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Bochum, Berlin und der letzte Sommer vor der Wende. Berlin, 1989. Fränge ist Anfang 20 und genießt das Leben in vollen Zügen. Freundinnen hat er gleich zwei: Marta im Westen und Rosa im Osten – die natürlich nichts voneinander wissen. Als Förster und Brocki aus Bochum zu Besuch kommen, macht das die Sache nicht einfacher, denn Rosa bringt auch bei Förster so einiges in Unordnung. Die drei Freunde aus dem Ruhrgebiet erleben zwei Biotope in ihren letzten Monaten: die Subkultur Westberlins und die Dissidentenszene im Osten – junge Leuten wie sie, die gerade ihren ganz eigenen Aufbruch organisieren. Aber auch zu Hause im Ruhrgebiet ist nichts mehr wie es mal war. Film, Musik, Klubs und Kneipen – alles jung und in Bewegung. Frank Goosens Roman ist eine wunderbare Komödie über eine Zeit gelungen, in der es mehr Deutschlands gab, als man brauchte. Und über einen selbst ernannten »Weltenwanderer der Liebe« im geteilten Berlin – der aus guten Gründen nicht gerade scharf ist auf eine Veränderung der politischen Verhältnisse.
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Seitenzahl: 395
Frank Goosen
Kein Wunder
Roman
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Eigentlich hatte Förster an jenem Maiabend Ende der Achtzigerjahre schon zu Hause gedacht, dass es Blödsinn sei, noch rauszugehen, aber dann war er wegen der bevorstehenden Reise nervös geworden, hatte sich geradezu fiebrig gefühlt und sich auf den Weg in die Zeche gemacht. Er hatte keine Ahnung, was da an diesem Abend los war, aber das war ihm auch egal, es ging ja vor allem darum, dieses Reisefieber durch ein Beruhigungsbier in den Griff zu bekommen. Allein losziehen war natürlich tendenziell deprimierend, aber in der Zeche traf man eigentlich immer irgendwen, den man kannte.
Förster verließ das Haus und wandte sich nach rechts, Richtung Schauspielhaus, zur Bushaltestelle. Die Straße musste unbedingt mal gemacht werden, da regten sich die Anwohner schon lange drüber auf. In der Mitte verliefen noch die alten Straßenbahnschienen, die aber nicht mehr genutzt wurden, weil es jetzt eine U-Bahn gab. Schlaglöcher waren seit Jahren nur notdürftig geflickt worden, und so wirkten auch die Häuser mit ihren grau-braunen Fassaden.
Er überquerte den Platz vor dem hell erleuchteten Schauspielhaus. So hässlich, wie die Straße war, in der er wohnte, so schön fand er dieses Theater. Die Backsteinoptik, die schmalen, hohen Säulen, die das Vordach abstützten, das Messing an den Glastüren, die Schaukästen mit den Fotos der laufenden Inszenierungen rechts und links der Eingänge. Über den Eingängen hingen große, quadratische Transparente mit den Titeln der Stücke, die gerade gespielt wurden. Im Großen Haus lief Pirandellos Die Riesen vom Berge und in den Kammerspielen ein Tanztheaterstück von Reinhild Hoffmann. Unter den Titeln das aktuelle Logo des Schauspielhauses, ein durchgestrichenes Atomkraftwerk.
Der Bus hielt vor der Sparkasse. Sieben Haltestellen waren es bis zur Zeche. Sieben Haltestellen, an denen man ablesen konnte, dass man von einem Teil der Stadt in einen völlig anderen wechselte. Die ersten hießen ganz idyllisch Christstraße, Farnstraße, Rechener Park, aber dann folgten Werk Eickhoff, Knappschaft und schließlich Knappenstraße, direkt an der Zeche. Eine vorher noch die Berneckerstraße, aber Förster wusste nicht, nach wem die benannt war. Der größte Teil der Fahrt fand unter Bäumen statt, denn die Königsallee hatte ihren Namen nicht von ungefähr.
Vor der Zeche (ebenfalls Backstein, flach, Lüftungsrohr außen dran und auf dem Dach der gelbe Schriftzug, dessen Buchstaben rot eingefasst waren, das Ganze auf schwarzem Untergrund) standen Leute und rauchten und tranken Bier.
In der Halle war ein Konzert, irgendeine lokale Band, von der Förster noch nie gehört hatte, also ging er in die Kneipe, die zu dem Komplex gehörte. Die Raumaufteilung hier drin hatte ihm schon immer gefallen. Rechts ging es zwei Stufen zu einem Podest hoch, auf dem Tische und Stühle standen, geradeaus führte eine Treppe nach oben auf eine zweite, offene Ebene, auf der das Restaurant war. Links vom Eingang, unter der offenen Restaurantebene war der Tresen, fünfeckig, darüber eine umlaufende, nur halb durchsichtige Konstruktion aus geriffeltem Glas. Dahinter standen Gläser auf einem Brett. Der Tresen war mit einem gezackten Motiv verziert, das wahlweise an Berggipfel erinnerte oder an gar nichts. Förster bevorzugte die zweite Variante.
Viele der Leute hier kannte er vom Sehen, aber niemanden so gut, dass er ihn oder sie hätte ansprechen können. Da war die Blonde mit den strubbeligen Haaren und den schönen blauen Augen. Neben ihr, aber von ihr komplett ignoriert, der Typ mit den schulterlangen, immer verschwitzten Haaren und dem Schnauzbart, dem weißen Hemd mit dem viel zu großen Kragen und der braunen Lederjacke. Oder die mit den Anne-Clark-Haaren und den großen Ohrringen. Oder die mit dem strengen Blick, der Fransenjacke und dem Humphrey-Bogart-Hut. Förster fragte sich, ob die ihn auch vom Sehen kannten, ob er vielleicht der mit dem Sakko war oder der mit dem schwarzen T-Shirt, aber solche Gedanken führten ja zu nichts, wenn man nicht den Mut hatte, die Leute, also die Frauen, hier anzusprechen, also nahm er die Treppe nach oben, wo einige Leute vor Pizzas und gefüllten Fladenbroten saßen. Besonders begehrt waren die Plätze direkt am Geländer, weil man von dort auf die Leute auf der Kneipenebene runtergucken konnte, und so was mögen die Menschen ja, dachte Förster jetzt, von oben runtergucken, nur wieso, da hatte er keinen Schimmer. An langen Kabeln hingen schlichte Lampen über den Tischen da unten.
Hier oben gab es noch einen weiteren Raum, über dem mit einem blauen geschwungenen Neon-Schriftzug Café zu lesen war. An der Stirnseite ein kleiner, blau gestrichener Tresen, auch die Stühle waren blau. An einem der Tische saß Beate, die mal mit Fränge zusammen gewesen war, mit der Förster aber nie so richtig klargekommen war, obwohl er nicht sagen konnte, woran das gelegen hatte. Im laufenden Semester war sie in der Praktischen Stilübung Kurzprosa aufgetaucht, diesem Schreibseminar, das der Schriftsteller und Puppenspieler Gerhard Mensching bei den Germanisten anbot. Einen Leistungsschein konnte man da nicht machen, nur einen Teilnahme- oder Sitzschein, aber die meisten, die da hinkamen, wollten sowieso eher schreiben, den anderen vorlesen und dann darüber reden beziehungsweise dafür gelobt werden, was aber durchaus nicht immer passierte. Beate hatte nichts geschrieben, nichts vorgelesen, und Förster hatte sich mehrfach gefragt, wieso sie da immer wieder hinkam.
Er wollte schon wieder gehen, da bemerkte sie ihn und winkte ihn zu sich. Sie saß mit ein paar Leuten zusammen, die er nicht kannte. Alle tranken Wein, bis auf Beate, die hatte ein Bier vor sich stehen, und das nahm Förster dann doch für sie ein, denn die Zeche war für ihn kein Ort, an dem man Wein trank, das war ganz klar ein Bier-Ort, Rockmusik und Disco, das waren für Förster Bier-Themen, und die Frage war, ob man Leuten, die hier Wein tranken, überhaupt trauen konnte.
»Hallo, Förster! So allein hier?«
Beate hatte die Haare noch kürzer und stacheliger als früher ohnehin schon. Sie trug einen roten Overall mit einem weißen lackledernen Gürtel, darüber eine olivfarbene Armeejacke, die Ärmel hochgeschoben.
»Wieso nicht«, antwortete Förster, »ist doch die Zeche, da trifft man immer jemanden.«
»Hat funktioniert«, bestätigte Beate und stellte ihn der Runde vor: »Das ist Förster, ein Freund von Fränge.«
Die anderen sahen ihn völlig teilnahmslos an, und Förster fragte sich, ob das mit der Nennung von Fränges Namen zusammenhing, oder ob die ganz allgemein so drauf waren, teilnahmslos und leer, Medizinstudenten vielleicht oder Wiwis oder Juristen, manche Klischees stimmen einfach, dachte Förster, aber dann dachte er, dass Beate meistens mit Künstlern, Schriftstellern und Schauspielern zusammen war, sie hatte schon am Schauspielhaus Regiehospitanz gemacht, sollte demnächst, wenn er sich richtig erinnerte, zur Assistentin aufsteigen, wollte aber eigentlich Filme machen. Das hatte sie schon damals, als sie noch mit Fränge zusammen gewesen war, immer wieder betont, Film, das sei ihr Ding, da könne sie keiner von abhalten. Fränge und sie waren ein gutes Paar gewesen, beide auf eine kernige, kantige Art gut aussehend, beide ein bisschen durchgeknallt, trink- und feierfreudig, aber dann war Fränge nach Berlin gegangen, und die beiden hatten sich getrennt. Dass Fränge ständig was mit anderen Frauen gehabt hatte, war auch nicht unwichtig gewesen.
»Fränge?«, sagte einer mit langen Haaren und einer hellbraunen Wildlederjacke, die er entweder von seinem Großvater oder aus dem Secondhandshop an der Brückstraße hatte. »War das nicht dieser Typ, der dich ständig betrogen hat? So ein ganz mieser Macho und Chauvi?«
»Ja«, sagte Beate, »aber er hatte auch schlechte Eigenschaften.«
»Auf jeden Fall hat er einen besseren Klamottengeschmack als du«, sagte Förster, der sich eigentlich nicht gerne stritt, jetzt aber bereit war, für diese Witzfigur eine Ausnahme zu machen.
Bevor die Witzfigur etwas auf Försters Bemerkung erwidern konnte, wies ihn eine Frau mit einer blonden Kurzhaarfrisur zurecht: »Komm mal runter, Stevie! Wenn ein Typ einen anderen als Chauvi und Macho bezeichnet, ist das doch nur Anschleimerei.«
Stevie, dachte Förster, wahrscheinlich heißt der Stefan.
»Wie geht es Fränge?«, fragte Beate, und das fand Förster irgendwie gut, denn sie hätte ja auch das Thema wechseln können oder diesem Stevie recht geben, aber sie schien sich wirklich dafür zu interessieren, was Fränge derzeit trieb.
»Ist noch in Berlin«, sagte Förster. »Ich fahre morgen für ein paar Tage hin.«
»Grüß ihn von mir.«
»An wen will ich mich denn anschleimen?«, wollte Stevie jetzt wissen, und Förster fragte sich, wieso die beiden anderen nichts sagten, also der Dicke in der Motorradlederjacke und die Lange mit dem Seitenscheitel, obwohl das Ganze ziemlich unübersichtlich geworden wäre, wenn die auch noch ihren Senf dazugegeben hätten.
»Du schleimst dich an uns Frauen ran«, sagte die mit der Kurzhaarfrisur, was, wie Förster fand, keiner Erklärung bedurft hätte, denn das war offensichtlich gewesen, und weil Stevie darauf nichts erwidern konnte, holte er eine Packung Tabak aus seiner Lederjacke und fing an, sich eine Zigarette zu drehen, die Packung mit dem Unterarm an den Körper geklemmt und so ostentativ in den Drehprozess versunken, wie es Förster bei Selbstdrehern schon immer auf die Nerven gegangen war. Das hatte, fand er, oft etwas Selbstgerechtes, das nur noch vom Habitus von Pfeifenrauchern überboten wurde. Der Vater von Vera, mit der er bis letzten Sommer zusammen gewesen war, hatte Pfeife geraucht und Förster beim Rauchen immer so angeguckt, als würde er sehr angestrengt über ihn nachdenken. Mehr noch, es war, als wüsste er alles über Förster, selbst das, was Förster selbst noch nicht über sich wusste.
»Was macht Fränge in Berlin?«, hakte Beate noch nach.
»Alles und nichts«, sagte Förster. »In Kneipen am Tresen stehen, davor und dahinter.«
Fränge gab vor, sich in Berlin vor der Bundeswehr zu verstecken, tatsächlich aber war er untauglich (irgendwas mit seinen Füßen), was er jedoch nicht zugeben wollte, weil ihm als überzeugtem Pazifisten seine Verweigerungshaltung gegen die imperialistisch-revanchistischen Kräfte der sogenannten Bundesrepublik Deutschland, wie Fränge das zu formulieren pflegte, sehr wichtig war, doch davon wollte Förster jetzt nicht anfangen, zumal Beate wahrscheinlich sowieso darüber Bescheid wusste.
»Hat er eine Freundin?«
Förster überlegte kurz, was sie mit dieser Frage bezweckte, ob sie Fränge vielleicht nachtrauerte, aber dafür war sie nicht der Typ, dafür war sie zu klug.
»Du kennst doch Fränge«, sagte er. »Der hat immer was am Laufen.« Angeblich war Fränge derzeit sogar in etwas sehr Interessantes verwickelt, mit einem Mädchen in Ostberlin, aber das musste man Beate nicht unbedingt auf die Nase binden, dachte Förster, vor allem nicht im Beisein von Stevie, dem Selbstdreher, der ganz bestimmt spätestens mit dreißig zum Pfeiferauchen übergehen würde.
»Fränge und die Frauen«, sagte Beate. »Damals hätte ich ihn manchmal am liebsten vor den nächsten Bus gestoßen. Aber man hat auch immer eine Menge zu lachen mit ihm. Humor ist ein sehr wirksames Aphrodisiakum.«
Sollte ich auch mal versuchen, dachte Förster.
»Mal was ganz anderes«, sagte Beate dann, »kommst du nächste Woche zu Mensching?«
»Denke schon.«
»Ich würde gerne etwas mit dir bereden, aber in Ruhe, ist was Berufliches.«
Was Berufliches?, dachte Förster, was könnte ich Berufliches mit Beate zu besprechen haben, aber bevor er da weiter drüber nachdenken oder etwas dazu sagen konnte, schwoll unten in der Kneipe der Lärm an, das Konzert in der Halle war offenbar zu Ende.
»Jetzt kommen die Prolls«, sagte Stevie und stieß Rauch aus.
»Wieso Prolls?«, fragte Förster. »Was für Prolls?«
»Die scheiß Heavy-Metal-Typen, diese Jeansjacken-Affen mit den Schnauzbärten.«
Förster war alles andere als ein Heavy-Metal-Fan und lehnte auch Schnauzbärte entschieden ab, noch mehr aber lehnte er Typen wie Stevie ab, die sich nur aufgrund von Äußerlichkeiten über andere meinten erheben zu dürfen. Aber was bringt es, dachte er, da jetzt rhetorisch noch mal aus dem Sulky zu gehen, es war ohnehin eine blöde Idee gewesen hierherzukommen, nicht einmal ein Beruhigungsbier hatte er getrunken, weil er nur dämlich neben dem Tisch gestanden hatte und so von der zwischen den Tischen herumwuselnden Kellnerin offenbar nicht als bestellwilliger Gast wahrgenommen worden war. Andererseits war es nicht uninteressant gewesen, Beate zu treffen. Wer weiß, dachte er, was das noch nach sich zieht. Vielleicht war das mit dem Beruflichen ja nur ein Vorwand, eine Tarnung, weil sie vor diesem Stevie die Karten nicht auf den Tisch legen wollte.
Er verabschiedete sich, indem er mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopfte, eine Geste, die er eigentlich immer komplett albern gefunden hatte, weil es eine Geste für Leute war, die ab elf Uhr vormittags alle mit »Mahlzeit!« grüßten, aber jetzt ging ihm auf, dass dieses Tischklopfen einen davon enthob, einem Stevie die Hand zu geben, und dass es kein Beruhigungsbier gegeben hatte, war auch ganz gut, denn die nächsten Tage, dachte er, während er die Treppe hinunterging und sich seinen Weg durch die Jeansjacken tragenden Schnauzbärte bahnte, werden in dieser Hinsicht nichts zu wünschen übrig lassen. Morgen früh würde Brocki auf der Matte stehen, und dann ging es über die A2 Richtung Osten, das war ja immer ein Abenteuer, die Grenze und der Osten und das alles, aber Förster fühlte sich gut gerüstet, denn mit diesem Stevie war er ja auch fertiggeworden. Außerdem, dachte er, während er auf den Bus zurück in die Stadt wartete, hat es sich mal wieder bestätigt, dass man in der Zeche immer jemanden trifft, den man kennt.
Förster war früh auf gewesen, stand jetzt am Küchenfenster und wartete darauf, Brockis Jetta die Straße entlangkommen zu sehen. Er war ein bisschen stolz darauf, dass er mit allem fertig war, »gestiefelt und gespornt«, wie Brocki es gestern Nachmittag am Telefon verlangt hatte: »Ich bin um neun Uhr bei dir und erwarte dich dann gestiefelt und gespornt, damit wir sofort loskönnen.« Brocki redete manchmal schon wie ein Lehrer, obwohl er noch mitten im Studium war.
Försters Blick fiel auf eine Stelle am Boden, wo der schachbrettartig gemusterte PVC-Belag sich gelöst hatte und nach oben bog. Das müsste man mal wieder befestigen, dachte er. Vielleicht reichte es aber auch, da irgendwas draufzustellen, eine Vase vielleicht, nur ohne Blumen, denn man musste es mit der Gemütlichkeit auch nicht übertreiben.
Förster konnte nicht sagen, dass ihn diese etwas heruntergekommene Zweizimmerwohnung begeisterte, aber sie kostete nicht viel und war günstig gelegen, keine fünf Minuten Fußweg bis zur Straßenbahnhaltestelle Richtung Uni, und zu den Kneipen in der Innenstadt lief man auch nicht länger. Gleich nebenan war eine Selterbude, direkt gegenüber ein Supermarkt, kurze Wege, wer brauchte da einen tollen Ausblick. Den gab es hier nämlich genauso wenig wie eine halbwegs moderne Heizung. Nach vorne blickte er auf die sanierungsbedürftige Oskar-Hoffmann-Straße, hinten raus in einen kleinen Garten, den nur der Vermieter benutzen durfte. In dessen Wohnung gab es auch eine ordentliche Heizung, hier in Försters Küche lehnte eine nur etwa zwanzig Zentimeter hohe, dafür etwa zwei Meter lange sogenannte »Fußleistenheizung« an der Wand unterm Fenster, während im hinteren Zimmer, wo Förster arbeitete, schlief, fernsah und las und was man sonst noch so unter dem Begriff »Wohnen« zusammenfasste, eine Gasheizung mit Piezzozünder stand, von deren Ausdünstungen er im Winter immer Kopfschmerzen bekam. Fragte man ihn, wieso er überhaupt in dieser Bude lebte, sagte er nur: »Zweihundertzwanzig Mark im Monat. Warm.« Wobei warm eben relativ war.
Als das Telefon klingelte und er gleichzeitig den grünen Jetta näher kommen sah, war ihm eigentlich klar, dass es besser wäre, jetzt nicht ranzugehen, den Apparat einfach klingeln zu lassen. Andererseits dachte er, vielleicht ist es wichtig, man konnte ja nie wissen, also ging er rüber in sein Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer, nahm den Hörer von dem weinroten Tastentelefon und erfuhr von seiner Mutter am anderen Ende der Leitung, dass sein Vater sich mal wieder im Arbeitszimmer eingeschlossen hatte und sich seit Stunden weigerte rauszukommen. Während sie das erklärte, klingelte Brocki.
»Hör mal, Mama«, sagte Förster, »ich kann jetzt nicht kommen, ich bin praktisch schon auf dem Weg nach Berlin. Der Brocki steht vor der Tür und wartet.«
Darauf sagte seine Mutter nichts, was Förster gleich ein schlechtes Gewissen machte.
»Bleibst du bitte einen Moment dran, Mama?«
Er rannte die Treppe hinunter und rechnete damit, vor der Tür einen deutlich seiner Verärgerung Luft machenden Brocki zu treffen, aber der saß einfach nur am Steuer und starrte geradeaus. Förster öffnete die Beifahrertür und sagte: »Na, alles klar?«
Brocki zuckte nur mit den Schultern.
Mit dem ist irgendwas, dachte Förster, aber darum kann ich mich jetzt nicht kümmern.
»Es ist so«, begann Förster, »ich habe gerade meine Mutter am Telefon, und mein Vater, der hat gerade wieder seine berühmten fünf Minuten, wenn du verstehst, was ich meine.«
Augenblicklich veränderte sich Brockis Haltung. Er wandte sich Förster zu und sagte: »Verstehe. Da musst du dich drum kümmern. Kein Problem, wenn wir ein bisschen später loskommen. Wir sind ja nicht auf der Flucht.«
Förster dachte: Das ist der Vorteil, wenn man sich so lange und so gut kennt, echte Freunde wissen um die Leichen im Keller des anderen, und man muss nicht ständig irgendwas erklären.
»Ich versuche, das am Telefon zu klären, paar Minuten«, sagte er.
»Lass dir Zeit«, sagte Brocki.
Förster hetzte zurück, die Haustür war nicht ins Schloss gefallen, das brachte ihm ein paar Sekunden. Er war fest entschlossen, die Angelegenheit so schnell wie möglich zu regeln, doch als er oben ankam, musste er feststellen, dass seine Wohnungstür zugefallen war und der Schlüssel innen mit dem Ring an der Klinke hing, eine Aufbewahrungsart, die er sich hatte einfallen lassen, weil dies nicht das erste Mal war, dass er sich ausgesperrt hatte. Wenn der Schlüssel von innen steckte, dann war der Ersatzschlüssel, der bei seinen Eltern am Schlüsselbrett auf der Diele hing, nutzlos.
Ohne Tasche und ohne Jacke konnte er nicht nach Berlin fahren, also würde er Brocki bitten müssen, ihn zu seinen Eltern in die Hustadt zu fahren, also nach Süden, obwohl sie eigentlich nach Norden Richtung A2 fahren mussten. Andererseits, dachte Förster beim Hinuntergehen, das jetzt mehr ein von Müdigkeit und Resignation gekennzeichnetes Trotten war, hätte das Haus seiner Eltern auf dem direkten Weg Richtung Berlin gelegen, wäre das vielleicht noch ärgerlicher gewesen, eine ganz blöde Hin- und Herfahrerei.
»Es gibt ein Problem«, sagte er unten zu Brocki und erklärte, was passiert war.
»Mach dir keine Gedanken«, sagte Brocki. »Ist auch besser, wenn du das mit deinem Vater persönlich klärst. So etwas macht man nicht am Telefon.«
Mit dem ist irgendwas, dachte Förster, der verhält sich anders als üblich. Nicht, dass Brocki sonst weniger Verständnis für die Kapriolen von Försters Vater gehabt hätte, aber ein kleines bisschen ungehalten wäre er normalerweise schon gewesen, denn Brocki war jemand, für den es wichtig war, Dinge gut vorzubereiten und zu planen. Abweichungen vom Plan erzürnten ihn, heute aber war er das freundschaftliche Verständnis in Person. Warum das so war, das würde sich wahrscheinlich auf der bevorstehenden, bestimmt sechsstündigen Fahrt nach Berlin noch herausstellen, jetzt aber hatte Förster erst mal andere Sachen im Kopf. Er stieg ein, Brocki wartete eine Lücke im Verkehr ab und wendete.
»Die müssen die Straßenbahnschienen hier mal wegmachen«, sagte er. »Das ist doch kein Zustand!«
Okay, dachte Förster, das klang schon eher nach Brocki, aber nach dieser Klage über den Zustand der Straße verstummte er wieder.
»Ich war eigentlich fertig«, sagte Förster. »Gestiefelt und gespornt, wie befohlen.«
Brocki zuckte nur mit den Schultern.
Sie sprachen kein Wort mehr, bis sie zu Försters Elternhaus kamen, diesem alten Bungalow aus den Sechzigern, gebaut zusammen mit der Uni, an der sein Vater als Privatdozent darunter litt, dass er keine C4-Professur bekam und auch keinen Ruf an eine andere angesehene Hochschule, sodass er hier versauerte, wie er sagte, was dazu führte, dass er sich manchmal irgendwo einschloss und alle glauben ließ, er würde sich jeden Moment etwas antun. Förster wusste, dass das Quatsch war, sein Vater pflegte das Bild des exzentrischen Intellektuellen, der seine Vorlesungen in ausgebeulten Jeans hielt und zu Hause bei offenen Fenstern so laut die Rolling Stones hörte, dass der Heidegger-Forscher nebenan, der es nicht unter Zwölftonmusik machte, immer wieder drohte, die Staatsmacht einzuschalten. Försters Vater brüllte dann noch mal extra laut: Cos in sleepy London Town there’s just no place for a street fighting man!
»Ich warte im Wagen«, sagte Brocki.
Auf dem Weg zur Haustür fragte sich Förster, was seine Mutter wohl gerade dachte, da ihr Mann sich in seinem Zimmer eingeschlossen und der Sohn sie am Telefon gebeten hatte dranzubleiben, dann aber nicht zurückgekommen war.
Als seine Mutter öffnete, rauchte sie, was sie nur tat, wenn sie mit irgendetwas nicht zurechtkam, denn eigentlich hatte sie das Rauchen aufgegeben, als sie mit Förster schwanger war, weshalb er auch auf angenehme einsdreiundachtzig Körpergröße kam und nicht bei einssiebzig oder so abgeschnitten war, wie das angeblich vielen ging, deren Mütter auch mit Kind im Bauch vom Nikotin nicht hatten lassen können.
Förster erklärte die Sache mit dem Telefon, und seine Mutter nickte. Er fragte, ob alles in Ordnung sei, worauf sie nur gequält lächelte. Natürlich war nichts in Ordnung. Diese selbstmitleidigen Eskapaden mussten einem ja mit der Zeit unglaublich auf die Nerven gehen, dachte Förster, aber er wusste auch nicht, was er stattdessen hätte sagen sollen, denn seine Mutter gehörte nicht zu den Frauen, die in Krisenzeiten gern in den Arm genommen und getröstet wurden, das war ihr zu einfach und zu billig. Zärtlichkeiten solle man sich für die guten Zeiten aufheben, so wie man auch beten solle, wenn es einem gut ging und nicht erst, wenn einem das Wasser bis zum Hals stand, hatte sie mehr als einmal gesagt.
Seine Mutter nahm den Ersatzschlüssel vom Brett neben der Tür, und Förster steckte ihn gleich in die Hosentasche, damit in der Hinsicht nichts mehr schiefgehen konnte. Dann ging er den Flur hinunter zum Arbeitszimmer seines Vaters, vorbei an den Drucken von Warhol, Lichtenstein und Rauschenberg sowie den Fotografien von Annie Leibovitz und Robert Lebeck.
Sein Vater reagierte nicht auf das Klopfen. Förster betrachtete die gerahmten Kunstwerke in der Diele und das Konzertplakat der Rolling Stones auf der Tür.
Er klopfte noch mal und rief: »Hallo!« Und: »Ich bin’s!«
Nach einer Weile wurde der Schlüssel im Schloss gedreht, die Tür blieb aber zu. Förster wartete noch ein paar Sekunden.
Als er die Tür öffnete, hatte sein Vater sich so platziert, dass man ihn gut hätte fotografieren können. Er trug eine Levi’s 501 und ein dazu passendes Jeans-Hemd, saß auf dem Boden, den Rücken gegen seinen mit Papieren und Büchern überladenen Schreibtisch gelehnt, war natürlich barfuß, hatte ein Bein angewinkelt und einen Arm darauf abgelegt, den Blick nach rechts in den Garten gerichtet. Förster musste sich korrigieren: Den Mann musste man nicht fotografieren, sondern malen.
Er setzte sich seinem Vater gegenüber auf das Fußteil des Charles Eames Lounge Chair, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und sah seinen Vater an, der aber weiter vorgab, in eine innere Ferne zu starren, denn im Garten war nichts zu sehen, da war auch gar nicht viel Platz, nach ein paar Metern kam da schon die Buchsbaumhecke, welche die Grenze zum Garten des Professors für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte bildete, mit dem Försters Vater seit Jahren wegen irgendeiner fakultätsinternen Meinungsverschiedenheit über Kreuz lag. Dass der Garten so klein war, hatte schon früher immer wieder Probleme gemacht, weil man da nicht vernünftig Fußball spielen konnte und der Ball ständig zu dem Historiker hinüberflog, der damals schon dort gewohnt hatte. Die sind ja hier schon seit Ewigkeiten aneinandergekettet in diesem Akademikergetto, dachte Förster, und tagsüber laufen sie sich dann auch noch im Institut übern Weg, es wäre besser, wenigstens neben einem Biologen oder so zu wohnen, aber als sie hier eingezogen waren, Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger, da hatten sie das wahrscheinlich für eine gute Idee gehalten. Das hatte damals wahrscheinlich so was von einer Wissenschaftskommune gehabt, aber mittlerweile ging man sich nur noch auf die Nerven.
Sein Vater reagierte nicht, und Förster wusste, dass er diese Haltung ziemlich lange durchhalten konnte, hatte aber keine Lust, Brocki noch sehr viel länger warten zu lassen, also beschloss er, die ganze Sache abzukürzen und sagte: »Hallo, Klaus!«
Sein Vater hasste es, von seinem Sohn beim Vornamen genannt zu werden, so modern war er dann doch nicht, das vertraute Papa war ihm sehr wichtig. Förster sah sich um, ließ seinen Blick über die prall gefüllten Regale schweifen, in denen die Bücher nicht nur dicht gepresst nebeneinanderstanden, sondern auch obenauf lagen. Einige stapelten sich auf dem Boden und auf den beiden Sesseln, die vor dem Fenster standen. Die Terrassentür war geschlossen, der Waschbeton draußen war an einigen Stellen mit Moos überzogen, die orange-braune Markise ausgefahren, sodass es hier im Zimmer dunkler war als nötig.
Diesmal aber reagierte sein Vater nicht gleich, also legte Förster nach: »Du, Klaus, ich wollte nur kurz Auf Wiedersehen sagen, weil: Ich fahre für ein paar Tage nach Berlin, zum Fränge, weißt du.«
Dieser Satz enthielt gleich vier Dinge, von denen Förster wusste, dass sein Vater damit nicht klarkam: Erstens begann der Satz mit einem Du. Das konnte der Vater nicht ertragen, weil es ihn an die Schwätzer an der Uni erinnerte, die auch gerne Floskeln wie »ein Stück weit« in ihre Sätze einflochten, zweitens kam da wieder der Vorname aus dem Mund des Sohnes, drittens hatte Förster auf das Bindewort »weil« einen Hauptsatz folgen lassen und viertens das Ganze auch noch mit einem »weißt du« abgerundet.
Nach ein paar Sekunden kam Bewegung in seinen Vater. Zuerst senkten sich zum Zeichen des Missfallens kurz seine Lider, dann schüttelte er langsam den Kopf und sah schließlich seinen Sohn an.
Förster schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel und sagte: »Okay, ich muss dann mal los, der Brocki wartet draußen.«
Noch bevor sein Vater etwas entgegnen konnte, drehte Förster sich um und ging.
Im Flur traf Förster auf seine Mutter, die ihn fragte: »Was macht er?«
»Sitzt da, als wäre es eine Filmszene.«
»Für ihn ist es das ja auch.«
Sie umarmte ihn und steckte ihm fünfzig Mark zu.
»Du musst mich nicht bezahlen, Mama.«
»Du fährst doch nach Berlin, da kannst du das Geld bestimmt brauchen.«
»Geld kann man immer brauchen, Mama, also danke.«
»Erst sagst du Nein, dann nimmst du es doch!«
»Ist höflicher, sich ein bisschen zu zieren.«
Förster stieg in den Jetta, wo Brocki vor sich hin gedöst hatte, und als dieser den Motor anließ, stand Försters Vater in der offenen Haustür neben seiner Frau und brüllte etwas, was Förster erst in der Wiederholung verstand, nachdem er das Fenster heruntergelassen hatte.
»Ob du genug Geld dabeihast!«
»Ja, ja.«
»Und benehmt euch an der Grenze, sonst filzen die euch wie blöd.«
»Machen die sowieso, Papa.«
Und da grinste er, der alte Straßenkämpfer, denn jetzt war er nicht mehr Klaus, sondern wieder Papa, und Förster dachte: Wie soll das erst werden, wenn die alt sind?
»Ist irgendwas?«, fragte Förster, als sie auf der A43 schon am Kreuz Herne vorbei waren.
»Bin müde«, sagte Brocki nur.
Förster war nach der Sache mit seinem Vater auch erst mal nicht nach Reden zumute, aber als Brocki auf der A2 zwischen Beckum und Rheda-Wiedenbrück hinter den Fahrersitz griff, aus einer Kühltasche eine Dose Hansa Pils fingerte, sie zwischen seinen Beinen festklemmte und einhändig aufriss, da wusste Förster, dass es ernst war.
»Brocki, was ist los mit dir?«, fragte er.
»Was soll mit mir los sein, Förster? Ich genehmige mir ein Fahrbier, ist das neuerdings verboten?«
»Es ist noch nicht mal Mittag. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
»Nicht? Was sieht mir denn ähnlich, Förster? Ein Glas Milch und ein wenig Gebäck? Was weißt du schon von mir?«
»Komm, Brocki, wir wissen eine ganze Menge voneinander, das haben wir doch vorhin erst wieder gesehen.«
Brocki seufzte. »Ich meine nur, wenn der Dahlbusch so etwas macht wie Bier trinken am Mittag, da sagst du doch auch nichts.«
»Bei dem bin ich einiges gewohnt.«
»Und bei mir nicht, oder was?«
»Nicht, dass du besoffen Auto fährst.«
»Von einem Bier werde ich nicht besoffen, Förster.«
»Aber ungewöhnlich ist es schon, das musst du zugeben.«
»Ich gebe gar nichts zu! Was soll das hier werden, ein Verhör oder so? Ist das schon die Volkspolizei? Die Stasi? Ich dachte, das kommt alles erst hinter Helmstedt!«
Mit dem Bier zwischen den Oberschenkeln beugte Brocki sich vor und kramte dann im Handschuhfach vor Försters Knien herum.
»Brocki, ich fände es besser, wenn du nach vorne gucken würdest.«
»Ja, ja, stell dich nicht so an. Du klingst ja heute wie ein Mädchen.«
»Das ist sexistisch, Brocki. Es insinuiert, dass Frauen ängstlich und hysterisch seien und sich aufregen, obwohl es keinen Grund dafür gibt.«
Brocki seufzte erneut. »Die Uni hat dich anstrengend gemacht«, sagte er und schob eine Kassette in das Abspielgerät im Armaturenbrett. Kurz darauf kam Heat of the Moment von Asia. Förster wusste, das würde mit so einem Kram wie Toto und Christopher Cross und Ähnlichem weitergehen und dass er irgendwann würde gegensteuern müssen.
Nachdem Brocki das Bier ausgetrunken hatte, verstaute er die leere Dose umständlich hinterm Fahrersitz.
Das konnte Förster nicht unkommentiert lassen: »Wenn du schon einen auf harten Kerl machst, dann schmeiß die Dose gefälligst über die Schulter nach hinten!«
Brocki holte die Dose wieder hervor und gehorchte. Anschließend nahm er sich ein weiteres Bier.
»Wenn du willst, kannst du ja gleich übernehmen«, sagte Brocki, als er Försters kritischen Seitenblick bemerkte. »Ich muss sowieso aufs Klo.«
Kurz vor Hannover kamen sie dann in einen Stau, den Brocki dazu nutzte, sich noch eine weitere Dose einzuverleiben, sodass Förster froh war, als sie tatsächlich an der Raststätte Garbsen Nord rausfuhren. Brocki ging zur Toilette, und Förster besorgte sich einen Kaffee. Wobei er fand, dass man für dieses Raststättengebräu, das neben Fritteuse und Schnitzeln unter Rotlicht stundenlang auf einer angelaufenen Warmhalteplatte vor sich hin gegammelt hatte, ein neues Wort erfinden sollte.
Es dauerte ziemlich lange, bis Brocki zurückkam. Immerhin ging er kerzengerade, aber nach drei Dosen Bier musste man auch noch nicht zwingend torkeln, dachte Förster und war froh, dass ihm Brocki in einer Geste des Übermuts aus bestimmt zehn Metern Entfernung in hohem Bogen den Wagenschlüssel zuwarf, den Förster in einer, wie er selbst fand, überaus eleganten Bewegung einhändig fing.
»Mann, ich dachte, ich platze«, sagte Brocki und fuhr fort: »Kaffee, Förster? An der Raststätte? Hast du für deinen Magen keine Verwendung mehr?«
»Willst du auch einen?«
»Keinesfalls. Ich hab ein bisschen was Gesundes besorgt.«
Förster warf einen Blick auf die sechs von Plastikringen zusammengehaltenen Bierdosen, die Brocki in der Hand hatte.
»Wir haben auch noch ein paar im Wagen.«
»Dann sollte das ja reichen.«
»Ich wiederhole meine Frage von vorhin: Was ist los mit dir, Brocki?«
»Und ich wiederhole meine Antwort: Was soll los sein? Ich trinke ein paar Bier. Ist doch hier wie auf Klassenfahrt. Da habt ihr euch doch alle immer die Kante gegeben.«
»Ja, aber du eben nicht.«
»Und deshalb darf ich jetzt nicht, oder was?«
»Ist nur ungewohnt.«
»Wieso? Weil ich sonst so ein langweiliger Spießer bin?«
»Sage ich doch gar nicht.«
»Ja, du nicht.«
»Und der Fränge meint es nicht so.«
»Ach, um Fränge geht es doch gar nicht.«
»Um wen dann?«
Da schwieg Brocki erst mal. Er blickte auf die Autos, die an der Raststätte vorbeirauschten.
Dann sagte er: »Na ja, ich habe gestern mit Silke gesprochen.«
»Aha«, machte Förster.
»Nix aha, Förster. Die hat gesagt, sie ist in einer Phase, wo sie ein bisschen Aufregung im Leben braucht, deshalb kann sie sich mit mir nicht abgeben.«
»Das hat sie gesagt?«
»Nicht mit diesen Worten.«
»Ich kenne die nicht so gut, aber die ist doch nicht fies, die Silke.«
»Nee, die ist nur in so einer Phase, wo sie etwas mehr Aufregung braucht. Ich glaube, da läuft was mit diesem Uwe.«
»Mit welchem Uwe?«
»Krause oder so. Der ist doch Sänger in dieser Band.«
»Ja, ja, irgendwas mit Hell, ich erinnere mich. Aber die sind doch scheiße, Brocki. Schlimmster Hair-Metal.«
»Sieht die Silke aber anders.«
»Weißt du das so genau?«
»Ich kann zwischen den Zeilen lesen. Man muss wissen, wann man verloren hat. Rocksänger gegen Deutsch und Englisch auf Lehramt. Keine Chance.«
»Bei aller Liebe, Brocki, aber ich glaube, du steigerst dich da in was rein.«
Ein dunkelblauer Mercedes rollte langsam und fast lautlos an ihnen vorbei. Hinten saß ein vielleicht fünfjähriges Mädchen, das ihnen die Zunge herausstreckte. Brocki machte das Gleiche, und das Mädchen erschrak erst und lachte dann.
»Du warst nicht dabei, also erzähl mir nicht, was ich gehört habe. Und vor allem sag mir nicht, was ich tun, und was ich lassen soll!«
»Immerhin hat sie sich doch mit dir getroffen.«
Brocki antwortete nicht gleich. »Also genau genommen war das Zufall. Bei REWE.«
»Und da hast du mit ihr vor dem Kaffeeregal gestanden? Wie lange, zwei Minuten?«
»Nee, nee, das waren bestimmt fünf!«
»Und in diesen fünf Minuten hast du zwischen den Zeilen herausgelesen, dass sie zur Zeit in ihrem Leben etwas mehr Aufregung braucht und sich deshalb mit dir nicht abgeben kann?«
»Du warst nicht dabei, Förster!«
Brocki hatte Mühe, eine der Dosen aus ihrem Plastikring zu reißen, öffnete sie dann aber demonstrativ vor Försters Augen und stieg auf der Beifahrerseite ein.
Das kann ja noch heiter werden, dachte Förster. Und das wurde es dann auch.
Irgendwann schob Förster die Patti-Smith-Kassette, die er vorsichtshalber eingepackt hatte, in das Abspielgerät, denn er fand, er hatte Brockis Spezialmischung aus Asia, Toto, Supertramp und One-Hit-Wonders wie Men without Hats mit ihrem Safety Dance, der gleich zweimal hintereinander auf dem Tape war, lange genug ausgehalten. Wobei man, dachte Förster, das ja einfach nur so sagte, dieses: Ich halte das nicht mehr aus, man zog ja keine Konsequenzen und warf das Band bei hundert Sachen aus dem Fenster. Manchmal wünschte sich Förster, er hätte diese Radikalität, wusste aber, das würde nie sein Ding sein. Wenn man mit zweiundzwanzig noch nicht radikal war, dann kam das auch nicht mehr.
Brocki konnte natürlich mit Patti Smith nichts anfangen. Und da er mit dem Biertrinken seit Garbsen Nord auch nicht aufgehört hatte, war er jetzt ziemlich hinüber, was die Situation nicht angenehmer machte.
»Barfuß tanzen?«, sagte Brocki, als gerade Dancing barefoot lief. »Das ist doch wieder so ein Hippiezeug, oder, Förster?«
»Patti Smith ist eigentlich Punk.«
»Punks tanzen barfuß? Also ich finde, das tun nur Hippies. Und Bhagwan-Jünger oder Krishnas oder so. Ist die Krishna, die Patti Smith?«
»Keine Ahnung«, brummte Förster. Alter Freund mit Liebeskummer hin oder her, dachte er, langsam geht er mir ziemlich auf die Nerven.
»Oder ist die Bhagwan? Tanzt die barfuß ganz in Orange?«
»Halt jetzt bitte mal den Ball flach«, sagte Förster, als die Grenzanlagen vor ihnen auftauchten. »Muss ja nicht sein, dass die uns den Wagen auseinandernehmen.«
Brocki lachte etwas übertrieben, weil promillebefeuert. »Aber wieso denn, Förster? Ich dachte, das sind alles deine Freunde. Du hast dem Fränge doch immer zugestimmt, wenn er von der Systemalternative gepredigt hat. Die kennen euch hier doch bestimmt, du Fünfte Kolonne, du!«
»Im Ernst, Tilman«, mahnte Förster, »die sollten wir jetzt nicht provozieren.«
Brocki kicherte besoffen. »Ich habe gerade so eine verdammte Lust, im Todesstreifen zu tanzen. Und zwar barfuß.«
Förster stöhnte genervt. »Wir wissen, dass du ein Kommunistenfresser bist, aber reiß dich jetzt bitte mal ein paar Minuten zusammen.«
»Ein Revanchist bin ich, sagt der Fränge. Der meint, nur weil ich diesen real existierenden Schmonzes da drüben blöd finde, will ich gleich Deutschland in den Grenzen von 1937 wiederhaben. Der hat doch keine Ahnung, der Dahlbusch, ehrlich! Wir haben Verwandte da drüben, die können euch einen erzählen, da wird dir schlecht, das kann ich dir flüstern!«
Förster fuhr herum: »Ich schwör dir: Wenn du jetzt nicht das Maul hältst, sorge ich dafür, dass du erst in Berlin wieder wach wirst!«
»Oha!«, entfuhr es Brocki, der aber trotz allem einigermaßen beeindruckt wirkte, »und ich dachte, du bist Pazifist.«
Förster konzentrierte sich darauf, die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit schon hier in den ausgedehnten Grenzanlagen auf keinen Fall zu überschreiten. Nach allem, was die Leute, die öfter rüberfuhren, so erzählten, wurde man spätestens auf der Transitstrecke praktisch gleich erschossen, wenn man nur ein bis zwei Stundenkilometer zu schnell unterwegs war, was wohl dazu führte, dass man von winkenden DDR-Bürgern, die das Letzte aus ihren bläulich abgasenden Zweitaktern herauskitzelten, ständig überholt wurde. Also hatte man hier nur die Wahl, entweder abgeknallt oder verarscht zu werden.
Der Jetta plockte über die Nahtstellen zwischen den Betonplatten, die schon hier an alte Reichsautobahnen erinnerten. Davon abgesehen sah es jetzt ein bisschen aus wie an einem Fähranleger irgendwo an der Nordsee, wo man sich auch für die richtige Fahrspur entscheiden musste. Über der Straße waren blaue Hinweisschilder mit weißer Schrift und Autosymbolen angebracht. Lastkraftwagen hatten sich rechts zu halten, die zuständigen Schilder hießen »Transit Westberlin« und »Einreise DDR, Transit VR Polen, ČSSR«. Der restliche Bereich war noch einmmal in drei Spuren unterteilt, eine für Reisebusse, eine für PKW mit einem Schild »Transit Westberlin«, flankiert von zwei weißen, sehr streng wirkenden Pfeilen. Auf der dritten Spur ging es Richtung »DDR, ČSSR, Polen«. Förster fragte sich, wieso bei der PKW-Spur der Zusatz »VR« vor Polen fehlte, und ob es vielleicht zwei Polens gab – eine Volksrepublik, die nur mit Lastwagen zu erreichen war, und ein »normales« Polen für PKWs –, und was der Unterschied zwischen diesen Ländern sein mochte, die Größe der Parkplätze vielleicht? Dann aber riss er sich zusammen und konzentrierte sich auf den anstehenden, politisch so heiklen Vorgang der Einreise in den Arbeiter- und Bauernstaat, damit man nicht schon am Grenzübergang erschossen wurde, das konnte man bekanntlich auch weiter im Landesinneren erledigen lassen, da hielt man den Verkehr nicht so sehr auf.
Brocki bemerkte offenbar Försters Unsicherheit und lallte: »Was ist los, mein kleiner Rotgardist? Feigheit vor dem Freund?«
Förster beschloss, diese Bemerkung nicht durch eine Antwort aufzuwerten, und reihte sich in die Schlange für PKW ein. Im Stop-and-Go ging es weiter.
Brocki musste immer wieder kichern. »Guck dir die doch mal an! Die Koteletten! So was gibt es doch heute gar nicht mehr!«
»Ist jetzt egal«, sagte Förster gedämpft.
»Wovor haben die denn so eine Angst, deine Genossen?«
»Das sind nicht meine Genossen!«
»Ich weiß noch, was du neulich im Oblomow gesagt hast, nämlich dass die DDR ganz anders sein könnte, wenn wir Imperialisten nicht versuchen würden, ein moralisch überlegenes, sozial gerechteres Gemeinwesen auszuhungern.«
»Das war nicht ich, das war dieser Typ von der MLPD.«
»Aber du hast dem zugestimmt.«
»Habe ich nicht. Ich habe nicht widersprochen, weil bei dem sowieso alles zu spät ist.«
»Das mit dem Aushungern kriegen die schon selber hin«, machte Brocki weiter. »Und moralisch überlegen? Die knallen Leute ab, nur weil sie an der falschen Stelle von A nach B wollen!«
Dann stand einer der grün gewandeten Grenzer neben ihrem Wagen, kurz die Hand an den Schirm seiner Dienstmütze und fragte nach den Pässen, die Förster schon griffbereit liegen hatte.
»Wie viele Personen befinden sich in dem Fahrzeug?«
»Wir sind zu zweit«, sagte Förster.
Und wieder musste Brocki kichern. »Wie der spricht! Der sächselt ja wirklich! Wir kriegen das volle Programm.«
Förster zischte, Brocki solle jetzt bitte die Schnauze halten.
Der Grenzer schob ihre Pässe in eine Kunstledermappe, legte die auf ein Transportband und fragte: »Was ist der Grund für Ihre Einreise in die selbständige politische Einheit Westberlin?«
Brocki schaffte es kaum noch, an sich zu halten. »Wie der redet, ich lach mich kaputt! Und unsere Pässe dürfen auf dem Fließband fahren! Und das ist auch noch überdacht!«
»Führen Sie Waffen bei sich? Munition? Funkgeräte?«
Brocki lachte jetzt laut heraus. Speichel flog an die Windschutzscheibe. Förster wünschte sich weit weg.
»Was ist denn da so lustig?«, fragte der Grenzer im Ton eines Lateinlehrers. Eines überaus verstimmten Lateinlehrers, fand Förster. Eines überaus verstimmten Leipziger Lateinlehrers.
Dass Brocki daraufhin noch mehr lachen musste, machte die Sache nicht besser. Der Grenzer steckte den Kopf ins Auto, und Förster musste zugeben, dass dieser von seiner Position aus körperlos wirkende Kotelettenkopf schon ziemlich komisch aussah. Gegen seinen Willen musste er grinsen, was der Grenzer aber nicht mitbekam, denn der widmete sich jetzt voll und ganz Brocki, dem die Lachtränen mittlerweile die Wangen hinunterliefen. Der Grenzer wiederholte, ziemlich einfallslos, wie Förster fand, die Frage, was so lustig sei. Ein paar Sekunden schien es, als wolle Brocki sich zusammenreißen, aber dann sagte er: »Ich hätte da mal eine Frage: Möchten Sie auch manchmal barfuß im Todesstreifen tanzen, Herr Oberförster?«
Da war Förster klar, dass sie so schnell nicht nach Berlin kommen würden.
Fränge war begeistert. »Du subversives kleines Schweinchen! Da sage ich: Hut ab, Herr Brock! Den Grenzer zum Oberförster befördern, das hat was. So füllt man dieses ewige Lieber-tot-als-rot-Gerede mit Leben!«
Damit spielte Fränge auf den Aufkleber an, der jahrelang Brockis Schultasche geziert hatte, was Fränge als Mitglied der Schwerter-zu-Pflugscharen-Fraktion immer gegen den Strich gegangen war, aber die beiden brauchten halt irgendwas, womit sie den jeweils anderen ärgern konnten, auch wenn sich Brocki jetzt gar nicht so richtig ärgerte, sondern im Gegenteil fast ein bisschen stolz aus der Wäsche guckte, obwohl er vor ein paar Minuten noch gesagt hatte, er schäme sich für sein Verhalten in Marienborn. Vor Ort hatte Förster Brocki die Pest an den Hals gewünscht, aber jetzt musste er zugeben, dass das natürlich eine Riesengeschichte war, über die sie sich noch in dreißig Jahren würden amüsieren können.
Erst um vier Uhr morgens hatten sie bei Fränge vor der Tür gestanden und mehrfach klingeln müssen, bis endlich jemand aufmachte, allerdings nicht Fränge, sondern sein Mitbewohner, von dem Förster schon wusste, dass er Rainer hieß. Sichtlich sauer, in seiner Nachtruhe gestört worden zu sein, hatte Rainer an eine Tür gehämmert und Fränges Namen gebrüllt, bis dieser, nur mit einer blauen Unterhose bekleidet, endlich herausgekommen war, worauf sich folgender Dialog entwickelt hatte:
»Kundschaft, Fränge! Außerdem war die Haustür wieder nicht abgeschlossen!«
»Ja, ja, und der Flur ist auch nicht geputzt.«
»Ich will nur nicht, dass die Skins hier wieder auftauchen und uns die Bude auseinandernehmen.«
»Die nehmen hier gar nix auseinander, außerdem sind das Redskins, die gehören zu den Guten, also leg dich wieder hin, Rainer. Hallo, Jungs, ihr könnt bei Martina im Zimmer pennen, ist da vorne, Bett habe ich gemacht, alles Weitere gegen Mittag.«
Fränge war wieder in seinem Zimmer verschwunden, und Förster und Brocki hatten es sich in dem ihnen zugewiesenen Zimmer gemütlich gemacht, auf einer etwa einsvierzig breiten Matratze, und während Brocki praktisch sofort eingeschlafen war, hatte Förster noch wach gelegen, bis es hinter dem weißen Laken, das vor dem Fenster hing, langsam hell wurde. Einen Kleiderständer auf Rollen hatte er im Halbdunkel ausmachen können, auf dem ein paar Jeans hingen und ein paar Jacken und zwei, drei Kleider mit Blümchenmuster, neben dem Kleiderständer hatte Förster ein paar Springerstiefel gesehen, an der Wand ein Ikea-Regal, vollgestopft mit Büchern. Außerdem waren da ein paar Kisten, wahrscheinlich mit Wäsche, und am liebsten hätte Förster sich etwas genauer umgesehen, in den Kisten herumgekramt und so, aber das ging natürlich nicht, diese Martina, die vertraute darauf, dass Fränge keine Perverslinge in ihrem Zimmer übernachten ließ. Er hatte noch gedacht, dass er kaum Frauen kannte, die Kleider trugen, und sich außerdem gefragt, ob sie wohl hübsch war, diese Martina, jedenfalls schien sie gut zu riechen, denn auch wenn Fränge neue Bettwäsche aufgezogen hatte, war hier noch ein Duft unterwegs, irgendwie frisch, wie er fand, und über dieser Art von Gedanken war er dann doch noch eingeschlafen.
Jetzt saßen sie in der Küche der WG, dem mit Abstand größten Raum in der Wohnung, an einem großen Holztisch, auf dem die Kaffeetassen und Weingläser der letzten Tage standen. Auf dem Boden in einer Ecke lungerten Bier- und Weinflaschen herum, gleich neben einem großen dunkelroten Sofa, das es Förster besonders angetan hatte, denn ein Sofa in der Küche, das war für ihn Luxus pur. Er war ein Küchenmensch, weil die Küche nicht Wohnen und nicht Schlafen und nicht Arbeiten war, sondern irgendwas dazwischen, und von einer Position irgendwo dazwischen konnte man am besten beobachten, das stand für ihn fest. Am liebsten würde er nur in Küchen leben, nicht umsonst sammelten sich auf Partys die Leute immer genau dort. Der Eindruck des Luxuriösen wurde allerdings durch den nicht wegzulüftenden Nikotingeruch – für den vor allem Rainer verantwortlich war, da Fränge, abgesehen vom gelegentlichen Kiffen, nicht rauchte – sowie eine sich prominent neben der aus Altgeräten zusammengewürfelten Küchenzeile erhebende Duschkabine geschmälert. »Dit is Berlin«, hatte Fränge vorhin stolz getönt, als wäre eine Duschkabine in der Küche der Gipfel des Einfallsreichtums moderner Großstadt-Innenarchitektur. Förster ging eine ganz andere Frage durch den Kopf, nämlich, ob diese Martina, in deren Zimmer Brocki und er übernachtet hatten, auch hier, mitten in der Küche, duschte und ob Rainer und Fränge an sich halten konnten.
Es war jetzt so ein ganz heimeliges Beisammensein, nachdem sie sich monatelang nicht gesehen hatten, Brocki in seinem karierten Hemd, Fränge in seinem Grace-Jones-T-Shirt, das wohl ironisch sein sollte, und Förster in einem schwarzen Shirt ohne Muster oder Aufdruck. Genau das fiel ihm in diesen Minuten auf, nämlich dass sie alle Sachen trugen, die auf den Punkt brachten, wie sie drauf waren, hier und jetzt, nachdem gut ein Fünftel ihres dritten Lebensjahrzehnts um war, eine Zeit, auf die sie wahrscheinlich später mal als die beste ihres Lebens zurückblicken würden, bereit, es mit allem und jedem aufzunehmen, selbst mit bewaffneten Oberförstern.
»Mir ist das so peinlich«, sagte Brocki, nachdem Fränge ihn noch einmal gelobt hatte. »Außerdem habe ich tierische Kopfschmerzen. Und Hunger habe ich auch. Obwohl ich nicht glaube, dass ich was essen kann, mir ist nämlich auch schlecht.«
»Willkommen im Leben«, sagte Fränge. »Ich könnte dir ja eine Aspirin geben, aber das bringt nichts, die geht auf den Magen, die kotzt du sofort wieder aus. Ich würde sagen, wir ziehen gleich los, Essen fassen. Geht auf mich, klare Sache. Wenn mein alter Kumpel Tilman Brock unter die Anarchos geht, muss das belohnt werden.«