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Um dem Zweiten Weltkrieg und einem grausamen Schicksal zu entkommen, flieht die 17-jährige Dina in die fremde, geheimnisvolle Welt Sïmona. Dort erwarten sie ewiger Frieden, ein neues Leben und die große Liebe. Doch vergessen kann Dina die Schrecken des Krieges nicht. Sie vergiften ihr Leben und ihre Gefühle für Prinz Samir. Eines Tages holt der Krieg sie erneut ein. Denn Sïmona und die Welt der Menschen verbindet mehr, als es zunächst den Anschein hat. Historische Realität trifft auf spannende Fantasy mit einem Hauch Romantik. Sïmona – ein packendes Abenteuer!
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Seitenzahl: 1204
Veröffentlichungsjahr: 2020
Danksagung
Danke an alle, die mich über die Jahre ermutigt haben,
mir Feedback gegeben und mir gezeigt haben, dass sie die Geschichte lieben.
Ohne euch hätte ich nie den letzten Satz schreiben können.
Hinweis:
Beim Lesen wirst du auf andere Sprachen stoßen, die manchmal nicht direkt übersetzt werden. Blättere dann einfach ans Ende des Buches und schau unter den „Übersetzungen“ nach.
Zudem kannst du bei Interesse jederzeit die Bedeutungen und Aussprache aller Namen, denen du begegnest, hinten im Buch nachlesen.
Angelika Siebel
Sïmona
Zwischen Krieg und Frieden
© / Copyright: 2020, 2. Auflage, Angelika Siebel
Umschlag, Illustration: Christin Thomas, www.giessel-design.de
Lektorat, Korrektorat: Matthias Effertz, www.textblick.de
Klappentext: Anika Ackermann, www.anikaackermann.com
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
ISBN
978-3-347-16389-8 (Paperback)
978-3-347-16390-4 (Hardcover)
978-3-347-16391-1 (e-Book)
10. März 1944
Sie rannte und rannte. Ihre nackten Füße waren schon ganz blutig. Sie kletterte über Geröll, sprang über Mauern. Ihren Vater und ihre Mutter hatte sie schon vor einiger Zeit aus den Augen verloren. Tihrah hatte sich ein paar Straßen weiter von ihr und ihrem kleinen Bruder Luka getrennt. Nun musste sie mit einem fünfjährigen schwachen Jungen allein zurechtkommen. Sie zog ihn fast hinter sich her, aber die Panik ließ auch ihn schneller werden. Er rief nichts, er weinte nicht. Er lief nur starr vor Angst an ihrer Hand hinterher, stolperte, ließ sich mit blutigem Knie wieder hinauf- und weiterziehen. Die schnellen Schritte hinter ihnen kamen immer näher.
Würden sie es schaffen, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen? Oder war allein der Gedanke an Flucht Irrsinn? Die SS-Männer waren bewaffnet und mussten sie beide nur auf freiem Feld erwischen. Sie waren nur zwei weitere Opfer, Ungeziefer in den Augen der SS. Ihnen würde es nichts ausmachen, zwei Kinder grundlos zu ermorden, das wusste Dina. Der Ort, der für sie jahrelang ein Zuhause gewesen war, war nun ein Ort des Todes.
Das pechschwarze Haar klebte ihr im Gesicht und die mageren Beine trugen sie wie von alleine. Wieder zerrte sie ihren kleinen Bruder um eine Kurve.
Es war zu spät, als sie bemerkte, dass dies kein Weg in die Freiheit war, sondern eine Sackgasse. Die Schritte und Rufe kamen wieder näher und es war nicht mehr möglich umzukehren und einen anderen Weg zu suchen. Dina blickte sich um: Ein großer, grauer Zaun direkt vor ihren Augen, ein paar Pappkisten mit Müll, Steine, eine leere Holzkiste und links und rechts nackte Hauswände.
„Wir finden euch, ihr Drecksgören!“
Dina hielt Luka die Ohren zu, der am ganzen Leib zitterte. Nun hörte sie die Schritte schon allzu nah. Schnell warf sie ein paar Dinge aus der Pappkiste hinaus, setzte Luka hinein und bedeckte ihn mit dem Müll, sodass der Junge nicht mehr sichtbar war. Dann klappte sie den Deckel zu, stieg von einem Karton auf den nächsten bis auf die Holzkiste hinauf und zögerte. Erst jetzt bemerkte sie den Stacheldraht auf dem Zaun. Jede Sekunde konnte einer der Männer um die Ecke biegen und sie entdecken. Dann wäre alles aus. Und was wäre mit Luka?
Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
„Los, schnell! Du schaffst das! Es ist deine einzige Chance! Spring!“
Ohne zu wissen, woher die Stimme kam, nahm sie allen Mut zusammen und sprang über den Zaun auf die andere Seite. Sofort ergriff sie eine starke Hand, zog sie hinter einen weiteren Kistenstapel und hielt ihr den Mund zu. Dina erstarrte vor Angst.
„Das Judenpack muss doch irgendwo hier sein!“
Die Schritte waren jetzt nur wenige Meter von ihnen entfernt und kamen schließlich zum Stehen. Durch ein Loch in der Kiste konnte Dina die schweren Stiefel erkennen.
Jetzt mach bloß nicht die Kiste auf. Bitte, sieh nicht in die Kiste. Bitte barmherziger Gott, lass ihn wieder verschwinden!
Der Mann lauschte in die beklemmende Stille hinein, als ein anderer von weiter hinten rief: „Da ist nichts, Mann!“
„Moment!“, die so schrecklich nah klingende Stimme ließ Dina zusammenzucken. Der Unbekannte drückte sie näher an sich, als wolle er ihr Mut machen.
„Ich möchte nur noch hier im Müll nachsehen!“ Er öffnete die erste Kiste. „Da müssen sie sich ja wie zu Hause fühlen“, murmelte er vor sich hin.
Dina wollte aufspringen und den Mann ablenken, doch die Arme, die sie festhielten, waren zu stark. Tränen liefen Dina über die Wangen. Nicht Luka! Alles, nur nicht Luka! Bitte Gott, tu doch etwas!
„He, komm schnell her! Ich habe was gesehen! Los! Beeil dich!!“
Die Klappe fiel und die Schritte entfernten sich im Laufschritt.
Nichts konnte Dina mehr halten. Nur ein Gedanke beherrschte sie: Luka zu sich zu holen. Als sich der Griff um sie löste, sprang Dina ohne Zögern auf, kletterte über den Zaun und kratzte sich die Beine blutig. Es war ihr ganz egal. Hastig öffnete sie die Kiste und hob Luka heraus in ihre Arme.
„Es tut mir so leid, Luka! Es tut mir ja so leid! Ich werde dich ab jetzt nicht eine Sekunde mehr allein lassen! Das verspreche ich dir!“
Sie drückte ihn fest an ihre Brust und blickte auf die andere Seite des Zaunes. Dort stand ein alter Mann. Seine Kleider waren zerrissen, sein dreckiges Gesicht war nur schwer zu erkennen. Kleine Fältchen umspielten seine müden Augen. Das graue Haar stand in alle Richtungen, sein Bart reichte ihm bis zur Brust.
Eines kam ihr allerdings bekannt vor: Der sechszackige Stern, in dessen Mitte vier geschwungene Buchstaben das Wort Jude bildeten. Auch sie und ihr Bruder trugen einen solchen Stern an ihren Armen, aufgenäht auf den verschmutzten, viel zu großen Jacken. Also musste der Alte auch aus einem der Lastwagen geflohen sein, die sie an einen unbekannten und – da war sich Dina sicher – schrecklichen Ort bringen sollten.
Plötzlich hatten die Lastwagen mit zahlreichen gefangenen Juden, darunter Dinas Freundin Kayla, angehalten. Die Gefangenen waren in ihren Lastwagen durchgeschüttelt worden und hatten begonnen zu schreien. Mehrere Leute mussten es gewesen sein, die von außen die Wagen hin und her schaukelten und riefen: „Lasst sie frei! Lasst sie frei!“
Schließlich hatte jemand die hintere Plane des Lastwagens hochgeklappt.
„Lauft! Lauft um euer Leben!“
Alle Gefangenen waren hinausgesprungen, es fielen Schüsse und einige Personen, die neben ihr gelaufen waren, stürzten tot zu Boden. Sie war auf wundersame Weise davongekommen. Sie und ihre Familie.
„Kommt, wir müssen hier weg!“, sagte der Fremde. Dina hob Luka auf ihren Rücken, kletterte erneut auf die Kiste und ließ ihren kleinen Bruder in die Arme ihres Retters fallen. Dann sprang sie hinterher und umarmte den Fremden. Unter Tränen schluchzte sie: „Danke! Haben Sie vielen Dank! Sie haben mir und meinem kleinen Bruder das Leben gerettet!“
Der alte Mann drückte sie sanft von sich, um ihr ins Gesicht zu schauen.
„Wie ist dein Name?“ Er lächelte.
„Dina und das ist mein kleiner Bruder Luka“, antwortete sie.
„So, Luka ist also dein Name. Klingt geeignet für einen solch tapferen Kerl wie dich.“ Er zwinkerte ihm zu, sodass sich ein breites Grinsen über Lukas verschmutztes Gesicht ausbreitete. Dinas Herz schlug höher vor Freude. Dieses Lächeln hatte sie schon so lange vermisst nach all den vielen Tränen der letzten Zeit.
Das war überhaupt das Grausamste an diesem Krieg: Dass solch kleine und unschuldige Kinder von groben Händen angefasst und von ihren Familien getrennt oder gar ohne jeglichen Grund getötet wurden.
„Mein Name ist Jaron. Ich bin, wie ihr, aus den Lastwagen geflohen.“ Eine Pause trat ein. Mit besorgter Miene blickte er Dina direkt in die Augen. „Wart ihr allein? Auf dem Lastwagen: Wart ihr allein? Oder war noch jemand bei euch?“
Dina schluckte. Sie hatte noch gar keine Zeit gehabt, sich große Gedanken darüber zu machen, was mit ihren anderen Familienmitgliedern passiert war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen geschnappt worden war und ...
„Nein. Wir waren nicht allein. Unsere ganze Familie war dort. Mein Vater und meine ältere Schwester saßen in einem anderen Lastwagen, aber meine Mutter war bei uns. Ich habe sie weglaufen sehen, doch wir haben uns verloren.“
Jaron kniete sich vor ihr hin, legte eine Hand auf ihre Schulter und fasste nach Lukas Hand. „Wir können Gott dafür danken, dass er sie hat entkommen lassen. Aber wir müssen uns, so schrecklich es ist, bewusst machen, dass wir keine Ahnung haben, was passiert ist und wann oder ob ihr sie wiedersehen werdet.“
„Nein! Mama! Papa! Tihrah! Ich will zu Mama! Bring mich zu Mama!“ Luka schrie so laut, dass die Tauben, die über ihnen auf einer Fensterbank gesessen hatten, erschrocken aufflogen und davonflatterten.
„Luka! Sei leise!“ Sie nahm Luka in den Arm, um ihn zu trösten. „Keine Angst, Luka, wir werden sie schon finden. Wir werden alle wiederfinden. Sie leben, das weiß ich! Sie müssen leben!“
Jaron brachte sie mit einer erhobenen Hand zum Schweigen. „Das hat bestimmt jemand gehört! Hört zu: Ich verspreche, dass ich versuchen werde, euch zu eurer Familie zu bringen. Ich werde euch beschützen so gut es geht. Wir haben allerdings keine Zeit, um die anderen innerhalb dieser Stadt zu suchen. Wir müssen jetzt zunächst auf uns selbst aufpassen und auf dem schnellsten Weg hier heraus. Also, versprecht mir, dass ihr ab jetzt alles tut, was ich euch sage!“
Dina nahm Luka fest in den Arm und flüsterte: „Versprochen.“
„Wartet hier, ich werde um die Ecke sehen. Ich kenne den Weg hier heraus in einen großen Wald. Dort können wir zunächst Schutz in den Bäumen suchen und schließlich weiter nach Süden in die Berge fliehen. Es ist wichtig, dass ihr immer dicht hinter mir bleibt und, ohne auf mich zu achten, einfach weiterlauft, wenn jemand von hinten kommt, verstanden?“ Beide nickten schweigend.
Jaron drückte sich an die Wand und spähte um die Ecke. Dann gab er ihnen ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollten. So huschten drei Gestalten vorsichtig von einer dunklen und grauen Gasse zur nächsten; immer auf der Hut vor Feinden. Luka klammerte sich mit aller Kraft an Dinas Jacke.
Plötzlich ertönte eine laute und schrille Sirene: Luftangriff. Nun kamen von allen Straßen Menschen gelaufen, die versuchten ihre Familien zusammenhalten. Auch Jaron begann zu rennen. Es war schwer, dem alten Mann zu folgen. Ihre schwachen Beine würden das nicht mehr lange mitmachen.
Doch endlich konnte Dina den dunklen Wald vor sich erblicken. Sie begann gerade neuen Mut zu schöpfen, als sie eine bekannte Stimme hinter sich rufen hörte: „Da, die Kinder! Sie fliehen in den Wald!“
Sie drehte sich um und sah eine braune Uniform auf sie zulaufen. Sie nahm Luka eilig auf ihren Rücken und lief, so schnell ihre Beine sie noch tragen konnten, Richtung Wald.
Einfach in den Wald laufen. Immer weiter und einen Baum finden, an dem wir hochklettern können. Immer weiterlaufen. Nicht auf Jaron achten. Einfach laufen. Nicht zurückblicken.
Sie überholte Jaron und überquerte endlich die Waldgrenze. Ihr Herz schlug so laut, dass sie dachte, es müsse die Sirenen übertönen. Das Schlimmste hatten sie überstanden. Sie hörte schweren Atem hinter sich. Jaron hatte sie wieder eingeholt. Sie würden es schaffen.
Ein Schuss fiel. Dina konnte es gar nicht so schnell registrieren und lief zunächst weiter. Dann bemerkte sie, dass der Hoffnung schenkende Atem hinter ihr nicht mehr zu hören war. Er war verschwunden. Erschrocken drehte sie sich um. Da war kein Jaron. Keine Spur war von ihm zu sehen. Dina rief seinen Namen in den Wald hinein, doch immer noch konnte sie nur die entfernte Sirene hören. Wieder Rufe. Die Männer waren immer noch hinter ihnen her. Schnell schaute sie sich nach einem Baum um, an dem sie beide hinaufklettern konnten. Dort: eine Tanne mit niedrigen Ästen und einem dichten Kleid. Sie rannte auf sie zu, schob Luka einen Ast hinauf und kletterte selbst hinterher. Da kamen auch schon zwei bewaffnete Männer in brauner Uniform aus den Büschen. Sie schauten sich suchend um und liefen vorbei. Danke, Herr!, dachte sie und wandte sich Luka zu: „Hör zu, du bleibst hier sitzen und bewegst dich keinen Meter von der Stelle, verstanden? Ich werde einmal diese Tanne hinaufklettern und sehen, wo Jaron bleibt. Er hat sich sicher versteckt.“
Luka nickte erschöpft und Dina stieg immer weiter die Tanne hinauf. Jetzt hatte sie eine gute Sicht über den Weg, den sie gekommen waren. Wenigstens einen Vorteil hatte dieser kalte Winter. Wenn es Frühling gewesen wäre, hätte sie durch die dichten Baumkronen nichts erkennen können. Nur einzelne Tannen und ein paar Büsche verdeckten noch ein wenig die Sicht.
Plötzlich nahm Dina eine Bewegung wahr, etwas weiter zurückliegend hinter einem Busch. Er war relativ groß und wuchs zwischen zwei Tannen. Das musste er sein! Eilig stieg sie den Baum herab und nahm Luka wieder auf den Rücken. Er war viel zu schwach und verängstigt, um sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten. So liefen sie auf die Stelle zu, die sie seit ihrer Entdeckung nicht mehr aus den Augen verloren hatte.
„Luka, du bleibst hier stehen. Und sieh nicht hin.“ Dina zeigte auf die Stelle vor dem Busch und ging mit zitternden Knien um ihn herum. Dort lag Jaron ausgestreckt auf dem Boden. Die Hand drückte er sich auf seine Brust und das Blut floss auf den nadelbedeckten Waldboden. Dina hatte schon oft Verletzte gesehen. Das letzte Mal hatte ihr bester Freund Nathan so auf dem Boden gelegen. Bei einem Luftangriff hatte er seine Beine verloren und keiner hatte ihr geholfen, ihn von dort wegzutragen.
„Jaron!“
„Du hast es geschafft. Du bist in den Wald gekommen. Ich bin ja so stolz auf euch.“ Seine Stimme war kaum hörbar. Er musste husten und sein Gesicht war schmerzverzerrt, als noch mehr Blut aus der Wunde floss.
„Nicht reden, das ist nicht gut.“ Dina wickelte ihren Schal vom Hals, riss ihn entzwei und versuchte mit der einen Hälfte die Blutung zu stoppen. „Ich bin dir so dankbar. Ohne dich wären mein Bruder und ich
wahrscheinlich nicht mehr am Leben.“ Sie nahm die andere Hälfte des
Schals und wischte damit den Schweiß von Jarons Stirn. „Wir werden
noch bei dir bleiben, das ist das Mindeste, was wir als Dank für dich tun
können.“
„Nein!“, hustete Jaron. „Ihr müsst hier fort. Macht euch um mich keine Sorgen. Ich bin ein alter Mann. Gott ist bei mir und er ruft mich schon. Bringt ihr euch in Sicherheit. Das ist wichtig!“
Dina wusste, dass er recht hatte, aber es fiel ihr schwer, ihn allein zurückzulassen.
„Weißt du noch, welche Richtung ich euch genannt habe?“ Seine Augen waren nur noch einen Spalt breit offen und sein Atem wurde immer schwächer.
„Ja. Wir sollen nach Süden gehen. Hoch in die Berge. Aber wie sollen wir dort überleben?“
„Ihr werdet es schaffen“, flüsterte er und versuchte mit letzter Kraft ein Lächeln aufzubringen. Dann sank sein Kopf zur Seite und Dina wusste, dass es an der Zeit war, diesen Ort zu verlassen.
In Trauer, aber auch mit neuer Zuversicht hob das Mädchen ihren kleinen Bruder auf den Arm und lief in den immer dunkler werdenden Wald.
Die Finsternis war endgültig angebrochen. Luka war auf Dinas Arm eingeschlafen und sie suchte immer noch nach einem geeigneten Platz für die Nacht. Manchmal verschleierten Wolken den Mond und es drang nur noch so wenig Licht auf den Weg, dass Dina sich hinsetzen und warten musste, bis das Mondlicht wieder hervortrat. So tastete sie sich langsam durch den Wald. Zitternd vor Kälte, ausgehungert und im Grunde genommen zu erschöpft, um noch weiter zu laufen. Immer weiter. Immer tiefer in die Dunkelheit hinein. Kein Platz schien ihr sicher genug für den frühen Morgen, wenn die Sonne aufgehen würde. Was wäre, wenn jemand vorbeikäme und sie entdecken würde?
Ihre Gedanken drehten sich nur um dieselben Dinge: Auf den Beinen halten. Nicht aufgeben. Weitergehen. Einen sicheren Platz finden. Auf den Beinen halten .... Sie merkte, dass sie zunehmend ins Schwanken geriet und Halt an Ästen und Sträuchern suchte. Nein, sie konnte nicht mehr weiter. Ihre wunden Füße schmerzten unerträglich und Luka, so mager er auch war, war zu schwer geworden.
Am Ende ihrer Kräfte sank Dina zusammen, schob sich und Luka unter einen Strauch und schmiegte sich an den Jungen. Wenn es nur nicht so kalt wäre! Aber die Müdigkeit überwältigte sie bald.
Im Traum lief sie eine lange Straße entlang. Die hohen Häuser um sie herum waren zerstört und keine Menschenseele war zu entdecken. Sie sah in verlassene Gassen und hastete orientierungslos durch die graue Leere. Plötzlich stolperte sie und fiel. Was war das Hindernis gewesen? Ganz langsam drehte sich Dina um und starrte in das ausdruckslose Gesicht eines Jungen. Nathan. Er blickte sie mit leblosem Ausdruck an. Sie schrie entsetzt auf und lief, so schnell ihre Beine sie trugen, davon.
Als sie auf die nächste Querstraße gelangt war, erkannte sie eine vertraute Person. Ihr Vater stand mit ausgebreiteten Armen etwa zehn Meter von Dina entfernt und rief ihren Namen. Voller Erleichterung lief sie auf ihn zu und ließ sich auffangen.
„Mein Schatz, da bist du ja. Ich habe dich schon überall gesucht.“
Dina zuckte zusammen. Das war nicht die Stimme ihres Vaters, doch sie erschien ihr auch nicht unbekannt. Sie drückte sich ein wenig von ihm weg, um in sein Gesicht zu sehen. Sie blickte in die Augen eines Fremden, doch das Lachen würde sie unter Hunderten von Stimmen wiedererkennen.
Sie schreckte auf. Das grausame Gesicht des Nazis, der sie verfolgt hatte, war immer noch vor ihren Augen. Sie schüttelte heftig den Kopf und versuchte das Bild loszuwerden. Luka war von dem Schreckens-Laut, der aus Dinas Kehle gekommen war, ebenfalls aufgewacht und sagte zähneklappernd: „Dina, mir ist so kalt.“
Erschrocken drehte sie sich zu ihm um und war froh, jetzt nicht mit diesen furchtbaren Gedanken in der Dunkelheit allein sein zu müssen.
„Ich weiß, Luka. Ich weiß.“ Sie zog ihre Jacke aus und legte sie über ihre beiden zitternden Körper. Es konnte nur noch wenige Grad über Null sein. Dina blieb die weitere Nacht wach, um den schrecklichen Träumen zu entgehen, die sie gewiss wieder erwarten würden. Sie dachte an ihre Familie. An ihren Vater, an ihre Mutter. An ihre große Schwester Tihrah, mit der sie sich nicht immer gut verstanden hatte. Doch in der Zeit der Gefangenschaft waren sie sich nähergekommen, hatten Leid und Angst miteinander geteilt und waren enge Freundinnen geworden.
Und sie musste an Kayla denken.
Wo sie jetzt nur ist? Wurde sie bei dem Versuch zu entkommen getötet? Hatte sie es überhaupt aus einem der Lastwagen geschafft? Was sie jetzt wohl tun würde, so ganz allein? Dina vermisste sie sehr und sie spürte ein Stechen in der Brust. Die beiden Mädchen waren gemeinsam aufgewachsen und hatten viel miteinander erlebt. Ihre Mutter war bei Kaylas Geburt gestorben und ihr Vater hatte sich so liebevoll um sie gekümmert, wie es Dina bei einem Vater noch nie gesehen hatte, bis er schließlich sehr krank wurde.
Kalter Wind zog durch den Wald und ließ Dinas ganzen Leib erzittern. Sofort zog sie Luka noch näher an sich heran und wartete sehnlichst auf den Sonnenaufgang.
Endlich: Ein Lichtstrahl fiel durch die Bäume. Bedächtig stieg die Sonne höher und verzauberte den Wald. Der Tau auf den Blättern und auf dem Boden funkelte so herrlich wie die Sterne in der Nacht und der Nebel zog sich langsam durch die Bäume hindurch. Dina atmete tief ein und war dankbar, dass die Nacht jetzt endlich vorbei war. Sie nahm die Jacke, die als Decke gedient hatte, und zog sie sich über. Dann ruckelte sie leicht an Lukas Schulter.
„Aufstehen, Luka. Wir müssen jetzt hier weg. Hier kann man uns zu schnell entdecken.“
„Ich hab so Hunger. Ich hab Bauchweh. Bekommen wir bald etwas zu essen?“
„So leid es mir tut, aber ich denke, wir brauchen noch etwas Geduld. Ich habe auch ganz schön Hunger, aber wir müssen uns auf den Weg machen – die anderen suchen. Erinnerst du dich an die Höhle in dem großen Baum, in der du dich einmal versteckt hast? Wir waren dort mit den anderen und … Kayla.“
„Oh ja, wir haben Verstecken gespielt und Papa hat mich in der Höhle einfach nicht gefunden“, sprudelte es aus Luka heraus und Begeisterung leuchtete in seinen Augen.
Dina musste lächeln. „Ja, du hast recht. Das Versteck war einfach zu gut. Und dorthin müssen wir wieder zurück. Die anderen werden dort auf uns warten. Es ist etwas weiter weg und ich weiß nicht ganz genau, in welche Richtung wir gehen müssen, aber uns bleibt nichts anderes übrig. Na komm.“ Dina reichte ihrem kleinen Bruder die Hand und machte sich erneut mit ihm auf den Weg.
Ein leichter Wind kam auf. Ihre Füße froren so sehr, dass Dina ihr dünnes Hemd opferte, um sie in den feinen Stoff einzuwickeln. Zunächst schenkte das etwas Wärme, doch als es zu schneien begann, wurden auch die Wickel nutzlos. Schnell durchweicht, wärmten sie genauso wenig wie der Schnee selbst. Um ihrem kleinen Bruder etwas Erleichterung zu verschaffen, hob Dina ihn wieder auf ihren Rücken. So hatte er trockene Füße und sie seine Körperwärme. Das tat gut, denn sie trug ja nur noch einen Fetzen von Hemd unter ihrer Jacke.
Gegen Mittag, als dicke graue Wolken aufgekommen waren, begann der Wind durch den Wald zu heulen, als sänge er ein Trauerlied. Schneeflocken klebten in Dinas Haar und ihre Hände waren blau vor Kälte. Wann würden sie endlich einen warmen Ort finden? Die Orientierung hatte sie schon lange verloren. Stundenlang irrte Dina durch den Wald. Sie konnte kaum ein paar Schritte weit sehen. Gab es denn nirgends einen Unterschlupf, in dem sie beide wenigstens warten konnten, bis der Schneesturm sich gelegt hatte?
„Herr, du siehst unsere Not! Hilf uns! Bitte!“, rief sie in den Himmel hinein, doch ihre Stimme wurde von Sturm und Kälte verschluckt. „Bitte, barmherziger Gott! Hilfe!“ Nichts als das Heulen des Windes und das Wehen der Äste drang durch den Wald. Dina selbst war es kaum möglich, ihre eigene Stimme zu verstehen.
Dann, ganz plötzlich bemerkte sie etwas weiter entfernt von ihr eine Gestalt. Dinas erster Gedanke war Flucht. Doch wie sollte sie laufen, wenn sie sich schon so kaum auf den Beinen halten konnte? Außerdem – wer auch immer das war – er hatte die beiden bestimmt schon gesehen.
Statt sich von der Stelle zu rühren, versuchte Dina Genaueres zu erkennen. Die Gestalt war klein. Ziemlich klein. War es vielleicht kein Nazi, vor dem sie Angst haben musste? Die Person kam immer weiter in Dinas Sichtweite.
Sie traute ihren Augen nicht: Das war kein SS-Mann oder sonst irgendjemand Bedrohliches. Auf sie zu kam eine kleine alte Frau. Sie war warm eingehüllt in Mantel, Schal, Handschuh und Kopftuch, das sie sich unter ihrem Kinn zusammengebunden hatte. Ihre Haltung war gebeugt und sie stützte sich auf einen Gehstock.
„Hallo? Ist dort jemand?“, rief sie mit kränklicher und etwas ängstlicher Stimme. „Hallo? Ist da jemand?“
Dina starrte in die Richtung der sich nähernden Frau. Wieder, jetzt jedoch ganz deutlich und nur wenige Meter von Dina entfernt, rief die Stimme: „Hallooo! Ist da wer?“
Dina wurde aus ihrer Starre gelöst, stolperte auf die alte Frau zu und antwortete endlich mit zittriger Stimme: „Ja! Wir sind hier!“
Jetzt stand sie direkt vor ihr.
„Dachte ich doch, dass ich was gehört habe“, erwiderte die Frau. Ihre Augen sahen nicht direkt in Dinas Augen, sondern abwechselnd rechts und links an ihr vorbei, als könnte die Frau sie nicht sehen, obwohl jetzt kein Meter mehr zwischen ihnen war. „So ist das: Wenn die Augen nichts mehr erkennen, werden die Ohren umso besser und nehmen teilweise Geräusche war, die gesunde Menschen nicht hören können. Und ich dachte schon, ich hätte mir das Rufen auf meine alten Tage eingebildet. Wer seid ihr?“
Dina stockte. Konnte sie der Frau trauen oder sollte sie vorsichtig sein mit dem, was sie sagte? „Wir sind Geschwister. Mein kleiner Bruder Luka und ich.“
„Na kommt mit, wir sollten lieber hineingehen, es ist wirklich eisig hier draußen“, unterbrach die alte Frau sie.
„Hineingehen?“, fragte Dina hoffnungsvoll.
„Ja hinein, oder wollt ihr etwa noch länger hier in der Kälte bleiben?“
Was für eine Frage. Zitternd brachte sie ein „Natürlich nicht!“ über die Lippen und griff nach dem Ellenbogen, den die Frau ihr hinhielt.
„Wenn du mich führst, dann wird es wohl schneller gehen. Es ist nur wenige Meter von hier entfernt. Gehe einfach geradeaus.“
Ohne zu zögern, ging Dina los. Am liebsten wäre sie gelaufen. Doch schon kurz danach erblickte sie ein Licht. Es war eine Hauslaterne. Die Frau öffnete die Tür und die Wärme überströmte sie alle mit einem stürmischen Willkommensgruß. Dina stand in einer kleinen Hütte – jedoch nicht lange, denn die Erschöpfung breitete sich so schnell aus, dass sie auf die Knie sank und Luka von ihrem Rücken rutschte.
„Oh, ihr Armen. Ihr wart wohl schon eine ganze Weile dort draußen!“, hörte Dina eine mitfühlende Stimme sagen.
Jetzt, wo sie endlich in der Wärme war, konnte sie nicht mehr die Kraft aufbringen zu antworten und alles um sie herum begann zu verschwimmen.
Dina versuchte vorsichtig zu blinzeln; alle Kälte war von ihr gewichen. Leicht hob sie den Kopf und blickte sich um. Sie lag in einem kleinen Zimmer in einem warmen Bett. In einem Bett! Die ganzen letzten Wochen hatte sie ihre Nächte auf dem Boden oder eingekauert, zwischen lauter anderen Menschen, verbringen müssen. Jetzt lag sie unter einer warmen, dicken Federdecke und auf einem weichen Kissen. Ein wundervoller Duft stieg ihr in die Nase. Neben ihr auf dem Nachttischchen stand ein Teller mit Gebäck. Gierig griff Dina nach mehreren gleichzeitig und biss mit Genuss in die alten und eher salzigen Lebkuchen. Das kann nicht real sein! So etwas kann nicht möglich sein! Träume ich etwa noch?
Sie schaute sich erneut um. Es sah alles so echt aus. Die hölzernen Wände, der Holzfußboden mit dem hellen, abgetretenen Teppich. Das von Wandlampen stammende helle Licht, das den winzigen Raum in einem freundlichen und gemütlichen Licht erscheinen ließ. Der antiquarische Schrank mit Blumenranken verziert, eingeschnitzt in das dunkle, glatte Holz. Der Sekretär unter dem Fenster und das schlichte, über dem Bett hängende Kreuz. Draußen war wieder die Dunkelheit angebrochen.
Wie lange hatte Dina geschlafen? Und wo war Luka? Hastig nahm sie sich noch zwei von den Kuchen und legte sich die Bettdecke über den mageren Leib. Sie stellte fest, dass sie ein ganz sauberes, weißes Hemd trug. Es musste einem Erwachsenen gehören, denn es war ihr deutlich zu groß, sodass es eher einem Kleid ähnelte. Es roch nach etwas, das Dina nicht einfallen wollte. Sie schlüpfte in das Paar zerschlissene Hausschuhe, das neben dem Bett bereitstand, und trat mit schummrigem Kopf aus dem Zimmer. Sie stand auf einer Art Balkon. Der Flur war etwa zwei Meter breit. Wenn sie über das hölzerne Geländer hinunterblickte, sah sie die Haustür und einen Teil der Stube. Auch hier erschien alles in einem warmen Licht. An der Wand entlang tastend folgte sie dem Gang rechts an zwei weiteren Türen vorbei zu einer Treppe, die nach unten führte. Die Stufen knarrten, als sie hinunterging. Sie stand in einer Art Wohnzimmer. An der vorderen Wand knisterte ein Feuer im Kamin und davor lag auf einem Sofa ihr kleiner Bruder.
„Luka!“
Sie rannte auf das Sofa zu und kniete sich neben ihn. Sie zuckte erschrocken zusammen. Luka sah alles andere als gut aus. Sein Gesicht war rot, Schweißperlen bedeckten sein Gesicht. Auf seiner Stirn lag ein Tuch zur Kühlung. Er war in mehrere Decken eingewickelt und lag regungslos dort. Dina stiegen die Tränen in die Augen. Sie hatten all das überstanden: die Flucht aus der Stadt, die Kälte, den Hunger und die Angst. Und nun lag ihr kleiner Bruder mit hohem Fieber in der lang ersehnten Wärme. Sie nahm seine Hand in ihre. All meine Bemühungen, ihn zu entlasten, waren umsonst.
„Es ist nicht umsonst gewesen, was du getan hast!“
Dina schreckte auf. Hinter ihr stand die alte Frau. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte.
„Du hast sehr viel Tapferkeit bewiesen. Hättest du ihn nicht so beschützt, wie du es getan hast, dann würde es dem Kleinen noch viel schlechter gehen. Wenn er es überhaupt überstanden hätte. Er hat hohes Fieber, aber du hast ihn vor dem Tode bewahrt. Der Herr hat gut auf euch aufgepasst.“
„Warum ist er in Decken eingewickelt, er schwitzt doch so sehr!“
„Dein kleiner Bruder“, –
„Luka“, unterbrach Dina nun ruhiger.
„Luka“, verbesserte sich die Frau lächelnd. „Also zunächst war Luka so durchgefroren, dass er noch lange Zeit gezittert hatte. Und des Weiteren muss er sein Fieber ausschwitzen. Nur so kann er wieder gesund werden. Das hoffen wir jedenfalls. Etwas anderes können wir hier so tief im Wald leider nicht für ihn tun.“
„Wir?“, fragte Dina verwundert.
„Ja. Mein Enkel ist seit einigen Tagen hier. Er hat mir neue Verpflegung gebracht. Er sitzt in der Küche. Komm, ich stell ihn dir vor.“
Dina hielt Lukas Hand nun fester. Sie wollte nicht von ihm fort.
„Na komm. Du wirst doch wieder zu ihm gehen können. Du hast bestimmt noch Hunger. In der Küche gibt es jetzt wieder etwas zu essen.“ Die Frau lächelte ermutigend. Sie hatte recht. Dinas Hunger war durch die paar kleinen Lebkuchen kaum gestillt worden.
So küsste sie Luka schweren Herzens auf die Stirn und folgte der alten Frau in die duftende Küche. Wie auch schon die anderen Räume war diese sehr klein und alles war eng aneinandergestellt. An dem Tisch in der Mitte saß ein junger, großer Mann. Dina schätzte ihn auf etwa 25 Jahre. Er blickte neugierig auf, als sie den Raum betrat. Er sah nett aus.
„Hallo. Ich heiße Karl“, begrüßte er sie. Sein braunes Haar fiel ihm ein wenig ins wilde, jedoch schöne Gesicht.
„Hallo. Mein Name ist Dina.“
„Dina. Hübscher Name.“ Er zwinkerte ihr freundlich zu. Dina sah verlegen zur Seite. Ihr Blick blieb an zwei Jacken hängen, die auf dem Tisch lagen. Ihre Jacken. Oh nein! Er hatte die Sterne entdeckt. Sie musste hier weg! Sie war nicht in Sicherheit, sondern saß in der Falle! Ohne lange zu zögern lief sie aus dem Zimmer.
„Nein! Warte! Du brauchst keine Angst zu haben! Wirklich!“ Karl lief ihr hinterher und ergriff sie am Arm.
„Loslassen! Sie können mich nicht einsperren!“, schrie Dina verzweifelt und versuchte sich zu befreien.
„Aber nein! Du verstehst das alles ganz falsch! Beruhige dich!“, erwiderte er erschrocken.
Natürlich glaubte sie ihm nicht. Er hatte die Jacken gefunden und würde sie gewissenlos den Nazis ausliefern. Sie waren doch alle gleich.
Sie wehrte sich heftig und biss schließlich fest in die Hand ihres Verräters. Der zog die blutige Hand zurück. Ohne zu überlegen, stürmte Dina durch die Haustür ins Freie. Sie konnte Karl nach ihr rufen hören. So schnell sie konnte, lief sie in den Wald hinein. Außer von den Laternen des Hauses drang kein Licht hinein. In ihrer Angst achtete sie nicht auf den Weg und stolperte über einen Baumstamm. Sie schlug hart auf. Es drehte sich alles. Sie spürte, wie das warme Blut ihr über das Gesicht lief. Zwei starke Arme hoben sie hoch und Dina verlor das Bewusstsein.
„Das arme Kind. So verängstigt! Sie muss Grausames durchgemacht haben!“, hörte Dina eine alte Stimme sagen. Jemand tupfte ihr die Stirn mit einem kalten Tuch. Das tat gut. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder wusste, was geschehen war.
„Du hast recht.“
Langsam blinzelte sie in das helle Licht. Ihr Kopf brummte immer noch heftig. Leicht verschwommen sah sie einem traurigen Gesicht entgegen. Es war Karl.
„Na, da bist du ja wieder“, sagte er erleichtert. Seine Hand war in einen Verband gewickelt. Sie hatte wirklich kräftig zugebissen. Dina versuchte etwas zu sagen, doch Karl unterbrach sie: „Schsch. Du musst jetzt ruhig liegen bleiben.“
Sie lag in dem Zimmer, in dem sie schon einmal aufgewacht war.
„Aber es wäre gut, wenn ich dir alles erklären dürfte“, sagte er.
Dina hatte immer noch Zweifel ihm gegenüber, aber es blieb ihr jetzt nichts anderes übrig als zuzuhören. Weglaufen konnte sie nicht mehr. Sie schloss die Augen und versuchte zu nicken.
„Gut. Danke“, begann Karl. „Du hast allen Grund mir zu misstrauen. Ich bin Deutscher und du bist eine Jüdin.“ Bei dem Wort „Deutscher“ schlug Dina die Augen auf. Er sah wütend und abgeneigt gegenüber dieser Tatsache aus. Klar, er hasst eben Juden. Wie jeder Deutsche. Er hatte ihren Blick gespürt, überging ihn aber.
„Du musst wissen, dass du uns trauen kannst. Als ich hörte, wie Großmutter hineinkam, lief ich auf den Flur und sah dich am Boden liegen. Ja, ich hatte den Judenstern bemerkt. Aber das hat mich nicht davon abgehalten, dich ins Bett zu tragen und dir trockene und warme Kleider anzuziehen. Denkst du, wenn ich gegen Juden wäre, hätte ich etwa so gehandelt?“
Jetzt erschienen Dina ihre Vorurteile und Ängste lächerlich. Wäre Karl wirklich ein Nazi gewesen, wäre sie niemals in diesem Bett aufgewacht. Sie wäre schon lange nicht mehr hier in diesem Haus. Eine Träne der Erleichterung lief ihr die Wange entlang.
„Ist schon gut“, beruhigte Karl sie. „Ich verstehe vollkommen, dass du so reagiert hast. Die Jacken so ausgebreitet auf dem Tisch mussten dir verdächtig vorkommen. Du hast bestimmt Schlimmes durchmachen müssen und bist sehr vorsichtig geworden. Und das ist nicht zu verurteilen. Man kann heute nicht besonders vielen Menschen trauen. Aber uns kannst du trauen. Wirklich. Wir werden dir und deinem Bruder nichts tun und euch bestimmt nicht verraten. Ihr seid hier erst mal sicher und wir werden uns um euch kümmern. Versprochen.“
Seine Worte ließen ihr Herz schneller schlagen. Die Zweifel und Ängste fielen von ihr ab. Dina öffnete die Augen und brachte ein leises „Danke.“ hervor. Karl lächelte sie an. Er hob behutsam ihren Kopf und begann ihr einen Verband um den Kopf zu wickeln.
„Schön, dass du mir nun glaubst. Wir machen keinen Unterschied zwischen Juden, Christen oder Ungläubigen. Es ist vollkommenes Unrecht, jemanden wegen seines Glaubens oder seiner Herkunft zu misshandeln. Und was die Jacken angeht: Ich wollte gerade, als du die Küche betreten hattest, damit beginnen, diese verächtlichen Sterne von euren Jacken zu entfernen. Es ist nicht gerade vorteilhaft, mit zwei Kindern durch den Wald zu laufen, die einen Judenstern tragen.“
Was meinte er damit?
„Aber genug für heute. Es ist schon sehr spät und du musst dich ausruhen. Ich werde die Nacht heute unten in der Stube neben deinem Bruder verbringen, du brauchst dich also nicht um ihn zu sorgen.“
Er deckte sie noch einmal richtig zu, legte ihr zur Unterstützung zwei weitere Kissen unter den Kopf, löschte das Licht neben dem Bett und trat zur Tür.
„Wenn heute Nacht noch etwas sein sollte, dann rufe. Ich werde die Tür einen Spalt auflassen.“
Wieder versuchte Dina zu nicken. Diesmal ging es schon besser. Sie hörte Karls Schritte, als er über den Flur und die Treppe hinab in die Stube trat. Tausende Gedanken wollten sie überkommen, doch sie scheuchte sie fort und sank erschöpft in die Kissen.
Ein Sonnenstrahl schien durch das Fenster. Dina hatte seit sehr langer Zeit nicht mehr so gut geschlafen; keine quälenden Albträume, sie war tief und fest im Schlaf versunken gewesen. Sie genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Dankbarkeit erfüllte sie, dass sie an diesem Ort sein durfte. Sie fühlte sich weiterhin wie in einer Traumwelt, in der es keinen Krieg mehr gab, keinen Tod.
Doch dieses intensive Glücksgefühl verringerte sich schlagartig, als sie versuchte sich aufzurichten. Ihre Wunde am Kopf pulsierte und sie sank zurück in die Kissen. Es klopfte an der Tür. Karl kam hinein und setzte sich zu ihr.
„Ich wollte gerade nach dir sehen und dich zum Frühstück wecken. Wie hast du geschlafen?“
„Überraschend gut.“
Karl stand wieder auf und reichte ihr seine Hand. „Das freut mich. Aber ich helfe dir lieber bis in die Küche.“
Dina zögerte. „Moment. Setz dich bitte noch einmal.“ Sie zeigte auf den Platz neben sich.
„Ja?“
„Ich wollte dir noch etwas sagen.“ –
„Bitte, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Das ist wirklich nicht nötig.“
Dina senkte den Kopf. „Aber danken darf ich dir doch, oder?“ Sie sah lächelnd zu ihm auf. Er nickte einwilligend.
„Danke, Karl. Danke für deine Hilfe. Danke, dass wir dir vertrauen können. Und – danke für dein Bett.“ Beide mussten lachen. „Dort an der Wand hängt eine Urkunde, auf der dein Name steht, deshalb habe ich mir schon gedacht, dass das dein Zimmer sein muss. Wofür steht sie denn?“, fragte Dina.
„Ach, die ist schon von 1933. Ich habe sie als Auszeichnung für den schnellsten Läufer der Schule bekommen. Es war eine Art kleine Olympiade. Praktisch in diesen Zeiten. Man ist ja quasi dauernd am Weglaufen!“ Er lachte auf, doch seine Miene wies wenig Freude auf. „Man läuft weg vor Bomben, Gewehren, Nazis, Ärger und vor Wachmännern, die an jeder Ecke lauern. Man läuft weg vor Schreien, vor Ungerechtigkeit und schließlich vor sich selbst.“
Dina war verwundert, solch einen Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen. Er sah traurig, wütend und schuldbewusst zugleich aus.
„Vor sich selbst?“, fragte sie ihn.
„Nun ja ... der Krieg zwingt einen manchmal Dinge zu tun, die man nicht von sich gedacht hätte. Man erkennt sich nicht mehr wieder und will es am liebsten verdrängen, doch so manche Dinge verfolgen einen, sodass man ihnen nicht entgehen kann.“ Er sah zu Boden.
Dina traute sich nicht weiter nachzufragen, sie wusste genau, wie es war, über etwas nicht reden zu können. „Wollen wir hinuntergehen?“
„Ja, natürlich. Großmutter wartet sicher schon.“
Wieder reichte Karl Dina seine Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Dann gingen sie langsam über den Flur.
„Wie heißt ähm ... Großmutter eigentlich?“
„Helene.“
Dina stieg ein himmlischer Duft in die Nase und sie atmete tief ein.
„Riecht gut, was? Großmutter hat Brot gebacken. Dazu gibt es Tee und wenn du möchtest, auch selbst gemachte Erdbeermarmelade. Sie macht wirklich sehr leckere Marmelade, die habe ich schon als kleiner Junge immer geliebt. Wie gut, dass sie noch etwas eingelagert hatte.“ Er musste schmunzeln. Dina war froh, jetzt nun wieder das freundliche Gesicht anblicken zu können. Sie sah Luka auf dem Sofa liegen, aber Karl lenkte sie mit seiner Hand an ihrem Rücken in Richtung Küche.
„Wir gehen gleich zu ihm, ja? Ihm geht es schon besser.“
„Ist gut.“
Als sie in die Küche traten, wandte sich die alte Frau ihnen zu.
„Guten Morgen! Wie geht es dir heute?“
„Schon besser“, antwortete Dina.
„Schön. Hier –“, sie reichte Dina ein Tablett. „Das ist dein Frühstück, und das für den Kleinen ist auch dabei. Ich weiß nicht, wie viel Appetit er haben wird, aber er sollte trotzdem etwas essen, er ist doch so dünn und schwach."
„Dankeschön.“
„Warte, ich nehme das“, bot Karl Dina an, nahm das Tablett entgegen und ging voraus in die Stube.
Dina kniete sich neben das Sofa, auf dem Luka lag, und strich ihm über das gelockte Haar. Er sah schon besser aus als gestern. Sein Gesicht war nicht mehr von Schweiß bedeckt und er zitterte nicht mehr. Er lag nur sehr müde und erschöpft dort. Sein Fieber war jedoch noch nicht ganz abgeklungen.
„Luka?“
Mühsam blinzelte er in das helle Zimmer. „Dina“, antwortete er.
Sie riss ein Stück von einem Brötchen ab und hielt es Luka an den Mund. „Hier, etwas zu essen.“
„Ich hab keinen Hunger. Mir ist so schlecht.“
„Ich weiß, aber du musst etwas essen, um wieder gesund zu werden. Du hast lange nichts mehr gegessen. Bitte Luka, tu es für mich. Und tu es für Mama und Papa. Und für Tihrah. Sie würden auch wollen, dass du jetzt etwas isst. Wenigstens ein bisschen?“
„Na gut. Gib mir ein Stück.“
„So kenn ich dich.“ Dina gab ihm ein Stück. Er begann langsam zu kauen und sie wartete auf seine Reaktion.
„Das schmeckt gut. Kann ich noch ein Stück?“
Freudig riss sie ein weiteres Stück von ihrem Brot ab, reichte es ihm und biss selbst hinein. Das schmeckte lecker! Und die Marmelade erst! Karl hatte nicht übertrieben, sie war wirklich unglaublich gut. So etwas Köstliches hatte sie schon lange nicht mehr gegessen. Dass das Brot ebenfalls etwas pappig war und nicht sonderlich süß, störte sie gar nicht. Das war sogar noch besser als die Lebkuchen.
„Was hast du da am Kopf?“, fragte Luka.
Stimmt, in seinem Fieber hatte er nichts mitbekommen, was letzten Abend vor sich gegangen war.
„Ich habe mich nur am Kopf gestoßen, das ist nicht weiter schlimm.“ Dina beließ es lieber bei dieser halben Wahrheit, ehe er sich noch unnötig Sorgen machte. Sie setzte sich an den kleinen runden Tisch und genoss weiter ihr Frühstück.
Wie es wohl den anderen ging? Während sie hier in der Wärme ein gutes Frühstück aß, waren die anderen vielleicht noch auf dem Weg zum Treffpunkt. Waren sie alle gesund oder waren sie verletzt? Hatten sie es überhaupt aus der Stadt geschafft oder waren Luka und sie die Einzigen gewesen? Dinas Bauch krampfte sich zusammen. Was würde sie tun, wenn sie an dem Treffpunkt ankommen würden und keiner ihrer Familienmitglieder dort war? Sie wusste den Weg nicht, hatte keinen Plan, was sie danach machen sollten. Ihr Vater wusste Bescheid, aber sie hatte nie nachgefragt. Sie hatte sich naiv an dem Glauben festgehalten, dass sie nie getrennt werden würden.
„Karl, ich habe eine Frage“, sagte Dina.
„Nur zu.“
„Was wird mit uns, wenn Luka wieder gesund ist? Wir können doch nicht einfach hierbleiben, das wäre viel zu gefährlich. Wir würden sicher irgendwann entdeckt werden und euch in Gefahr bringen. Das kann ich nicht verantworten.“
Ihr Kopf wandte sich abrupt zu Luka, als der ein Stöhnen von sich gab.
„Dina. Es dreht sich alles. Mein Kopf tut so weh. Mach, dass es aufhört!“ Schnell nahm Dina den Lappen aus der wassergefüllten Schale, die neben dem Sofa lag, und kühlte damit Lukas Gesicht. Er begann sich zu wälzen und sein Kopf war wieder spürbar heiß geworden.
„Er hat hohes Fieber. Was können wir nur tun? Er quält sich so sehr.“ Sie sah erwartungsvoll in Karls Gesicht, wartend auf eine Lösung.
„Ich glaube, wir können nicht mehr viel für ihn tun. Er braucht einen Arzt, sonst schafft er es nicht. Sein Fieber ist so hoch, wir können es ohne Medikamente nicht mehr genug lindern. Sein schwacher Körper hält das nicht aus.“
Dina liefen die Tränen über die Wangen, während sie fest Lukas Hand drückte und versuchte ihn zu beruhigen.
„Einen Arzt?! Aber wo sollten wir einen Arzt finden, der bereit wäre, einem Juden zu helfen? Er ist ein Jude! Es wird keinen interessieren, ob er sterbenskrank ist, ob er ein kleiner, schwacher Junge ist, ob er wieder gesund wird. Es ist unmöglich, einen Arzt zu finden!“ Dinas Stimme zitterte vor Wut und Verzweiflung. Karl kniete sich neben sie und nahm sie in den Arm.
„Ganz ruhig. Beruhige dich.“
Es tat gut, von diesen starken Armen gehalten zu werden. Sie fühlte sich so zerbrechlich, als würde er sie zusammenhalten. Dieses Leben in völliger Ungewissheit über das Kommende war zu viel für ihr Herz.
„Ich glaube, ich weiß eine Möglichkeit. Aber das wird nicht ganz leicht.“
Dina drückte sich von seiner Brust und sah ihn an. „Wirklich?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Ja. Aber es wäre ein Risiko.“
„Du denkst an Gregor, nicht wahr?“, sagte eine Stimme hinter Dina. Helene war hinzugekommen. Ihre Stimme klang ernst.
„Ja. Ihn meine ich.“
„Wer ist dieser Gregor?“
„Ich bin mit Gregor aufgewachsen. Er war mein ehemals bester Freund. Doch mit zunehmendem Alter haben wir uns auseinandergelebt und irgendwann brach der Kontakt ganz ab. Er verschwand ohne ein Wort und begann mit 18 sein Medizinstudium. Dann kam der Krieg. Obwohl er sein Studium noch nicht beendet hatte, wurde er als Arzt an der Ostfront eingeteilt. Dort wurde er verletzt und vom Dienst befreit.
Das letzte Mal habe ich ihn vor zwei Monaten gesehen. Wir hatten uns zufällig in einer Bar getroffen. Es war, als sei kaum Zeit vergangen. Trotzdem empfand ich seine Anwesenheit eher als unangenehm. Der Krieg hatte ihn nochmals um einiges verändert. Er war nicht mehr der Gregor, den ich einmal gekannt hatte.“
Karl atmete tief durch und setzte sich auf das Sofa. Dina nahm neben ihm Platz.
„Gregor hat sich ausgiebig über die Nazis aufgeregt und meinte, dass er es schrecklich fände, was sie mit den Juden tun würden. Wir hatten ein ziemlich langes Gespräch darüber und ich habe ihm alles abgenommen. Er schien wirklich sehr betroffen zu sein. Es war merkwürdig, nach so langer Zeit einmal wieder seine weichere Seite zu sehen.
Jedenfalls war mein Gedanke: Da Gregor Arzt ist und anscheinend nicht judenfeindlich, könnte er vielleicht Luka helfen. Möglicherweise könnte ich ihn überreden hierherzukommen. Mit Medikamenten natürlich.“
„Das wäre ja wundervoll!“, sagte Dina begeistert. „Ich meine, wenn er sogar an Medikamente kommen könnte, dann wäre es doch eine echte Chance!“
„Klar, wenn er es machen würde. Aber es wäre ein Risiko. Gregor tut das, was er will. Ich kann ihn nicht sicher einschätzen. Und du bist ein hübsches Mädchen.“
Schon oft hatten Männer Dina angesehen. Es war immer ein unangenehmes Gefühl gewesen. Aber es ging hier schließlich um Lukas Leben. Da konnte sie auf so etwas keine Rücksicht nehmen.
„Das nehme ich in Kauf. Ich werde damit schon zurechtkommen.“
„Das musst du entscheiden. Wenn du meinst, dass du damit umgehen kannst. Ich war mir unsicher, weil ich nicht weiß, was du schon alles erlebt hast.“ Karl blickte zur Seite, als er die Worte aussprach.
„Nein, davor bin ich Gott sei Dank verschont worden.“
Er atmete durch und sagte leise: „Gut. Auf keinen Fall soll noch einmal irgendetwas dergleichen geschehen wie gestern. Ich möchte nicht, dass du Angst bekommst und werde auf jeden Fall auf dich achten.“
„Ist schon gut“, flüsterte Dina zurück.
Bereits eine halbe Stunde später verließ Karl mit einem mit Verpflegung gepackten Rucksack die kleine Hütte. Dina saß lange Zeit an Lukas Seite, doch irgendwann war er eingeschlafen und die Unruhe in ihr wurde noch stärker.
„Helene?“
„Ja, mein Kind?“
„Ich weiß, ich soll mich noch nicht anstrengen, aber hast du nicht wenigstens eine kleine Aufgabe für mich? Ich muss etwas tun. Ich dachte, du kannst bestimmt irgendwo Hilfe gebrauchen?“
„Na gut. Du kannst das bisschen Geschirr von heute Mittag abwaschen und die Küche durchfegen. Etwas anderes gibt es hier im Moment nicht zu tun. Es wird schon dunkel, du solltest vielleicht ein Bad nehmen und dann ins Bett gehen. Du hast dich ja noch gar nicht waschen können, seit du hier bist. Ich werde indessen bei Luka bleiben.“
Es war anstrengender als gedacht, sich für die Zeit des Geschirrspülens und des Fegens auf den Beinen zu halten, doch es tat auch gut, wenigstens ein wenig ihren Dank für ihre Aufnahme auszudrücken.
Um sieben Uhr, nach dem Abendessen, betrat sie das kleine schlichte Badezimmer, welches direkt neben Karls Zimmer lag, in dem sie schlief. Sie stellte den Eimer Wasser, den sie im Schuppen mit dem Inhalt des leicht gefrorenen Regenfasses gefüllt hatte, ab und entfachte die Feuerstelle. Angestrengt hievte sie den Eimer hoch und goss das Wasser in den Kessel. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich nach so langer Zeit Badewasser aufzusetzen.
Während sie wartete, zog sie ihre wenigen Kleider aus und sah sich das erste Mal seit Wochen im Spiegel. Die Person ihr gegenüber kam ihr unbekannt vor. Sie war mager, ihre Haut dreckig und viele blaue Flecken verteilten sich auf dem ganzen Körper. Diese stammten von dem vielen Hin- und Hergeschubse der SS-Männer und der zu engen Lastwagen. Außerdem verlief eine Platzwunde über ihre Stirn, bedeckt von einer sehr dünnen Blutkruste. Es sah noch gar nicht verheilt aus.
Ihr schwarzes, leicht gelocktes bis zur Taille reichende Haar war völlig verknotet. Sie strich sich über das Gesicht, als sei ihr alles fremd: ihre Lippen und ihre Augen. Ihre Gesichtszüge und ihre zerkratzte Haut. Die Kratzer mussten aus dem Wald stammen. In dem Nebel hatten ihr mehrere Male Äste gegen das Gesicht geschlagen.
Das Wasser war nun genug erhitzt, um es in die Wanne zu gießen. Sie nahm den Schwamm und das Stück Seife aus dem kleinen Badezimmerschränkchen. Dann glitt sie langsam in das angenehme, warme Nass. Zunächst schrubbte sie sich den Schmutz vom Leib und wusch sich die Haare. Danach legte sie sich einfach zurück und genoss diesen unglaublichen Luxus.
Was tat sie hier? Noch vor eineinhalb Tagen war sie durch die Kälte gelaufen. Suchend nach Schutz. Mit Angst in der Dunkelheit. Mit Hunger. Jetzt lag sie, als Jüdin, mitten im Krieg, in einer Badewanne! Ohne Hunger und ohne Angst. Natürlich waren ihre Sorgen nicht vergessen. Ihre Gedanken waren ständig bei Luka und ihrer Familie, doch sie fühlte sich trotzdem frei wie in einem Traum, aus dem sie nie wieder aufwachen wollte.
Eine halbe Stunde lag sie so dort. Dann wickelte sie sich ein Handtuch um und kämmte sich die Haare, als es an der Tür klopfte.
„Ich habe dir neue Kleidung vor die Tür gelegt“, kam es von der anderen Seite.
Sie öffnete die Tür und hob das weiße Hemd vom Boden. Es sah aus wie ihr erstes, doch es war sauber. Karl gab wohl all seine Hemden her, dachte Dina und lächelte in sich hinein. Sie zog es sich über und betrachtete sich erneut im Spiegel. Nun war ihr Anblick schon angenehmer. Doch sie verstand nicht, was an ihr besonders hübsch sein sollte. Sie sah nur ein ganz normales Mädchen. Noch dazu ein sehr abgemagertes. Sich den Verband wieder um den Kopf wickelnd ging sie über den Flur ins Schlafzimmer.
In dieser Nacht träumte Dina erneut schlecht. Bilder von Toten, von ihrer Familie, gefangen in Zellen und einer grauen Stadt, die ihr bekannt vorkam, erschienen wieder und wieder abwechselnd vor ihren Augen. Und plötzlich starrte sie wieder den starren Augen Nathans entgegen. Dina schreckte auf und atmete schwer. Ihr war kalt, doch ihr Hemd war feucht von Schweiß.
Sie stand auf, wickelte sich die Decke um den Körper, schlich die Treppe hinunter und legte sich neben Luka auf den Boden.
Dina wachte schon sehr früh auf. Die Sonne begann gerade ihre ersten Strahlen durch die Bäume scheinen zu lassen. Draußen bedeckte eine dicke Schicht Schnee den Waldboden, doch kein Lüftchen wehte und es herrschte herrliche Stille.
Leise öffnete Dina, in ihre Decke eingewickelt, die Tür nach draußen. Sie atmete die frische, kalte Winterluft ein. Der Schnee lag noch unberührt auf den Wegen und der Wald glitzerte und funkelte in Tausenden von kleinen Kristallen. Dina wischte ein wenig Schnee von der Bank neben der Haustür und setzte sich darauf. Sie hörte ein Geräusch. Unsicher sah sie sich um. Es war ein knatschender Laut, der vom Dach zu kommen schien. Neugierig blickte sie über sich, konnte jedoch nichts erkennen. Plötzlich rutschte eine Menge Schnee vom Dach auf sie hinab. Ein Eichhörnchen sprang hinterher und rannte so schnell es konnte auf den Weg hinweg auf einen Baum. Dort setzte es sich auf einen Ast und keckerte ihr schadenfroh zu. Dina musste lachen. Sie hatte sich vor einem Eichhörnchen gefürchtet. Nass und zitternd vor Kälte lief sie schnell wieder in die Hütte und schloss die Tür hinter sich.
„Dina, bist du das?“, fragte Helene, die sich gerade auf dem Sofa aufgerichtet hatte.
„Ja, ich wurde gerade von einem Eichhörnchen überrascht. Jetzt bin ich ganz nass. Ich trockne mich kurz ab.“
„Ach du meine Güte. Ja, freche Eichhörnchen gibt es hier wirklich viele, die manchmal sogar während der Winterruhe herumspringen. Aber es ist trotzdem jedes Mal eine Freude, sie in diesen Zeiten zu hören. Sie machen immer so einen unbeschwerten Eindruck.“
Dina wartete ungeduldig den Tag über neben Luka. Wann würde Karl endlich wiederkommen? Luka ging es wieder schlechter. Es wurde höchste Zeit, dass er etwas gegen das Fieber bekam. War Karl vielleicht noch auf der Suche nach Gregor und würde sogar erst morgen kommen? Helene saß auf dem Sofa und entfernte die Judensterne von ihren Jacken. Bewundernswert geschickt trotz ihrer blinden Augen. Dina sah immer wieder aus dem Fenster und suchte nach einer bekannten Gestalt.
„Er wird schon demnächst kommen. Warte noch ein Weilchen. Lange kann es nicht mehr dauern. Gregor hält sich eigentlich immer nur an drei verschiedenen Orten auf: In diesem dreckigen Loch, das er sein Zuhause nennt, in einer Kneipe oder in irgendeiner Gasse, nicht weit entfernt von dort: Wenn sie ihn mal wieder hinausgeworfen haben. Ich bin sicher, sie werden noch heute kommen, bevor es dunkel wird.“
Hoffentlich, dachte Dina. Das Warten war unerträglich.
Es war gegen sechs Uhr, als Dina Gelächter von draußen hörte. Die Tür öffnete sich und herein trat Karl.
„Da seid ihr ja endlich!“ Dina sprang auf und lief ihm entgegen. „Luka geht es gar nicht gut.“
Den fremden Mann sah sie nicht.
„Was ist, will er nicht hereinkommen?“, fragte sie.
„Doch, doch. Aber er raucht noch eine. Ich habe dir etwas mitgebracht“, antwortete Karl.
„Mir?“
„Ja, du kannst doch nicht die ganze Zeit über in einem meiner Hemden herumlaufen.“
Dina sah an sich hinab. Er hatte recht. Das weiße Hemd ging ihr gerade knapp bis zu den Knien. Und etwas anderes trug sie nicht. Beschämt sah sie zu ihm hinauf, als er seine Jacke aufhängte.
„Was hast du mir denn mitgebracht?“
Karl hielt ihr eine Stofftasche entgegen. „Jetzt aber schnell nach oben.“
Sie lief die Treppe hinauf in ihr Zimmer und breitete die Kleidungsstücke auf ihrem Bett aus. Eines war ein weißes Schlafkleid und das andere ein blaues Kleid für den Alltag. Als sie es anzog, kratzte es, aber ansonsten passte es sehr gut. Zur Taille hin lag es eng an und fiel dann schlicht bis zu den Knöcheln hinab. Es war nicht besonders schön, aber das war nicht wichtig. Wenigstens passte es und war mehr als ein zu großes Hemd. Außerdem war es gut für den Winter geeignet. Dazu zog sie Kniestrümpfe an und ein Paar ältere Riemchensandalen. Jetzt musste sie endlich nicht mehr mit einer Decke in der Hütte herumlaufen.
Sie atmete tief durch, um die Aufregung zu vertreiben und trat vor die Tür. Unten in der Stube stand ein großer, schlanker Mann. Als er seine Mütze abnahm, stand sein dunkelbraunes Haar in alle Richtungen. Er war unrasiert und sah ziemlich ungepflegt aus. Dina versuchte keine Vorurteile gegen ihn zu hegen, blieb jedoch erst mal oben und beobachtete ihn. Gregor zog seine Jacke aus und trat zu Luka. Mit seinem Handrücken befühlte er dessen Stirn und leuchtete mit besorgtem Gesicht Luka in die müden Augen.
„Er hat wirklich hohes Fieber. Ich gebe ihm sofort etwas, damit die Temperatur sinkt.“
Gregors Stimme klang rau und passte zu seinem Aussehen. Aus seinem Rucksack nahm er ein kleines Fläschchen und gab Luka daraus zwei Löffel Medizin. Hoffentlich hilft es, bangte Dina. Langsam schritt sie die Treppe hinab, trat unsicher in die Stube.
„Hallo.“
Der Fremde drehte sich zu ihr um und sah sie an. Sie erschrak beim Anblick der abscheulichen Narbe, die sich von oben bis unten über Gregors linkes Auge zog. Er zog interessiert die Augenbrauen hoch, trat ein paar Schritte auf sie zu und reichte ihr die Hand. Sie war noch kalt.
„Du musst Dina sein. Karl hat mir natürlich schon von dir erzählt. Ich bin Gregor.“ Sein Mundwinkel verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Sein verbliebenes Auge starrte in die ihren und sie blickte nervös zu Boden.
„Du trägst einen Verband um deinen Kopf. Soll ich mir das mal ansehen?“
Sie zögerte. Ein süßlich-fauliger Geruch stieg ihr in die Nase und sie hielt schlagartig die Luft an.
„Na komm, du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben. Ich möchte mir doch nur deinen Kopf ansehen. Karl meinte, du wärest gestolpert und mit deinem Kopf auf einen Stein gestoßen?“, fragte Gregor und erhoffte wohl eine Erwiderung. Dina nickte.
„Wer weiß, wie schlimm die Verletzung ist. Komm, setz dich aufs Sofa.“ Er nahm eine ihrer Hände in seine, trat neben sie und legte die andere auf ihre Schulter, als könne sie nicht alleine gehen. Aber es war ihr unangenehm und sie traute sich nicht etwas zu erwidern. Vorsichtig wickelte er den Verband von ihrem Kopf.
„Das sieht nicht besonders gut aus. Es hat sich ein wenig entzündet.“ Der widerliche Geruch kalter Asche ließ sie nur oberflächlich atmen. Er wandte sich zu Karl. Schnell schnappte sie nach Luft.
„Du solltest wissen, dass man eine solche Wunde zuerst desinfiziert, bevor man einen Verband darum wickelt.“
Karl zog die Augenbrauen hoch. „Woher sollte ich denn Desinfektionsmittel bekommen? Ich habe versucht so gut es ging, die Wunde mit Wasser auszuwaschen, aber mehr konnte ich nicht tun. Außerdem bin ich kein Arzt.“
„Schon gut.“ Gregor blickte nun wieder Dina an. „Wir werden das schon wieder hinbiegen.“ Wieder ein schmieriges Grinsen, das seine gelben Zähne zum Vorschein brachte. Dina schwieg weiterhin. Er nahm ein Wattestäbchen aus seiner Tasche und tunkte es in eine rote Flüssigkeit.
„Was ist das?“, fragte Dina unsicher.
„Kein Blut“, lachte er, freudig überrascht über ihre ersten Worte. „Das ist einfaches Jod, es desinfiziert die Wunde.“
Es brannte, als er es auf die Wunde schmierte und Dina meinte zu spüren, wie der Daumen an ihrer Wange, der ihr Gesicht festhielt, darüber strich. Sie versteifte sich noch mehr, doch eine Frage musste sie stellen: „Wann wird es meinem Bruder wieder gut gehen?“
Gregor legte den Tupfer beiseite und holte einen sauberen Verband aus seiner Tasche. „Wenn es hilft, müssten wir spätestens morgen früh schon eine Besserung sehen.“
„Wenn?“, fragte Dina.
„Vergiss das wenn, es wird schon alles wieder gut.“
Dina war so in Gedanken versunken, dass sie Gregors Zuzwinkern gar nicht wahrnahm. Luka musste einfach wieder gesund werden. Er musste es, damit sie sich endlich wieder auf den Weg machen konnten. So ungern sie auch von hier fort wollte. Doch ihr war bewusst, dass sie hier nicht mehr lange sicher waren.
„In ein, zwei Tagen solltest du auch den Verband endgültig abnehmen, damit Luft drankommt und es verheilen kann.“
Karl sah ihren versunkenen Blick und antwortete für sie: „Danke Gregor.“
„Gern geschehen.“ Wieder zwinkerte er Dina zu, dieses Mal bemerkte sie es und ihr Blick huschte zu Luka hinüber.
„Wir sollten dem Kleinen noch die Füße hochlegen und darauf achten, dass er immer schön zugedeckt ist“, beendete Gregor den Satz.
Die weiteren Stunden waren sehr anstrengend für Dina. Während sie bei Luka saß und ihm über das Haar streichelte, war sie auch die ganze Zeit über den Blicken und Bemerkungen Gregors ausgesetzt. Die zweideutigen Äußerungen nahmen zu. Es schien, als würde er sie keinen Augenblick aus dem Auge verlieren, sie immerzu anstarren. Selbst wenn Karl ihn in ein Gespräch verwickelte, spürte sie seinen Blick. Sie versuchte es zu ignorieren und nur auf Luka zu achten, aber es fiel ihr schwerer als gedacht. Wenn Karl nicht neben ihr auf dem Sessel gesessen hätte, wäre sie schon längst aufgestanden und zu Helene in die Küche verschwunden. Die Vorstellung, allein mit Gregor in einem Raum zu sein, ließ sie erschaudern. Jedes Mal, wenn sich aus Versehen ihre Blicke trafen, schlug ihr Herz schneller.
Dina war froh, als es endlich Abendbrot gab. Sie schlang das Essen förmlich hinunter und wünschte eine gute Nacht.
„Was, so früh schon?“, fragte Helene verwundert.
„Ja, ich bin ziemlich müde und habe Kopfschmerzen“, log sie.
„Soll ich mir die Wunde vielleicht noch mal anschauen?“
„Nein danke, es geht schon“, reagierte Dina mit einem finsteren Ausdruck, ignorierte die verwirrten Blicke der anderen und verschwand in ihr Zimmer und schloss die Tür. Wehe, Luka geht es morgen nicht besser!