getötet, massakriert.

Seitdem führt Israel Krieg und nennt ihn Operation Eiserne Schwerter. Über 3.500 E-Mails haben mich seitdem erreicht, sie enthalten Presseerklärungen, Petitionen, Interviews, Reportagen, Analysen, Kommentare und Hinweise zu Filmen oder Podcasts zu dieser, bislang nicht gekannten, neuen Eskalation der Gewalt. Auch die deutsche Medienlandschaft versorgt uns seit Herbst 2023 mit einem Vielfachen der Informationen, die man uns vorher zuteilwerden ließ (oder vorenthalten hat?).

Dieses Buch kann und will nicht auf jeden Aspekt des Massakers, Krieges oder israelisch-palästinensischen Konflikts eingehen. Es möchte jedoch

bis heute offene und daher wirksame Wunden des Konflikts beleuchten;

hierzulande kaum bekannte Facetten der Militärbesatzung, der Blockade Gazas und des gewaltfreien Widerstands benennen;

einige kaum beleuchtete Aspekte des Massakers (inkl. der Warnungen vor diesem)

und des folgenden Krieges schildern sowie

Pläne oder Visionen für den Gazastreifen »am Tag danach« aufzeigen.

Meine Quellen sind die etwa 30 Besuche oder Recherchereisen nach Gaza; seriöse israelische, palästinensische, internationale Sender, Zeitungen, Medieninstitutionen, Online-Plattformen, die UNO, Menschenrechts- und Friedensorganisationen oder andere NGOs.

Mein Herzenswunsch: Dass die Leserin, der Leser erst einmal zuhört und nicht sofort zu einem »Ja, aber …« greift. Wir haben nämlich seit Herbst 2023 vor allem israelisch-jüdische Stimmen, aber kaum solche aus dem Gazastreifen vernommen (letztere vor dem 7. Oktober 2023 auch nur selten).

Gerne stehe ich für eine Buchvorstellung etwa in Arbeitskreis, Schule, Verein, Kirche oder Bibliothek zur Verfügung; ebenso für ein Interview, eine Podiumsdiskussion oder, wenn es der Sache dient, auch für eine Talkshow.

Goldbach, 1. Juni 2024 (239. Tag des Krieges)Johannes Zang

I.Von der frühesten Zeit bis 1967

Lassen sich über 2000 Jahre in 13 Texten abbilden? Wohl kaum. Hier sollen – mit Mut zur großen Lücke – einige wichtige Epochen oder Zeitpunkte beleuchtet werden, zunächst mit Blick auf Handelsrouten und Weltreligionen. Etwas eingehender wird die britische Mandatszeit, die Nakba (arab. Katastrophe) und das sich anschließende Flüchtlingselend behandelt. Von 1948 bis 1967 verwaltete oder besetzte – je nach Perspektive – Ägypten den Gazastreifen.

Wie klein ist der Gazastreifen?

Der rechteckige Gazastreifen ist ein künstliches Gebilde. Im ersten israelisch-arabischen Krieg 1948 vertrieben israelische Truppen Palästinenser in den Libanon, nach Syrien und ins Westjordanland, »aber Ägypten ließ das nicht zu. Daher hatte Israel ein Problem im Süden. Israel entschied, dieses Rechteck als riesiges Flüchtlingslager zu schaffen, um Hunderttausende … dorthin zu vertreiben.«1 Das erklärt der israelische Historiker Ilan Pappe. Israel habe dann Ägypten die Militärherrschaft überlassen.

Diese zwei Prozent des historischen Palästina sind gerade einmal 365 Quadratkilometer: So groß wie ein Löwenrevier für ein Rudel von 40 Tieren. Der Streifen ist etwas größer als die Fläche Dresdens oder des Kantons Schaffhausen; etwas weniger als die von Köln oder Wien oder genau so groß wie der Gardasee. Die Länge der Küstenenklave entspricht mit 40 Kilometern einer knappen Marathondistanz, die Breite variiert zwischen sechs und 12 Kilometern. 59 Kilometer ist die Grenze mit Israel lang, mit Ägypten sind es 13.

Vor der Staatsgründung Israels 1948 lebten dort 60.000 bis 70.000 Palästinenser. Durch Flucht und Vertreibung von Palästinensern, darunter solche aus Jaffa oder Ramla, verdreifachte sich über Nacht die Bevölkerungszahl auf etwa 200.000. Als Israel knapp 20 Jahre später den Streifen eroberte, lebten fast doppelt so viele Menschen dort: 394.000.2

Die 1-Million-Marke wurde 1998 überschritten, schätzt das Palestinian Central Bureau of Statistics. Die nächste Verdoppelung verzeichnet das Statistikamt für 2019/20. 2024 sollen es 2,41 Millionen sein.3 Während sich im Gazastreifen über 6.000 Menschen auf einem Quadratkilometer drängen, sind es in Bremen weniger als ein Drittel davon. Dramatischer ist es in acht Flüchtlingslagern des Streifens. Im Beach Camp, einen halben (!) Quadratkilometer groß, waren 2023 genau 90.713 Flüchtlinge registriert.4

Am Ende der Weihrauchstraße – oder: Wird Gaza in der Bibel erwähnt?

Die vier Buchstaben G a z a scheinen klangvoll und wecken die Vorstellung einer weit zurückreichenden, jahrtausendealten Geschichte. So wie bei Rom, Kairo oder St. Petersburg, Paris oder Jerusalem, Damaskus, Bagdad oder Salamanca.

Gaza, an der Via Maris (Meeresstraße) gelegen, war einst eine bedeutende Hafen- und Handelsstadt und Endpunkt der Weihrauchstraße, einer der ältesten Handelsrouten der Welt. Die Pharaonen kannten sie als Horus-Straße, auch das Alte Testament erwähnt sie. Dessen bekanntester Verweis auf Gaza steht im 13. Kapitel des Richter-Buches.

Demnach begab sich der Hebräer Samson (auch Simson), drittletzter Richter im alten Israel, der eine geradezu übermenschliche Kraft besaß, nach Gaza und verliebte sich in Delila. Die Philister drängten sie, das Geheimnis der Stärke Samsons herauszufinden. Sie brachte in Erfahrung, dass diese in seinem Haar gründete, und verriet ihn so. Samsons Haar wurde geschoren und er verlor seine Kraft; obendrein wurde er geblendet und zum Mahlen von Getreide gezwungen – eine entehrende Sklavinnenarbeit. Als sich einmal 3.000 Philister versammelten, ließen sie Samson holen, um sich an ihm zu belustigen. Samson, inzwischen mit nachgewachsenem Haar, umfasste die Mittelsäulen des Tempels und sprach: »Ich will mit den Philistern sterben.« Dann brachte er die Säulen zum Einsturz und damit in seiner Todesstunde mehr Menschen ums Leben als zu Lebzeiten.

Just im Herbst 2023 brachte das Theater Kiel Camille Saint-Saëns Oper Samson und Dalila in einer »brandaktuellen Operninszenierung« auf die Bühne, »bedrückend und zeitgemäßer denn je.«5 Denn Gaza sei ein Ort, »an dem seit mehr als drei Jahrtausenden Unfriede herrscht. Es ist so, als sei das im »Buch der Richter« Beschriebene eine Blaupause dafür, was sich erschreckend am 7. Oktober 2023 wiederholte.« Am Ende der Aufführung verkündete ein Schriftzug auf dem Vorhang: »3.000 Tote, darunter der Attentäter«.6

Welche Bedeutung hat Gaza für christliche Pilger?

Was, wenn nur jede fünfte Pilgergruppe, derer es in den letzten Jahrzehnten unzählige gab, auf dem Weg ins Heilige Land auch Gaza besucht hätte? Es hätte nicht nur Geld in den abgeriegelten, verarmten Küstenstreifen gebracht, sondern womöglich auch Wertschätzung, Lebensfreude und Hoffnung, Ideen und Anregungen.

Laut christlicher Überlieferung floh die Heilige Familie nach Ägypten und kehrte nach dem Tod von König Herodes über Gaza zurück. Am Nordeingang, so die fromme Tradition, rastete sie.

Ein halbes Jahrhundert später wirkte der Heilige Philippus in Gaza, wie es das achte Kapitel der Apostelgeschichte schildert. Dem äthiopischen Kämmerer legte er die Prophezeiungen des Alten Bundes aus und erklärte Jesu Botschaft derart überzeugend, dass dieser den Wunsch verspürte, sich taufen zu lassen. Ab Vers 37 heißt es: »Philippus aber sprach: Glaubst du von ganzem Herzen, so mag’s wohl sein. Er antwortete und sprach: Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist. Und er hieß den Wagen halten, und beide stiegen hinab in das Wasser, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn.« Durch den Kämmerer, eine Art Staatsmann, gelangte das Evangelium nach Äthiopien.

Gegen Ende des 3. Jahrhunderts kam der Heilige Hilarion bei Gaza zur Welt, der Begründer des Mönchstums in Palästina. Das von ihm erbaute Kloster soll das älteste weltweit sei. Etwa zur selben Zeit ließ Kaiserin Helena ein Kloster in Deir al-Balah (südlich von Gaza-Stadt) erbauen. Im 5. Jahrhundert war Gaza mehrheitlich christlich. Auf der berühmten Mosaikkarte der Georgskirche von Madaba/Jordanien aus dem 6. Jahrhundert ist Gaza groß abgebildet – ein Hinweis auf seine Bedeutung. Der heilige Willibald, später Bischof von Eichstätt, pilgerte zwischen 723 und 727 auch nach Gaza und erwähnt eine St.-Matthias-Kirche.

Der Archäologe Pater Jean-Baptiste Humbert in Jerusalem versicherte mir, dass es im Gazastreifen Spuren von Hunderten Kirchen gebe. Wann wird man weiter ausgraben, wann Touristen und Pilger empfangen können?

Was ist über Gaza zwischen dem 7. und dem 20. Jahrhundert bekannt?

Etwa 635 erreichte der Islam Gaza. Dort soll einer Legende zufolge der Prophet im Mittelmeer gebadet haben. Die Ommayaden-Dynastie (Umayyaden) belebte zwischen 660 und 750 den Handel mit Mekka entlang der Weihrauchstraße aufs Neue. Damals war Gaza als »Hashems Gaza« bekannt: Hashem, der Großvater des Propheten, ist in Gaza begraben.

Die Kreuzritter eroberten unter Balduin I. Gaza, das sie Gadres nannten. 1170 entriss ihnen Saladin die Stadt. Unter mamelukkischer Herrschaft wurde sie Verwaltungssitz für den Küstenstreifen bis Cäsarea Maritima, zwischen dem heutigen Tel Aviv und Haifa. Die Stadt wuchs beträchtlich, laut Mou’in Sadeq, früher Generaldirektor für Tourismus, »mehr als in jeder anderen Epoche der islamischen Zeit«, weswegen Gazas Altstadt ein »Architekturparadies für Wissenschaftler und Touristen ist.«7

Nach der Pest von 1348, die viele hinwegraffte, erlebte die Stadt einen Niedergang. Durch Vasco da Gamas Entdeckung neuer Seewege nach Indien Ende des 15. Jahrhunderts büßte Gaza seine strategische Bedeutung ein. Die Menschen entwickelten nun die Landwirtschaft weiter. Dank besonders üppiger Getreideernten nannte man Gaza »das Meer des Weizens.« Berichte aus dem 15. Jahrhundert bezeugen die Existenz einer beträchtlichen jüdischen Gemeinde. 1660 wurde Gaza die Hauptstadt Palästinas.

Über die folgenden circa 140 Jahre ist nicht allzu viel bekannt. Erst mit Napoléon rückt es wieder in den Fokus des Interesses. Der Franzose erreichte 1798 mit 36.000 Soldaten und 167 Ingenieuren Ägypten und eroberte Alexandria und Kairo. Als das Osmanische Reich Napoléon den Krieg erklärte, zog dieser den Feinden entgegen. Dabei eroberte er Gaza und brannte die meisten Häuser nieder.

Endes des 19., Anfang des 20. Jahrhundert, unter Ägyptens Vorherrschaft, wuchs Gazas Bevölkerung von 16.000 (1885) auf 40.000 (1906); laut Baedekers Reiseführer hatte Jerusalem zur selben Zeit 60.000 Einwohner.

Wann fuhr der letzte Zug durch Gaza?

Beim Blick auf die grün-ockerfarbene Fahrkarte 0353 der dritten Klasse kann man wehmütig werden. Mit Palestine Railways konnte man vom ägyptischen El Kantara durch den Nordsinai nach Tel Aviv fahren, via Rafah und Gaza-Stadt. Google Maps kann die Entfernung nicht ermitteln. Die Internetseite luftlinie.org gibt diese, übers Mittelmeer führend, mit 271, die Fahrstrecke mit 734 Kilometern an.8 Fahrgastfreundlich ist das Ticket dreisprachig ausgestellt: Englisch, Arabisch, Hebräisch.9

Ein Streckenplan (Stand 1924) in einem 1933 veröffentlichten Atlas stimmt einen noch wehmütiger. Südlich von Gaza-Stadt (auf der Karte abgeschnitten), vermutlich von Rafah, konnte man in westlicher Richtung bis »Berseba« (arab. Bi’r as-Sab’, hebr. Be’er Scheva) reisen. Von Haifa ging es ebenfalls westwärts bis »Dera«, heute in Südsyrien, und von dort nach Damaskus.

Die deutsch beschriftete Karte gibt auch Auskunft über das Gesamtstreckennetz: »Total 1100 km« sowie die Aufteilung in Normal- und Schmalspur, mit jeweils etwa hälftigem Anteil. Die Streckenlänge »Kantara-Ludd-Haifa (Normalspur 4’ 8½’)« betrug seinerzeit 415 Kilometer. Ludd ist das heutige Lod (hebr.) nahe des Flughafens Tel Aviv, auf Arabisch heißt die Stadt Ludd/Lydda.

Vollends wehmütig wird man mit Blick auf ein Werbeplakat von 1922, auf dem die Palestine Railways auf Englisch mit »schnellen und bequemen Reisemöglichkeiten zu allen Regionen Palästinas« warb, »mit Anschluss nach Ägypten, Syrien, Transjordanien«, Schlaf- und Speisewägen ebenso inklusive wie »Day and Night Saloons.«10

Geht denn hier alles rückwärts?, ist man geneigt zu fragen. War man vor hundert Jahren schon mal weiter? In Sachen Eisenbahnverkehr heißt die Antwort: Leider ja.

Wen bevorteilte die britische Mandatsverwaltung?

Nach Niederlage und Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im ersten Weltkrieg übertrug der Völkerbund 1923 Großbritannien das Palästina-Mandat. Schon 1917 hatten die Briten in der Erklärung ihres Außenministers Balfour den Juden eine »nationale Heimstätte« in Palästina zugesagt; zum einen mit Blick auf Einflusssphären im Nahen Osten, aber auch, um von jüdischen bzw. zionistischen Organisationen Unterstützung für die Kriegsführung zu erhalten. Dabei betonte die Erklärung ausdrücklich, dass die Belange der Christen und Muslime nicht beeinträchtigt werden durften. Der israelische Historiker Tom Segev erläutert die britische Motivation. »Der Erklärung lagen nicht politische oder diplomatische Interessen zugrunde, sondern Vorurteile, Glauben und geschicktes Taktieren. Die Männer, die sie hervorbrachten, waren Christen, Zionisten und – in vielen Fällen – Antisemiten. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, dass die Juden die Welt kontrollieren.«11 Den widersprüchlichen Gefühlsmix der damaligen britischen Entscheidungsträger gegenüber Juden charakterisiert Segev als Bewunderung und Verachtung, Liebe und Abscheu, vor allem aber als Furcht. Zeitgleich zur Balfour-Erklärung hatten die Briten dem Scherif Hussein Ibn Ali ein unabhängiges arabisches Königreich samt Heiligem Land in Aussicht gestellt. »Die britische Regierung dachte nicht im Traum daran, das gegebene Versprechen zu halten«12, meint der israelischdeutsche Historiker Michael Wolffsohn.

Mit zunehmender jüdischer Einwanderung ab den 1920er Jahren nahmen blutige Zusammenstöße zwischen Zionisten und Arabern zu, die ihre Existenzgrundlage schwinden sahen. Von 1936 bis 1939 erhoben sich Letztere in der arabischen Revolte und forderten von der britischen Mandatsmacht einen Einwanderungsstopp und ein Ende der Landvergabe an Juden. Die Briten schlugen den arabischen Widerstand brutal nieder, schränkten aber ab 1939 die Einwanderung stark ein. Ihnen war klar: Das Land musste aufgeteilt werden. Auf den Peel-Teilungsplan von 1937 folgten weitere Teilungspläne, bis schließlich 1947 die Vereinten Nationen auch einen vorlegten: Er sah einen jüdischen Staat (56,47 % des Mandatsgebietes) neben einem arabischen Staat (42,88 %) vor.13 Der Bevölkerungsanteil der Juden betrug etwa ein Drittel, der der Palästinenser zwei Drittel, die etwa 90 Prozent des Bodens besaßen.

»Die zahlreichen Komitees, die von der britischen Regierung und den Vereinten Nationen nach Palästina entsandt wurden, um das jüdisch-arabische Problem zu untersuchen, regten eine lebhafte interne Debatte unter Palästinensern an«,14 erklärt die Politologin Maysoun Ershead Shehadeh von der Bar-Ilan-Universität bei Tel Aviv. Für sie ist die Mandatszeit ein »herausragender Referenzpunkt der palästinensischen Geschichte, weil die Palästinenser zum ersten Mal die Möglichkeit fühlten, eine unabhängige Nation unter Nationen zu sein – als ethnisch-nationale Mehrheit in ihrem Heimatland und souveräner Staat.«

Doch bevorteilte die britische Mandatsmacht die zionistisch-jüdische Seite. Der war es gestattet, Land zu erwerben, Landwirtschaft zu betreiben, Industrie anzusiedeln und Banken zu gründen. Laut dem palästinensischen Politiker Haidar Abdel Shafi (1919-2007) erlaubte Großbritannien zudem »der jüdischen Gemeinschaft … die Ausbildung an und Herstellung und Besitz von Waffen, während es dies den Arabern unter Androhung drastischer Strafen untersagte.«15

Tom Segev fällt über die 1948 endende britische Mandatszeit dieses Urteil: »Die Briten hielten ihr den Zionisten gegebenes Versprechen, sie öffneten das Land für die massive Einwanderung von Juden. Bis 1948 nahm der jüdische Bevölkerungsanteil in Palästina um mehr als das Zehnfache zu.« Mit britischem Einverständnis errichteten Juden Hunderte neuer Ortschaften, schufen ein Schulsystem und eine Armee. »Das alles trug letztlich dazu bei, dass sie die Araber besiegten …. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme, die Briten seien pro-arabisch gewesen, förderte die britische Politik das zionistische Unternehmen.«16

Welche Zahlen verbergen sich hinter der Nakba?

Am 14. Mai 1948, einen Tag vor dem Abzug der britischen Mandatstruppen, rief David Ben Gurion in Tel Aviv den Staat Israel aus. Daraufhin eilten der Libanon, Syrien, der Irak, Ägypten und Transjordanien – so damals noch die offizielle Bezeichnung für Jordanien – den Palästinensern zu Hilfe und griffen den jüdischen Staat an. Für Israelis heißt dieser Waffengang Unabhängigkeitskrieg, für Palästinenser Nakba (arab. Katastrophe), für andere erster israelisch-arabischer Krieg. Israel erachtete die im UN-Teilungsplan vorgesehenen Grenzen als hinfällig und eroberte mithilfe tschechoslowakischer Waffen große Gebiete in Galiläa, um Be’er Sheva und an der ägyptischen Grenze.

Dank Forschungen des israelischen Historikers Ilan Pappe ist belegt: Ab Dezember 1947 hatten die jüdische Untergrundmilizen Haganah, Irgun und Stern begonnen, palästinensische Orte oder Stadtviertel zu »säubern«, darunter Jaffa und Tiberias. Unter dem Decknamen Plan Dalet (D) war ein halbes Jahr vor Mandatsende der Vertreibungsplan entworfen, überarbeitet, abgesegnet worden. Für Ilan Pappe bedeutet dessen Umsetzung eine ethnische Säuberung und nach heutigem Völkerrecht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Vor Kriegsbeginn hatten Milizen bereits 212 palästinensische Orte entvölkert, bei Kriegsende 531 Dörfer und elf Stadtteile. Als ich damit den israelischen Historiker Tom Segev konfrontierte, antwortete er: »So viele sind es ungefähr. Ob es 460 oder 560 sind«, liege an der Zählweise. »Aber es besteht kein Zweifel daran, dass Hunderte von Dörfern … zerstört und evakuiert wurden.«17 Was dann geschah, erläutert die Nakba75-AG: In Städten wie Jaffa, Haifa oder Westjerusalem übernahmen Juden palästinensische Häuser oder Geschäfte. »In 120 unzerstörten Stadtvierteln und Dörfern wurden 200.000 Jüdinnen und Juden untergebracht. Aber keiner der vertriebenen oder geflohenen Palästinenser durfte zurückkehren. Ihr Land, ihre Immobilien, Betriebe, Plantagen und Bankguthaben wurden entschädigungslos enteignet.«18

Wie sehr schmerzt die Nakba Menschen in Gaza bis heute?

Najwa Sheikh Ahmed hatte sich nie für ihre Wurzeln interessiert, dafür, woher Eltern und Großeltern stammten. Das änderte sich, als ihr Lehrer die Aufgabe stellte, einen Aufsatz über die eigene Herkunft zu schreiben. Als das im Flüchtlingslager Khan Younis geborene Mädchen seinen Vater ausfragte, wurde dieser ganz aufgeregt. »Er war wie ein Kind, dem man die Möglichkeit gab, über das zu sprechen, was er wie einen Schatz hütete. Mit Leidenschaft, Gram und einem Gefühl des Verlustes erzählte mein Vater über al-Majdal bei Tiberias, wo er aufgewachsen war.«19 So beschrieb die Schülerin, die sich selbst als »Flüchtling« fühlt, weil sie in einem solchen Lager aufwuchs, die aufwühlende Reise in die Vergangenheit der Familie.

Die Worte des Vaters berührten das Mädchen so tief, dass es aufhörte mitzuschreiben. Der Vater schilderte »mit Stolz und Schmerz« das Dorf als einen Ort, »an dem Menschen sehr glücklich lebten, auch wenn sie gerade so über die Runden kamen.« Für ihn war es ein »Paradies.«

1948 hatte das Dorf, wohl an der Stelle des neutestamentlichen Magdala errichtet, laut der israelischen Organisation Zochrot 420 Einwohner, die Getreide und Gemüse, Zitrusfrüchte und Bananen anbauten.20 Eine andere Quelle bezeichnet den Ort als Fischerdorf. Im Aufsatz von Najwa Sheikh Ahmed erfährt man darüber nichts, nur von einem Feigenbaum, einer Quelle und der Moschee ist die Rede.

»Wenig weiß man über die Besatzung durch israelische Streitkräfte«, erklärt Zochrot. Als gesichert gilt hingegen, dass die Einwohner am 22. April 1948, gut drei Wochen vor Ende des britischen Mandats und vor Beginn des ersten israelisch-arabischen Krieges, al-Majdal verließen. »Die Entvölkerung geschah wohl teilweise durch einen militärischen Angriff, war aber wohl auch der Tatsache geschuldet, dass Tiberias am 18. April besiegt und eingenommen worden war, was (die Bevölkerung) demoralisierte.«21

1998 wollte Najwa Sheikh Ahmed zwei Brüder in den Vereinigten Staaten besuchen. Nachdem sie das Visum in der US-amerikanischen Botschaft in Tel Aviv selbst abgeholt hatte (das war damals möglich!), bat sie einen Freund, er solle sie nach al-Majdal fahren. Während der Fahrt versuchte sie sich an die Erzählungen der Eltern »über ihr Haus, die Moschee im Ortskern, die süßen Früchte des Feigenbaumes« zu erinnern. »Mein Herz schlug mir bis zum Halse. Ich fühlte mich freudig erregt, mein Körper zitterte vor lauter Vorfreude«, bekannte sie. Die Moschee samt Minarett fand sie vor, in deren Gewölbe jedoch eine Schmiede, eine Bar und ein Café.

In den Gazastreifen zurückgekehrt, erwarteten die Eltern angespannt ihren Bericht. »Was hatte ich gesehen? War alles noch so, wie sie es beschrieben hatten? Stand die Moschee noch? Mit angehaltenem Atem wollten sie immer mehr hören.« Najwa Sheikh Ahmed spürte »den Verlust, den Schmerz und die Verzweiflung in ihren Stimmen.« Sie hegte den Wunsch, sie einmal nach al-Majdal mitnehmen zu können, »aber das war unmöglich.« Hilflos erlebte sie mit, wie die Eltern »dagegen ankämpfen, das zu verlieren, was sie über so viele Jahre hinweg in ihren Herzen bewahrt haben.« Der Text endet traurig: »Meine Großeltern sind mit dem Traum von ihrem Haus mit Feigenbaum und Wasserquelle gestorben. Es schmerzt mich, zu wissen, dass meine Eltern wahrscheinlich mit demselben Traum sterben werden.«

Der Aufsatz, den die Schülerin Najwa vor der Klasse vorlesen durfte, trägt den Titel: »Das verlorene Paradies meines Vaters.«

Wie sah die 18 Jahre währende ägyptische Herrschaft aus?

Der Gazastreifen ist ein künstliches Gebilde. Wie kam es dazu?

Im genannten ersten israelisch-arabischen Krieg nahmen ägyptische Soldaten bald Gaza ein, wo sie ihr Hauptquartier errichteten. Die Encyclopaedia Britannica erläutert dazu: »Infolge heftiger Kämpfe im Herbst 1948 wurde das Gebiet um die Stadt unter arabischer Besatzung zu einem Streifen von 25 Meilen Länge (40 km) und vier bis fünf Meilen Breite (6-8 km)22 verkleinert. Dieses Gebiet, gerade einmal ein Prozent der Fläche des Mandatsgebiets Palästina, wurde als Gazastreifen bekannt. Die Grenzen wurden im ägyptischisraelischen Waffenstillstandsabkommen am 24. Februar 1949 festgelegt.«23 Der Grenzverlauf wurde mit grüner Farbe markiert, weshalb sie (wie auch die Grenze zum Westjordanland) bis heute Grüne Linie heißt.

Hauptproblem für die ägyptischen Verwalter (andere Sicht: Besatzer) war die große Zahl an geflüchteten und heimatvertriebenen Palästinensern, die in extremer Armut in armseligen, slumähnlichen Lagern lebten. Ägypten betrachtete den Küstenstreifen »nicht als Teil Ägyptens, verlieh den Flüchtlingen nicht die ägyptische Staatsangehörigkeit, erlaubte ihnen weder die Weiterreise nach Ägypten noch in andere arabische Staaten, wo sie möglicherweise integriert worden wären.«24 Fakt ist: Ägypten setzte eine Militärregierung für den Gazastreifen ein.25

Wie empfanden die Menschen in Gaza die ägyptische Militärregierung?

Die Quellenlage zu den 18 Jahren unter ägyptischer Kontrolle ist dünn. In vielen Artikeln wird diese Zeit in zwei bis fünf Sätzen abgehandelt. Betroffene kommen dabei nicht zu Wort. Im Gespräch mit ebendiesen zwischen 2005 und 2008 im Gazastreifen ergab sich allerdings ein widersprüchliches Bild. Da wird diese Zeit als goldene geschildert, zum Beispiel von Gazas damals bekanntestem Psychiater Dr. Eyyad Sarraj (1944-2013): Er habe gratis in Ägypten studieren können. »Gamal Abdel Nasser machte für alle aus Gaza das Studium an ägyptischen Universitäten kostenlos. Oft erhielten sie sogar noch Geld für den eigenen Lebensunterhalt. Das ist keine Besatzung.« Die Menschen in Gaza hätten sie auch nicht so erlebt. »Wir waren frei und wurden wie Ägypter behandelt, wenn nicht sogar besser.« Diese nennt er »unsere Verbündeten und Brüder.«

Kritisch äußerte sich dagegen der damals hochbetagte Anwalt, Christ und ehemalige Abgeordnete Farraj Bischara al-Sarraf (1919-2010). Die Ägypter möge man als Brüder, nicht als Herrscher, bekannte er, kritisierte ihre Verwaltung und sprach von »Unterdrückung.« Für den Historiker al-Mubeied verkörperte der ägyptische Präsident den, »der unsere nationale Identität bewahrte.«26

Der Islam- und Politikwissenschaftler Christoph Dinkelaker liefert ergänzende Informationen. 18 Jahre lang »bestimmten ägyptische Militärgouverneure die Geschicke im Gazastreifen«, verfolgten Mitglieder der kommunistischen Partei und der Muslimbruderschaft und schränkten politisches Tun stark ein. »Doch Aufstände gegen die Militärverwaltung blieben aus.« Auch wenn sich ab 1957 Palästinenser in Ägypten frei bewegen konnten und die Wirtschaft dank der Freihandelszone Gaza einen Aufschwung erlebte, charakterisiert Dinkelaker diese Zeit als »Fremdherrschaft« und »arabische Vormundschaft über die palästinensische Sache.«27

Was genau leistet die UNRWA?

Deutschland ist Europas Hauptgeldgeber der UNRWA; allein 2022 überwies es über 190 Millionen Euro an UNRWA-Einrichtungen und Projekte, »um die Menschenrechte von palästinensischen Flüchtlingen in der Region zu schützen und zu stärken.«28 Dieses UNRWA Europe communiqué n. 9, wenige Tage vor dem Hamas-Massaker veröffentlicht, teilte mit, dass Deike Potzel, Generaldirektorin im Auswärtigen Amt, weitere zehn Millionen Euro zugesichert hatte.

Wohin fließt das Geld und was überhaupt ist die UNRWA?

Die Resolution 302 (IV) der UN-Generalversammlung vom 8. Dezember 1949 erteilte den Auftrag, direkte Fürsorgeleistungen und Arbeitsprogramme für palästinensische Flüchtlinge bereitzustellen: Die UNRWA war geboren, die United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East [Flüchtlingshilfswerk für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten]. Da die palästinensische Flüchtlingsfrage bis heute ungelöst ist, hat die Generalversammlung das UNRWA-Mandat seitdem regelmäßig verlängert, zuletzt bis zum 30. Juni 2026.

Diese Agentur der Vereinten Nationen nahm am 1. Mai 1950 die Arbeit auf und kümmert sich seitdem um vier Generationen palästinensischer Flüchtlinge in 58 Lagern: in Syrien, im Libanon, in Jordanien, im Westjordanland und im Gazastreifen. Die UNRWA versorgt sie mit Nahrungsmitteln, stellt Unterkünfte und Kleidung zur Verfügung, transportiert den Müll aus den Lagern ab, kommt für Schulbildung und medizinische Versorgung auf, vergibt Mikrokredite und Universitätsstipendien und leistet Nothilfe.

Als Flüchtling gilt der, dessen Wohnort zwischen Juni 1946 und Mai 1948 in Palästina lag und der sowohl Haus als auch Lebensgrundlage infolge des arabisch-israelischen Krieges von 1948/49 verloren hat. Die letzten Flüchtlinge und Heimatvertriebenen strandeten 1951 im Gazastreifen; sie kamen aus dem Negev.

Übrigens: Auch die Nachkommen der Vertriebenen sind als Flüchtlinge anerkannt.

Warum ist der Gazastreifen ein besonderes Arbeitsfeld für die UNRWA?

Als ich 1986 erstmals Flüchtlingslager im Gazastreifen besuchte, war ich schockiert, vor allem im Beach-Camp unweit des Strandes. Es erinnerte mich an Fernsehbilder südamerikanischer Elendsviertel mit Wellblechhütten und ungeteerten Straßen. Das Abwasser floss in einer offenen Rinne durch das Lager. Dazu die Enge! Ist Privatsphäre überhaupt denkbar, wenn der Nachbar nur eine Armlänge weiter fernsieht oder kocht?

Dieses Lager, auch Shati oder al-Shati genannt, wurde 1948 für etwa 23.000 Palästinenser errichtet, die aus Jaffa, Lydda/Lod und Be’er Sheva oder aus Dörfern unweit dieser Städte vertrieben worden waren. 2023 zählte das Lager über 90.000 UNRWA-registrierte Flüchtlinge29 – auf einem halben Quadratkilometer! Diese Bevölkerungsdichte ist fast das Sechsfache des Spitzenreiters der Top-10-Weltrangliste: Mogadischu (ca. 33.000 / qm).30

Der Gazastreifen ist unter den fünf Arbeitsorten der UNRWA insofern einzigartig, als die Mehrheit der 2,2 Millionen Einwohner eingetragene Flüchtlinge sind. Leider stiftet die Internetseite der UNRWA selbst Verwirrung, wenn sie die Flüchtlingszahl mit 1,7 und die der »registrierten Flüchtlinge« mit 1,47 Millionen angibt. Insgesamt sind im Nahen Osten 5,9 Millionen Palästinenser »berechtigt, UNRWA-Leistungen in Anspruch zu nehmen.«31

Damit ist jeder vierte palästinensische Flüchtling im Nahen Osten in einem der acht Lager des Gazastreifens zuhause. Circa 13.000 UNRWA-Mitarbeiter, größtenteils selbst Flüchtlinge, arbeiten in über 300 Einrichtungen, darunter 183 Schulen mit 286.645 Schülern, 22 Kliniken oder Arztpraxen und sieben Frauenzentren.32 Dem israelischen Journalisten Anshel Pfeffer zufolge ist die UNRWA nach der Hamas und der Palästinensischen Autonomiebehörde der drittgrößte Arbeitgeber im Gazastreifen.33

Wie ist das Leben in einem Flüchtlingslager?

»Mein Gott, das ist ja die Hölle hier!«, dachte Anita Aghazarian, als sie 1978 ins Flüchtlingslager Dschabaliya hineinfuhren.34 Eine Stunde zuvor waren sie zu viert in Jerusalem aufgebrochen, wo die deutsche Anita mit ihrem armenisch-palästinensischen Ehemann lebte. An Bord waren außer dem Ehepaar ein aus Gaza stammender Taxifahrer sowie ein Priester aus dem Ruhrgebiet. Dieser unterstützte ein Patenkind im SOS-Kinderdorf in Bethlehem, das er jährlich besuchte. Wieder stand ein solcher Besuch an. Da teilte ihm die Leitung des Kinderdorfes mit, der Junge sei von »seinem Stamm abgeholt« worden und lebe wieder in einem Flüchtlingslager Gazas. Grund für die Rückführung: Er sei nun im arbeitsfähigen Alter. Über den Taxifahrer, der täglich Zeitungen von Jerusalem nach Gaza lieferte, hatte Anitas Ehemann den Jungen ausfindig gemacht.

Kaum waren die vier in den Gazastreifen hineingefahren, im eigenen Pkw (!), war Anita Aghazarian »geschockt über die vielen Menschen, den Lärm, zerbeulte Autos«, zwischen denen sich Esels- und Handkarren bewegten, dazu die »hässlichen Häuser, die Enge, die Abfälle und Abwasserrohre auf den Straßen.« Wie viele Menschen hier auf engstem Raum lebten – sie war fassungslos. Als die drei dann das Flüchtlingslager (sie glaubt, es war Dschabaliya) erreichten, »stürmten Hunderte von Kindern und Jugendlichen, nur Jungen, auf unser Auto zu und wir mussten anhalten.« Die Fassungslosigkeit der Deutschen steigerte sich, als sie um sich blickte: Staubstraßen und elende Häuser, zerfallene Unterkünfte und »diese trostlose Umgebung.« Ihr Urteil: »die Hölle!«

Anitas Mann und der Taxifahrer baten darum, den Scheich des Stammes zu treffen. Dann tauchten Männer in traditioneller Kleidung auf und »führten uns durch engste, verwinkelte staubige Gassen zu einem Hof mit Gebäude.« Der israelische Autor Yoram Binur, der sechs Jahre später in Dschebalja (seine Schreibweise) lebte, beschreibt die Enge so, dass »zu beiden Seiten die Schultern gegen Mauern streifen.«35

Die Vier auf der Suche nach dem Jungen wurden »in einen sauberen Empfangsraum gebeten, den Diwan.« Anita erhielt »strengstes Redeverbot« von ihrem Mann, man wartete, trank Tee, plötzlich öffnete sich die Tür und der Scheich erschien. »Buchstäblich eine Erscheinung aus 1001 Nacht und das in einer solchen Umgebung!« Wieder war Anita Aghazarian fassungslos, diesmal positiv-fassungslos. Der Mann, sie schätzte ihn auf 40, trug eine »schneeweiße gebügelte makellose Galabiye (Umhang) mit traditionellem Kopftuch, war eine absolute Schönheit mit seinen blitzenden schwarzen Augen.« Genauso hatte sie sich einen Scheich vorgestellt. Die üblichen Rituale der arabischen Begrüßungszeremonie mit Grußfloskeln und Segenswünschen folgten. Der Junge, etwa zwölf Jahre alt, wurde geholt und »als er den Pfarrer sah, liefen ihm sofort die Tränen. Auch der Pfarrer weinte.« Der Junge, wohl eingeschüchtert, traute sich nicht, mit dem Pfarrer zu sprechen, wie sie es früher auf Englisch getan hatten. Ein Versuch, den Scheich zu einer Rückkehr des Jungen nach Bethlehem zu bewegen, damit dieser die Schule abschließen konnte, scheiterte. »Wir sind dann sehr traurig zurück nach Jerusalem gefahren.«

»Aus den Häusern fließt das Abwasser direkt in offene Kanäle, die sich wie hässliche, übelriechende Wundnarben durch das Lager ziehen«36 – auch Binur war schockiert vom Lageralltag. Mitunter, so erfuhr er, schwammen die Leichen von hingerichteten Kollaborateuren »im fauligen Wasser«37. Angesichts der »erbärmlichen Bedingungen« richte sich »die aufgestaute Wut und Frustration« selbst von Intellektuellen gegen den Staat Israel und »alles, was nur den geringsten Beigeschmack von Zionismus hatte.«38 Kein Wunder, dass die beiden Intifada-Aufstände vor allem in den Lagern einen hohen Blutzoll forderten.

II.Die israelische Militärbesatzung 1967 bis heute

Die israelische Militärbesatzung seit 1967 hat viele Facetten: für Touristen und Pilger sichtbare wie den Siedlungsbau, Kontrollpunkte oder unbemannte Hindernisse. Daneben gibt es aber eine ganze Reihe unsichtbarer, bürokratischer Hürden. Die sehen in Ostjerusalem anders aus als im Westjordanland oder Gazastreifen. Viele Hindernisse sind der Tatsache geschuldet, dass Israel bis heute das Bevölkerungsverzeichnis der besetzten Gebiete kontrolliert und damit über Ein- und Ausreise verfügt. Im Folgenden sollen einige für den Gazastreifen geltende Facetten benannt werden.

Welcher israelische Premier fragte gelegentlich: »Wie viele Araber haben Sie bis jetzt vertrieben?«

»Ich will, dass sie alle gehen, und sei es auf den Mond.«39 Das äußerte der israelische Premierminister Levi Eshkol (1963-69) gegenüber Ada Sereni, der er 1967 das Transferprojekt von Flüchtlingen aus Gaza anvertraute. Er selbst hatte gut zehn Jahre zuvor als Finanzminister während der Besetzung des Küstenstreifens im Sinai-Feldzug eine halbe Million Dollar bereitgestellt, um die Auswanderung von 200 Flüchtlingsfamilien zu finanzieren.

Ada Sereni war 1905 in Rom als Tochter der wohlhabenden, angesehenen jüdischen Familie Ascarelli zur Welt gekommen. Nach ihrer Heirat wanderte sie mit ihrem Mann 1927 ins britische Mandatsgebiet Palästina ein. In den 1950er Jahren schloss sich die tatkräftige Frau der israelischen Geheimorganisation Nativ an, die Juden unterstützte, die Sowjetunion zu verlassen. Sereni war von Eshkol in der Hoffnung ausgewählt worden, dank ihrer Kontakte in Italien könne sie die Umsiedlung von Flüchtlingen aus dem Gazastreifen nach Libyen, einst italienische Kolonie, bewirken. Eine von Serenis Ideen war, Palästinenser für 1.000 Dollar pro Familie in Südamerika oder in den USA anzusiedeln. Sie selbst reiste viel, setzte zudem »Reiseagenten« ein und veranlasste, dass israelische Botschafter in Südamerika Fragebögen zu Einwanderungsperspektiven ausfüllten. Die Armee errichtete regelrechte »Auswanderungsbüros« in Gazas Flüchtlingslagern. Reiseagenten erbaten von den palästinensischen Muchtars, den Dorfvorstehern, Listen der Familien, die getrennt worden waren. Einmal schickte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz einen »Jugendlichen zu Serenis ›Reiseagenten‹, um zu sehen, was sie im Angebot hatte. Sein Vater war bereits ausgewandert. Man bot ihm 500 israelische Pfund, wenn er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern emigrierte.« Das war Ende der 1960er Jahre weniger als ein durchschnittliches israelisches Monatsgehalt.40

Bei Serenis fast wöchentlichen Besprechungen mit Eshkol ging es häufig um Geld. Einmal wollte sie 100 Millionen israelische Pfund, er lehnte ab, sie verlangte die Hälfte und fragte, ob er nicht einverstanden sei, »die Angelegenheit im Gazastreifen für vierzig Millionen israelische Pfund zu erledigen?« Das sei doch ein »sehr vernünftiger Preis!« Ein andermal ging es um den Transfer eines ganzen Stamms von Tausend Familien aus dem Flüchtlingslager Dschabaliya.

Das Kabinett beschloss bei den Beratungen zum neuen Staatshaushalt, dass der Lebensstandard im Gazastreifen »vernünftig« bleiben, jedoch nur noch »knapp an die Lebensqualität vor der Besetzung heranreichen« sollte. Es sollten daher keine neuen Arbeitsplätze oder Einkommensmöglichkeiten in den Lagern entstehen. Die Arbeitslosigkeit im Gazastreifen war jedoch bereits auf fast 17 Prozent gestiegen.

Eshkol fragte Sereni gelegentlich bei den Unterredungen, ob es »irgendeine Hoffnung« gebe, oder ganz direkt: »Wie viele Araber haben Sie bis jetzt vertrieben?« In den ersten drei Monaten ihres Mandats sollen ihr zufolge fast 15.000 Menschen den Gazastreifen verlassen haben. Wie viele es ohne Israels Zutun beziehungsweise aufgrund von Serenis Bemühungen waren, lässt sich nicht ermitteln. Schätzungen gehen insgesamt von bis zu einer Viertelmillion Palästinensern aus, die dem Gazastreifen oder dem Westjordanland den Rücken kehrten.

2019 räumte ein hochrangiger israelischer Regierungsmitarbeiter ein, dass Israel die Auswanderung aus dem Gazastreifen nach wie vor fördere, Aufnahmeländer suche und sogar den Abflug von einem israelischen Flughafen erlaube. Ihm zufolge verließen 2018 etwa 35.000 Gazaner den Küstenstreifen.41 Der Historiker Tom Segev bettet das in ein größeres Bild ein: »Die Hoffnung, die Araber aus Palästina in andere Staaten transferieren zu können, hatte die zionistische Bewegung von Anfang an begleitet.«42

Was bedeutet die »Haussmannisierung Gazas«?

Was für andere Guerillaorganisationen die Berge oder der Dschungel, das waren die Flüchtlingslager für die Fatah, die PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas) und andere bewaffnete Gruppen. Nach Israels Besetzung von Westjordanland und Gazastreifen 1967 hatten sie begonnen, bewaffnete Zellen aufzubauen. Aus dem dichten, undurchsichtigen Geflecht der Lager heraus starteten diese ihre Operationen gegen die Besatzungsstreitkräfte, israelische Zivilisten und der Kollaboration verdächtigte Landsleute.

Ariel Scharon war bereits in seiner Zeit bei der berüchtigten Einheit 101 zu der Auffassung gelangt, bei dem Konflikt mit den Palästinensern handele es sich um »ein urbanes Problem.«43 Scharon, ab 1969 Chef des Südkommandos der israelischen Armee, wollte die Lager, in israelischen Augen die »Behausungen des Terrors«, umgestalten. Denn die schachbrettartig angelegten Straßen mit ihren vorgefertigten Hütten hatten sich zu einem chaotischen Labyrinth aus Gassen von nicht einmal einem Meter Breite verwandelt. Der Armee war es unmöglich, in sie einzudringen, jemanden zu verhaften oder Steuern einzutreiben.

Im Juli 1971 begann Scharon mit der Aufstandsbekämpfung. Er verhängte Ausgangssperren, ließ auch bei leichtem Verdacht der Aufstandsbeteiligung scharf schießen und setzte Mordkommandos ein. Mehr als tausend Palästinenser wurden getötet. Zudem ließ er Bulldozer der Armee breite Schneisen in die drei Flüchtlingslager Djabalia, Rafah und Shati schlagen. Etwa 6.000 Wohnungen wurden in sieben Monaten beschädigt oder zerstört. Der Architekt und Besatzungsforscher Eyal Weizmann nennt es »Gestaltung durch Zerstörung« und »das jüngste und brutalste Kapitel in der städtebaulichen Geschichte«44 der Flüchtlingslager. Angelehnt an den Städteplaner von Paris, Baron Haussmann, spricht Weizmann von der »Haussmannisierung Gazas.«

Wann wurde Rafah geteilt?

Taxifahrer Maher deutet in der Grenzstadt Rafah auf ein palästinensisches Haus und ein ägyptisches. 100 bis 200 Meter mögen dazwischen liegen. Die beiden Häuser, behauptet der palästinensische Christ, seien höchstwahrscheinlich durch einen Tunnel verbunden. Die Palmen wirken trostlos, fast jedes palästinensische Haus hier weist sommersprossengleich Einschusslöcher auf. Bei einem Wohnhaus höre ich bei 100 mit dem Zählen auf.

Wann wurde die Stadt geteilt?

»Als Israel sich von der Sinai-Halbinsel 1982 zurückzog, baute es eine Mauer … zwischen Gazastreifen und Ägypten. Dadurch wurde die Stadt Rafah zweigeteilt. Familien waren plötzlich durch eine internationale Grenze auseinandergerissen, obwohl ihre Häuser oft weniger als 100 Meter auseinanderlagen.« So heißt es im Film Tunnel Trade45, der 2007 von Al Jazeera ausgestrahlt wurde.

Shir Hever, gebürtiger Israeli mit Wohnsitz Heidelberg, nennt dagegen 1906 als Jahr der Teilung. Der Geschäftsführer des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V. erklärte im Februar 2024 in dem Beitrag »In Rafah bahnt sich eine Katastrophe« an, dass die Stadt »durch den britischen Kolonialismus in zwei Hälften geteilt« worden sei, »eine Hälfte in Ägypten unter britischer Herrschaft und die andere unter dem Osmanischen Reich.«46 Die Süddeutsche Zeitung jedoch bestätigt die erstgenannte Zahl: »Der Grenzübergang wurde 1982 eingerichtet, als die Stadt in der Folge des israelisch-ägyptischen Friedensvertrags geteilt wurde.«47

Abgaben von Tagelöhnern – oder: Was ist eine »Lebenssteuer«?

»Bürokratie kann dein Leben ruinieren!«48 Diesen Satz von Dalia Kerstein, Direktorin der Menschenrechtsorganisation HaMoked in Ostjerusalem, werde ich nie vergessen. Ich rufe ihn mir alljährlich ins Gedächtnis, wenn ich an meiner Steuererklärung zu verzweifeln drohe, Flüche ausstoße oder mich frage, was Sätze wie dieser besagen: »Der Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten stützt sich auch auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AO und umfasst deshalb auch die Frage einer eventuellen einfachgesetzlich begründeten steuerlichen Berücksichtigung.«

Palästinenser in den besetzten Gebiete haben es mit Formularen, Bescheiden, Quittungen und (z. B. in Jerusalem) Rechnungen in der Fremdsprache Hebräisch zu tun. Die sprechen die meisten gar nicht oder nur leidlich: Oft nur so viel, dass sie sich einigermaßen auf der Baustelle, in der Fabrik oder der Zitronenplantage verständigen können; Beherrschung in Wort und Schrift ist eher die Ausnahme. Zur Sprachhürde kommt hinzu, dass einem Palästinenser in einem israelischen Büro mit hoher Wahrscheinlichkeit jemand gegenübersitzt, der in ihm einen potenziellen Terroristen oder zumindest ein demografisches Risiko sieht.

Jahrelang befasse ich mich schon mit Israels Bürokratiehindernissen bei der Registrierung von Kindern, der Familienzusammenführung von Palästinensern mit ausländischen Ehepartnern oder dem Antrag auf Bau- oder Renovierungsgenehmigung. Kein Wunder, dass ich irgendwann glaubte, alle Facetten des ausgeklügelten Papierkriegs zu kennen. Bis ich bei der Recherche für dieses Buch auf die »Lebenssteuer« stieß. Amira Hass, Korrespondentin der israelischen Zeitung Ha’aretz, die jahrelang in Gaza lebte und nun in Ramallah arbeitet, hat sie ebenso entdeckt wie manch andere unsichtbare, bürokratische Falle.

»Lebenssteuer« nannten Palästinenser scherzhaft die Summe, die »nach bestem Wissen bei Nichtvorlage einer Steuererklärung«49geschätzt wurde. Die Journalistin Hass führt den Palästinenser Faisal an, einen Bau-Hilfsarbeiter und Tagelöhner. Sein Tageslohn betrug 50 NIS am Tag (Neuer Israelischer Schekel; damals umgerechnet 20 US-Dollar). Faisal schuldete dem israelischen Finanzamt 1987 für »ein geschätztes Einkommen von NIS 130.000 Schekeln ($ 52.000) die stattliche Summe von NIS 66.872.«50 Der israelische Finanzbeamte zeigte ihm den Computerausdruck, auf dem er als Subunternehmer eingetragen war. In Israel behält der Arbeitgeber die Steuern ein. Nur Selbständige sind zu einer Steuererklärung verpflichtet. Wiederholt behaupteten damals israelische Arbeitgeber, ihre palästinensischen Arbeiter seien Subunternehmer, um die Steuer nicht bezahlen zu müssen. All dies war Faisal unbekannt, als ihm der Beamte vorwarf, keine Einkommensteuererklärung eingereicht zu haben. Er kam glimpflich davon, da man ihm einen Kompromiss anbot: NIS 1.600.

Hass, die Formulare in »geschraubtem Hebräisch« ebenso gut kennt wie die für Palästinenser unumgängliche »bürokratische Odyssee«, urteilt über diese Steuer, die sogar einen Arbeitslosen mit einem hypothetischen Einkommen treffen konnte: »Die Lebenssteuer war eine Möglichkeit für die Zivilverwaltung, das Steueraufkommen in die Höhe zu treiben.« Damit gestalteten die Beamten der israelischen Zivilverwaltung »das tägliche Leben der Palästinenser ebenso mühsam wie die Soldaten es mit ihrem Auftreten taten: Eine starre, willkürliche Politik wurde auf höchster Ebene von der israelischen Regierung beschlossen und dann je nach Laune des jeweiligen Beamten in arroganter Weise umgesetzt.«51

Seit Mitte der 1990er Jahre ist diese Steuer Geschichte.

Warum sollte jemand aus Jerusalem nicht nach Gaza heiraten?

Gaza, April 2008: Mit dem Taxifahrer Khalil spreche ich über Israels Hürden bei der Familienzusammenführung. Er sei auch betroffen, sagt er zu meinem Erstaunen. Seine Frau, nennen wir sie Nadia, stammt aus Ostjerusalem. Seit 20 Jahren sind sie verheiratet und leben in Gaza. Dafür muss Nadia alle drei Monate im DCL-Büro (District Coordination and Liaison office) am israelischen Grenzübergang Erez eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Israels Militär kontrolliert bis heute das Bevölkerungsregister der palästinensischen Gebiete und bestimmt über Ein- und Ausreise sowie Aufenthalt.

Bei der letzten Verlängerung am 2. Dezember 2007 zerriss man Nadias Ausweis mit der Begründung, sie müsse diesen erneuern. Darauf fuhr sie zum israelischen Innenministerium nach Westjerusalem. Dort teilte man ihr mit, dass derzeit Ausweise weder ausgestellt noch verlängert würden, sie solle warten. Seitdem steckt sie in Jerusalem fest und kann nicht zu ihrem Mann zurückkehren. An Ostern 2008, wenige Wochen vor unserem Gespräch, erhielt Khalil für vier Tage einen israelischen Passierschein (Permit), um seine Frau besuchen zu können.

Heiratet ein Palästinenser aus dem Gazastreifen jemanden aus Ostjerusalem oder Israel, erlaubt ihm Israel keinen Umzug. Das Paar kann nur in Gaza leben, benötigt dafür jedoch die israelische Zustimmung.

Von der israelischen Menschenrechtsorganisation HaMoked erfuhr ich von Folgen für die Frauen; sie sind die überwiegend Betroffenen. Abeer Jubran erklärte, dass diese bei der Entscheidung für Gaza den bisherigen Ausweis einbüßen und fortan als Palästinenserinnen registriert würden. »Man kann den Gazastreifen nicht mehr verlassen.« Entscheide man sich für das Bleiben in Jerusalem oder Israel, »kann dein Mann nicht zu dir kommen.« Das sei »wirklich ein Dilemma für diese Frauen.« Palästinenserinnen aus Ostjerusalem besitzen den blauen Ausweis, an den Kranken- und Rentenversicherung gebunden ist. Abeer Jubran: »Dieser kann weggenommen werden, wenn ihr Lebensmittelpunkt nicht mehr Ostjerusalem ist. Nach israelischem Recht sind sie nämlich lediglich ständige Einwohner, aber keine Staatsbürger.«52

Jene Frauen wie Nadia, die sich für ein Leben in Gaza entscheiden, müssen alle drei Monate die Aufenthaltsverlängerung beantragen. Doch hat Israel die Bedingungen für solche Anträge nie veröffentlicht. Aufgrund der seit Jahren instabilen Situation waren manche Frauen nicht in der Lage, rechtzeitig das DCL-Büro zu erreichen. Manchmal war es geschlossen. Antragsteller bekamen auch zu hören, das Prozedere sei geändert worden, weswegen weitere Dokumente nötig seien. Eine weitere Erschwernis ist, dass viele Soldaten die Genehmigung eines Permits »als Hilfe für den Feind« erachten, wie der über hundert Seiten starke Bericht der Veteranenorganisation Breaking the Silence beweist. Dieser schilderte ein Leutnant, 2014 in Erez stationiert, seinen Dienst. »Ich war überzeugt, auf der humanen Seite zu sein.« Er war erleichtert, in seiner Kampfeinheit nicht mit Gewalt in Berührung zu kommen. Rückblickend bekennt er, dass es »eine andere Form von Gewalt ist: bürokratische Gewalt.« Zwischen den regelmäßigen Kriegen müssten die Gazaner nämlich »an sehr kurzer Leine gehalten werden«, sprich: nicht zu viele Ein- oder Ausreisegenehmigungen. Für ihn ist Gaza »ein Gefängnis«.

Breaking the Silence urteilt über das System der über 100 unterschiedlichen Permits: »Israelische Behörden behaupten, dass die Permits den Palästinensern Normalität ermöglichen, aber wahr ist das Gegenteil. Für Millionen von Palästinensern hängt ihr Alltag von einem unklaren labyrinthähnlichen System ab, in dem sie kein Mitspracherecht haben und das sie nicht kontrollieren können.« Die Aussagen der Soldaten bezeugen, dass das Permit-System alles andere bedeutete als Sicherheit für Israel, sondern »Kontrolle, Trennung und Management der palästinensischen Bevölkerung.«53

Wie kommt man vom Gazastreifen ins Westjordanland?

Der Atlas Israel-Palästina des AphorismA Verlags54