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"Es ist deine Bestimmung mit mir und dem Key gemeinsam die Welt von den finsteren Schatten zu befreien" - mit diesen Worten versucht Fatums Dienerin Raxia den 17-jährigen Milan von der Wichtigkeit seiner Existenz zu überzeugen. Der realistische Milan hält die seltsame Fremde für verrückt. Nach Ende seines kurzen Lebens muss er erkennen, dass er Meister Fatum nicht entkommt. Milans Weltanschauung wird auf den Kopf gestellt. Alles verändert sich. Der schwarze Drache Malum, Herrscher über die Bosheit und Gebieter der Schatten, versucht den mächtigen Key an sich zu reißen, um die Menschheit zu versklaven und sich gegen Zodans Prophezeiung aufzulehnen. Wird es Milan und Raxia gelingen, ihre Bestimmung zu erfüllen und ihren Feinden zu trotzen?
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Seitenzahl: 361
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Für M.
Weil du der Erste warst, der dran geglaubt hat
weitere Infos und Charaktere auf www.sanmahpicture.de
Milan Wolff
Wurde von Raxia von den Toten zurückgeholt, um mit ihr gemeinsam in Fatums Armee zu dienen und Emilio als Zweiter Key zu beschützen.
Raxia Ayda
Sie ist als Nachfahrin des Ur-Volkes vor 2000 Jahren in Fatums Armee als Auserwählte aufgestiegen und kämpft für die Freiheit der Menschen.
Emilio Marino
In ihm ruht die Seele des Ersten Keys und damit eine unbändige Macht, welche das Interesse des Bösen geweckt hat.
PROLOG
BUCH 1
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
BUCH 2
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
BUCH 3
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
BUCH 4
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
BUCH 5
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
EPILOG
NACHWORT
Die Sommernacht ist warm und sternenklar, als ich mit meiner älteren Stiefschwester Tanja in den Sternenhimmel schaue.
„Da. Eine Sternschnuppe. Du musst dir etwas wünschen, Milan.“
„Was soll ich mir denn wünschen?“
„Ist mir egal. Aber es ist deine Pflicht.“
„Warum?“
„Frag nicht so dämlich.“
Tanja rümpft genervt die Nase. Sie stützt sich auf ihren Armen ab und lehnt sich ein Stück zurück. Wir sitzen auf der Terrasse hinter dem großen Haus unserer Familie, zu der ich seit zwei Jahren gehöre.
Eigentlich bin ich Waise. Tanjas Eltern haben mich auf das Drängen ihrer Tochter hin adoptiert, weil Tanja der Einsamkeit zu Hause überdrüssig geworden ist und durch einen jüngeren Bruder Gesellschaft erfahren wollte. Meine Stiefeltern sind echte Arbeitstiere. Sie besitzen ein eigenes Hotel und ein Restaurant. Dort verbringen Mutter und Vater die meiste Zeit ihres Lebens, weshalb wir Kinder immer allein sind.
Das macht mich einerseits traurig, andererseits bin ich froh, weil ich meine Eltern nicht so oft sehen muss. Sie sind beide herzlose Menschen, die mich immer wieder spüren lassen, dass ich ihnen zuwider bin. Mein Vater wird mir gegenüber auch handgreiflich. Ich hab Angst vor ihm. Doch solange Tanja für mich da ist, kann ich damit leben. Ich liebe meine große Schwester über alles, auch wenn es mich traurig macht, dass sie mit ihren vierzehn Jahren keine Lust mehr hat, sich um ihren kleinen, nervigen Bruder zu kümmern.
Ohne Vorwarnung muss ich laut niesen und fische hastig das bereits mehrfach benutzte Papiertaschentuch aus meiner Hosentasche. Ich wische mir die zähe Rotze weg, die sich den Weg aus meiner Nase gebahnt hat.
„Igitt, Milan. Wie kann man sich im Sommer nur erkälten?“
„Tut mir leid …“, seufze ich ergeben und niese kurz darauf ein weiteres Mal. Diesmal halte ich mir gleich das Taschentuch vor die Nase, damit Tanja sich nicht wieder vor mir ekeln muss.
„Ich wäre heute viel lieber zu meiner Freundin Tine gegangen, aber nein. Du Idiot musst dich erkälten, weshalb ich den Samstagabend jetzt mit meinem kleinen verrotzten Bruder auf unserer Terrasse verbringen muss, um sinnlos die Sterne anzuglotzen.“
„Du kannst gehen, ich verrate es keinem“, antworte ich traurig.
Tanja seufzt. „Du bist wie ein blöder Hund, Milan, weißt du das eigentlich?“
„Ich bin kein Hund“, erwidere ich verletzt.
„Doch“, murrt meine Schwester. „Als du klein warst, wollte ich dich haben, weil du süß gewesen bist. Aber jetzt nervst du nur noch.“
Tanja schaut mich verachtend an, bevor sie sich aufsetzt und ihre Beine mit den Armen umschlingt. Sie legt ihr Kinn auf die Knie und lässt ihren Blick durch den Garten wandern, vorbei am Pool hinweg über Mamas Blumenbeet, bis hin zum Vollmond.
Plötzlich weiten sich ihre Augen. Sie streckt ihren Finger Richtung Himmel. „Da war wieder eine. Ich habe eine zweite Sternschnuppe gesehen. Jetzt darf ich mir etwas wünschen“, ruft sie euphorisch, schließt ihre Augen und wirkt angespannt. „So. Fertig.“
„Was hast du dir gewünscht?“, frage ich leise.
„Darf ich nicht verraten. Es geht sonst nicht in Erfüllung.“
„Hoffentlich hast du dir nicht gewünscht, dass Mama und Papa mich zurück ins Heim geben.“
„Pah. Für dich verschwende ich doch keinen Wunsch“, antwortet Tanja beleidigt und verschränkt die Arme vor der Brust. „Du bist dusslig, Milan. Ich geh jetzt in mein Zimmer. Dein Essen kannst du dir alleine machen.“
„Aber du hast versprochen, dass du heute noch etwas kochst, Tanja. Ich hab doch Hunger.“
„Du bist sechs Jahre alt und kein Baby mehr. Mach dir selbst etwas. Ich will jetzt mit Tine chatten.“
„Aber du hast es mir versprochen. Ich hab den ganzen Tag nichts gegessen.“
„Na und? Ich hab es mir eben anders überlegt.“
„Du bist gemein.“
„Ja, und du nervst. Jetzt lass mich in Ruhe.“
Tanja geht ins Haus und wirft die Terrassentür wütend ins Schloss. Ich zucke zusammen und Tränen steigen mir in die Augen. Es breitet sich ein schlechtes Gefühl in mir aus. Das kommt nicht von meiner Erkältung oder dem Fieber, das mich seit heute Morgen quält. Meine Bauchschmerzen stammen von Einsamkeit, und die ist viel schlimmer als der dumme Schnupfen.
„Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als eine Familie, die mich liebt.“
„Fünfunddreißig“, protze ich und setze ein breites Grinsen auf, während ich in die ungläubigen Augen meines Freundes Olli blicke.
„Das glaube ich dir nicht.“ Er schüttelt den Kopf.
Olli und ich sind zum ersten Mal im 696. Der Club ist neu und befindet sich direkt in der Innenstadt. Nur fünf Minuten zu Fuß von der Bushaltestelle Reichenbachstraße entfernt. Die Musik ist laut, das Licht diffus, die Luft stickig und überall sind Menschen.
Ich finde es hier irre aufregend. Diese Samstagnacht machen wir einen drauf. Olli ist heute achtzehn geworden. Das wird ordentlich gefeiert.
„Never, Milli. Das schaffst du nicht“, antwortet er auf meine Behauptung.
„Wetten?“
Ich kenne Olli seit der Grundschule. Wir hatten unsere Startschwierigkeiten, aber ab dem Gymnasium sind wir die besten Freunde geworden, obwohl wir komplett unterschiedliche Menschen sind. Zu unserer Clique gehören noch Caro und Aiche. Zusammen besuchen wir die zwölfte Klasse des städtischen Gymnasiums und verbringen auch unsere Freizeit größtenteils zusammen. Jedoch hat Aiche Zahnschmerzen und bleibt deswegen heute zu Hause. Caro leistet ihr Beistand, weshalb die Geburtstagsfeier ohne die beiden stattfinden muss.
Aber vielleicht ist es besser, wenn die Mädels heute nicht dabei sind. Olli ist seit der sechsten Klasse unsterblich in Caro verliebt. Er baggert sie ständig an, was ihr auf den Wecker geht. Sie steht nicht auf ihn, aber der liebestolle Idiot will es nicht wahrhaben. Ab und zu kippt deshalb die Stimmung. Das nervt.
„Fünfunddreißig Sekunden, das schaffst du nie“, ruft Olli, als wir an der Bar ankommen.
Die Leute gehen zur lauten Musik richtig ab. Unter ihnen ist Antonia. Ich habe schon seit einer Weile ein Auge auf sie geworfen. Sie geht in unsere Parallelklasse.
„Wenn ich es nicht schaffe, zahl ich heute.“
„Nie und nimmer bekommst du von Blondie in der kurzen Zeit einen Kuss. Die meldet dich der Security wegen sexueller Belästigung und wir fliegen raus, weil du noch nicht einmal volljährig bist.“
„Ach, labere nicht“, antworte ich, trinke mein Bier leer und visiere erneut mein Ziel an.
Antonia bewegt sich gut zur Musik. Sie hat einen astreinen Hüftschwung. Das blaue Kleid erledigt den Rest. Sie schreit förmlich danach, von einem Typen abgeschleppt zu werden. Und dieser Typ werde ich sein.
„Jo Alter, lass es einfach“, versucht mich Olli immer noch vom Gegenteil zu überzeugen. „Das wird nur peinlich und teuer für dich.“
„Fünfunddreißig und ich bekomme keine Ohrfeige nach dem Kuss.“
„Haha, lol, NEVER. Aber mach halt, du hörst ja eh nicht auf mich. Ich freue mich schon jetzt auf den kostenlosen Abend. Ich werde extra viel saufen zur Feier des Tages.“ Der Rotschopf holt sein Handy aus der Tasche und öffnet die Stoppuhr-App. Er sieht mich herausfordernd an. „Stell dich auf paar Überstunden bei Luigi ein“, grinst mein bester Freund.
„Und du, verabschiede dich von deiner Kohle“, erwidere ich. Olli lacht, prostet mir zu und startet die Uhr.
Mein Weg bahnt sich durch die Massen bis zu Antonia. Sie tanzt mit ihren Freundinnen in der Gruppe.
„Hi“, sage ich selbstbewusst, nachdem ich mich angenähert habe. „Antonia, richtig?“
Sie nickt und legt sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
Die drei anderen Mädels beobachten uns und kichern. Das stört mich nicht. Ich habe eine Wette zu gewinnen und mein Ego aufzuwerten.
„Und du bist?“, fragt Antonia zickig.
„Milan Wolff. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.“
„Was?“, fragt sie unsicher.
Ich verschwende keine weitere Zeit, greife sie an den Schultern, beuge mich zu ihr hinunter und küsse sie. Antonia ist entsetzt, aber nicht angeekelt. Ich möchte es nicht gleich übertreiben und lasse von ihr ab, nachdem ich meine Wette gewonnen habe.
Die Mädchen um uns herum lachen. Sie sind von der Situation ebenso überfahren wie Antonia. Sie blickt mich perplex aus ihren blauen Augen an und wird rot.
„Danke“, sage ich lächelnd.
Ich drehe mich etwas, um den Blick auf Olli an der Bar freizugeben. Er hat alles beobachtet und prostet mir geschlagen mit der Bierflasche zu.
Ich grinse in seine Richtung und erfreue mich an seiner Anerkennung. Die Wette habe ich gewonnen. Das bedeutet: Keine Überstunden bei Luigi.
Ich arbeite nach dem Unterricht in seiner Pizzeria, um mein Taschengeld aufzubessern. Nächsten Sommer schließe ich die Schule ab.
Was ich danach machen will, weiß ich noch nicht. Ich bin planlos, was meine Zukunft angeht. Ich weiß nur, dass ich weder im Hotel noch im Etablissement meines Stiefvaters arbeiten werde. Mein Stiefvater gründete das Restaurant, nachdem Tanja geboren wurde. Die Geschäfte liefen gut und er erweiterte seinen Betrieb um ein Hotel.
In dieser Zeit wurde ich adoptiert, damit sich meine Eltern mit ihrer Nächstenliebe schmücken konnten. Sie waren auf der Überholspur, die Geschäfte florierten. Sie schwammen im Geld. Zeit für uns Kinder blieb nicht. Ich war fast immer allein, bekam nie etwas zu essen gekocht und wurde regelmäßig von meinem Stiefvater verkloppt, war er mal da. Meine Stiefmutter sah in den Momenten weg und ignorierte meine Hilfeschreie. Ich hasste sie wie ihren Mann und war deswegen nicht traurig, als sie vor meinem neunten Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben kam. Ich vermisste sie keine Sekunde.
Tanja war die Einzige, die ich aus meiner Familie leiden konnte. Mit dreizehn verliebte ich mich in sie und hegte tiefe Gefühle, die sie sehr wohl wahrnahm und ausnutzte. Ohne es zu wissen, erfüllte sie mit mir ihre Fantasie und wir landeten nach meinem sechzehnten Geburtstag im Bett. Ich verliebte mich noch mehr in sie. Als sie zwei Tage später mit einem fremden Typen aufkreuzte und ich begreifen musste, dass sie mich verarscht hatte, brach für mich die Welt zusammen. Es war wie ein Faustschlag ins Gesicht, der mir aufzeigte, dass ich ganz allein war.
Allein bin ich noch immer. Daran wird sich wahrscheinlich auch nie etwas ändern. Ganz egal wie viele Mädchen ich aufreiße oder wie oft ich den coolen Obermacker mime – die Einsamkeit bleibt.
„Hast du eine Erklärung für dein Verhalten?“, reißt Antonia mich aus meinen Gedanken.
„Der Typ da ist Olli. Vielleicht kennst du ihn. Er geht auch mit in meine Klasse.“
„Aha“, meint sie verwirrt.
„Er hat heute Geburtstag – seinen Achtzehnten. Wir haben gewettet.“
„Gewettet?“ Verdutzt blickt sie mich an.
Ich nicke und greife mir verlegen an den Hinterkopf. „Ja, na ja, eine dumme Sache eigentlich, aber wir konnten uns nicht einigen, wer heute die Rechnung bezahlt. Da haben wir eben darum gewettet, ob ich es schaffe, in fünfunddreißig Sekunden einen Kuss von dir zu bekommen. Wenn du willst, lade ich dich auch gern auf einen Drink ein. Als Wiedergutmachung.“
„Wow, das ist ganz schön frech“, antwortet sie und grinst mich verwegen an. Antonia ist nicht wütend. Ganz im Gegenteil. Sie hat Gefallen an mir gefunden. „So direkt hat mich noch keiner angemacht.“
„Jaja“, lacht eine ihrer Freundinnen scheinheilig.
Antonia verdreht die Augen, aber lässt sich nicht aus der Fassung bringen. Sie streicht mir über den Arm und kommt einen Schritt auf mich zu.
„Dann gib mir mal einen Drink aus, Milan. Das ist das Mindeste.“
„Klar“, antworte ich selbstbewusst und greife ihre Hand. Wir verlassen die Tanzfläche unter den grölenden Rufen der anderen Mädchen.
Triumphierend kehre ich mit meiner Beute zu Olli zurück. Er begrüßt Antonia überschwänglich.
„Können wir nicht etwas alleine machen?“, fragt sie mich genervt.
„Nee, Olli hat Geburtstag“, antworte ich.
„Ja, ich bin ab heute erwachsen“, lacht er.
„Na herzlichen Glückwunsch …“ Sie rollt mit den Augen und wendet sich von Olli ab. Sanft streichelt ihre Hand über meinen Oberarm. Ihre Finger wandern dann weiter zu meinem Kragen. Sie zupft ein wenig daran, während sie provokant meine Augen fixiert. „Wie schade. Ich dachte, da kommt noch mehr nach dem Kuss“, seufzt sie andächtig. „Tschja, kann man wohl nichts machen. Dann bestelle ich mir jetzt meinen Drink und verschwinde.“ Sie wendet sich an den Barkeeper, um ihr Bier zu ordern.
Zeit für mich, meinen besten Freund bettelnd anzusehen. Olli versteht mich ohne Worte. Er ist nicht begeistert, jedoch nickt er mir zu.
Als sich Antonia ihr Getränk schnappt und vom Barhocker gleitet, lege ich provokant meinen Arm um ihren Hals und ziehe sie an mich. Meine Hand streicht dabei leicht über ihr Schlüsselbein, womit ich sofort ihr Interesse auf meiner Seite habe.
„Oh, hast du es dir anders überlegt?“
„Ein paar Minuten kann ich mich von der Party davonstehlen“, zwinkere ich ihr zu.
„Ich seh auf die Uhr“, knurrt Olli.
„Wenn du sonst nichts zu tun hast“, erwidert Antonia unbeeindruckt. „Feier noch schön.“
„Jaja.“ Er dreht sich zur Bar und trinkt allein sein Bier, währenddessen ich gemeinsam mit Antonia einen ruhigeren Ort suche. Die Toiletten bieten sich dazu an. Sie sind im Gang neben der Treppe, die nach draußen führt. Ich biege mit Antonia im Schlepptau ab und dränge sie mit dem Rücken zur Wand.
Sie legt ihre Arme auf meine Schultern. Ich sehe sie lange an, bevor ich beginne, sie zu küssen. Diesmal gebe ich mir mehr Mühe als auf der Tanzfläche und bin Olli wahnsinnig dankbar für seine Großzügigkeit.
Es wird ein leidenschaftlicher Zungenkuss, der uns beiden ziemlich einheizt.
„Wir können zu mir gehen“, haucht Antonia mir ins Ohr.
„Ich will dich hier.“ Meine Hände greifen ihre Handgelenke. Ich ziehe sie mit mir zur Damentoilette.
Ich stoße die Tür auf und bin geschockt. „Nee, oder?“, rufe ich entrüstet, als ich meine nervtötende Nachbarin im Vorraum der Toilette erkenne. „Was hast du hier verloren?“, fahre ich sie an, noch bevor sie etwas sagen kann.
Sämtliche Erregung in mir ist abgestorben. Die Nacht ist gelaufen. Ich will nicht mehr. Es gibt keinen Menschen, der mich mehr nervt als meine Stalking-Nachbarin.
Sie heißt Raxia, ist sechzehn und geht auf die Oberschule. Sie wohnt ein paar Häuser von mir entfernt und hat es sich seit ihrem Einzug vor einem Jahr zur Aufgabe gemacht, mir mein Leben zu versauen. Ich laufe ihr an den unmöglichsten Orten über den Weg, um mir von ihr irgendwelche verrückten Dinge über die Entstehung der Welt und mein Schicksal anhören zu müssen. Raxia ist total abgedreht. Sie lebt in ihrer kleinen Fantasie-Welt, in der sie glaubt, ein Messias zu sein, der die Menschheit vor dem sicheren Untergang bewahrt.
„Du hast mich heute versetzt, Milan!“
„Hab ich nicht! Wir waren nicht verabredet.“
„Doch, zum Training.“
„Nein. Ich habe keinen Bock auf dein religiöses Gefasel von wegen Apokalypse.“
„Milan! Das besprechen wir nicht vor unschuldigen Menschen. Hörst du mir jemals zu? Das Wissen über die Prophezeiung treibt die Normalen in den Wahnsinn.“
„Prophezeiung?“, wiederholt Antonia verwirrt. „Wie ist die denn drauf? Woher kennst du sie?“
„Raxia wohnt nebenan und ist total durchgeknallt.“
„Ich bin nicht durchgeknallt!“
Zornig stemmt sie ihre Hände in die Hüften und macht ein wütendes Gesicht, was bei ihrer geringen Körpergröße nicht bedrohlich wirkt.
Raxia geht mir bis zur Brust und ist von schmächtiger Gestalt. Sie wäre ganz süß, hätte sie nicht so einen unfassbar großen Knall.
„Kehre nach Hause zurück und trainiere deinen Geist. Es ist wichtig“, fordert sie hartnäckig.
Zornig packe ich sie an den Schultern und befördere sie aus der Damentoilette. Dabei rempeln wir beinahe mit zwei Mädels zusammen. Ihr Blick spricht Bände, als sie mich aus der Frauentoilette kommen sehen.
„Hey, lass mich los, Milan.“
„Lass mich in Ruhe!“
„Aber es ist deine Aufgabe.“
„Halt den Mund und geh nach Hause!“
Ich schaue mich nach Antonia um. Ihr ist das ganze Treiben zu bunt geworden. Sie steht mit verschränkten Armen vor mir. „Ich gehe jetzt. Danke für das Gratisbier und bis irgendwann mal.“
„A-Antonia, warte!“
Zwecklos. Ich brauche mir keine Mühe zu geben. Antonia hat genug gesehen. Erbost drehe ich mich in Raxias Richtung. „Das hast du toll hingekriegt.“
Sie hebt müde eine Augenbraue. „Was wolltest du denn mit der?“, fragt sie.
„Was glaubst du wohl?“
„Wie romantisch.“
„Ach, sei still und lass mich endlich in Ruhe.“
„Erst wenn du mir versprichst, jetzt nach Hause zu gehen, um deine mentalen Kräfte zu stärken.“
„Ich werde gleich etwas stärken, das wird aber nicht mein Geist sein.“
„Du kannst vor Fatum nicht davonlaufen. Auch wenn du Angst hast, aber dein Schicksal wird dich einholen. Es ist deine Bestimmung, den Auserwählten zu uns zu bringen.“
„NEIN!“
Raxia ist sofort still. Das lindert aber nicht meinen Zorn wegen der vermasselten Nummer mit Antonia. Verärgert lasse ich Raxia stehen und gehe zu Olli zurück. Niedergeschlagen sinke ich auf dem Barhocker neben ihm in mich zusammen. Olli hebt verwirrt den Blick, weil er offensichtlich nicht so schnell mit meiner Rückkehr gerechnet hat.
„Oh Milan. Schon zurück? War wohl ein Fehlzünder?“
„Sei still“, knurre ich beleidigt und lege das Geld für Antonias Bier auf den Tresen. „Ich will nach Hause.“
Olli lacht. Er klopft mir aufmunternd auf die Schulter.
„Komm, wir bestellen noch was zu trinken und dann ist die Welt wieder schön.“
„Das wird viele Drinks brauchen.“
Zufrieden klopft mein Kumpel auf den Tresen und lockt den Barkeeper an, um die neue Bestellung durchzugeben. Meine Laune bleibt gedämpft. Heute hätte so ein geiler Abend werden können, wäre diese verdammte Raxia nicht wieder aus dem Nichts aufgetaucht und hätte alles vermasselt.
Olli hat sich zu seinem Achtzehnten komplett abgeschossen. Als wir den Club verließen, kotzte er dem Türsteher vor die Füße.
Um meinen Kumpel aufzumuntern, lade ich ihn heute ins Luigi’s zu einer Gratispizza ein. Caro und Aiche begleiten uns in die Pizzeria, welche in der Innenstadt liegt.
„Bekommen wir auch etwas umsonst?“, fragt Aiche, während sie sich im Laufen ihre langen Haare kämmt.
Sie ist stolz, weil sie ihr bis zum Hintern gehen. Für mich an ihrer Stelle wäre es nicht wirklich das Wahre, aber Aiche liebt ihre pechschwarze Mähne.
Sie hat Caro mit ihrem Modetick angesteckt. Die beiden reden andauernd von Klamotten und den neusten Trends. Dabei passt das gar nicht zu ihr. Sie ist das typische Mädchen von nebenan. Süß, freundlich und fürsorglich. Ich hab sie gern. Würde Olli nicht auf sie stehen, hätte ich schon lange mein Glück bei ihr probiert.
„Ach, lädst du uns auch ein, Milli?“, fragt mich Caro, nachdem Aiche dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat.
„Hallo? Ich hab dir neulich erst etwas geliehen, weil deine Kippen alle waren.“
„Stimmt, das wollte ich dir noch zurückgeben“, bemerkt sie. „Aber ich bin gerade knapp bei Kasse, weil ich mir erst den neuen Faltenrock gekauft habe.“
Sie zupft sich an dem karierten Minirock, den sie gerade trägt. „Wie findest du ihn?“, fragt sie mich errötend.
„Es wundert mich, dass deine Mutter dich in dem kurzen Ding vor die Tür lässt.“
„Ich hab mich erst in der Schule umgezogen, hihi.“
„Er steht dir erste Sahne“, mischt sich Olli plump ein. „Siehst wie ein sexy Schulmädchen aus.“
‚Mann, Alter‘, denke ich entsetzt. Er nimmt wirklich jedes Fettnäpfchen mit.
Glücklicherweise ist die Pizzeria bereits in der Ferne zu sehen. Mein Lieblingskollege ist heute auch da. Wir haben zusammen Schicht. Das motiviert.
Er arbeitet parallel zu seinem Studium bei Luigi, um die leere Studentenkasse aufzufüllen. Er wird uns bald verlassen, weil seine Freundin schwanger ist. Die beiden haben sich eine Wohnung in Chemnitz gesucht und ziehen zu seinen Schwiegereltern. Sie helfen ihnen nach der Geburt mit dem Baby. In dieser Familie halten alle zusammen. Ich bin neidisch.
„Alles, was sie bestellen, geht auf mich“, informiere ich ihn.
Meine Freunde sitzen bereits an einem Tisch, als ich mich auf den Weg zur Umkleide begebe. Es gibt eine Tür gleich neben der Bar, die zu einem Gang führt, durch welchen man Luigis Büro, die Küche, die Personaltoiletten und den Pausenraum erreicht.
Auf dem Weg dorthin werfe ich Peter, unserem Pizzabäcker, ein „Hallo!“ zu. So viel Zeit muss sein.
„Hey Milan! Alles klar? Ist ruhig heute“, winkt mir Peter aus der Küche zu.
„Hm, wird bald hektisch werden. Ich hab paar hungrige Freunde mitgebracht.“
„Oh, na dann wärme ich mich mal auf.“
„Mach das“, schmunzle ich und setze meinen Weg in Richtung Umkleide fort.
Mein Blick schweift zu Luigis Büro.
Die Tür ist offen, weshalb ich annehme, der dicke Italiener sei an seinem Arbeitsplatz. Ich linse bedächtig um die Ecke. Er telefoniert.
Luigi sieht mich und winkt mir zu. Ich lächle ihn an und will meinen Weg fortsetzen. Da fuchtelt er auf einmal hektisch mit der Hand. Ich verstehe erst im zweiten Moment, dass er von mir verlangt, die Tür zu schließen.
Kaum ist die Bürotür zu, fängt er an zu donnern: „Bella, ich hab dir genug Geld gegeben. Musst du denn wirklich jedes Wochenende Party machen gehen?“
Bella ist Luigis Tochter. Er hat zwei von der Sorte. Sie lieben es, Daddys Geld auf den Kopf zu hauen.
Sie ähneln meiner Schwester. Tanja hat auch keinen Job und verprasst das Geld unseres Vaters, während er mich am Hungertuch nagen lässt.
Echt, ich mache drei Kreuze, wenn ich endlich achtzehn bin und ausziehen kann. Acht Monate sind es noch bis zu meinem Geburtstag am sechzehnten Mai. Ich zähle jeden einzelnen Tag.
Olli, Caro und Aiche genießen ihr kostenloses Essen und bestellen nach Herzenslust.
Ich sehe meinen Verdienst von diesem Abend beträchtlich abnehmen, dafür sammle ich ordentlich Pluspunkte in der Clique.
Satt und zufrieden verlässt Olli als Erster die Pizzeria. Er hat seinen Eltern versprochen, heute Abend auf seine kleine Schwester Marianne aufzupassen. Sie ist acht Jahre und ein echter Wildfang.
„Du kannst mich ja begleiten, Caro. Marianne mag dich doch“, bettelt Olli hoffnungsvoll.
„Äh, nein, danke“, lehnt sie vehement ab. „Aiche und ich bleiben noch. Nicht wahr?“
„Aber sicher“, schmunzelt die Schwarzhaarige. „Wenn unser lieber Milli alles bezahlt, wären wir ja schön blöd, uns dieses Angebot durch die Lappen gehen zu lassen.“
Sie hebt ihr Glas und prostet mir dankend zu. Mir läuft dabei eine dicke Schweißperle die Stirn hinab.
„Du weißt schon, dass ich eigentlich nur von einer Pizza pro Kopf ausgegangen bin?“, frage ich sie nervös.
„Hihi. Sei nicht so geizig. Von uns bist du der Einzige, der arbeiten geht.“
„Das sagt so einiges …“, seufze ich.
„Hey, Kellner!“, ruft eine Frauenstimme.
Ich reagiere sofort und verlasse meine Freunde.
Die junge Frau sitzt am hintersten Tisch im Gastraum. Hier ist mein Kollege zuständig, aber er hat gerade Pause. Ich ignoriere ihre genervte Ausstrahlung, als ich auf sie zugehe „Haben Sie schon bestellt?“, frage ich.
„Ja, vor einer halben Ewigkeit“, meckert die Frau. Ich hebe meinen Blick und sehe sie an. Dabei bleibt mir glatt die Spucke weg. ‚Scheiße ist die hübsch‘, geht es mir durch den Kopf. Meine Augen bleiben an ihrem tiefen Ausschnitt hängen.
„Gefallen sie dir?“, grinst die Frau.
Ich schlucke und werde knallrot. Beschämt wende ich meinen Blick von ihrer Oberweite ab. „E-Entschuldigung“, stammle ich verlegen.
Die Frau kichert. Sie wirkt auf einmal nicht mehr so angepisst und zickig.
Das verwirrt mich. „Ähm – wollen – wollen Sie etwas bestellen?“, wiederhole ich meine Frage von vorhin, weil ich ihre Antwort vor Schreck schon wieder vergessen habe.
Sie fixiert mich mit ihren grünen Augen.
Als ich ihren Blick bemerke, schlägt mein Herz schneller. Ich beginne zu schwitzen.
„Lilly“, schmunzelt die Brünette. „Wie heißt du?“
„Milan“, antworte ich fasziniert. „I-Ich heiße Milan.“
„Okay, Milan“, lächelt sie.
‚Scheiße, ich bin hin und weg.‘
„Du arbeitest hier, stimmts?“ Sie stützt sich mit ihrem Ellenbogen auf den Tisch und legt ihren Kopf auf die Handfläche. Dabei lehnt sie sich nach vorn, weshalb ihre Möpse zusammengedrückt werden.
Ich zwinge mich, ihr in die Augen zu sehen. Aber ich komme nicht von ihren Brüsten los.
Lilly kichert. Sie ahnt bestimmt, dass ich ihr kein bisschen zugehört habe. Sie lehnt sich auf dem Stuhl zurück und schlägt ihre Beine übereinander. Anschließend fährt sie sich mit der Hand durch die wilden Locken.
Beschämt halte ich die Luft an. Ich hab einen Ständer schon allein von ihrem Anblick. Wie peinlich.
„Wann hast du denn heute Feierabend, Milan?“
„Äh – in drei Stunden.“
„Hm, bist du danach schon verplant?“
„Nein.“ ‚Lädt die mich gerade auf ein Date ein?‘
Mir bricht der Schweiß aus. Ich bin total nervös, als sie mich freundlich anlächelt, weil ihr meine Antwort zu gefallen scheint.
„Willst du vielleicht mit mir ausgehen?“
„Ist das dein Ernst?“
„Ja“, meint Lilly ungeniert. „Du gefällst mir.“
„Echt?“ ‚Boar, hab ich ein Schwein!‘
„Hihi, ja. Also hast du Lust?“
„K-Klar hab ich die.“
„Sehr schön. Ich werde vor der Pizzeria auf dich warten. Bringst du mir jetzt bitte die Rechnung?“
„Die – die Rechnung – ja, äh – sofort.“
„Beeil dich. Ich hab es etwas eilig.“
„J-Ja.“
Überstürzt renne ich zum Tresen, um den Kassenbeleg für Lillys Tisch zu besorgen. Es dauert keine Minute, bis ich zu ihr zurückkehre, um abzurechnen.
„Oh, das ging aber schnell. Hoffentlich bist du nicht bei allem, was du tust, so fix.“ Sie zwinkert und ich werde rot. Als sie aufsteht, trete ich einen Schritt zurück, um ihr Platz zu machen.
Verschmitzt schaut sie zu mir auf. „Du bist echt süß.“
„Du auch“, stammele ich.
„Danke.“
Sie legt sich elegant die Haare hinters Ohr, bevor sie ihren Blick durch den Raum wandern lässt. „Könntest du mir noch verraten, wo sich die Toiletten befinden?“
„D-Da hinten“, sage ich und zeige Richtung Ausgang. „Gleich links neben der Tür.“
„Ah, okay. Habe ich beim Reinkommen gar nicht bemerkt. Na gut, vielen Dank.“
„Gern geschehen.“
Lilly wendet sich ab, um zu den Toiletten zu gehen. Total fasziniert von ihr gehe ich zu Aiche und Caro. Sie sitzen an ihrem Tisch und belesen sich über die neusten Modetrends.
„Ihr glaubt nicht, was mir gerade passiert ist“, erzähle ich fassungslos. Erschöpft lasse ich mich auf den leeren Platz nieder. Ich brauche erst mal eine Pause. Meine Beine zittern immer noch.
Die beiden sehen fragend von ihren Handys auf.
„Du hast etwas kaputt gemacht?“, rätselt Aiche.
„Oder war jemand gemein zu dir?“, forscht Caro.
„Weder noch. Mir ist gerade meine absolute Traumfrau begegnet.“
Aiche rollt genervt mit den Augen. „Oh, eine Neue für deine Sammlung? Die Wievielte wird das? Nummer zwanzig von der Liste er-hat-mit-mir-geschlafen-aber-mich-danach-nichtwieder-angerufen?“, sagt sie zynisch und widmet sich unbeeindruckt ihrer Lieblingsbloggerin.
„Das ist mein absoluter Ernst“, knurre ich sie wütend an. Sie hält mir lässig ihre offene Hand entgegen, aber würdigt mich keines Blickes. Ihr geht mein einschneidendes Erlebnis am Arsch vorbei. Caro hingegen merkt durch ihre empathische Art, dass mir tatsächlich etwas Unfassbares passiert sein muss. Sie legt ihr Handy weg, um mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. „Was ist passiert, Milli?“
„Mich hat doch gerade eine Frau an ihren Tisch gerufen. Na ja, als ich bei ihr war, dachte ich nur: Wow, was für ein wunderschönes Weib.“
„Kurz: Sie war blond und hatte dicke Titten“, merkt Aiche an.
„Ach, jetzt hörst du doch zu? Außerdem war sie nicht blond. Aber das spielt keine Rolle. Sie hat mich total in ihren Bann gezogen. Ich hab sie die ganze Zeit nur doof angestarrt, aber sie hat mich trotzdem für heute Abend zu einem Date eingeladen. Ist das zu glauben?“
„Nein, Milan Wolff hat ein Date mit einem hübschen Mädchen. Wir sollten diesen Dienstag als Gedenktag für alle kommenden Generationen festhalten.“
„Boar, Aiche. Kannst du deinen verdammten Zynismus mal stecken lassen?“
„Die Katze lässt das Mausen nicht“, antwortet sie und bringt mich auf die Palme. Caro holt mich wieder runter, bevor ich explodieren kann.
„Hast du sie vorher schon mal getroffen?“
„Nein. Das war wie Liebe auf den ersten Blick, obwohl ich an so einen Scheiß nicht glaube.“
„Vielleicht solltest du vorsichtig sein, Milli.“
„Warum? Hast du Angst, sie tut mir was an?“ Ich lache.
„Ich bin ein Kerl, Caro. Wenn jemand Angst haben sollte, sich mit einem Fremden zu treffen, dann eher Lilly.“
„So heißt sie wohl?“
„Jepp. Lilly. Und sie ist genauso schön und elegant wie eine echte Lilie.“
„Würg“, mimt Aiche angewidert.
„Sei doch still!“
In dem Moment schaut Caro auf, weil sich jemand unserem Tisch genähert hat. Ich folge ihrem Blick.
Geschockt springe ich vom Stuhl auf, als ich Lilly neben mir stehen sehe. Mir geht sofort durch den Kopf, ob sie gelauscht hat, weil ich gerade so bescheuert über unser Kennenlernen berichtet habe. Das wäre peinlich. Mann, hoffentlich hat sie nicht mitgekriegt, dass ich wie ein pubertierendes Schulmädchen von der Liebe auf den ersten Blick geredet habe. OMG, das wäre das Ende!
Es herrscht absolutes Schweigen an unserem Tisch, nachdem wir Lilly bemerkt haben.
„Ich wollte mich nur verabschieden“, lächelt sie.
„Äh, j-ja … Dann, dann sehen wir uns nach zehn.“
„Ja, ich freu mich schon.“
Dann passiert es. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, legt ihre Hände an meine Brust und haucht mir einen zaghaften Kuss auf die Lippen. Ich reiße entsetzt meine Augen auf, weil ich mit dieser Art der Verabschiedung überhaupt nicht gerechnet habe. Auch Caro und Aiche steht der Mund weit offen, während sie uns beobachten.
„Bis dann Milan.“
„Bis dann …“
Lilly kehrt mir lächelnd den Rücken und verlässt die Pizzeria. Ich lasse mich ausgelaugt zurück auf den Stuhl sinken, während ich weiterhin in die Richtung starre, in die sie verschwunden ist.
Aiche findet als Erste die Sprache wieder. Sie räuspert sich. „Gut, die ist echt hübsch. Du hast nicht übertrieben. Die Frage ist nur, was will so eine schöne und erwachsene Frau von dir Schwachkopf?“
„Offensichtlich sieht sie in mir keinen Idioten“, antworte ich beleidigt. „Sonst hätte sie mich ja wohl kaum geküsst.“
„Irgendetwas kann mit der nicht stimmen“, sinniert sie, ohne auch nur kurz auf meine Bemerkung einzugehen. „Caro, was meinst du?“
„Ähm – ich weiß nicht.“ Caro schaut zu mir. „Ist sie dir nicht ein bisschen zu alt, Milli? Sie scheint eine erwachsene Frau zu sein. Sie wird doch sicher ganz andere Vorlieben haben als wir, oder?“
„Solange das Interesse an mir bestehen bleibt, ist mir das egal“, antworte ich und wende mich ab. „Wäre Olli noch hier, würde er sich für mich freuen, aber ihr Weiber habt doch keine Ahnung. Ihr könnt nur alles schwarzmalen. Ihr seid genauso schlimm wie meine Stalker-Nachbarin. Alles vermiest ihr einem.“
„M-Milli, das wollte ich damit nicht sagen“, lenkt Caro erschrocken ein.
„Pff, leck mich. Ich werde euch schon beweisen, dass Lilly mich nicht verarscht.“
Sauer verlasse ich den Tisch und verziehe mich hinter den Tresen.
Heute arbeite ich keine Minute länger als nötig. Ich verabschiede mich von allen und bin weg. Nach mir die Sintflut. Ich ziehe mich eilig um und zünde mir noch im Gehen eine Zigarette an.
Ich bin schrecklich nervös. Hoffentlich wartet Lilly tatsächlich vor dem Laden und hat mich nicht verarscht. Es wäre peinlich, wenn Aiche mit ihrer Skepsis recht behalten sollte. Hibbelig laufe ich durch den Hinterhof. In meiner Hektik habe ich vergessen, die Taschenlampe an meinem Handy anzumachen, weshalb ich über etwas stolpere. „Scheiße!“
Ich trete auf den Gehweg und schaue mich vorsichtig um. Ich versuche dabei locker zu wirken. Sollte mich Lilly verarscht haben, will ich ihr keine Angriffsfläche bieten. Ich wäre bestimmt nicht der Erste, der auf ihr Süßholzgeraspel reingefallen ist.
„Da bist du ja!“
Ich zucke zusammen. ‚Raxia‘ blitzt es hinter meinen Augen auf. Mir wird kotzübel. Steckt die blöde Kuh etwa dahinter?
Sie schließt zu mir auf. Ich starre sie fassungslos an und weiß im ersten Moment gar nicht, ob ich lachen oder heulen soll. Ich hoffe nur, dass ich sie loswerde, bevor Lilly uns zusammen sieht. Nicht das es wie bei Antonia endet.
„Milan, wie kannst du deine Zeit in dieser Pizzeria verschwenden, während du mit dem Mentaltraining so weit zurückliegst? Wie willst du denn in sieben Jahren den Auserwählten zu uns bringen, wenn du deine Kräfte nicht beherrschst? Wann erkennst du endlich den Ernst der Lage?“
Ich höre ihr nicht zu und schaue mich nach Lilly um.
Raxia hat die Hände in die Hüften gestemmt und lehnt sich verärgert nach vorn, um mir ihre Standpauke zu halten. „Deswegen werde ich in Zukunft nicht mehr von deiner Seite weichen, um endlich das Training fortzuführen.“ Sie greift nach meinem Arm, um mich abzuführen, jedoch schüttle ich sie ab.
Ich werfe ihr einen wütenden Blick zu, bevor ich einen Schritt zurückgehe, um Abstand zwischen uns zu bringen. „Was willst du Verrückte eigentlich von mir? Seit einem Jahr klebst du an meinen Fersen und tauchst immer in den unpassendsten Momenten auf.“
„Ich brauche deine Kraft. Unser Schicksal ist verbunden. Es ist unsere Bestimmung, den Auserwählten zu Fatum zu bringen. Widerworte sind zwecklos, Milan. Wir werden gemeinsam kämpfen, ob du willst oder nicht.“
Ich rolle genervt mit den Augen. Dieses Weibsbild bringt mich zur Weißglut. Verärgert trete ich vor, um sie an den Armen zu packen. Ich ziehe sie an mich und sehe ihr zornig in die blauen Augen, bevor ich zu einem Kuss ansetze, der sie hoffentlich zum Schweigen bringt. Es ist eindeutig, dass sie in mich verliebt ist.
„Was tust du da?!“, schreit sie und schlägt mir mit der Faust ins Gesicht.
„Auu. Du verdammte … Was soll das?!“ Ich funkle sie wütend an, während ich mir die pulsierende Nase halte. Ohne dass ich es beeinflussen kann, laufen mir Tränen über die Wangen. „Ich dachte, du willst, dass wir vögeln! Dann lass dich gefälligst auch küssen!“
„Was bildest du dir denn ein, du Perversling?! Du hast sie ja nicht mehr alle“, schreit sie, macht auf dem Absatz kehrt und rennt davon.
„Boar, Scheiße. Die Alte hat echt eine Meise“, knurre ich verärgert. Meine Nase blutet ein wenig. Ich nehme ein Taschentuch, um es wegzuwischen. Was für ein beschissener Tag. Mann, bin ich sauer.
Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Ich rechne mit der Schreckschraube, weshalb ich mich total genervt umdrehe.
„L-Lilly“, sage ich überrascht. Sie hebt entschuldigend ihren Blick, nachdem sie nach Luft geschnappt hat.
„Entschuldige. Ich habe den Bus verpasst.“
Ich höre die Engelsglocken. Die Himmelspforte öffnet sich und dahinter liegt die nackte Lilly auf einer Wolke, um mich lüstern zu sich zu winken.
Ich bin ein echter Idiot. Mann, jetzt hätte ich beinahe freiwillig auf sie verzichtet, um mit Raxia mitzugehen.
„Musstest du lange warten?“
„Alles gut.“ Selbstbewusst nähere ich mich ihr, damit ich ihr einen Kuss auf die Lippen hauchen kann. Sie hat das heute bei mir gemacht, also darf ich das auch. Meine schmerzende Nase vergesse ich dabei. Ihre Lippen sind wesentlich interessanter.
Als ich mich nach dem Kuss entfernen möchte, hält sie mich an meiner Jacke fest. Ihre Augen leuchten mich erwartungsvoll an. Ich küsse sie erneut. Diesmal intensiver und mit Zunge.
„Ich kenne da einen coolen Ort …“, flüstert sie.
„Willst du ihn mir zeigen?“
„M-hm.“
‚Boar, wow! Doch kein Scheißtag. Ich kann mein Glück kaum fassen.‘
Um den besagten Ort zu finden, müssen wir nachts durch den Wald latschen. Irgendwie ist mir unwohl dabei, aber Lilly ist zu scharf, um mir Sex mit ihr im Freien entgehen zu lassen. Da kann man es schon mal riskieren, von einem wildgewordenen Keiler aufgespießt zu werden. Dank meines verdammten Stiefvaters weiß ich bereits, wie man sich als Dönerspieß fühlt.
Ich leuchte uns den Weg mit meinem Handy, während Lilly sich in meine Armbeuge klammert und vor sich hin summt. Mir gefällt ihre Stimme. Sie hat etwas Beruhigendes an sich und zieht mich in ihren Bann. „Du singst echt schön“, sage ich, während wir durch das Unterholz steigen.
„Ich summe doch nur.“
„Klingt trotzdem schön.“
„Kannst du singen?“
„Nein, überhaupt nicht“, lache ich.
„Ich kann nur malen.“
„Was malst du denn?“
„Eigentlich alles, was mich fasziniert.“
„Und was fasziniert dich gerade?“
„Du.“
„Weil dir meine Stimme gefällt?“, kichert sie.
„Nicht nur die.“ Ich muss schmunzeln, wünsche ich mir die ganze Zeit nichts sehnlicher, als endlich die verfickte Stelle zu erreichen, damit ich über sie herfallen kann. Ohne Grund latschten wir ja nicht kurz vor Mitternacht durch einen menschenleeren Wald.
„Ist es noch weit?“, frage ich beiläufig.
„Nein, wir sind gleich da.“
„Wohin gehen wir eigentlich? Ich meine, wir sind mitten im Wald. Wenn du mich nicht zu einem verfluchten Hexenhaus bringst, was gibt es hier sonst zu sehen?“
„Lass dich überraschen.“
„Im Ernst, Lilly. Ich bin neugierig. Wohin gehen wir?“
„Zu einer Lichtung.“
„Häh? Wir laufen seit einer halben Stunde durch den Wald, um zu einer Lichtung zu gehen? Wenn du einen Platz ohne Bäume besuchen willst, würde es auch eine Wiese tun.“
„Es ist eine besondere Lichtung.“
„Oh Mann …“
Mir ist ziemlich mulmig zumute. Ich weiß absolut nicht, was mich erwartet, aber der Optimist in mir will an geilen Sex und kein blutiges Gemetzel denken. Deshalb folge ich Lilly noch für weitere zehn Minuten durch den Wald, bis wir tatsächlich eine Lichtung erreichen.
Der Platz ist kreisrund und wirkt unnatürlich. Es steht ein einzelner großer Baum in der Mitte der Fläche, der sich majestätisch in den Himmel streckt. Er wirft einen gigantischen Schatten im Licht des Mondes in unsere Richtung. Irgendwie fühlt sich der Ort magisch an.
„Okay, es ist wirklich cool hier.“
„Sag ich doch.“
Sie greift meine Hand und führt mich zu dem großen Baum. Wir stellen uns direkt ins Mondlicht und küssen uns. Bei dem Ambiente geht mir echt einer ab. Vor allem faszinieren mich Lillys Hände gerade unter meinem Hemd. Sie streichelt angetan über meinen Oberkörper. „Du fasst dich total hart an.“ Ihre Stimme zittert vor Erregung.
„Dabei bist du noch oberhalb der Gürtellinie“, grinse ich.
„Hast du es schon mal unter freiem Himmel getan?“
„Nee, bisher noch nicht.“
„Hihi okay“, grinst sie. „Aber vorher will ich dir noch etwas zeigen.“
„Wie du dich im Mondlicht für mich ausziehst?“
„Vielleicht später.“ Sie kramt in ihrer Jackentasche. Ungeduldig beobachte ich sie dabei. Am liebsten würde ich sie sofort flachlegen, aber ich will es nicht vermasseln.
„Ah.“ Ein Tütchen kommt aus ihrer Tasche zum Vorschein.
Ich mache große Augen. „Ist es das, was ich denke?“
„Hm, was denkst du?“
„Nichts Legales.“
„Legal, illegal. Das hängt nur von irgendwelchen Buchstaben auf dem Papier in einem Gesetzbuch ab.“
„Stehst du ernsthaft auf Drogen, Lilly?“
„Wer weiß? Finden wir es doch heraus?“
Man war das eine Nacht. Es ist schon Mittagspause, aber es kommt mir vor, als wäre ich gerade aufgestanden.
Ich sitze mit Olli auf dem Schulhof und erzähle ihm ausführlich von meiner Nacht mit Lilly. Nebenbei zeige ich ihm ein Foto von ihr auf dem Handy, welches ich von ihr schießen durfte. Nackt, versteht sich. Olli kriegt den Mund vor lauter Staunen nicht zu. „Die hast du echt gevögelt?“
Ich nicke stolz. „Ja, im Wald nach Mitternacht. Das war echt das Geilste, was ich je erlebt habe.“
„Und die sah echt so aus?“
„Ja, genau so perfekt“, schwärme ich.
„Du verdammter Lucker.“ Er boxt mir gegen die Schulter. „Wieso kriegst du solche Weiber? Wie unfair!“
„Tschja, wer hat, der kann.“
Von dem Heroin erzähle ich nichts. Wegen dieses Teufelszeugs habe ich verfluchte Kopfschmerzen. Das brauche ich kein zweites Mal. Lilly reicht mir aus, um den geilsten Sex der Welt zu haben.
„Wer hat und wer kann?“ Aiche steht neben uns.
Sie und Caro gesellen sich zu uns auf den Pausenhof, eingehüllt in warme Jacken, weil es kalt geworden ist.
„Ey, Milli ist ein verdammtes Arschloch“, beschwert sich Olli lauthals.
„Erzähl mir was neues“, meint Aiche sarkastisch.
„Hör auf zu stänkern“, warne ich sie. Aiche winkt ab.
„Hast du dich gestern mit der hübschen Frau getroffen, die dich auf Arbeit angesprochen hat?“, fragt Caro vorsichtig.
„Ja“, antworte ich stolz. „Sie hat mich weder verarscht noch umgebracht. Wir hatten geilen Sex und ich werde sie wiedersehen.“
„Oho, der edle Ritter möchte eine Maid zweimal beglücken? Wie kommt die Gute zu der Ehre?“, fragt Aiche.
„Lass deinen Hohn“, antworte ich genervt, als Olli sich plötzlich mein Handy schnappt.
Er reißt es mir aus der Hand und zeigt den Mädels das Nacktfoto von Lilly. Die beiden reagieren entsetzt. Während Caro beschämt rot anläuft, wird Aiche wütend. „Wie kannst du solche Fotos machen?“
Ich hole mir zornig mein Handy aus Ollis Griffeln zurück und werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ich durfte. Es ist ein Andenken.“
„Wie pervers bist du?! Weiß sie, dass du es großkotzig auf dem Schulhof herumzeigst?“
„ICH habe es nicht großkotzig herumgezeigt, sondern Olli. Außerdem sieht Lilly wunderschön aus und muss sich nun weiß Gott nicht für ihren Körper schämen.“
„Das gibt dir noch lange nicht das Recht, mit ihrer Blöße hausieren zu gehen.“
„Komm runter, Aiche. Ich zeige es niemanden.“
„Du bist echt widerlich, Milan. Ich dachte immer, Olli sei der Perverse von euch beiden, aber du bist offensichtlich viel schlimmer als er.“
„He!“ Olli schaut perplex in die Runde.
„Komm, Caro. Wir gehen.“ Beide verschwinden.
„Das hast du echt super hingekriegt“, schnauze ich.
„Was sollte die Aktion?“
„Ey, es geht nicht, dass du so eine geile Schnalle knallst und auch noch mit so hübschen Mädels befreundet bist. Du Arschloch hast einen Dämpfer verdient.“
„Und du nennst dich ernsthaft noch mein Freund?!“
„Mann, du machst eine geile Tussi nach der anderen klar und ich bleibe auf der Strecke. Das ist voll unfair. Dir Wichser fällt immer alles in den Schoß. Das hast du überhaupt nicht verdient.“
Er wendet sich von mir ab und geht zurück in die Schule. Ich starre ihm mit geballten Fäusten hinterher. Am liebsten würde ich diesem Idioten für seine letzten Worte eine reinhauen. Den ganzen Ärger habe ich unterm Strich nur seiner verdammten Eifersucht zu verdanken. Dieser Esel. Ich würde alles geben, hätte ich seine Familie. Der Arsch hat keinen Grund, auf mich neidisch zu sein.
Daheim erwartet mich Tanja. Sie steht gelangweilt im Wohnzimmer, als ich auf dem Weg in die obere Etage bin.
„Ah, Bruderherz“, ruft sie und kommt auf mich zu.
„Was willst du?“, frage ich so, dass sie mich hoffentlich in Ruhe lässt.
„Woher weißt du, dass ich etwas von dir will?“
Ich seufze. „Erstens hast du mich angesprochen, was du nur tust, wenn du etwas willst. Zweitens nanntest du mich Bruderherz, was du nur benutzt, wenn ich dir wieder irgendwelche Sachen kaufen soll. Also, Tanja. Mach es kurz: Was willst du diesmal haben?“
„Ich will die schicken Schuhe, die ich auf meinem Account verlinkt habe.“
‚War ja klar‘, denke ich verletzt.
Normalerweise würde ich keine Zeit verlieren und Tanjas Wunsch sofort in die Realität umsetzen. Jedoch ist mir gerade absolut nicht danach. Ich will ihr mein Geld nicht mehr in den Rachen werfen. Tanja liebt mich sowieso nicht. Sie wird es auch nie tun.
„Ich will die Schuhe in Schwarz.“
„Ich kauf sie dir nicht.“
„Was? Hab ich mich gerade verhört?“