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Als Jeremias Thiel elf Jahre alt ist, macht er sich auf den Weg zum Jugendamt. Er hält es zu Hause nicht mehr aus, hat Angst, der Armut und Verwahrlosung, die dort herrschen, niemals entkommen zu können. Seine Eltern sind psychisch krank und leben von Hartz IV, die häusliche Situation ist mehr als schwierig. Von da an lebt er im SOS-Jugendhaus, bis er als Stipendiat auf ein internationales College geht und im Herbst 2019 sein Studium in den USA beginnt. Er ist sich sicher, dass viele, die in ähnlichen Verhältnissen leben, nicht die Möglichkeit haben, sich daraus zu befreien. In diesem Buch erzählt Jeremias seine Geschichte und liefert zugleich einen bewegenden und aufrüttelnden Appell für mehr soziale Gerechtigkeit.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Cover & Impressum
Prolog: Der Verrat
Mein zweigeteiltes Leben
Davor
Auf dem Kotten
Unscharfe Erinnerungen
Der schwarze Schrank
Meine Oma
Mein erster Schultag
In der Tagesgruppe
Meine Erstkommunion
Ein Geschenk für Papa
Besuch in der Psychiatrie
Kinderarmut in Deutschland
Was Hartz IV mit Kinderarmut zu tun hat
Einige Studien zum Thema Kinderarmut
Armut setzt Kinderrechte außer Kraft
Brüder mit ungleichen Chancen
Niklas und ich
Mein Halbbruder Stephan
Kein Pausenbrot
Armutszeichen
Wenn die anderen Fußball schauen
Die Sache mit dem Gymnasium
Bei der Tafel
Der Bleistift
»Niemand muss hungern in Deutschland«
Was Armut mit der Seele macht
Armut überfordert
Armut macht Stress
Armut macht depressiv
Armut macht Angst
Armut macht misstrauisch
Armut schadet der emotionalen Entwicklung
Macht Armut dumm?
Macht Armut kriminell?
Armut entwertet und radikalisiert
Fazit: Wir müssen ganzheitlich über Kinderarmut nachdenken
Danach
Interviews und Fernsehauftritte
Im Jugendhaus des SOS-Kinderdorfs
Freiraum für Engagement
Was sich in Deutschland ändern muss
Kinder sind Subjekte – Kinderrechte gehören endlich ins Grundgesetz
Kinder brauchen soziale Einbindung – Kindergärten, Schulen mit Ganztagsangebot etc. müssen stärker gefördert werden
Kinder haben vielfältige Talente – wir brauchen einen Talentfonds für junge Menschen
Kinder brauchen Würde und Stolz auf das, was sie leisten: Die 75-Prozent-Regelung für Jugendliche in der Jugendhilfe muss abgeschafft werden
Kinder und ihre Familien brauchen Unterstützung – Sozialausgaben für Kommunen erhöhen
Kinder brauchen Solidarität – wir müssen soziale Ungleichheit verringern und politisches Gleichgewicht schaffen
Kinder und ihre Familien brauchen Förderung nach ihren individuellen Möglichkeiten – »fördern und fordern« war gestern
Kinder brauchen Hilfe in Krisensituationen: Die psychosoziale Unterstützung von Familien muss dringend ausgebaut werden
Kinder brauchen das Kindergeld
Kinder brauchen Treffpunkte – Jugendtreffs sollten nicht nur von »sozial Schwachen« genutzt werden
Kinder brauchen Mentoren
Kinder brauchen mehr Austausch
Kinder und Jugendliche sind Experten in eigener Sache – wir brauchen Jugendparlamente in jeder Stadt und jedem Landkreis
Kinder brauchen (Erfolgs-)Geschichten
Warum ich SPD-Mitglied bin
Auf dem UWC in Freiburg
Blicke in eine andere Welt
Fremd in der eigenen Familie
Ohne Hilfe wäre es nicht gegangen
Jede Menge Resilienz
Was ist Resilienz?
Wie entsteht Resilienz?
Merkmale resilienter Kinder
Und was hat das alles mit mir zu tun?
Resilienz und Bildung
Resilienz kann man fördern und trainieren
Geschafft
Geschafft?
Dank
Quellen und Hinweise zum Weiterlesen
Nun sollte ich also endlich in die Schule gehen. Meine Eltern und auch andere Erwachsene machten eine große Sache daraus, der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Vom »Ernst des Lebens« war auf einmal die Rede, ohne dass ich auch nur ansatzweise verstand, was sie damit wohl meinten. Ich wusste, ich würde Lesen, Schreiben und Rechnen lernen und den ganzen Tag bis 16 Uhr dort verbringen. Das genügte mir. Mir erschien der Schritt in die Schule unvorstellbar groß. »Größerwerden« fand ich sehr aufregend.
So bereiteten mein Bruder und ich uns also auf den wichtigen ersten Schultag vor. Wir sprudelten fast über vor lauter Vorfreude. Beide bekamen wir einen neuen Schulranzen, Schulmaterialien, Bücher und natürlich eine Schultüte, randvoll mit Süßigkeiten. Es war für uns und viele andere Kinder der Tag der Tage.
Und so ist mir dieser Tag auch bis heute deutlich in Erinnerung. Im Radio lief »Westerland« von den Ärzten, als wir uns am Morgen fertig machten. Während sonst so viel von meiner frühen Kindheit in einem Nebel aus Trostlosigkeit versinkt, war dieser erste Schultag einer der wenigen ganz besonderen Momente, die ich mit meinen Eltern und meinem Bruder erleben durfte. Ich werde nie vergessen, wie ich mit meinem Dinosaurier-Rucksack und der dazu passenden Schultüte loszog in einen neuen Lebensabschnitt. Die Umi-Fiebel und all die anderen Schulbücher, die ich zu Anfang meines ersten Schultags in den Händen hielt …
Das erste Schuljahr, das auf diesen Tag folgte, war insgesamt sehr wichtig für mich. Es war eine Zeit des Wachsens, der großen Schritte ins Leben. Ich durfte endlich erfahren, dass Lernen Spaß macht, und hatte tausend Fragen. Aus jeder Antwort, die man mir gab, entwickelten sich gleich wieder neue Fragen. Schule war toll. Lernen war toll. Und ist es immer noch.
Zumindest gilt das für Kinder wie mich, die sich »normal« entwickeln und von den Ansprüchen der Grundschule gefordert, aber nicht überfordert sind. Für Kinder, die von den anderen akzeptiert werden und ihre Kräfte nicht dafür aufwenden müssen, verzweifelt nach Anerkennung und »Ankommen« zu suchen. So erging es leider meinem Zwillingsbruder. Niklas kam in der Schule überhaupt nicht zurecht. Er war von einer ständigen Unruhe getrieben und konnte nicht still sitzen. Und wenn man ihn zurechtwies, reagierte er heftig, trotzig, schlug manchmal sogar um sich. Ein Teufelskreis begann, denn so zog er immer mehr Ablehnung auf sich, die ihn immer noch unglücklicher und trotziger werden ließ. Und ich beobachtete ihn in seinem Unglück und konnte ihm nicht helfen.
Ich will aber noch mal auf den ersten Schultag zurückkommen. Erst in der Rückschau von heute her ist mir klar, wie viel meine Eltern für diesen besonderen Tag auf sich genommen haben. Die randvolle Schultüte, die Schulranzen, die Sportsachen, der Turnbeutel, die Malsachen, der Kopierbeitrag, die Unterrichtsmaterialien, das Federmäppchen und viele weitere Anschaffungen – und das alles mal zwei – hatten für meine Eltern vor allem eine Folge: Von ihrem Arbeitslosengeld II, pro Person 423 Euro, war die Hälfte futsch. Ich frage mich bis heute, wie sie es geschafft haben, das alles zu finanzieren. Und ich ziehe meinen Hut vor ihnen, dass sie es sich nicht haben nehmen lassen, ihren Kindern einen tollen ersten Schultag zu ermöglichen. Sie haben uns ein großes Geschenk gemacht, indem sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten dafür sorgten, dass wir trotz aller Schwierigkeiten sorglos und »so wie die anderen« in unser Leben als Schulkinder starten konnten.
Als Sechsjähriger habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ein Kind weiß nicht, dass solche Kosten für eine Hartz-IV-Familie kaum zu stemmen sind. Es weiß nicht, dass ein Haushalten mit einem so eingeschränkten Budget äußerst mühsam und oft kaum möglich ist. Und es muss das alles auch nicht wissen. Ein Kind von sechs Jahren, ein Schulanfänger, hat ein Recht auf Sorglosigkeit.
Ende der Leseprobe