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Das Nicht-, das Nie-und-nirgendwo-Ankommen ist das Thema von Jürg Amanns Reisebuch "Kein Weg nach Rom". Einer, der immer fort muss, um zu erfahren, dass er heim will, der den Rändern der Welt entlanggeht, um zu begreifen, dass er nach seiner Mitte sucht, ist seine Figur. Amann gewinnt sein Material aus seinen über die Jahrzehnte geführten Reisetagebüchern, er fügt es zusammen zu einem langen Brief "nach Hause". Das ist der Fluchtpunkt, im doppelten Wortsinn. Von da zieht es seinen Reisenden weg, dahin zieht es ihn wieder zurück. In dieser Grundspannung oszilliert die Schreibbewegung, die die Fluchtbewegung nachzeichnet. Irland, England, Berlin, Wien, die französische Atlantikküste, Italien, Amerika geraten dabei u.a. in den Blick. Alle Wege führen nach Rom, sagt das Sprichwort. Kein Weg führt nach Rom, ist Amanns Antwort.
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Seitenzahl: 89
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Jürg Amann
Ein ReisebuchHAYMON
Sehr allein. Alles ausgestorben. Kalt. Blinde Nachtwache auf das Meer hinaus.
Es ist so weit bis dahin, wo Du bist, fast scheint es aussichtslos, Dir zu schreiben, die Entfernung macht mich ganz kraftlos, und wie soll, denke ich, wenn ich kraftlos bin, der Brief den Weg zu Dir finden, wie nur schon schreibe ich zitternd gegen die Kälte in meinen Knochen an, wie bringe ich dann das Geschriebene zur Post, von der ich nicht weiß, wo sie ist, zudem ist Sonntag, und wie kommt es dann, falls es die Post je erreicht, von diesem äußersten Zipfel der Insel in ihre Hauptstadt, und wie von da auf die andere, größere Insel, und wie dann auf die größte, die Dein Kontinent ist, in dessen Mitte ich Dich Morgen für Morgen zum Briefkasten gehen sehe, und immer noch ist nichts von mir drin.
Bis gestern ging alles gut, lebte ich auf den ersten Auftritt hin, wohnte ich in einem feudal heruntergekommenen Hotel als ziemlich einziger Gast zusammen mit einem irischen Wolfshund auf dem äußersten Vorposten der Welt, wo noch immer die Elemente der Schöpfung aneinander anbranden, als wäre es an ihrem ersten Tag, und hielt die Wache ins Nichts hinaus. Und ein liebenswürdig verlaufener Professor aus meiner Heimatstadt, den irgend ein Gott hierhin verschlagen hat und der um seine letzten vier Studenten kämpft („Dogs & other animals are forbidden on the area of the University“, steht auf einem Schild auf dem Campus, aber es sieht so aus, als ob sie bald zugelassen werden müßten, wenn sich die Universität vor der endgültigen Schließung bewahren will), während er zu Hause Tauben züchtet, wie er mir sogleich eröffnete, führte mich in seinem plattfüßigen Auto den rissigen Rändern entlang. Die Iren, und die es geworden sind, sind wirklich sehr freundliche Leute, wenn man auch das Gefühl hat, daß auch sie nicht recht wissen, weshalb sie gerade hier leben, besonders die jungen Frauen, kommt es mir vor, die schwarzhaarig und blauäugig sind, wenigstens die auffallenden unter ihnen, und seltsam helle, weiche Gesichter haben für diese rauhe Gegend und sehr verplaudert sind, während die Männer entweder entschlossen und seemännisch wirken oder aber etwas betrunken. Und am Abend in ihren Bars machen sie tatsächlich ihre irische Musik mit Fiedel, Handtrommel und Löffeln, wie man es sich bei uns von ihnen erzählt.
Aber wie immer auf Reisen, wenn man gerade recht warm wird für neue Menschen, muß man am nächsten Tag weiter. Und heute sitze ich in einem leeren, ungeheizten Hotel am Stadtrand von Londonderry und schreibe diese Zeilen auf der Umrandung des Waschbeckens, während ich darauf warte, abgeholt zu werden, zunächst zu einem Ausflug, dann zur nächsten Station. Irgendwie fühle ich mich einem Schicksal ausgeliefert, das lauter nette Leute über mich verhängen. Und die Lust, mich zu wehren, und die Lust, mich fallen zu lassen, liefern sich in mir Scheingefechte. Ich kann ja nichts machen, hier auf dem fremden Boden, wo ich die Wege nicht kenne.
Wunderbare harte Landschaft Nordirlands. Die Rabenklippen. Wilde Bilder im Zwielicht zwischen Regen und Sonne. Im Sturm der atlantischen Brandung habe ich Freundschaft geschlossen, mit eiskalten Händen, mit diesem verschlagenen (nicht nur in diese Gegend) Taubenprofessor, der also nicht recht weiß, ob er über Goethe oder über die Vögel ein Buch schreiben soll; der sich nicht um den Lehrauftrag kümmert, er hat ihn, aber wen soll er lehren, und was, mitten im Vogelgeschrei, niemand will etwas von ihm, er bereitet sich auf die Studenten nicht vor, lehrt, was er zufällig weiß, was sollen die andern mehr wissen als er; der mit dem Fernglas das Weite sucht, von den Klippen herab, von seiner bitteren Frau, dem dumpfen Sohn und der arthritischen Schwiegermutter; der aber Angst hat, fünf Minuten zu spät nach Hause zu kommen; vor dessen Haustür in dieser Stadt der Gewalt schon Menschen erschossen wurden; der, auf die Frage, ob ihm sein Leben nicht manchmal unheimlich sei, ja sagt, und: darum habe er sich den Tauben gewidmet. Wie die Menschen so leben. Da stammen zwei aus der nämlichen Stadt und geben sich plötzlich am Nordpol die Hand.
P.S. Telefonieren scheint mir von hier aus zu weit. Das Wählen der eigenen Nummer würde mich spalten. Blätter, von denen ich nicht weiß, ob sie ankommen, sagen genauer, wo ich jetzt bin.
Nun bin ich auf der größeren Insel, seit ein paar Tagen, aber wenn das für einen Engländer wahrscheinlich schon das Festland bedeutet, mir scheint es immer noch ein sehr schwankender Boden, sehr ausgesetzt, sehr in den Meeren treibend. Natürlich habe ich mit diesem Land nichts zu tun. Ich habe eine andere Geschichte, und es gehört zu diesem universellen Substanzverlust, daß die Menschen sich daran gewöhnen, in allen möglichen Geschichten leben zu können, und dabei die eigene Geschichte zu verlieren. Kafka hat schon recht (sinngemäß), nur der Dreck zwischen den eigenen Zehen ist der uns wirklich tragende Grund.
Man muß nicht alles gesehen haben. Was ich von diesem Land zu sehen bekomme, indem ich es überfliege, was ich von ihm erfahre, indem ich es er-fahre, im Zug oder im Flugzeug, das hätte ich mir auch vorstellen können, ohne dafür Zeit aufzuwenden, um Raum hinter mich zu bringen. Das Schlimme ist ja: der gewonnene Raum ist nichts als die verlorene Zeit. Ich verstehe die, die gerade in dieser unablässigen Bewegung das Leben sehen, immer weniger. Denn wohin führt das? Doch auch in den Tod. Ob über Belfast oder Manchester, was spielt es für eine Rolle?
Während ich das schreibe, höre ich aus dem Radio meines Hotelzimmers Mozarts Haffner-Symphonie, und hier, in diesen Tönen, fühle ich mich sofort zu Hause. Und sie hätte ich doch überall hören können. Man ist in der Kunst wirklicher daheim als in jedem anderen Land. Jedenfalls fällt mir auch in der Fremde nichts Besseres ein, die Abende zu verbringen, wenn ich nicht lese, als ins Theater zu gehen. In Glasgow habe ich Pinters Caretaker gesehen, hier in Manchester gestern Ibsens Rosmersholm. Und da, in der Sprache, selbst in der mir fremden, war es mir wohl. Und unter den Menschen, die ähnlich gestimmt waren wie ich.
Und nun sind wir wieder einmal an dem Punkt, an dem es zu schneien... Aber zu sonnen auch. Zwischen bleigrauen Wolken.
Inzwischen hätte meine Tournee hier in London beinahe ein vorzeitiges Ende gefunden, weil diese bornierten Engländer immer noch links fahren und also von rechts kommen, während wir nach links schauen. Ihre Nasen habe ich inzwischen auch identifiziert: aufgeworfen, sie haben aufgeworfene Nasen, wenigstens die Upper-Class, keine Stupsnasen, wie manche bei uns eine haben, Nasen, die sich bei jedem Wort aufwerfen vor Ekel über den Auswurf der direkt unter ihnen sich befindenden gekräuselten Lippen. Ein seltsames Volk. Die einen halten sich noch immer am Sonnenschirm fest, wenn es stürmt, während sie glauben, den Sonnenschirm festzuhalten. Die anderen treiben wie aus den Kolonien zurückgespültes Strandgut über den Untiefen der Stadt. Hier wird nun wirklich der universelle Einheitsmensch entstehen, ohne Unterschied von Rasse und Geburt, denn die Wogen des Kolonialismus schlagen hierher zurück, und alles vermischt sich und paart sich, und nach wenigen Generationen werden sich alle gleichen, alles wird gleich sein, aber ob das, was wir uns immer gewünscht haben, Gleichheit unter den Menschen, unter diesen Vorzeichen wirklich auch gut ist? Denn es sieht, aus der Nähe betrachtet, nicht so aus, als ob es die Gleichheit von Individuen sein würde. Die Vermassung ist unerträglich. Ich halte das Leben in Städten von dieser Größe immer weniger aus. Laut, aggressiv, stinkend, und nichts als die sinnlose Bewegung im Spannungsfeld zwischen Vergnügen und Arbeit und Arbeit und Vergnügen. Und dann geht man, wie ich, dreimal in zwei Tagen ins Theater und hofft, auf der Bühne die Individuen zu sehen, wie eine Kunde aus alter Zeit, aber auch da findet man Hornochsen, die immer nur gleich sind, die so tun, als ob sie ein Königsdrama aufführten, wenn sie Turgenjew spielen. Um in der Theaterberichterstattung fortzufahren: ein amerikanischer Schinken (Watch on the Rhine), eine russische Melancholie (A Month in the Country), die hätte gut sein können, wenn sie ernst genommen und nicht als Oper gegeben worden wäre – und Schauspieler, deren Stimmen zittern vor Bewegung über sich selbst. Glücklicherweise hatte ich die Brille nicht dabei, ich hätte sonst sicher geweint über den Ausdruck ihrer vor Schmerz oder Freude verzerrten Gesichter. Auch hier ist offenbar die Provinz besser, wenn man Manchester als Provinz bezeichnen kann. Wie freue ich mich auf Berlin, das deutsche Theater ist in dieser Beziehung doch weiter. Morgen Brighton. Dann Swansea.
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