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Khalida hat Salomea verändert. Entschlossen verfolgt sie das Ziel, den Geächteten Freiheit zu schenken. Auf der Suche nach Antworten schließt sie sich der Rebellengruppe Omega an und begegnet der Tochter jener Hexe, die einst den Fluch über die Verbannten aussprach. Noch nie war sie der Wahrheit über ihre eigene Vergangenheit so nah. In Khalida muss sich auch Aleidis einer unangenehmen Wahrheit stellen. Noch immer verschwinden Kinder spurlos aus der Stadt und sie hegt den schrecklichen Verdacht, dass ausgerechnet ihr Vater dahintersteckt. Für ihre Freunde riskiert Aleidis mehr als nur ihr Leben. In der Fortsetzung der Geschichte um die Stadt Khalida stellen Salomea und Aleidis sich unbekannten Gefahren und kämpfen um Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Danksagung
Zu allererst geht mein Dank an Stephanie, meine persönliche Testleserin Nummer Eins und Mitdenkerin. Du bist die einzige Person, die bereits alle Auflösungen der Geschichte kennt, bei Knoten denkst du ausführlich mit. Du schenkst mir immer wieder Sicherheit beim Schreiben und ich bin mir sicher, dass ich ohne deine tatkräftige Unterstützung nicht so weit gekommen wäre.
Ein großes Danke geht zudem erneut an mein wertvolles Testleserteam.
Kimberly, Bina, Lena und Rachel, ich danke euch für die wochenlangen Zoom-Meetings am Sonntagabend, für eure Gedanken, Anmerkungen, Ideen und Motivation. Eure Unterstützung hat wieder das Beste aus dem zweiten Band herausgeholt!
Zuletzt möchte ich meinem Ehemann danken, ohne den meine Geschichten ungeteilt in einer Datei auf meinem Computer verbleiben würden. Danke, dass du im letzten Jahr so viel mitgedacht, zugehört und motiviert hast. Die vielen Restaurantabende, an denen wir im Khalida-Austausch versunken sind, bleiben in meinem Herzen.
Außerdem danke ich Esther Schrader und Christin Thomas für das wunderschöne Design! Ihr habt mit eurem Talent die Geschichte erneut wach werden lassen.
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Triggerwarnung
Auf der allerletzten Seite dieses Buches findest du eine Triggerwarnung. Es werden in dieser Geschichte Themen angesprochen, die manche LeserInnen beunruhigend finden könnten.
Angelika Siebel
Khalida
Der Aufstand der Verbannten
Band 2 der Khalida-Trilogie
© / Copyright: 2022, 1. Auflage, Angelika Siebel
Umschlag, Illustration: Christin Thomas, www.giessel-design.de & Esther Schrader, www.zirael_art.artstation.com Lektorat, Korrektorat: Matthias Effertz, www.textblick.de Klappentext: Anika Ackermann, www.anikaackermann.com
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Für die Verwertung ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumabteilung“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
ISBN
978-3-347-76113-1 (Paperback)
978-3-347-76114-8 (Hardcover)
978-3-347-76115-5 (e-Book)
Teil 1
Prolog
Eisblaue Augen. Weißes Fell.
Was hat mich hierhergeführt?
Vor zweieinhalb Monaten hatte ich im Dorf auf unserem Hof gearbeitet, nachts von einer bunten, wunderschönen Stadt geträumt. Mein Aussehen war eine unglückliche Nebenerscheinung, nichts, das mich in Beziehung mit Menschen beeinträchtigt hätte. Ich schuftete vor Sonnenaufgang und beendete den Tag bei Untergang mit Schmerzen im ganzen Körper. Ich lag im Bett, oftmals in Angst. Doch ich stand wieder auf, wusste, was mich erwartet, ging einer Tätigkeit nach, die von Wert war für meine Familie und für die Bewohner in der Stadt.
Dann brach der Winter ein und zum ersten Mal stellte sich die Angst vor ihrem Überfall als berechtigt dar: Ich wurde verschleppt – von einem großen dunklen Wolf. Nach einem beängstigenden Ritt, der Nacht in einer kalten nassen Zelle und darauffolgender ausführlicher Demütigung in einem Vogelkäfig geriet ich in die Obhut von Seolo. Geraten? Manch einer mag denken, dass das ein harter Ausdruck ist im Zusammenhang mit jemandem, der einen zu retten versuchte. Aber Schutz hatte mir diese Obhut nicht wirklich geboten. Seolo selbst, ja, dieser Mensch – oder Wolf? – hatte etwas in mir berührt, das ich zuvor noch nicht empfunden hatte. Eine schnelle Anziehung und Vertrautheit entwickelte sich, obwohl er zu lange sein wahres Leben vor mir versteckt hatte. Erst nach wiederholten Schleckereien durch mein Gesicht fand ich heraus, dass er der friedliche und riesige Wolf Bardou war. Der Name schien mir passend, ich habe ihn nach einer Geschichte von unserem Geschichtenerzähler Konradin benannt.
Ein Chaos aus Gefühlen folgte. Einerseits fühlte ich mich immer wohler bei ihm, andererseits trieb mich seine Verschwiegenheit nahezu in den Wahnsinn. Lange hatte es gedauert, bis er mir von Omega erzählte: einer Untergrundgruppierung, die plante das Regime der Machtführenden zu brechen und sich für Gleichberechtigung einzusetzen wünschte. Bisher war jedoch noch nichts aktiv umgesetzt worden.
Während die Zuneigung zu Seolo wuchs, breitete sich die Bedrohung für mich an diesem Ort aus. Bis auf Ewa und Ana traten mir wenige Personen mit Neutralität, geschweige denn Freundlichkeit gegenüber. Neben den gehässigen Frauen versuchte vor allem Barghan mir das Leben zur Hölle zu machen. Eine verrückte Kombination aus Neugier und Abscheu zog ihn zu mir. Mehrfach wurde er übergriffig, glücklicherweise wurde ich immer rechtzeitig geschützt, doch zu keinem geringen Preis. Ewa wurde grausam zugerichtet, sodass wir sie unter den Schutz von Omega stellten. Barghan war außer sich vor Wut, seine Frau vermisst zu sehen, und ehe er diese an mir ausließ, übernahm Seolo die Züchtigung. Wenn ich daran zurückdenke, überkommt mich ein kalter Schauer. Doch tief in meinem Innern wusste ich immer, dass er es aus reiner Verzweiflung getan hatte. Diese Erklärung reichte jedoch nicht aus und ich bereitete mich auf meine Flucht vor. Dieser Abschied brach mir das Herz. Ich wusste aber, dass ich keinen weiteren Tag in der Verbanntenstadt unter der Herrschaft von Osric überleben würde. Sogar mein Versprechen gegenüber Ewa, die Stadt niemals ohne sie zu verlassen, hatte ich brechen müssen. Ich habe daraus gelernt, dass, wenn es um Leben und Tod geht, jeder Mensch doch für sich selbst entscheidet, es sei denn, er ist es gewohnt, in Gefahr zu leben. Und mir selbst war bis dato eine solch kontinuierliche Bedrohung unbekannt. Ich sah keine andere Möglichkeit als die Flucht. Also verschleierte ich mich wie eine von Osrics Mätressen und erreichte die lang ersehnten Stadtmauern Khalidas. Wie naiv ich doch gewesen war. Der Eintritt in diese Stadt ließ den letzten Vorhang vor meinen Augen fallen und offenbarte die harte Realität: Kinder ohne elterliche Liebe, Streben nach nicht erreichbarer äußerlicher Perfektion, Herabwertung aller Menschen, die „anders“ waren und die Einsamkeit der Herzen, die spürbar wurde, sobald man in Kontakt trat. Egal ob der große Herrscher Rian in Person oder Wachmänner, Dienerinnen und Erzieherinnen, keiner und keine von ihnen wirkte wirklich glücklich.
Doch eins wurde mir schnell klar: Die Kinder an diesem Ort unterschieden sich nicht viel von den Kindern aus unseren Dörfern. Natürlich hatten sie eine andere Erziehung genossen, konnten sich gewählter ausdrücken, lesen, schreiben und mehrere Sprachen sprechen, doch letztlich unterschied sich ihre kindliche Neugier in Bezug auf das Leben keineswegs von der, die ich als Kind selbst erlebt hatte. Nur sie hatten mich so lange an diesem Ort lebendig gehalten. Erst als meinerseits ein eindeutiger Regelbruch im Kontakt zu den Kindern offenbar wurde, musste ich mir einen Fluchtweg überlegen. Ganz egal wie sehr die Kinder mich – oder ich sie? – gebraucht hatten, wenn ich am Leben bleiben wollte, musste ich diesen Ort mit all den Fragezeichen in meinem Kopf verlassen. Warum war Rian misstrauisch hinsichtlich des Fluches über seine Brüder und deren Anhänger? Warum töteten sie gesunde Säuglinge? Was zog mich so zu den Kindern der Stadt und warum hatte Valira sterben müssen?
Ob ich jemals Antworten auf diese Fragen erhalten würde?
Die Flucht aus Khalida hatte mich beinahe auch das Leben gekostet. Es ist mir bis jetzt ein Rätsel, wie ich es zu dem Ledergerber Heimrik geschafft habe. Danach hatte mich Lomarin aufgefunden, kurz bevor ich in dem eisigen Winterwald erfroren wäre. Ja und dann – dann war ich davon überzeugt, dass ich sterben würde. Die Verletzung an meinem Bein und das darauffolgende Fieber hatten mich an die Grenze zwischen Leben und Tod gebracht. Auf nahezu wundersame Weise erholte ich mich nichtsdestotrotz. Und noch dazu war Seolo wieder an meiner Seite. Dass ich ihn wiedersehen würde, hatte ich spätestens vor den Stadttoren Khalidas abgeschrieben. Endlich hatte ich ihn wieder berühren, hören und sehen können.
Irgendetwas veränderte sich jedoch in mir. Der merkwürdige Heißhunger auf rohes Fleisch nahm von Stunde zu Stunde zu. Und, während meine Verwundung ungewöhnlich schnell verheilte, machten wir uns auf den Weg durch den Wald. Nicht nur Rians, sondern insbesondere Osrics Männer – oder Wölfe? – waren dort auf der Suche nach mir. Nach derjenigen, die jegliche Chance Osrics auf die Gunst seines Bruders zerstört hatte. Eine pulsierende Eule namens Glühwürmchen, die ihrem niedlichen Namen keineswegs Ehre machte mit ihrer finsteren Erscheinung, wies uns den Weg durch den Wald. Die Hitze in meinem Körper hatte trotz der Winterkälte zugenommen. Warum? Das würde ich noch herausfinden. Irgendwann trafen wir auf Lomarin, der offenbarte, dass Seolo mir irgendetwas Wesentliches vorenthalten hatte. Ja, wie man sich denken kann, war meine Wunde nicht auf natürlichem Wege so schnell zugewachsen. Wie? Das weiß ich selbst nicht. Was ich weiß: Wenn ich jetzt in die Spiegelung meines Antlitzes sehe, erkenne ich mein eigenes Gesicht nicht wieder. Ich blicke in das Gesicht eines narbenlosen, weißen Wolfes. Na, warte!
Kapitel 1
Ich atme tief durch und nehme unzählige Gerüche gleichzeitig wahr. Die Erde des Waldes, die Rinden der Bäume, den Schnee, das Wasser, die Steine unter meinen Pfoten. Ein nicht gekannter Zorn fährt durch meine Glieder, gefolgt von einem Trieb, mich sofort auf ein Objekt zu stürzen. Nicht auf irgendein Objekt. Auf Seolo.
Knurrend und Zähne bleckend sehe ich zu ihm auf, zum Wolf namens Bardou. Dunkelbraun, beinahe schwarz. Das erste Mal kommt er mir klein vor. Bin ich etwa größer? Jedenfalls hält mich nichts davon ab, mich mit einem Satz auf ihn zu stürzen. Ohne darüber nachzudenken, haue ich meine Zähne in sein dickes Fell. Fiepend springt er zurück. Oh, wie gerne ich ihm alles wörtlich an den Kopf werfen würde, aber so bleibt mir nur eine Wahl: Kampf. Jetzt beginnt er zu knurren, neigt seinen Kopf, legt die Ohren an und sieht mir mit flammenden Augen entgegen. Kurz zucke ich zusammen, der Anblick ist angsteinflößend. Doch dann höre ich mein eigenes Knurren. So, du willst mich also herausfordern? Das kannst du haben!
Mit aller Kraft kralle ich mich an ihm fest. Bellen, reißen, fiepen, beißen. Ich bin größer und stärker!
Wie hatte er mir das verschweigen können? Bin ich nun auch für immer verflucht? Nicht nur die Wut über seinen jetzigen Vertrauensbruch, sondern auch die Wut über den vergangenen in Verbindung mit Omega und Barghan schießt in mir hoch. Ein Biss in mein Ohr, ein fester Pfotenschlag in sein Gesicht. Unsere Körper trennen sich wieder voneinander, ich gehe ein paar Schritte zurück, nur um wieder Anlauf zu nehmen.
„HALT!!!“, schreit eine Stimme.
Beide schrecken wir auf.
„Verdammt noch mal! Mea, beruhige dich! Du musst fressen und zur Ruhe kommen!“
Fressen? Super! Knurrend sehe ich wieder zu Seolo.
„Reiß dich zusammen! Verwundet kommen wir nicht weiter!“
Mein Körper bebt, meine Muskeln sind angespannt, zum Sprung bereit. Doch dann schnaufe ich mehrfach aus, versuche dem Drang nicht nachzugeben. Langsam gehe ich rückwärts ein paar Schritte. Seolo entspannt sich und stellt die Ohren wieder auf.
Oh, was riecht hier plötzlich so köstlich? Ein Kaninchen? Ein Reh? Ein Wildschwein? Schnuppernd strecke ich die Nase in den Himmel.
„Oh nein, Mea! Das lässt du schön sein! Du kannst jetzt nicht auf die Jagd gehen! Sie sind überall!“ Lomarin stellt sich mutig vor mich. Ich lege meinen Kopf schief und mustere ihn. So zerbrechlich, so klein. Der wird mich nicht vom Fressen abhalten. Ich kann das frische Fleisch förmlich schmecken.
„NEIN!“, schreit Lomarin erneut, doch meinen Instinkt kümmert das nicht. Entschieden springe ich die gefährliche Felswand hinauf. Ich schaffe es bis nach oben und blicke mich um. Ist das etwa normal? Wie weit kann ein Mensch – oder Wolf – sehen?
Da! Wieder dieser Duft. Sofort setzen sich meine Beine in Bewegung. Es kann nicht fern sein. Ich achte gar nicht darauf, ob mich jemand sieht, genieße jeden Sprung und den kalten Wind im Gesicht. Die Bäume rauschen an mir vorbei.
Dann bleibe ich instinktiv stehen. Lausche. Schnuppere. Ich sehe etwas: ein dickes, köstliches Wildschwein. Seine Hauer sind nicht klein. Doch wenn ich mich geschickt anschleiche und von hinten drauf springe, wird es mir sicher gelingen. Als ich mich bücke, knackt ein Ast. Das Wildschwein sieht auf. Na super, Mea. Anfängerfehler. Jagen Wölfe nicht eigentlich im Rudel? Als ich zum Sprung ansetze, quietscht das Schwein auf und rennt auf mich zu, als würde es schreien: „Wer ist hier jetzt die Beute?“
Schnell weiche ich aus. Das Schwein dreht sich um und nimmt erneut Anlauf. Ohne darüber nachzudenken, lege ich den Kopf in den Nacken und ein klagendes Heulen hallt durch die Bäume.
Dann springe ich auf das Schwein zu. Unglaublich wie stark es ist! Wie ein sich aufbäumender Stein schüttelt es mich immer wieder ab. Einmal schaffe ich es, meine scharfen Zähne in die dicke Haut zu jagen, doch ich verliere den Kontakt wieder.
Plötzlich wirft mich etwas zur Seite. Verwirrt schüttle ich den Kopf und erblicke folgende Szene: Seolo, noch immer in seiner Wolfsgestalt, springt auf das Wildschwein zu, ein, zwei Bisse, dann ergibt sich das Tier unter ihm. Ein weiterer Biss in den Nacken und es liegt reglos dort.
Blut. Leckeres Blut. Sofort springe ich auf das tote Wildschwein zu. Seolo tritt schnaufend zur Seite. Endlich frisches Fleisch zwischen den Zähnen, endlich ein sich füllender Magen. Mit jedem Bissen legt sich die Aufregung in mir. Mit jedem Bissen werden meine Gedanken klarer.
Satt gefressen erblicke ich meine rot gefärbten Pfoten. Erschrocken sehe ich zu Seolo auf. Ich will ihn etwas fragen, doch aus meinem Maul kommt kein Wort. Eine plötzliche Erschöpfung setzt ein. Seolo weist mir den Weg und ich folge ihm vorsichtigen Schrittes durch den Wald. Wenn ich zurückblicke, erscheinen blutige Pfotenabdrücke im Schnee. Wenn ich Mensch wäre, würden jetzt Tränen über meine Wangen fließen. Bin das wirklich ich gewesen, die sich blutrünstig wie ein wildes Tier – nein als ein wildes Tier – auf ein Wildschwein gestürzt hatte?
Angst steigt in mir auf. Angst vor erneutem Kontrollverlust. Verzweifelt wische ich meine Pfoten im Schnee sauber. Seolo blickt aufmerksam umher. Er scheint etwas zu riechen. Ich halte meine Nase in die Luft. Schweiß, Fell, Wölfe. Ich bin mir ganz sicher, dass der Geruch von einem Wolf stammt. Panisch sehe ich zu Seolo auf. Wenn wir sie wittern, dann wird es andersherum ähnlich sein, es sei denn, der Wind steht auf unserer Seite.
Seolo läuft los. Die Panik lässt mich fliegen. Wir gelangen an die Klippe. Ich rutsche Seolo hinterher, mein Körper zittert vor Angst. Unten angekommen, stolpere ich in den Bach. Hektisch nutze ich das kalte Bad, um meine Nase und meine Pfoten zu reinigen.
„Mea.“
Ich blicke mich um. Lomarin steht dort.
„Mea, du musst dich zurückverwandeln. Du musst das nicht allein tun. Ich bin da. Hier ist eine Decke. Hab keine Angst. Das Zurückverwandeln ist nicht so schmerzhaft wie die Verwandlung in einen Wolf. Sie strengt zunächst nur an. Komm her.“
Unsicher trete ich aus dem Bach auf ihn zu. Ich schnuppere an der Decke und erinnere mich: Ich werde nackt sein, wenn ich wieder ein Mensch bin. Das wird immer besser hier. Ich habe keine Kleidung mehr. Doch ich vertraue Lomarin. Seolo hingegen knurre ich erneut an und er versteht. Er neigt den Kopf und verschwindet dann in der Höhle. Nackt ist der letzte Zustand, in dem ich ihm gegenübertreten will. Schon als Wolf fühle ich mich durch seinen Verrat schutzlos ausgeliefert.
Lomarin nimmt meinen Kopf in seine Hände. Seine grauen Augen sehen tief in meine. „Atme, Mea. Atme. Schließ die Augen und konzentriere dich auf deinen Herzschlag.“
Ich folge seiner Anweisung.
„Und nun lass los. Sag es dir: ‚Ich lasse los‘. Lass dich zurückfallen in deine wahre Existenz. Erinnere dich an das Körpergefühl deines Menschseins.“
Ich atme. Ich lasse mich fallen. Ich erinnere mich. Und ich sinke in mir zusammen. Eiseskälte umhüllt meinen nackten Körper. Sofort legt Lomarin die Decke um meinen zitternden Leib.
„So ist es gut, Mea. Du hast es geschafft. Es ist vorbei.“
Lomarins beruhigende Stimme dringt in mein Herz und Tränen finden leise ihren Weg hinaus. Keinerlei Scham kommt auf, ich fühle mich sicher in seiner Umarmung. Langsam treten wir auf die kleine Höhle zu, bedacht darauf, meine nackten Füße nicht zu verletzen. Das ist also der Fluch.
Kapitel 2
Im Innern der Höhle kleidet sich Seolo an.
„DU!“, fauche ich bei seinem Anblick und will wieder auf ihn zuspringen. Doch Lomarin hält mich fest.
„Lass mich los!!“, brülle ich. „Wie hast du mir das verschweigen können? Und wieso überhaupt? Warum bin ich verdammt noch einmal verflucht wie ihr?“
Lomarin lässt es zu, dass ich an Seolo herantrete. Mit funkelnden Augen stehe ich vor ihm, jetzt wieder kleiner. Ich muss zu ihm hinaufsehen.
„Du bist ein Feigling“, spucke ich aus.
„Mea.“ Er berührt meine Schultern und zieht die Decke weiter um meinen schlotternden Leib. „Du musst dich aufwärmen.“
Ich bin zu müde, um Widerworte zu geben, und lasse mich an das kleine Feuer führen. „Habt ihr noch etwas zum Anziehen?“, frage ich und strecke meine Fußspitzen aus der Decke, um sie am Feuer zu wärmen.
„Ich habe noch etwas dabei, ja.“ Lomarin greift Hose, Hemd und Fellweste aus seinem Beutel. Die beiden Männer verlassen kurz die Höhle, damit ich mich umkleiden kann. Als ich an meinem nackten Körper hinabsehe, fallen mir die Schrammen und blauen Flecken auf. Ich hoffe, dass Seolo mindestens genauso viele hat. Schnell kleide ich mich an, stülpe meine Stiefel über, die die Verwandlung überstanden hatten, und setze mich in die Decke eingewickelt wieder ans Feuer.
Beide Männer kommen nach wenigen Momenten schweigend in die Höhle und setzen sich dazu. Finster sehe ich zu Seolo auf. Sein Gesicht ist wie gewohnt verschwommen aus dieser Entfernung.
„Warum?“ Eine konkretere Frage fällt mir nicht ein. Nur dieses Wort schwirrt in meinem Kopf umher. Lomarin verschränkt erwartungsvoll die Arme und sieht zu Seolo.
„Wir hätten dich verloren. Es war die einzige Rettung.“
„Ein Fluch war die einzige Lösung?“
„Ich sah keine andere. Lomarin auch nicht.“
„Und dann habt ihr euch gedacht, ihr bestellt eine Hexe und die soll den Fluch über mich ausweiten und dann werde ich wieder gesund?“
„Nein.“ Lomarin kann sich ein amüsiertes Zucken seines Mundwinkels nicht verkneifen.
Seolo ergreift das Wort: „Nachdem die Hexe Mikasi starb, gelang ihrer Tochter Nahimana die Flucht aus Rians Gefangenschaft. Auch sie ist eine Hexe. Damals wurde sie im Wald von Osrics Männer erwischt. Sie wurde gezwungen, Mikasis Grab zu erschaffen. Den Leib hatten sie aus dem Graben vor den Stadtmauern geborgen. Rian hatte keine Ahnung, welche Bedeutung ihr Körper noch haben würde. Als das Hexengrab fertig war, musste sie den Hexenkristall berühren. Nur eine Hexe kann dies tun und den letzten magischen Akt der verstorbenen Hexe abwehren und verwenden, anstatt davon getroffen zu werden. Osric wünschte einen Trank, der den Fluch Mikasis über ihn und die Verbannten beinhaltete. Doch dieser Trank sollte nur Wirkung zeigen, wenn derjenige, der ihn verabreicht, in seinem Gegenüber wahre Schönheit erblickt. So wollte er sicherstellen, dass nur er entscheiden konnte, wer Teil seiner Volksschar werden würde.“
„Wozu?“
„Ich denke, er plant, diesen Trank eines Tages Rian zu verabreichen, um ihn ebenfalls dem Fluch auszusetzen und ihn in der Rudelhierarchie zu unterdrücken.“
„Wäre es nicht sinnvoller gewesen, den Fluch aufheben zu lassen?“
„Wie man einen Fluch aufhebt, weiß nur die Person, die ihn ausgesprochen hat.“
„Und du dachtest dir: Mea stirbt. Also auf zu Osrics Geheimschrank und sie verfluchen?“
„So einfach war das nicht“, erwidert Seolo. „Glaub mir, dir diesen Trank zu verabreichen, war so schwer wie den Schürhaken zu schwingen. Ich hätte es nicht gemacht, wenn ich nicht dein Leben damit geschützt hätte!“
„Seit wir uns kennen, hast du drei Mal versucht mein Leben zu retten. Beim ersten Mal machtest du mich zur Sklavin, beim zweiten Mal schlugst du mich mit einem Eisen und beim dritten Versuch gabst du mir ein Gift mit einem Fluch! Vielleicht solltest du endlich damit aufhören!“, brülle ich in die Höhle und meine Stimme hallt an den Felswänden wider.
„Da muss ich ihr recht geben, Seolo“, kommentiert Lomarin trocken.
Seolo steht wütend auf.
„Verdammt! Was hättest du denn getan, hm? Sie im Wald dem Tod überlassen? Sie von Barghan vergewaltigen und zu Tode schlagen lassen? Sie sterben lassen, nach allem, was ihr schon geraubt wurde? Ich verstehe, dass du wütend bist, Mea. Oh ja! Das bin ich auch! Und ich mache mir wohl mehr Vorwürfe als ihr beide zusammen! Ich werde meine Entscheidungen nie rückgängig machen können! Aber verdammt noch mal: Ich liebe dich!!!“ Nun ist es seine Stimme, die widerhallt.
Stille.
Lomarin sieht zwischen uns her, steht auf und verlässt die Höhle. Jetzt sage ich kein Wort mehr und starre ins Feuer. Er setzt sich stumm neben mich. Nah genug, dass ich nur meine Hand ausstrecken muss, um ihn zu berühren, weit genug entfernt, um selbst entscheiden zu können.
„Du bist kein Feigling“, flüstere ich. „Ich will einfach nur noch zurück zu meinem alten Leben.“
„Ich nicht“, erwidert er und blickt zu mir auf. Er hebt die Hand und berührt mein Gesicht. „Ich will dich.“
Müde schließe ich die Augen und schmiege mich in seine Hand.
„Du kannst es vermutlich nicht mehr aus meinem Munde hören. Aber es tut mir leid, Mea. Ich habe nur versucht dich am Leben zu halten.“ Jetzt steigen ihm Tränen in die Augen. Ich greife in seinen Nacken und ziehe ihn an mich. Dieser Kuss fühlt sich wie der erste an. Ein angenehmes Kribbeln fährt durch meine Glieder. Wir setzen uns voreinander und ich schlinge die Beine um ihn. Er ist alles, was ich noch habe. Wie könnte ich ihn fortstoßen? Unsere Lippen verschmelzen miteinander, am liebsten würde ich ihm noch näher und noch näher kommen. Er küsst meinen Hals, verweilt kurz in meinem Haar, atmet tief ein und küsst mich erneut. Er legt mich auf den Rücken, sein gelöstes Haar fällt über seine Schulter und kitzelt mich am Schlüsselbein. Ich greife unter sein Hemd und streiche seinen Rücken hinauf. Das Keuchen hallt an den Höhlenwänden wider. Ich kann ihn durch den Stoff hindurch zwischen meinen Beinen spüren.
Huuuuu, huhuhuhuuuu.
Ein großes Tier flattert in die Höhle. Glühwürmchen. Erschrocken setzen wir uns auf.
„Löscht sofort das Feuer!“, zischt Lomarin.
Kapitel 3
Wie erstarrt sitzen wir in der Dunkelheit und lauschen. Glühwürmchen ist wieder ins Freie geflogen, ihr wehklagender Laut dringt durch den Wald, irgendwo hinter dem Rauschen des Baches. Seolo drückt mich an sich. Ich kann seinen schnellen Herzschlag spüren. Ein Heulen erklingt. Seolos Druck wird fester. Sie sind ganz nah. Direkt über uns? Sie müssen das erloschene Feuer doch riechen?
Ich höre ein Schlittern, Steine purzeln den Hang hinab. Nur das kalte Mondlicht erhellt den Bach und dringt in die Höhle. Schritte. Schnaufen. Dann ein großer Schatten vor dem Höhleneingang. Ein Wolf. Er erblickt uns sofort. Langsam kommt er auf uns zu. Ich vergesse zu atmen. Der Wolf schnuppert an Lomarins Gesicht.
„Born“, flüstert Lomarin.
Keine Gefahr?
Der Wolf stupst ihn an, blickt zu uns hinüber und neigt den Kopf. Dann dreht er um, springt aus der Höhle und klettert den Hang hinauf. Ein kurzes Bellen erklingt. Ein Warnruf. Wir bleiben noch ein paar Minuten bewegungslos sitzen, lauschen. Dann ist alles still.
„Born ist ein Omega-Mitglied. Er wird sie fortgelockt haben. Das war unheimlich knapp. Wir müssen uns ruhiger verhalten. Ich werde über Nacht herausfinden, wo wir erneut Unterschlupf finden können. Seolo, halt du Mea warm. Wir können nicht erwarten, dass sie sich innerhalb eines so kurzen Zeitraumes erneut verwandelt. Ich bin in ein paar Stunden zurück. Glühwürmchen wacht über der Schlucht.“
„Danke, mein Freund.“ Seolo umarmt Lomarin zum Abschied. „Pass auf dich auf.“
Lomarin nickt mir zu, verschwindet aus der Höhle und lässt seine Kleider zurück, die Seolo kurz nach dem bekannten Reiß-Geräusch aufsammelt und in die Höhle bringt.
Eine merkwürdige Atmosphäre macht sich breit. Ist es eine plötzliche Schüchternheit? Warum zögern wir? Waren wir uns doch eben so sicher.
„Du hast sicher noch viele Fragen“, mutmaßt Seolo und setzt sich neben mich, damit ich sein Gesicht im Halbdunkel erkennen kann.
„Ehrlich gesagt habe ich gerade wenige Gedanken. Du?“
„Oh ja …“, beginnt er. „Du warst beeindruckend als Wölfin.“
„Ich war wütend.“
„Nicht nur das.“
„Was meinst du? Dass ich keine Narbe hatte? Ja, das hat mich auch sehr beeindruckt – oder verstört. Alles so scharf zu sehen war absolut neu.“
„Erinnerst du dich daran, wie der Trank wirkt?“, fragt er und greift nach meiner Hand. Sofort breitet sich das Kribbeln aus.
„Wenn du meinen Worten nicht traust, dann weißt du spätestens jetzt, dass ich dich wahrhaftig wunderschön finde, Mea. Ich habe noch nie einen solch großen und prächtigen Wolf gesehen.“
„Ich bin also wirklich größer als du?“ Ich überspiele meine Verlegenheit mit einem Grinsen.
„Oh ja! Unabhängig von deinem verheilten Gesicht, hast du die prächtigste Erscheinung, die ein Wolf unserer Art bisher gezeigt hat. Und dazu bist du der erste weibliche und weiße Wolf. Du bist einzigartig. Und beängstigend. Ich habe mich schon des Öfteren in einem Zweikampf wiedergefunden, doch deine Verletzungen spüre ich noch immer. Du bist unheimlich stark.“
„Wie kannst du so viel Schönheit in mir sehen?“ Ich berühre instinktiv meine vernarbte Gesichtshälfte.
„Du hast ein starkes Herz. Das habe ich vom ersten Tag an gespürt.“
„Welche Verletzung tut am meisten weh?“
„Die am Rücken. Du hast ihn ordentlich zerkratzt. Es brennt.“
„Gut so“, sage ich zufrieden, sein Mundwinkel zuckt amüsiert. „Zieh dein Hemd aus“, fordere ich ihn auf.
Er zögert nicht lang. Ich setze mich hinter hin und ertaste im Dunkeln seine Wunden. Er zuckt zusammen. Meine Finger ertasten etwas Feuchtes. Blut? Ich beuge mich vor und puste vorsichtig über seine Haut. Sein Körper spannt sich an.
„Es ist kalt. Also entweder du wärmst mich jetzt oder ich verwandle mich“, lacht er. Ich küsse seinen Nacken. Wie sehr ich mich auch hingeben will, etwas hält mich davon ab. Es ist dunkel, kalt und gefährlich. Ich bin müde von den Strapazen der Verwandlung. Nein, so soll es nicht geschehen. Ich schmiege mich an seinen Rücken. Ein Zischen entkommt seinem Mund. Meine Finger krabbeln an seiner Seite herum nach vorn zu seinem Bauchnabel.
„Dann los, Bardou“, flüstere ich. Oh, was für ein Kampf! Alles in uns schreit nach Umarmung, nach Verbindung, nach Nacktheit. Aber nein. Wir wissen beide, dass dies nicht der Zeitpunkt ist. Seolo atmet tief durch und umfasst meine Hände an seinem Bauch.
„Dann muss ich mich aber verwandeln.“
Ich weiß genau, was er meint. Er steht auf, dreht sich zum Eingang mit dem Rücken zu mir und entkleidet sich. Zwar ist er verschwommen und die Nacht hat die Höhle erobert, doch allein die Vorstellung, dass er nackt dort steht, macht mich verrückt. Plötzlich dreht er sich um und kommt auf mich zu.
„Ein letzter Gute-Nacht-Kuss“, flüstert er, beugt sich zu mir hinab und gibt mir einen zärtlichen, langen Kuss auf die Lippen. Immer wieder zuckt es in mir, ihn zu berühren. Aber aus irgendeinem Grund wage ich es nicht. Ich genieße jede Sekunde dieses Kusses. Dann löst er sich von mir, kehrt in den Eingang zurück und verwandelt sich. Ein großer Schatten erhebt sich, dort, wo er gestanden hat. Bardou kommt auf mich zu und legt sich eng neben mich.
Es überkommt mich ein Gähnen und ich kuschle mich in sein Fell hinein. Fell. Wolf. Ich bin ein Halbwolf. Wann würde ich mich wieder verwandeln müssen? Die Erinnerung an den Schmerz lässt mein Herz schneller schlagen und meinen Körper erschaudern. Hoffentlich würde ich ohne Hunger aufwachen. Ich und der größte Wolf? Wohin führt mein Weg? Und wie kann das Herz eines Mannes solche Faszination und Liebe mir gegenüber empfinden?
Kapitel 4
Aleidis
„Ich lösche das Licht für Euch, Herrin.“
„Ich danke Euch, Siusan.“
Meine Kammerzofe schließt bedacht die Tür und ich bin allein. Schon wieder ist ein Tag verstrichen. Fünf Tage und Nächte zähle ich heute Abend, seit Salomea uns verlassen hat. Welch grausames Schicksal! Meine Gedanken stehen kaum einen Augenblick still. Wieso hatte sie fliehen müssen? Warum hatte sie nicht bleiben dürfen? Ich hatte ihr unmaskiertes Gesicht erblickt und ja, es war ein Schock, der mich damals durchfahren hatte. Dennoch entsprang diese Überraschung keineswegs einer empfundenen Abscheu. Ich hatte zuvor noch nie ein solch verletztes Wesen gesehen. Sind Narben ein Grund, jemanden nicht willkommen zu heißen? Sie hatte diese sicherlich nicht frei gewählt! Sie ist eine Dame wie jede andere, möchte ich meinen. Wenn mir dieses Schicksal zuteil gewesen wäre, wäre ich schließlich auch nicht direkt hinter einer Maske oder vor den Stadtmauern versteckt worden.
Mich berührt Salomeas Weg und das Erfahrene bereitet mir Sorgen. Die arme Valira! Warum hatte man auf sie geschossen?
Fragen über Fragen und ich weiß nicht, wie es mir gelingen kann, befriedigende Antworten zu erhalten. Hier liege ich in meinem herrschaftlichen Bett, die kunstvoll bemalte Decke anstarrend. Selbst im Mondlicht erkenne ich die prachtvoll gekleideten Damen, die ihre seidenen Röcke schwingen und ihrem Geschlecht alle Ehre machen. Ich muss gestehen, dass ich mich nicht selten zwischen ihren Reihen vorstelle. Ein kostbares Gewand, das meinen erwachsenen Frauenkörper umhüllt und die Blicke des männlichen Geschlechts auf mich zieht. Ein Herr ist besonders beeindruckt und nähert sich mir. Er nimmt meine Hand und dreht mich auf der Tanzfläche. In seinen Augen bin ich alles, nach dem sich sein Inneres je verzehrt hat.
„Eines Tages werdet Ihr genau wie sie sein, Herrin“, höre ich Siusans Stimme. „Eure Mutter plant Großes mit Euch! Arbeitet an Eurer Haltung, Eurem Glanz und Eurem Charme und die Männer werden Euch zu Füßen liegen.“
Einerseits eine große Ermutigung, aber mein junges Herz begreift noch nicht, was es bedeutet, eine Dame zu sein und diesem Geschlecht angemessene Aufgaben zu erfüllen. Doch wenn ich wie heute Abend zu Bett gehe und die tanzenden Frauen an der Decke betrachte, frage ich mich: Ist das alles? Was ist mit Salomeas Geschichten? Bin ich nicht in der Lage oder ersehne ich es nicht viel mehr, einer Heldin wie Kelda zu gleichen, die für das Wohl ihrer Familie auf die Jagd ging und sich maskulinen Tätigkeiten hingab? Vielleicht habe auch ich die Stärke in mir, Pfeil und Bogen zu bedienen. Wie gern ich es einmal versuchen würde! Wie muss es sich anfühlen, das Potenzial seines Körpers zu erforschen und Grenzen zu überschreiten? Ich glaube, ich habe viel Kraft in mir! Insgeheim würde ich gern kämpfen wie die Männer, für Schutz sorgen können und nicht schutzlos ausgeliefert sein – herrschen anstatt gehorchen.
Ich weiß nicht, ob es meiner Mutter bewusst ist, doch glücklich nehme ich sie keineswegs wahr. Nicht ohne Grund muss ich tagein tagaus ihre Strenge und ihr kaltes, verbittertes Herz ertragen. Manchmal glaube ich, sie hat nie in ihrem Leben wahre Liebe erfahren. Mein Vater hingegen ist herzlich zu mir, ich darf sein Kostbarstes sein. Er hat ein liebevolles Herz. Er sieht mich an, wenn er mit mir spricht, er hört mir zu, wenn ich mit ihm rede. Mutter hingegen verabscheut mich, ich bin mir sicher. Ich scheine ihre größte Enttäuschung zu sein. Ich bin ein Mädchen. Ein kleiner Bruder wäre ihr Glück. Doch wie auch immer Kinder entstehen mögen, es scheint nicht möglich zu sein.
Oder habe ich einen Bruder und er verschwand wie Eilins Kind? Mala hat mir alles erzählt. Dass Salomea bei der Geburt dabei gewesen war und davon überzeugt ist, dass sie dem Säugling das Leben genommen hatten. Grundlos. Das kann nicht sein! Nein, das glaube ich noch immer nicht! Es muss ein Irrtum sein! Mein Vater liebt mich, er liebt Kinder. Niemals würde er zulassen, dass sie ermordet werden. Nein. Es muss etwas anderes dahinterstecken. Gewiss. Morgen würde ich es endlich wagen, Vater auf Salomeas Flucht anzusprechen. Er wird wissen, warum sie sich zur Flucht gezwungen gesehen hatte.
„Eure Mutter wünscht heute früh mit Euch zu speisen“, informiert mich Siusan, als sie die Schleife in meinem Haar festzieht.
„Warum?“ Nervosität steigt in mir auf.
Keine Antwort. Natürlich nicht. Siusan pflegt wenig Interesse an Konversation mit mir. Vermutlich ist das der Grund, warum meine Mutter sie mir zugeteilt hat. Siusan ist meine fünfte Kammerzofe. Sobald ich die Gegenwart zu genießen beginne, hält Mutter es für nötig, sie mir wieder zu entziehen. Wütend stehe ich auf und stampfe aus dem Zimmer.
„Haltung, Herrin! Haltung! Was soll Eure Mutter sagen?“
Oh, wie gern ich Siusans Mitteilung über das gewünschte Frühstück meiner Mutter mit mir ignorieren möchte und stattdessen zu den Zelten gehen und mit den anderen Kindern essen würde. Doch Mutters Strafe möchte ich mir gar nicht ausmalen.
Ich betrete den Speisesaal. Vater ist ebenfalls dort. Sofort legt sich ein Lächeln auf mein Gesicht.
„Vater!“, rufe ich aus und laufe auf ihn zu.
„Guten Morgen, Gänseblümchen“, begrüßt er mich zärtlich und nimmt mich auf den Schoß.
„Aleidis! Eine Dame rennt nicht!“, ermahnt mich Mutters Stimme. Vater gibt mich frei und ich setze mich ordentlich auf den Stuhl meiner Mutter gegenüber.
„Ihr wolltet mich sprechen, Mutter.“
„Du wirst keinen Kontakt mehr mit Mala pflegen.“
„Aber wieso nicht?“
„Was ihre Schwester gewagt hat, ist ungebührlich! Einer wilden Sklavin zur Flucht zu verhelfen!“
„Dafür musste sie mit dem Tode bestraft werden?“, frage ich entsetzt und sehe zu meinem Vater auf.
„Aleidis, Liebes. Es ist besser, wenn du dich auf Berin und Gwenda konzentrierst oder auch auf die anderen Kinder. Valira hat sich gegen das Leben in unserer Gesellschaft entschieden. Mit diesem Akt hat sie Undankbarkeit und Treulosigkeit bewiesen. Das dulden wir hier nicht. Du hast doch genug Freunde.“
„Und was hat Mala mit Valiras Entscheidung zu tun?“ Ich verstehe wenig von dem, was meine Eltern sagen. Wie so oft stellen ihre angeblichen Erklärungen nur weitere Rätsel für mich dar, mit denen ich selten anders umzugehen weiß, als sie hinzunehmen. Schließlich sind sie die Erwachsenen und sie werden es besser wissen.
„Wir haben den Ruf unserer Familie zu beschützen!“, erwidert Mutter theatralisch ermattet durch meine simple Frage.
„Und dich“, setzt Vater hinzu. „Wir haben auf dich zu achten, Aleidis. Und Malas Familie ist nicht mehr der richtige Umgang für dich. Wir Erwachsenen können damit anders umgehen, doch ihr Kinder könnt solche Situationen noch nicht einschätzen.“
„Mala ist aber meine Freundin!“
„Mala hat das gleiche Blut wie das einer Verräterin!“, schimpft Mutter und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Und ich das Blut einer herzlosen Mutter!“ Wutentbrannt stehe ich auf.
„ALEIDIS!“, kreischt Mutter mir hinterher. „Komm sofort zurück!“
„Lass sie, Arabella. Sie beruhigt sich schon wieder. Für Kinder ist das nicht leicht zu verstehen. Sie wird sich schon daran gewöhnen.“
Ha! Niemals! Mala ist meine Freundin und sicher werde ich den Kontakt zu ihr nicht abbrechen! Eines ist klar: Wir Kinder verstehen vieles noch nicht, doch unsere Eltern unterschätzen uns ebenso deutlich. Wenn wir Kinder etwas wollen, dann finden wir einen Weg. Und ich nun gar!
Kapitel 5
Salomea
„Wach auf, Mea.“
Müde blinzle ich und erkenne Lomarin über mir.
„Wir müssen los. Die Sonne geht in ein paar Stunden auf. Bis dahin müssen wir in unserem nächsten Versteck sein.“
„Aber nicht, ehe ich im Dorf meiner Familie gewesen bin.“
„Das kann nicht dein Ernst sein!“
Seolo hebt seinen Wolfskopf und starrt mich an.
„Sie haben vor meine Familie aufzusuchen!“
„Ja, weil sie dich dort vermuten! Also solltest du dich von dort fernhalten!“
„Aber ich kann nicht zulassen, dass ihnen etwas zustößt!“
„Du kannst es aber auch nicht verhindern! Was hast du vor? Deine Familie entführen? Das wird sicher ein unauffälliges Unterfangen!“, bemerkt Lomarin sarkastisch.
„Ich kann doch nicht tatenlos zusehen! Zudem haben sie keine Karte mehr! Vielleicht schaffen wir es vor ihnen dorthin!“
„Vielleicht ist zu vage. Das Risiko können wir nicht eingehen. Willst du dich am Ende vor den Augen deiner Familie hinrichten lassen?“
Ich zucke zusammen. Liska und Tjarda kommen mir als Erste in den Sinn. Niemals sollten die beiden so etwas ansehen. Ich weiß, Lomarin hat recht. Doch mein Herz schreit nach ihrer Nähe.
„Es tut mir leid“, beteuert Lomarin, als er mein bestürztes Gesicht betrachtet. „Ich kann mir vorstellen, dass es dir unmöglich vorkommt. Aber du wirst deine Familie nicht schützen, wenn du in ihre Nähe kommst. Vertraue uns.“
Ich nicke kurz und packe unsere Beutel zusammen.
„Kannst du dir vorstellen, dich noch einmal zu verwandeln?“, erkundigt sich Lomarin vorsichtig. Ich blicke ihn erschrocken an. Er liest die Antwort in meinen Augen.
„Dann versuchen wir es zunächst wie zuvor. Doch wenn wir entdeckt werden, musst du da durch. Deine Wolfserscheinung ist auffällig, dein Menschengeruch ist es noch mehr. Sollten wir außer Sichtweite bleiben können, bist du als Wolf sicherer.“
„Danke.“ Ich greife nach seiner Hand. Welch Erleichterung, dass ich noch nicht wieder durch diesen Schmerz gehen muss. „Doch wie entscheide ich mich dazu, ein Wolf zu werden?“
„Genauso, wie du dich wieder zum Menschen verwandelt hast. Konzentriere dich auf die Erinnerung des Wolfs-Seins. Erinnere dich an die Stärke deiner Muskeln, an das Auftreten deiner Pfoten, an die scharfe Sicht. Das wird dir zu Beginn sicher noch schwerfallen, doch mit der Zeit wird dir diese Vorstellung genauso vertraut werden wie die deines Mensch-Seins. Ich werde dir zum gegebenen Zeitpunkt helfen.“
Glühwürmchen flattert in die Höhle. An ihrem Schnabel kleben Fleischreste. Ich lecke mir die Lippen.
„In unserem nächsten Versteck wartet Proviant auf dich.“
„Wo befindet sich unser nächstes Versteck?“
„In einer kleinen Scheune, weit draußen auf einem Feld. Sie ist halb verfallen.“
„Klingt nicht sehr sicher.“
„Wir können dort auch nicht lange verweilen. Fünf Omega-Mitglieder, die sich Osrics Suchtrupp angeschlossen haben, nutzen sie als Unterschlupf für die Nacht. Bist du bereit?“
Als Antwort greife ich in Bardous Nackenfell und ziehe mich auf seinen Rücken. Vor der Höhle fängt mein Körper augenblicklich an zu zittern. Die Kälte und der wenige Schlaf werden den Ritt keineswegs leicht machen. Ich höre ein Rascheln hinter mir, dann ein Stöhnen und Reißen. Lomarin kommt in Wolfsgestalt zu uns.
Wolken verschleiern den Nachthimmel und wieder bleibt uns nur Glühwürmchens Leuchten und ihr Ruf, dem wir folgen können. Nach wenigen Metern scheinen meine Finger gefroren zu sein. Als wir die Schlucht erklommen haben, schleichen die beiden Wölfe bedacht durch den Wald. Wieder steigt mein Puls in die Höhe vor Anspannung. Mein Magen rumort. Was würde ich jetzt für ein frisches Kaninchen geben!
Ich lausche in den Wald hinein, höre jedoch nichts. Wie viel friedlicher einem die Welt doch vorkommt, wenn es Winter ist. Ich stelle mir dieselbe Situation in einer warmen Sommernacht vor, ungedämpft vom weißen Schnee, belebt von Tieren, die nachtaktiv den Wald durchstreifen. Jetzt scheint alles zu schlafen. Ich weiß, dort draußen sind Gestalten, wachsam, auf der Suche. Es muss die beste Zeit sein, sich einen Weg durch den Wald zu bahnen, denn auch die Verfolger müssen schlafen.
Glühwürmchen fliegt leise voraus. Immer wieder bleiben Seolo und Lomarin stehen, lauschen, schnuppern und gehen dann langsamen Schrittes weiter. Etwa eine Stunde kralle ich mich in Seolos Fell, meine Finger sind steif vor Kälte.
Plötzlich spannt sich der Wolfskörper unter mir bedrohlich an. Ich schrecke auf. Beide Wölfe legen sich auf den Boden. Irgendetwas wittern sie. Seolo dreht seinen Kopf zu mir und schüttelt seinen Körper, um mir zu zeigen, dass ich absteigen soll. Ein zischender Schmerzenslaut kommt durch meine Lippen, als ich meine eiskalten Finger löse und in den Schnee rutsche.
Lomarin und Seolo sehen mich beide mit einem Blick an, der mich zurückweichen lässt. Oh nein … das kann nur eines bedeuten. Es wird Zeit. Ein Jaulen dringt durch den Wald. Sie haben mich gewittert. Seolos Wolfsaugen werden flehender. Konzentriere dich, Mea.
Ich schließe die Augen und führe mir Lomarins letzte Worte in Erinnerung. Erinnere dich an die Stärke deiner Muskeln, an das Auftreten deiner Pfoten, an die scharfe Sicht. Ein erneutes Heulen hallt durch den Wald. Ich schrecke auf. Nein! Konzentriere dich!
Stärke. Pfoten. Scharfe Sicht.
Mein Körper beginnt zu beben. Erst jetzt fällt mir auf: Wenn ich mich verwandle, habe ich keine Kleider mehr. Schnell reiße ich mir die Kleider vom Leib, ohne darauf zu achten, dass Seolo und Lomarin mich sehen. Nackt stopfe ich meine Kleider in den Beutel, der Schnee unter mir schmilzt, so heiß wird mein Körper. Lass los, Mea. Lass los!
Da ist er wieder, dieser unheimliche Schmerz. Mein Körper scheint entzweit zu werden. Verzweifelt halte ich mir die Hand vor den Mund, um die Schmerzenslaute zu ersticken. Das nächste Heulen klingt nah.
Ein letzter Schnitt, ein letztes Beben. Ich falle nach vorn auf meine Pfoten. Ich habe es geschafft. Ein unwillkürliches Fiepen entkommt meiner Kehle und Seolo leckt mir tröstend über die Wange. Dann springen die beiden los, ich hinterher. Wieder beeindruckt von der Kraft in meinem Körper, fliege ich. Jetzt kann ich die Verfolger riechen. Lomarin weicht nach rechts aus, Seolo nach links. Ich folge Seolo. Wahrscheinlich eine Ablenkung. Selbst wenn sie mich als Wolf sehen würden, wäre der Anblick zu auffällig, als dass sie darüber hinwegsehen würden. Nein, auch als Wolf muss ich rennen, und zwar so schnell wie möglich. Seolo legt an Tempo zu, doch ich überhole ihn. Ich springe und renne orientierungslos weiter durch den Wald. Der Geruch der Verfolger nimmt ab, doch ich höre sie.
Dann erreiche ich die Waldgrenze. Die Sonne geht hinter den dicken Wolken langsam auf und das Feld vor mir erscheint in einem blassen Blau-Grau. Nebel zieht sich über die gefrorene Erde hinweg. Ist es das Feld?
Keine Ahnung, ich springe los. Und dann erscheint in der Ferne ein schwarzer Punkt. Verwirrt schüttle ich den Kopf, dass ich ihn wirklich erkennen kann! So weit zu sehen ist immer noch unwirklich. Mit jedem Sprung komme ich näher und aus einem schwarzen Fleck wird eine sichtbare Form: eine Scheune. Ich bremse ab, drehe mich zur Waldgrenze um, schnuppere. Der Wind ist in meinem Rücken. Ich kann keinen der Gerüche mehr einordnen. Wo sind Seolo und Lomarin? Erkennen kann ich die Waldgrenze aufgrund des Nebels nicht.
Zurückkehren wäre eine zu große Gefahr und das muss die Scheune sein. Leise drehe ich mich wieder um und schnuppere erneut. Menschen, ich rieche Menschen. Und Fleisch. Jetzt setze ich die Pfoten langsam voreinander. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Omega-Mitglieder sein müssen, doch besser, ich überprüfe die Lage erst einmal. Schwaches Licht dringt durch die Ritzen der halb zerfallenen, kleinen Scheune. Ich höre Stimmen. Zwischen dem Duft des rohen Fleisches, das sich im Innern verbergen muss, und dem Geruch der Menschen mischt sich ein weiterer. Schnaufend ziehe ich die Nase von der Holzwand zurück. Ein Wolf. Sicher, es wäre dumm, ohne die Sinne eines Wolfes hier draußen zu rasten.
„Was ist, Amon? Was riechst du?“, dringt eine Stimme aus Richtung des Schuppens.
So langsam wie möglich gehe ich einen Schritt rückwärts nach dem anderen. Dann öffnet sich die Scheunentür. Ein knurrender, roter Wolf tritt hinaus. Ich will etwas sagen, doch nur ein merkwürdiges Fiepen entkommt meiner Kehle.
Er legt die Ohren an und kommt langsam auf mich zu, irritiert, dass ich wie ein verängstigter Hase auf dem Feld stehe. Er bleibt stehen und scheint erst jetzt zu realisieren, was er sieht: einen weißen, ungewöhnlich großen Wolf. Ich bleibe wie erstarrt an der Stelle. Er kommt näher und geht schnuppernd um mich herum. Ein menschliches Gesicht erscheint in der Scheunentür. „Das kann nicht wahr sein!“
Sofort gesellen sich zwei weitere Gesichter dazu. „Wer ist das?“, fragt jemand anderes.
Dann fällt mir etwas ein. Ungeschickt erhebe ich meine Pfote und male ein krakeliges Omega in den Schnee. Überrascht zuckt der rote Wolf zusammen und starrt mich an. Die Menschen treten hinzu: drei Männer.
„Woher kennst du dieses Zeichen?“, fragt mich jemand.
Ich will antworten, aber mich zu verwandeln wage ich nicht. Erstens würde ich nackt sein, zweitens hatten diese Menschen noch nie einen weiblichen Wolf gesehen.
Ich springe instinktiv zur Seite, als die Nase des roten Wolfes zwischen meinen Beinen schnuppert. Was zur - !? Knurrend lege ich die Ohren an und begebe mich in Angriffshaltung. Der rote Wolf lässt sich davon nicht verunsichern, sondern betrachtet mich in voller Skepsis.
„Was ist hier los, Amon?“, fragt eine Männerstimme verwirrt über die Szene.
Dann schießen der Kopf des roten Wolfes und meiner gleichzeitig in die Höhe. Ein neuer Geruch dringt in meine Nase.
Kapitel 6
Reflexartig springe ich hinter die Scheune. Warte.
Dann taucht ein dunkelbrauner Wolf neben mir auf. Im ersten Augenblick springe ich erschrocken zurück, dann erkenne ich Seolo. Erleichtert schmiege ich meinen Kopf an seinen. Wir treten hinter der Scheune hervor und nähern uns den drei Männern.
„Wer ist das, Seolo?“, fragt der Blonde ernst. Es klingt, als kenne er die Antwort bereits, wolle sie aber nicht glauben oder akzeptieren.
Lomarin wirft den Beutel mit unserer Kleidung vor die Füße.
„Wir warten in der Scheune“, reagiert der Mann, der versteht, was Lomarin damit andeuten möchte.
Ich leere den Beutel ungeschickt mit meinen Zähnen und sammle meine Kleidungsstücke auf. Dann begebe ich mich hinter die Scheune. Seolo will mir folgen, doch ich schüttle den Kopf. Ich will das allein schaffen. Er zögert, nickt dann und wartet, dass ich hinter der Scheune verschwinde.
Stelle dir vor, Mea, wie du barfuß im Schnee stehst, stell dir vor, wie du mit deinem niedlichen Gebiss in einen Apfel beißt, stelle dir vor, wie der Wind auf deiner nackten Haut alles zum Erzittern bringt …
Es dauert, bis ich mich fallen lasse, doch irgendwann beginnt es. Die Schmerzen sind heftig, aber ich schaffe es. Keuchend falle ich in den kalten Schnee. Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Ruhig, Mea, ruhig. Der Wind lässt meinen nackten Körper erzittern. Schnell greife ich nach der Kleidung und ziehe mich an. Dann umrunde ich die Scheune.
„Tapfer!“, ruft Lomarin aus. „Ich habe keinen Schrei gehört.“
„Frauen sind Schmerzen gewohnt und wesentlich strapazierbarer als ihr Männer, das vergesst ihr immer wieder gern.“
Beide Männer überspielen ihre Verlegenheit mit einem merkwürdigen Lachen, als ihnen bewusst wird, dass ich auf die monatliche Blutung einer Frau anspiele. Ich verdrehe die Augen und gehe als Erste durch die Scheunentür.
„Es ist wirklich wahr“, stellt der Blonde erschrocken fest.
„Salomea, freut mich“, stelle ich mich müde vor, setze mich an das kleine Feuer und nehme einen Becher Tee entgegen.
„Kort“, antwortet der braunhaarige, schätzungsweise Mitte Vierzigjährige.
„Morog“, stellt sich der schwarzhaarige Jüngling vor.
„Rahn“, erwidert der Blonde. Auch wenn ich sie nur verschwommen sehe, ich spüre ihre musternden Blicke, die an meiner rechten Gesichtshälfte kleben bleiben.
Lomarin und Seolo treten ein und setzen sich in die Runde.
„Was hast du getan, Seolo?“, fragt Rahn, der die Leitrolle in dieser Gruppe einzunehmen scheint.
„Ich habe ihr Leben gerettet.“
„Wie?“
Ehe ich ein weiteres Wort spreche, erzählen Lomarin und Seolo ausführlich von dem Trank der Hexe, Osrics Vorrat und ihrer Entscheidung.
„Die erste Wölfin“, kommentiert Kort am Ende ihrer Erzählungen. „Tut mir leid, dass du so etwas durchleben musst.“
„Gebt mir Fleisch, und das Schicksal wird sich nicht mehr so schwer anfühlen“, erwidere ich aufgewühlt. Während der Zusammenfassung hatte ich mir nervös die Haut meiner Daumen aufgeknibbelt.
„Oh, entschuldige!“, erwidert Morog und schenkt mir eine Schüssel Eintopf ein. Ich sehe ihn schräg an.
„Sie ist noch nicht so weit“, erklärt Seolo.
Morog sieht mich verwirrt an, dann versteht er. „Oh, du bist noch nicht lange Wolf – ich meine Wölfin. Dann hast du sicherlich Appetit auf etwas … Roheres?“
Ich nicke wortlos. Er steht auf und kommt mit einem toten Kaninchen wieder. Ich sehe in die Runde. „Also kann ich irgendwann wieder normal essen als Mensch?“
„Es dauert seine Zeit, bis dein Körper den Wechsel einordnen kann. Aber ja, bald wirst du nur als Wölfin rohes Fleisch anziehend finden und als Mensch eher Gekochtes, gut Gewürztes bevorzugen“, erwidert Kort.
„Wie beruhigend. Es ist furchtbar, mit diesen stumpfen Zähnen in rohes Fleisch zu beißen.“
„Ja, das ist sehr schwierig, es bleibt dir nur übrig, ein Stück irgendwie abzureißen und es im Ganzen zu schlucken. Ich erinnere mich an die Magenschmerzen zu Beginn. Wichtig ist, dass du bald wieder menschliches Essen zu dir nimmst. Dann vergeht es schnell.“
Genussvoll beiße ich in das rohe Fleisch und merke erst Momente später, dass mich alle mustern, während mir der Saft und das Blut das Kinn herunterlaufen.
„Wenn ihr das alle kennt, dann schaut doch wenigstens weg“, reagiere ich verärgert und beiße demonstrativ genussvoll in das nächste Stück Fleisch. Die Gesichter verziehen sich angeekelt. Also werden sich die Bedürfnisse wohl wirklich noch anpassen.
„Seolo und Lomarin haben dich sicher über Omega aufgeklärt, nicht wahr?“, fragt Rahn.
„Ich weiß, wofür ihr kämpfen wollt.“
„Das klingt, als würdest du jedoch noch unausgesprochene Zweifel in dir tragen.“
Ich überlege einen Moment, wie ich es am besten ausdrücken kann, ohne zu respektlos zu klingen. „Ich verstehe nicht ganz, warum ihr noch keine Schritte gegangen seid. Wie lange existiert Omega bereits?“
„Seit sieben Jahren.“
Ich verkneife mir eine Reaktion, doch mein Gesicht scheint ausreichend zu kommentieren.
Morog reagiert: „Omega aufzubauen bedeutet ein großes Risiko. Ein falscher Schritt, eine falsche Aufnahme in unsere Reihen und alles wäre zwecklos. Es hat sehr lange gedauert, so viele Mitglieder zu rekrutieren, schließlich reicht ein Verräter aus, um uns auffliegen zu lassen. Zudem können wir kaum die Verbanntenstadt verlassen und brauchen sehr lange, um an neue Informationen zu gelangen. Doch dank dir können wir nun wirklich einen Plan schmieden und uns auf einen Kampf vorbereiten! Deine Flucht ist ein Türöffner für uns!“
„Wieso?“, frage ich verwirrt. „Was hat meine Flucht damit zu tun?“
„Du wirst überall gesucht. Osric vertraut uns, wir können uns frei bewegen, ohne aufzufallen. Solange du nicht gefunden bist, können wir Orte auskundschaften.“
Das letzte Stück Fleisch landet schwer in meinem Magen und ich lehne mich erschöpft zurück an die Scheunenwand. Wie hatte ich bedeutungslose Geächtete so viel in Bewegung setzen können?
„Wir brauchen dich, Salomea“, stimmt Kort zu. „Du bist der größte Wolf in unseren Reihen und du stehst für das, wofür wir kämpfen. Wenn du dich als Vorbotin Omegas kenntlich zeigst, werden die Menschen Vertrauen zu uns aufbauen! Du bist nicht adeligen Blutes, du bist eine von ihnen!“ Wieder wird der deutliche Blick auf meine Narben spürbar.
„Das klingt sehr heroisch, muss ich zugeben. Aber ich weiß nicht, was ihr von mir erwartet. Ich bin keine Kriegerin. Ich will Veränderung, natürlich, aber erst einmal steht meine eigene Familie im Vordergrund. Sie und ihre Rettung sind für mich das Wichtigste. Alles andere übersteigt meine Fähigkeiten. Mein Schicksal ist das einer Geächteten, nicht das einer Heldin!“ Ich streiche mir durch das Gesicht.
„Du kannst ziellos durch dein Leben gehen und dein Schicksal erleiden. Oder aber du setzt dir ein bewusstes Ziel, dann hast du dein Schicksal in der Hand. Das ist deine Entscheidung. Es wird sich nichts ändern, wenn wir uns als Einzelne nicht verändern“, erwidert Rahn stumpf und ignoriert meine geäußerte Überforderung.
„Mea, ich denke, sie haben recht. Du kannst wirklich etwas verändern. Durch dich werden uns die Menschen viel mehr Vertrauen schenken.“ Seolo berührt vorsichtig meine Hand. Die anderen nehmen diese Zuneigung wahr und sehen sich fragend an.
„Was erwartet ihr von mir?“, frage ich leicht verzweifelt.
„Lass dir unser Zeichen in die Haut stechen, werde eine von uns und werde das Gesicht für Omega“, erklärt Rahn.
„Klar, weil nur meines das Gesicht eines wahren Omegas repräsentieren kann“, spucke ich wütend aus.
„Deine Narben sind eine Hilfe, darüber brauchen wir nicht weiter zu diskutieren.“
„Ach nein? Ob meine Narben von allen betrachtet werden, ist kein Grund für eine Diskussion?“ Ich stehe empört auf.
„Du hast viel Temperament“, sagt Rahn unberührt. „Aber ich hätte dich anders eingeschätzt. Nicht als eine Frau, die sich wegen ein paar Narben und eines trüben Auges versteckt. Aber dann habe ich mich wohl geirrt.“
„Was weißt du schon von mir?“, fauche ich und gehe einen Schritt auf ihn zu, Lomarin hält mich zurück.
„Beruhige dich, Mea.“
„Dieses Gesicht hat mich die letzten Wochen größte Entwürdigung gekostet! Jeden einzelnen Tag! Lasst euch nackt in einen Käfig stecken und bespucken, lasst euch schlagen, bedrohen und ausschließen nur aufgrund eines hässlichen Gesichts! Dann reden wir noch einmal darüber, wie leicht es euch fallen wird, genau dieses Gesicht öffentlich zu verbreiten und euch allen für Spott und Abscheu zur Verfügung zu stellen!“
Meine Stimme endet so laut, dass eine angespannte Stille folgt. Selbst Rahn schweigt.
„Vermutlich seid ihr auch noch dort gewesen, an dem Tag, als ich präsentiert wurde“, nun spreche ich ruhiger, aber zittrig weiter. „Und nun sitzt ihr hier und stellt Erwartungen. Ich habe erst einmal ausgedient. Ich bin müde. Schneidet euch selbst ins Gesicht“, sage ich und verlasse die Scheune.
Kapitel 7
Der Wolf namens Amon, der Wache hält, schaut mich verwundert an. Ich höre, wie sich die Scheunentür hinter mir erneut öffnet. Seolo tritt heraus und Amon nimmt diskret Abstand.
„Lomarin spricht mit ihnen. Das war nicht in Ordnung. Tut mir leid.“ Seolo umarmt mich von hinten und sein warmer Atem kribbelt beruhigend über meinen Hals.
„Warum warst du eigentlich damals dabei – bei dem Überfall aufs Dorf?“
Augenblicklich löst sich Seolo von mir und ich drehe mich zum ihm um.
„War das auch Teil deines Scheins? Unschuldige Menschen zu entführen?“
„Warum fragst du mich das jetzt?“
„Weil ich wissen will, was mich hierhergeführt hat. Ohne dich wäre ich vielleicht unentdeckt geblieben und bei meiner Familie.“
„Sie hatten dich schon in deinem Versteck gewittert und ich bin der Spur gefolgt.“
„Warum?“, wiederhole ich meine Frage.
„Das spielt keine Rolle.“
„Wieso verschweigst du es mir? Wann wirst du endlich beginnen die Wahrheit auszusprechen? Vor was fürchtest du dich schon wieder?“ Jetzt ist meine Stimme erneut laut.
„Weil wir jemanden wie dich brauchten! Deshalb war ich dabei!“
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