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Du denkst, du bist ihm entkommen. Doch er ist näher, als du ahnst … Vor zehn Jahren wurde Irland von einem Serienmörder terrorisiert, dem die Presse den Spitznamen Blackout-Killer gab, weil er vor seinen grausam inszenierten Morden stets Stromausfälle in der Straße seiner Opfer verursachte. Als Claire Moore ihm entkommt, stoppt das Morden plötzlich. Ist der Killer überführt? Claire, die über Nacht berühmt wurde, muss sich in ihrem neuen Leben einrichten: verstümmelt, schwersttraumatisiert, aber: am Leben. Als sie gerade wieder langsam beginnt, sich für eine neue Liebe zu öffnen, stirbt erneut eine Frau – nachdem der Strom in ihrem Haus gekappt wurde. Während die Presse noch über einen möglichen Trittbrettfahrer spekuliert, hat Claire keinen Zweifel: Der Blackout-Killer ist zurück, um sein Werk zu vollenden … »Düster, packend und mit Twists, die einem den Atem verschlagen.« John Marrs, Autor von The One - Finde dein perfektes Match
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Seitenzahl: 446
Zum Buch
Vor zehn Jahren wurde Irland von einem Serienmörder terrorisiert: Die Presse nannte ihn bald den Blackout-Killer, weil er vor seinen grausam inszenierten Morden stets Stromausfälle in der Straße seiner Opfer verursachte. Als Claire Moore ihm entkommt, stoppt das Morden plötzlich. Ist der Killer überführt? Die Justiz ist sich sicher, und Claire, die über Nacht unfreiwillig berühmt wurde, muss sich in ihrem neuen Leben einrichten: verstümmelt, schwerst traumatisiert, aber am Leben. Als sie gerade wieder beginnt, sich für eine neue Liebe zu öffnen, stirbt erneut eine Frau – nachdem der Strom in ihrem Haus gekappt wurde. Während die Presse noch über einen möglichen Trittbrettfahrer spekuliert, hat Claire keinen Zweifel: Der Blackout-Killer ist zurück, um sein Werk zu vollenden …
Zum Autor
Darren O’Sullivan, 1982 in der Nähe von London geboren, begann mit 17 Jahren, Schauspiel zu studieren. Seitdem ist er rund um die Bühne aktiv. Er ist der Autor mehrerer psychologischer Thriller, die zu Bestsellern wurden. »Killout« ist sein erster Roman, der auf Deutsch erscheint. Darren O’Sullivan lebt in Peterborough, wo er schreibt, Regie führt und sich für seinen Sohn gerne als Dinosaurier verkleidet.
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem TitelCloser Than You Think bei HQ, an imprint of HarperCollinsPublishers, Ltd, London.
© 2019 by Darren O’Sullivan Deutsche Erstausgabe © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with HQ, an imprint of HarperCollins Publishers, Ltd Covergestaltung von Zero Werbeagentur, München E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749950812www.harpercollins.de
FÜR MEINE FAMILIE
28. AUGUST 2018
BETHESDA, NORDWALES
Nummer acht
Irgendwo hatte er gelesen, dass die Menschen aufgrund ihres Umfelds und ihrer Erfahrung zu dem werden, was sie sind. Ihre Kindheitserinnerungen, ihr Umgang mit Freunden, tiefgreifende Momente – gute sowie schlechte – und ihre Erfahrungen bilden sozusagen die Ziegelsteine ihrer Existenz, und wenn diese Ziegel ausgehärtet sind, sind sie fest, wie die Mauern einer Burg. Manche Menschen sind freundlich, andere stürmisch, die einen sind Siegertypen, die anderen Opfer. Wieder andere sind gewalttätig. Niemand wusste das besser als er. Und auch wenn sich die Menschen nicht fundamental ändern, können sie sich doch entwickeln, auch das wusste er aus persönlicher Erfahrung. Sich verwandeln. Ein Schalter wird umgelegt, und plötzlich entsteht eine andere Form des Daseins, ohne dass sich der Mensch an sich wirklich geändert hätte. Wie in der Natur: Die Raupe tauscht ihre DNA nicht aus, wenn sie zum Schmetterling wird, sondern entfaltet einen Teil ihrer selbst, der zuvor in ihr geschlummert und geduldig auf den richtigen Augenblick gewartet hat. Er selbst hatte mehrere solcher Metamorphosen erlebt, die seine Gedanken und Taten in eine andere Richtung lenkten. Aber sie veränderten nicht, wer er war: jemand, der tötet.
Und schon bald würde er wieder töten. Ungefähr in einer Stunde. Am liebsten hätte er seine Aufgabe sofort erfüllt, aber er musste warten, geduldig sein und beobachten. Er stand im Schatten eines ausladenden Baumes und schaute durch das Schlafzimmerfenster der Achten, er wartete darauf, sie eintreten zu sehen, stellte sich vor, wie er bei ihr in diesem Zimmer wäre, kurz bevor er ihr Leben beendete. Sie würde in Panik geraten und weinen und schreien, bevor er sie betäubte und tötete, denn das taten sie immer.
Ursprünglich hatte er vorgehabt, erst nach Einbruch der Dunkelheit vor ihrem Haus zu sein. Doch es war schon so lange her, seit er das Einzige getan hatte, was ihm das Gefühl gab, lebendig zu sein, als würde er fliegen. Deshalb war er früher gekommen – um in aller Ruhe dieses fast vergessene Glück der Vorfreude auszukosten. Außerdem hatte er so ein wenig Zeit, über die eine Person nachzudenken, bei der es ihm misslungen war, sie zu töten, sie auf diese Weise zu töten. Claire Moore. Sie beschäftigte ihn mehr, als sie sollte. Die eine, die davongekommen war, sozusagen.
Bevor er nach Bethesda gekommen war, hatte er begonnen, Claire einen Brief zu schreiben, ihr die Gründe für sein Verschwinden zu erklären. Er offenbarte ihr darin, dass er sich hatte umorganisieren, alles umwerfen müssen. Dass er nach ihr nie wieder auf dieselbe Weise hatte töten wollen. Doch dann hatte er entdeckt, dass sie ihr Leben einfach weiterlebte, dass sie jene Nacht, ihrer beider Nacht im Mai 2008 hinter sich gelassen hatte. Und daraus schloss er, dass sie dabei war, ihn zu vergessen.
Er wollte nicht, dass seine einzige Überlebende ihn vergaß, denn wenn sie es tat, vergaßen ihn auch alle anderen. Eines Tages würde sie seinen Brief lesen. Vielleicht schrieb er vorher noch mehr Briefe. Wenn ja, ließ er sie alle lesen, kurz bevor er ihr Leben beendete.
Er hätte in den letzten Monaten schon mehrmals die Gelegenheit gehabt, Claire Moore zu töten, hatte sich aber dagegen entschieden. Er wollte warten, den Moment genießen. Er wollte, dass sie ihn ebenso gut kannte wie er sie und dass sie seine Gründe verstand.
Er wollte die Verbindung, die einst zwischen ihnen bestanden hatte, auf der Zungenspitze kosten, während das Licht in ihren Augen erlosch. Claire Moore würde sterben, wie sie es vor all diesen Jahren schon sollte; aber noch war es nicht so weit. Erst wenn er sich erneut tief in ihrer Seele eingenistet hatte. Wenn jede Stimme klang wie seine, jeder Schatten so aussah wie der, den seine Gestalt im Gegenlicht warf. Das war der Grund, weshalb er in Bethesda war und weshalb er die Frau, durch deren Fenster er jetzt schaute, töten würde.
Das Wissen, was in der nächsten Stunde geschehen und in den kommenden Wochen folgen würde – die Spekulationen, die Angst –, durchzuckte ihn so heftig, dass seine Haut juckte. Er musste fokussiert bleiben, seine Erregung zügeln, bis die Nacht hereingebrochen war. Er konzentrierte sich auf seine Atmung, regulierte seinen Pulsschlag, verdrängte alle Gedanken daran, was er mit der Frau im Haus gegenüber anstellen würde.
Dann ging sie, die Achte, in ihr Schlafzimmer. Er beobachtete, wie sie ihre Arbeitskleidung auszog, ihr leichter Rock fiel auf ihre Knöchel hinunter, und dann stand sie nur noch in Unterwäsche da. Er genoss den Anblick ihrer schlanken Gestalt und das Prickeln, das ihn wie ein wohliger Schauer von der Stelle hinter seinen Augen bis hinunter zu seinem Schritt durchrieselte.
Wie hatte ihm dieser Kitzel gefehlt! Seit 2008 hatte er oft getötet, doch nie war dabei das Feuer in ihm aufgelodert, das er von damals kannte. Immer wenn das Jucken in den letzten zehn Jahren unerträglich geworden war, hatte er sich diskret gekratzt, indem er sich diejenigen nahm, die niemanden hatten. Die Alten und Einsamen, die Obdachlosen, die Migranten. Doch das Töten dieser Frau, der Achten, sollte zu einem Spektakel werden – wie damals in diesen wunderbaren Tagen in Irland. Es sollte ihn dorthin zurückbringen, wohin er gehörte – in die Köpfe der Menschen, in Claires Kopf; eine zerstörerische Kraft, die wie Krebs jeden betraf.
Er vermisste es, gefürchtet zu werden. In jenen Tagen, in denen ein einfacher Stromausfall großflächig Entsetzen ausgelöst hatte, hatte er gern mal einen Straßenzug lahmgelegt, nur um zu beobachten, wie die Menschen in Panik gerieten, weil sie glaubten, er würde wieder zuschlagen. Besonders ein Erlebnis hatte ihm gefallen – es war ungefähr drei Monate nach der Nacht mit Claire Moore geschehen –, als ein Unwetter vom Atlantik her die Stromversorgung in Shannon gekappt hatte. Die ganze Stadt war in Angst und Schrecken versunken, weil alle geglaubt hatten, er sei zurückgekehrt. Die Polizei patrouillierte auf den Straßen, die Menschen verrammelten ihre Fenster und Türen. Hubschrauber kreisten, in Erwartung eines brennenden Hauses als Nachspiel – seine andere Visitenkarte. Aber es gab keinen Brand, keinen Toten, denn er war in Griechenland, auf Rhodos, und genoss völlig unbeschwert den Sonnenschein. Er wollte auf dieser Reise lernen, der Mann zu sein, der aus ihm werden würde, der Mann, zu dem er sich entwickelt hatte. Doch die Nachrichten über das Grauen, das Irland fest im Griff hatte, beflügelten seinen Wunsch zu töten erneut. Dort, an der sonnengebleichten Ägäisküste, begriff er, was ihn antrieb, verspürte er seine eigentliche, ursprüngliche Berufung, und seine Metamorphose entwickelte sich in eine andere Richtung als gedacht. Er musste töten, nicht weil es sein Vorsatz war, sondern wegen des Kicks. Nach kurzer Suche fand er sein Opfer, einen Mann, der eine Odyssee über das Mittelmeer überstanden hatte, um in Europa sein Glück zu finden. Er setzte dem Leben dieses Mannes ein Ende und schwelgte in dem Gefühl von Macht, das er dabei empfand.
Doch das währte nicht lange, denn niemand scherte sich um den Tod dieses Mannes. Und als er nach Irland zurückkehrte, spürte er, dass man dort begann, ihn zu vergessen. In dem Versuch, seine Macht zu erhalten, spielte er mit den Erinnerungen der Menschen, schaltete hin und wieder den Strom ab, nur um zu sehen, wie sich Panik ausbreitete. Dann ging er durch die Stadt und beobachtete, wie sich ganze Familien in einem einzigen, von Kerzen erleuchteten Zimmer zusammendrängten. Doch die Zeit heilt alle Wunden, und ihr blankes Entsetzen schrumpfte zu einer stillen Wachsamkeit. Am Ende war ein Stromausfall wieder weiter nichts als ein Ärgernis. Und irgendwann dachte man nur noch in den Gebieten, die er heimgesucht hatte, an den Horror der Monate zwischen April 2006 und Mai 2008.
Die Achte hatte die Badezimmertür nicht geschlossen, und er konnte sehen, wie sie ihren BH öffnete und auf den Boden fallen ließ. Er erhaschte einen Blick auf ihre Brüste, und das Prickeln wurde intensiver. Aber er wollte sie nicht vögeln; schon die Vorstellung widerte ihn an. Der Ursprung seiner Lust lag woanders …
In Gedanken spielte er die nächsten Stunden noch einmal durch, während er wartete, dass die Sonne unterging. Dann würde er im Schutz der Dunkelheit zu der weniger als zweihundert Meter entfernten Verteilerstation gehen, von der ihr Haus – und ein paar Hundert andere – seinen Strom bezog. Die fünf Meter hohe Mauer rund um den Verteiler war in den Neunzigern gebaut worden, zusammen mit den Häusern, die er versorgte, und am Tor mit einem Vorhängeschloss gesichert. Der Bolzenschneider, der schwer in seinem Rucksack lag, würde damit kurzen Prozess machen. Dann brauchte er nur noch die Schaltanlage zu isolieren und einen neu verdrahteten tragbaren Generator einzusetzen, der absichtlich überhitzte und durchbrannte. Durch diese einfache und gut eingeübte Tätigkeit würden in der ganzen Straße und darüber hinaus die Lichter ausgehen.
Er malte sich aus, wie er den Weg von der Verteilerstation bis zu ihrer Hintertür zurücklegte und dann in das Haus einbrach, während sie im oberen Stock herumstolperte und ihr Handy suchte, um es als Taschenlampe zu benutzen. Wahrscheinlich trug sie ihre Nachtwäsche. Er dachte daran, was er mit ihr machen würde. An den Spaß, den er haben würde. Den Genuss, den ihm ihre Angst bereiten würde.
Sobald er befriedigt war, würde er sie in die Badewanne legen, mit Benzin übergießen und anzünden. Wenn die Fenster vor Hitze barsten und Rauch in den Himmel hinaufquoll, wäre er längst verschwunden. Er würde nach Hause gehen und sich etwas kochen, ein Pastagericht vermutlich, um die Kohlenhydrate, die er bei seiner abendlichen Arbeit verbrannt hatte, wieder aufzufüllen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er durch seine Arbeit Appetit bekam. Satt und zufrieden würde er dann die Nachrichten einschalten und darauf warten, wie seine Tat dort dargestellt wurde, was die Ermittler vermuteten. Und er wusste, dass er damit davonkam, denn er war früher auch davongekommen.
Seine Morde in Irland hatte man einem brutalen Kerl namens Tommy Kay in die Schuhe geschoben. Kay war ein Drogendealer, der den Ruf hatte, unbarmherzig zu sein, wenn ein Gefallen nicht erwidert oder Schulden nicht gezahlt wurden. Er war im Gefängnis gelandet, weil er mit seinem Range Rover einen Mann, der ihm hundert Pfund geschuldet hatte, überfahren und beinahe umgebracht hatte. Kays Verhaftung und die Nacht mit Claire Moore lagen ein paar Monate auseinander, und auch wenn Kay der Morde in Irland nie angeklagt worden war, glaubten die meisten, dass er der Serienmörder war, der das Land heimgesucht hatte – und er hatte es nie dementiert. Vielleicht genoss er es, dadurch berühmt zu sein.
Doch Kays Motivation, stillschweigend seine Morde für sich zu vereinnahmen, ging ihn nichts an, denn eines Tages würden sie alle wissen, wie falsch sie gelegen hatten. Bis dahin würde er ausnutzen, was die Medien zweifellos mutmaßen würden: Da Kay inzwischen tot war, musste das heute Nacht wohl ein Trittbrettfahrer gewesen sein.
Zehn Minuten später kam die Achte aus dem Bad, ein Handtuch um den Körper, eines um die Haare geschlungen. Sie schaltete den Fernseher ein und trat ans Fenster. Sie konnte ihn nicht sehen. Die untergehende Sonne direkt hinter ihm stand schon tief, und die Bäume waren hoch. Sie würde außer der dunstig orangen Horizontlinie nichts erkennen können. Dennoch wich er weiter in den Schatten des Baumes zurück. Sie hielt inne, ihr Blick schweifte über seinen Kopf hinweg, dann streckte sie den Arm aus und zog die Vorhänge zu. Der letzte Streifen Sonne malte Farben in den Abendhimmel. Eine perfekte Tarnung für ihn. Das hässliche Ding, das aus ihm geworden war, in etwas, das in gleichem Maße schön war, zu verstecken.
Gleich war es so weit. In dreißig Minuten war es dunkel genug, um sich an die Arbeit zu machen. Er lächelte, weil er ahnte, was in den Zeitungen von morgen zu lesen wäre.
6. MAI 2018
ST IVES, CAMBRIDGESHIRE
Ich lag auf der Seite, hatte einen Arm unter mein Kopfkissen geschoben und spielte mit meiner silbernen Halskette herum. Prüfte die Schlüssel, die daran hingen. Es waren vier – Haustür-, Hintertür- und zwei kleinere Fensterschlüssel, einer für oben, einer für unten. Ich beobachtete, wie die Zeiger des Weckers von einer Minute auf die nächste sprangen. Das tat ich schon seit einer Stunde, darauf wartend, dass 05.05 Uhr angezeigt wurde. Dann würde der Wecker klingeln, und ich konnte endlich aufstehen. Wach war ich schon seit drei Minuten vor vier, weil mich ein Traum von einem Feuer aufgeweckt hatte, doch ich zwang mich dazu, liegen zu bleiben. Ich wollte keine Frau sein, die Schlafstörungen hatte. Was natürlich Unsinn war. Ich hatte Schlafstörungen, um diese Zeit des Jahres hatte ich immer welche.
Ich verfolgte die Zeiger auf ihrem Weg und versuchte verbissen, liegen zu bleiben. Mich selbst zu besiegen. Ich gab mich der Illusion hin, dass ich normal sein konnte, wenn ich nur hart genug daran arbeitete. Und das war wichtig – so normal zu sein, wie ich nur konnte. Es gab kaum etwas, das mir am Mai gefiel, doch diesen täglichen Sieg über mich selbst, den mochte ich. Anderen würde er unbedeutend erscheinen, vielleicht sogar sinnlos, aber mir blieb nichts anderes übrig, als mich über die kleinen Dinge zu freuen, mich an ihnen festzuhalten. Wie etwa die Morgensonne und das Geräusch, das der Wind in den Bäumen erzeugte; das Summen der Bienen, die in meinem Garten Nektar sammelten, an einer der vielen Blumen, die ich dort angepflanzt hatte. Wenn ich mich auf diese Kleinigkeiten konzentrierte, würde ich es durch den Monat, den ich so fürchtete, schaffen. Dann käme der Juni und ich würde ein weiteres Jahr überleben.
Ich drehte mich zum Fenster herum und schaute durch den kleinen Spalt zwischen den Vorhängen zum Himmel hinauf. Nicht eine Wolke in Sicht. Ein strahlend blauer Morgen war ein weiterer Sieg. Lächelnd streckte ich mich, zuerst die Arme, dann die Beine, und seufzte wohlig, als meine Muskeln sich spannten und Blut in meine Gliedmaßen strömte. Ich knipste die Nachttischlampe aus und griff nach meinem Handy, um das Datum zu checken. Keine Ahnung, warum ich das tat, schließlich kannte ich es genau. Schon seit Wochen zählte ich die Tage herunter bis zu jenem Datum, das den ganzen Monat für mich ruiniert hatte, das der Quell war all meiner schlaflosen Nächte. Dreizehn Tage war es noch entfernt. Dreizehn lange Tage, bis ich zumindest wieder hoffen durfte, mal eine Nacht durchzuschlafen. Beklommen spürte ich, wie sich direkt unter meinem Bauchnabel ein Ziehen ausbreitete und langsam durch meinen Magen und meine Brust nach oben stieg. Ich setzte mich auf, konzentrierte mich auf meine Atmung und versuchte so, die aufsteigende Panik zurückzudrängen. Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte ich mich beruhigt.
Es war jetzt fast auf den Tag zehn Jahre her, dass es passiert war. Meine Mutter hatte mich irgendwie davon überzeugt, dass es gut für mich sei, nach Irland zurückzukehren, nach Hause. Ich flog nicht gern, und mir gefiel die Idee auch nicht, an den Ort zurückzukommen, an dem alles passiert war. Doch Mum meinte, es würde mich reinigen; mir helfen, die Schuldgefühle loszuwerden, die ich empfand, wenn ich es genoss, Zeit mit meinem neuen Freund Paul zu verbringen. Natürlich hatte sie recht, aber mir ging es trotzdem nicht besser.
Der Zeiger sprang auf 05.05 Uhr, das Summen ließ mich zusammenschrecken. Behutsam schaltete ich den Wecker aus, griff wieder nach meinem Handy und checkte meine Mails. Es waren nicht viele, nur ein bisschen Spam und eine von Groupon, in der mir Angebote für Wellness-Wochenenden unterbreitet wurden, die ich auf keinen Fall verpassen sollte. So ein Wochenende hätte ich gut gebrauchen können, aber es in die Tat umzusetzen, das hätte ich nicht geschafft.
Außerdem war da noch eine Facebook-Nachricht. Seufzend öffnete ich die App und sah, wer sie verschickt hatte. Killian. Geschrieben um 03.19 Uhr. Ich hätte die Nachricht nicht lesen sollen, aber ich tat es trotzdem.
Hi, Claire, wie geht es dir? Ist alles okay? Wir verpassen uns dauernd. Ich denke an dich, es ist ja Mai und so … Ich hoffe, es geht dir gut. Ich bin da, um zu reden, falls du einen Freund brauchst.
Ich wollte schon antworten, ließ es aber bleiben. Stattdessen klickte ich auf sein Profil. Immer noch dasselbe Foto; in all den Jahren, seit ich ihn kannte, hatte er es nicht ausgewechselt. Dasselbe schiefe Lächeln, dieselbe Daumen-hoch-Geste. Dieselbe Bergkette im Hintergrund. Ich scrollte weiter runter, um mir die Gruppenseite anzuschauen, deren Administrator er war: die Claire Moore Support Page. Ein Klick auf die fett gedruckten Buchstaben, und ein Bild von mir erschien. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, zu lesen, was dort über meine Vergangenheit stand, so freundlich und mitfühlend es auch formuliert war. Ich wollte nur sehen, ob es dort etwas Neues gab. Aber der letzte Eintrag war von Januar.
Claire, im Namen aller hier aufCMSPein frohes neues Jahr. Möge2018ein gutes Jahr werden.
Ich hatte auf die Nachricht nicht geantwortet, aber kurz danach war ein Scheck von der Unterstützergruppe mit der Post gekommen; ein Zettel klebte drauf, ich solle irgendwohin fahren, wo es schön ist.
Das Geld hatte ich nicht ausgegeben, das tat ich nie.
Ich warf das Handy aufs Bett und drehte mich auf den Rücken. Die Gruppe war mir immer eine Stütze gewesen, aber neuerdings ging mir Killian auf die Nerven, ohne dass ich genau hätte sagen können, warum. Ich schaute zum Fenster. Irgendwie musste ich verhindern, dass sich meine Gedanken mal wieder sinnlos im Kreis drehten und endgültig den Tag ruinierten, noch bevor er überhaupt angefangen hatte. Das träge Licht der Morgendämmerung fiel durch die dünnen Vorhänge herein und zeichnete honiggelbe Streifen an die Decke. Ich konzentrierte mich auf die Farben und verlor mich für einen Augenblick im Zauber des weichen Lichts. Owen hätte es gefallen, mich so zu sehen. Er hatte mir immer geraten: Genieße den Moment, solange es geht, denn alles kann schnell vorbei sein. Ich hörte es ihn förmlich sagen, mit seiner hellen, melodischen Stimme. Wenn er nur wüsste, wie recht er damit gehabt hatte. Vielleicht würde es eines Tages nicht mehr so wehtun.
Ich schwang die Beine aus dem Bett und ging über den kühlen Holzfußboden so leise ins Bad, dass ich Mum und Geoff nicht störte, die im Zimmer nebenan schliefen. Eigentlich hatte ich gar nicht vorgehabt, bei Mum zu übernachten, ich war gestern nur auf einen Tee vorbeigekommen und um online unseren Flug nach Irland zu buchen. Mum hatte darauf bestanden, die Tickets zu bezahlen. Am Ende war ich doch zum Abendessen geblieben, und dann war es zu spät gewesen. Allein nach Hause zu gehen traute ich mich nicht. Mum wusste das und hatte mir von sich aus das Gästezimmer angeboten, damit ich nicht darum zu bitten brauchte.
Ich schloss die Badezimmertür hinter mir, schaltete das Licht ein und schloss für einen Moment die Augen. Dann dehnte und streckte ich mich, spürte, wie sich das Blut durch meinen Körper bewegte, und horchte in mich hinein, wo es überall wehtat. Ich hatte fast jeden Morgen Schmerzen. Manchmal waren sie entsetzlich, manchmal auszuhalten. Heute Morgen war es okay. Der einzige Teil von mir, der unangenehm auffiel, war mein rechter Fuß – er schien im Mai immer mehr zu schmerzen als zu anderen Zeiten des Jahres, was nahelegte, dass der Schmerz eher psychischer als physischer Natur war. Ich schluckte eine Tablette, nur für alle Fälle, und betrachtete mich im Spiegel. Meine Augen wirkten dunkel, meine Lider schwer. Das Alter hinterließ seine Spuren. Nicht dass das Alter überhaupt eine Rolle spielen würde, ohnehin war alles geborgte Zeit, die man zurückgeben musste. War älter zu werden und zu beobachten, wie das eigene Gesicht Falten bekam, nicht auch irgendwie ein Geschenk, das so manchem nicht vergönnt war?
Ich hörte Schritte im Flur, dann die schläfrige Stimme meiner Mum: »Ich bin hier draußen.«
»Danke, Mum.«
Sie hatte mitbekommen, dass ich im Bad war, und hielt Wache vor der Tür. Das bedeutete, dass ich duschen konnte. Auch nach all dieser Zeit konnte ich das nur, wenn ich wusste, dass ich in Sicherheit war. Ich legte meine Halskette ab und hängte sie an die Türklinke; dann betrat ich die Duschkabine und drehte den Hahn auf. Das kalte Wasser ließ mich zusammenzucken, doch es wurde schnell wärmer und schließlich so heiß, dass meine Haut rosa wurde, während ich mir die Schrecken der Nacht abschrubbte. Eine weitere Nacht überlebt. Eine weitere Nacht des Countdowns überstanden.
Während mir das heiße Wasser über den Körper lief, dachte ich nach. Was habe ich vor exakt zehn Jahren gemacht? Wie war der Tag damals, als mein Leben noch so ganz anders gewesen war? Inzwischen stellte ich mir diese Frage fast jeden Morgen. Owen und ich hatten an jenem Tag um diese Zeit wahrscheinlich noch im Bett gelegen, ich in seine starken Arme gekuschelt, die Schlafzimmerfenster weit geöffnet, die kühle Brise war durch unsere Gardinen gestrichen und hatte sie wie Geister schweben lassen. Dann sind wir aufgestanden, haben geduscht – vielleicht gemeinsam – und gefrühstückt, bevor wir uns trennten, um jeder zur Arbeit zu gehen. Er gab mir an der Tür einen Abschiedskuss, stieg in seinen Wagen und fuhr die kleine Straße entlang in Richtung Cork. Vielleicht kam er am selben Tag zurück, vielleicht arbeitete er aber auch für ein paar Tage außerhalb, in einem anderen Teil des Landes. Sobald sein Wagen außer Sicht war, stieg ich in meinen und fuhr zu der Vorschule, in der ich arbeitete. Die nächsten sechs Stunden verbrachte ich mit Spielen, Vorlesen und Kochen, half beim Toilettengang und verteilte goldene Sterne an die Kleinen, die das schon ganz allein schafften. Dann bin ich vielleicht nach Hause gekommen, habe für uns beide gekocht, und irgendwann gingen wir bei weit geöffnetem Fenster zu Bett – ohne eine Ahnung von Schmerz und Kummer. Oder dem Bösen.
Die Erinnerungen machten mich traurig; das war nicht mehr mein Leben, und nichts brachte es zurück. Ich konzentrierte mich auf den Schwall heißen Wassers, der mir über die Stirn und in die Augen floss und meine Wimpern zusammenklebte. Es brannte ein wenig, aber das tat gut. Es hielt die dunklen Erinnerungen auf, die sich in mein Bewusstsein drängten. Ich lehnte meinen Kopf an die Fliesen und ließ das Wasser auf mich niederprasseln, bis meine Grübeleien über mein verlorenes Leben in den Abfluss gespült waren.
Eingewickelt in den Bademantel, den ich vor ein paar Monaten zu Mum gebracht und hiergelassen hatte, legte ich meine Halskette wieder an, getröstet vom Gewicht der vier Schlüssel, und ging durch den schmalen Flur von Mums Bungalow in die Küche. Als ich an ihrer Schlafzimmertür vorbeikam, hörte ich Geoff schnarchen. Kaum hatte ich den Wasserkocher eingeschaltet, begrüßte mich Balu, der Kater. Er hatte als kleines Kätzchen riesige Pfoten gehabt, und auch die Farbe seines Fells ließ an den Bären aus dem Dschungelbuch denken, daher der Name. Balu miaute und starrte mich an, ohne zu blinzeln.
»Bist du hungrig, kleiner Mann?«
Er strich um mein Schienbein, als wollte er Ja sagen, und natürlich reagierte ich sofort, krempelte meine Ärmel hoch und nahm einen Beutel von seinem Futter aus dem Schrank neben dem Abfalleimer. Sobald ich den Beutel in sein Schüsselchen geleert hatte, war ich Luft für ihn. Das blöde Vieh mochte niemanden.
Ich brühte mir eine Tasse grünen Tee auf, gab eine Zitronenscheibe dazu und ging zur Hintertür. Ein paarmal atmete ich mit Bedacht durch, bevor ich die Klinke herunterdrückte. Das Herz schlug mir bis zum Hals, die Tür knarrte und ließ dann den Frühlingsmorgen hereinfluten. Die Luft duftete rein und frisch, und meine nackten Unterarme überzog eine Gänsehaut.
Der frühe Morgen war meine liebste Tageszeit. Die Welt schlief noch und fühlte sich irgendwie anders an. Die Luft roch sauberer, reicher, fast konnte man meinen, die Bäume seufzten vor Erleichterung, weil sie noch von Autos, Lärm und der Hektik der sich für ach so wichtig haltenden Menschen verschont waren. Die Morgendämmerung brachte ein Gefühl des Friedens und der Magie mit sich, das zu keiner anderen Tageszeit zu spüren war, und in diesen paar Minuten fühlte ich mich, als hätte ich das alles für mich. Ich nahm ihn in mich auf, den Frieden.
Barfuß trat ich in den Garten hinaus. Der Tau war noch nicht verdunstet, und während ich auf die Bank in der Mitte des Rasens zuging, spürte ich, wie die Kälte in meine Füße kroch und sie beruhigte. Übrig gebliebene Grashalme vom gestrigen Mähen blieben an meinen Sohlen kleben. Ich konnte nicht hinsehen; das frisch geschnittene Gras beschwor eine mächtige Erinnerung an etwas hervor, das ich vergessen wollte.
Ich blickte zurück zum Bungalow, um zu sehen, ob meine Mutter in die Küche gekommen war, um auf mich aufzupassen, konnte sie aber nicht entdecken. Aber ich konnte meine Fußabdrücke im Tau sehen, perfekte Umrisse, die in der aufgehenden Sonne schimmerten. Ich betrachtete für einen Moment den Abdruck meines rechten Fußes und setzte mich dann auf die Bank unter dem Ahorn. Für ein paar Minuten wollte ich vergessen, wo ich war, und ließ zu, dass sich meine Gedanken und Ängste auflösten wie Zucker in heißem Wasser. Auch wenn die Sonnenstrahlen noch schwach waren, konnte ich sie doch in meinem Gesicht spüren. Ich öffnete meinen Morgenmantel ein Stück, ließ sie auf meinen Hals und meine Schlüsselbeine scheinen und konzentrierte mich auf das, was mir meine Ärztin vor langer Zeit beigebracht hatte: Die Sonne auf der Haut genießen. Ganz still saß ich da und atmete den Duft des Morgentaus ein.
Nach etwa fünf Minuten war dieser Moment der Entspannung vorbei, und ohne jede Vorwarnung drifteten meine Gedanken zu dem Flug nach Hause, den ich in zehn Tagen mit meiner Mum antreten würde. Meine letzte weitere Reise lag lange zurück, und ich war mir nicht sicher, ob ich das durchstehen würde. Die kleine, eiskalte Hand, die seit einem Jahrzehnt in mir steckte, zupfte an meinem Zwerchfell wie an einer Gitarrensaite, und für einen Augenblick verschlug es mir den Atem. Ich wollte diese Reise nicht machen, aber es war notwendig. Es war das Richtige. Ich war es ihm schuldig, zumindest das. Eigentlich schuldete ich ihm viel mehr, als ich je zurückgeben konnte. Seufzend trank ich meinen inzwischen kalten Tee und wartete darauf, dass der Lärm des Tages begann. Ein paar Häuser weiter bellte ein Hund, dann öffnete sich eine Tür und schloss sich wieder.
Die Welt erwachte und gehörte nun nicht mehr mir allein. Ich ging zurück zum Bungalow, versuchte, meine Fußabdrücke zu ignorieren, doch es gelang mir nicht.
6. MAI 2018
ST IVES, CAMBRIDGESHIRE
Seit einer halben Stunde saß ich still in der Küche und dachte an meine Ärztin, bei der ich schon sehr lange nicht mehr gewesen war. Eigentlich fand ich Dr. Porter großartig. Sie hörte mir zu, verstand genau, wie ich mich fühlte. Aber bei den letzten Besuchen hatten wir uns im Kreis gedreht und nichts Neues mehr besprochen, weshalb ich inzwischen nicht mehr zu ihr ging. Dr. Porter kannte viele meiner Geheimnisse. Die meisten. Nicht alle. Einiges konnte ich nicht erzählen, anderes wollte ich nicht erzählen. Niemals. Meine Gedanken wurden durch Mum und Geoff unterbrochen, die in ihrem Schlafzimmer rumorten. Ob sie bald zu mir in die Küche kamen? Schließlich ging Geoff durch den Flur ins Badezimmer und rief mir unterwegs »Guten Morgen« zu.
»Guten Morgen, ich brühe euch beiden einen Tee auf«, rief ich zurück.
»Danke, Liebes«, erwiderte er durch die geschlossene Tür. Das Wasser kochte gerade, da vibrierte mein Handy in der Tasche meines Morgenmantels. Unwillkürlich musste ich lächeln, als ich sah, von wem die Nachricht war.
Ich werde vor Ort wohl nicht mehr gebraucht. Ich komme nachher zurück. Soll ich etwas zu essen mitbringen? Fühl dich nicht unter Druck, Ja zu sagen.
Eigentlich wollte Paul erst am Wochenende zurückkommen und seine Töchter treffen, die in Cambridge lebten. Da ich in zehn Tagen nach Irland fuhr, hätte ich ihn also erst wieder in ein paar Wochen gesehen. Wahrscheinlich funktionierte deshalb unsere … wie immer man es nennen wollte … so gut: Wir ließen es langsam angehen. Paul war etliche Jahre älter als ich, geschieden und hatte nicht vor, weitere Kinder in die Welt zu setzen, was die Sache für mich weniger kompliziert machte. Anfangs fand ich es seltsam, dass seine Kinder schon erwachsen waren, aber inzwischen war ich überzeugt, dass das kein Problem darstellte, sollte mehr aus uns werden. Bei all dem anderen, womit ich täglich zurechtkommen musste, konnte das eigentlich keine allzu große Bedeutung haben.
Kennengelernt hatten wir uns vor ein paar Monaten auf einer Dating-Plattform; ich war mir nicht sicher gewesen, ob das für mich der richtige Weg war, jemanden zu treffen, aber Mum, die am fortschrittlichsten denkende Zweiundsechzigjährige, die man sich vorstellen kann, hatte darauf bestanden. Es sei gut für mich, neue Leute kennenzulernen und mal rauszukommen. Irgendwann hatte sie mich weichgeklopft, und ich hatte zugestimmt. Sie erstellte mein Profil und trug mich als Claire O’Healy ein, ihr neuer Nachname seit ihrer Heirat mit Geoff. Mein eigener Nachname hätte nur die falsche Art von Aufmerksamkeit erregt. Ich wusste nicht so recht, ob das, was Mum in die Rubrik »Über mich« schrieb, so zutraf, doch sie meinte nur lapidar: »Das stimmt so, du erkennst es nur nicht.« Sie schnitt ein Foto von mir und sich zurecht, das letztes Jahr in meinem Garten aufgenommen worden war, dann klickte sie auf »fertigstellen« und ließ mich in der digitalen Welt real werden. Kommentare zu meinem Profil las ich nicht, wahrscheinlich waren das ohnehin nur fiese Bemerkungen. Ich redete mir ein, dass ich allein sowieso glücklicher sei, so sehr fürchtete ich mich davor, jemanden kennenzulernen. Es hatte so lange gedauert, bis ich meine eigene Gesellschaft ertragen konnte, und ich war mir nicht klar, ob ich schon bereit war, noch jemanden in mein Leben zu lassen. Aber natürlich war ich einsam.
Mum versprach mir, dass sie die potenziellen »Freunde«, mit denen ich mich dann unterhalten sollte, gründlich und diskret durchleuchten würde. Die meisten wollten bloß Sex, erzählte sie mir später, einige schienen verzweifelt, und nur einer wirkte nett. Und so kam es, dass wir vor ein paar Monaten an einem verregneten Abend an meinem Küchentisch saßen, zwischen uns eine Kanne frisch gebrühten Tee, und sie mir alles über ihn erzählte. Über diesen Mann namens Paul.
Als sie sein Alter erwähnte, stutzte ich einen Moment und pustete nachdenklich auf meinen Tee. Er war achtundvierzig, also vierzehn Jahre älter als ich – und nur vierzehn Jahre jünger als Mum. Doch nachdem sie mir sein Profil vorgelesen hatte, begriff ich, wie er es in die engere Wahl geschafft hatte. Er schien aufrichtig und liebenswürdig zu sein. Er liebte seine Kinder, arbeitete viel, war geschieden, schien aber keinen Rucksack voller Probleme mit sich herumzuschleppen. Das zog mich am meisten an: Paul schien unkompliziert zu sein. Im Gegensatz zu mir. Ich wurde neugierig und bat Mum darum, mir seine Nachricht zu zeigen.
Hallo, ich bin Paul. Ich bin neu hier, deshalb kenne ich die Etikette nicht. Du siehst nett aus, und ich bin gern mit netten Leuten zusammen.
Sein Foto auf der Dating-Website zeigte einen groß gewachsenen, sportlich wirkenden Mann, der an irgendeinem Fluss oder See stand. Seine Haare waren grau, aber auf eine sexy George-Clooney-Art. Er sah großartig aus. Mum witzelte, sie würde sich mit ihm treffen, wenn ich nicht wollte, Geoff habe bestimmt nichts dagegen. Wir mussten beide kichern. Mum und Geoff hatten ihre Probleme, so wie alle Paare. Aber sie liebten einander sehr.
Ich schaute mir das Foto noch mal an. War das wirklich eine gute Idee? Neue Leute kennenzulernen war für mich immer noch nahezu unmöglich. Kaum stellte man mir jemanden vor, wurde ich panisch und höchst misstrauisch: Wer war dieser Mensch und vor allem, was trieb ihn an? Mit Dating-Plattformen kannte ich mich auch überhaupt nicht aus. Konnte man jemanden kennenlernen, ohne ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben und in seinen Augen zu lesen?
»Ich meine ja nicht, dass du gleich mit ihm gehen sollst«, unterbrach Mum meine Gedanken.
»Mit ihm gehen? Sagt man das überhaupt noch?« Ich musste grinsen.
»Claire, hör auf abzulenken. Es würde dir guttun.«
Mein Lächeln erlosch. Sie hatte ja recht, ich versuchte, vom Thema abzulenken. »Mum, es ist lange her.«
»Ich weiß, und deshalb machen wir das jetzt. Du solltest nicht allein sein.«
»Bin ich nicht, ich hab doch Penny.«
»Eine Freundin, die eine Familie hat.«
»Ich habe dich und Geoff.«
»Und wir haben einander, Claire – du weißt, wie ich das meine.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich, na ja … jemanden um mich haben kann.«
»Du kannst das.«
»Na schön, ich bin mir nicht sicher, ob ich das will.«
»Du hast Angst, Claire, das verstehe ich. Aber nach allem, was du durchgemacht hast, hast du es verdient, jemand Nettes in deinem Leben zu haben.«
»Aber was ist mit …«
Ich verstummte, als Mum ihre Hand auf meinen Arm legte, auf meine Narbe. Sie war verblasst und hob sich nicht mehr ab, aber sie war noch da – eine bleibende Erinnerung an die Vergangenheit. Verlegen zog ich den Arm weg, und weil sie wusste, warum, entschuldigte sie sich.
»Claire, wir wissen beide, dass es für Owen okay wäre, es ist lange genug her.«
»Ich habe keine Ahnung, wie ich das machen soll!«
»Wie du was machen sollst? Du brauchst nur Hallo zu sagen. Und dann unterhalte dich mit ihm. Lern ihn kennen. Das Beste an so einer Dating-App ist, dass du sie schließen und dein Handy ausschalten kannst, wenn es dir zu viel wird. Oder du ihn nicht magst. Gott, ich wünschte, das hätte es schon gegeben, als ich nach deinem Dad wieder auf dem Markt war.«
»Mum!«
Es brauchte noch eine Woche, bis ich den Mut aufbrachte, Hallo zu sagen. Unser Chat entwickelte sich langsam, weder er noch ich antworteten sofort. Was mich ehrlich gesagt überraschte. Ich hatte halb damit gerechnet, dass er sich auf mich stürzen und mit Nachrichten überhäufen würde. Doch er war genauso zögerlich wie ich. Wir plauderten über das Wetter und was so in den Lokalnachrichten stand. Leichte, unverfängliche Themen. Wir tasteten uns langsam aneinander heran. Irgendwann sprachen wir über unseren Musikgeschmack, unsere Hobbys und unsere Jobs – jedenfalls über seinen. Ich wusste nicht so recht, ob ich es seltsam finden oder für einen Wink des Schicksals halten sollte, dass Paul in einer ähnlichen Branche arbeitete wie Owen. Doch während Owen auf Baustellen gearbeitet, Kabel und Schalter in Häusern verlegt hatte, leitete Paul Bauprojekte auf einer höheren Ebene. Ich dachte kurz darüber nach, ob sie sich wohl jemals begegnet sein mochten, aber wahrscheinlich war das Unsinn. Als Paul fragte, was ich so machte, log ich und erzählte ihm, dass ich gerade eine Auszeit von meinem Job als Erzieherin nahm. Na ja, so ganz gelogen war es nicht. Ich nahm mir tatsächlich eine Auszeit: Nur dass sie schon beinahe zehn Jahre andauerte.
Er redete oft von seinen Kindern, und ich sprach oft davon, dass ich keine hatte. Über unsere Vergangenheit sprachen wir nicht, und ich war froh, dass er nicht danach fragte. Wir tauschten E-Mail-Adressen aus, irgendwann auch Telefonnummern, und als wir schließlich miteinander telefonierten, zitterte meine Stimme und ich rang um Worte, so nervös war ich. Er sprach mich auf meinen Akzent an, fragte, aus welcher Gegend in Irland ich stammte, und überraschenderweise kannte er die Gegend. Paul hatte Verwandte in der Nähe von Limerick und war früher ein paarmal dort gewesen. Ungefähr einen Monat später – wir hatten immer mal wieder telefoniert – trafen wir uns zum ersten Mal, zusammen mit Mum und Geoff. Es klingt seltsam, seine Mutter mit auf ein erstes Date zu nehmen, aber ich war froh, als sie vorschlug mitzukommen. Allein hätte ich das nicht durchgestanden.
Wir trafen uns beim Italiener in Huntingdon. Paul brachte mich zum Lachen – tatsächlich brachte er uns alle zum Lachen – und wirkte vollkommen entspannt. (Hinterher erzählte er mir allerdings per SMS, dass er den ganzen Abend furchtbar nervös gewesen sei.) Geoff – für den ich wie ein eigenes Kind war und der mich immer beschützen wollte – erklärte später auf der Heimfahrt, dass er Paul sehr mochte. Mums Herz gewann er, als sie mitbekam, dass Paul keinen Alkohol trank und sich stattdessen ein Mineralwasser mit Limette bestellte. Und das obwohl wir anderen uns an Rotwein hielten. Ich hingegen war mir meiner Sache nicht so sicher und musste dazu überredet werden, mich wieder mit ihm zu verabreden. Das nächste Mal trafen wir uns dann zum Frühstück in einem Café ganz in der Nähe. Auch unser erstes »Date« zu zweit – dieses Mal traute ich mich allein hin – verlief fröhlich und entspannt, weder Vergangenheit noch Zukunft spielten eine Rolle. Wir waren »ganz im Hier und Jetzt«. Zwei Menschen, die unbeschwert miteinander redeten und lachten. Das Leben fühlte sich fast wieder normal an.
Ich mochte Pauls Geduld. Ein paarmal hatten wir uns schon geküsst, jedes Mal mit etwas mehr Leidenschaft. Aber weiter gingen wir nicht – ich war noch nicht so weit.
Ich freute mich wirklich, dass er heute zurückkommen würde, freute mich darauf, Zeit mit ihm zu verbringen. Auch wenn ich immer noch vorsichtig war, so war er doch seit Langem der erste Mensch, den ich an mich heranließ (abgesehen von Penny natürlich).
Inzwischen kannte er meine Geschichte. Nicht alle Einzelheiten, aber doch so viel, dass ich es ihm nicht hätte übel nehmen können, wenn er sich aus dem Staub gemacht hätte. Jetzt war er aber erst mal da, nur das zählte. Für immer – so weit dachte ich gar nicht. In den nächsten paar Wochen, wenn sich der Jahrestag näherte, würde er wahrscheinlich die Details erfahren, und dann würden wir weitersehen. Irgendjemand grub sicher irgendwo in einer Zeitschrift oder einem Blog die Vergangenheit aus und zwang mich so dazu, alles noch einmal zu durchleben. Dann kämen die aufmunternden Botschaften, und mein ruhiges Leben, für das ich so heftig gekämpft hatte, würde wieder lärmig werden.
Mein Handy vibrierte wieder und riss mich aus meinen Gedanken.
Wir können auch irgendwo essen gehen, wenn du das lieber möchtest.
Leise lächelnd schrieb ich gleich zurück.
Nein, es wäre wunderbar, wenn du etwas mitbringst. –
Perfekt! In ein paar Stunden fahre ich los, dann dauert es noch ein paar, bis ich zu Hause bin (wenn mir die Götter des Verkehrs gnädig sind). –
Keine Eile, ich gehe nicht weg.
Das Display zeigte an, dass er noch etwas schrieb. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber endlich war die Antwort da.
Das will ich hoffen.
Obwohl ich älter, weiser und kampferprobter war als ein Teenager, fühlte ich mich einen Moment lang wie einer. Mein Herz flatterte, und ich wurde ein bisschen rot.
Geoff ging vom Badezimmer zurück ins Schlafzimmer, Mum kam in die Küche. Ich wandte ihr den Rücken zu, weil ich mich gerade mit dem Tee beschäftigte. Als ich mich umdrehte, lächelte sie, noch immer schlaftrunken. Mum war in ihren Morgenmantel gehüllt, fast der gleiche, wie ich ihn trug, und sie wirkte richtig jung darin. Bedeutete das dann im Umkehrschluss, dass ich mich wie eine ältere Frau anzog? Ich war mir nicht sicher. Sie gab mir einen Kuss auf die Wange, setzte sich an den Küchentisch und fragte mich nach meinen Plänen für den Tag. Und erwartete, dass ich wie sonst auch sagte: »Ach, nichts Besonderes, einfach nur ein bisschen herumwerkeln.« Als ich ihr dann aber erzählte, dass Paul mit Essen vorbeikäme, funkelten ihre Augen verschmitzt, und sie grinste ein bisschen anzüglich.
»Oh.«
»Mum! Ich weiß, was dieses Grinsen bedeutet, sei nicht so vulgär!«
Geoff kam in die Küche, kratzte sich am Bauch und gähnte wie ein alter Bär, der im Frühjahr zum ersten Mal aufgewacht war. Aufmerksam, wie er war, bemerkte er den Anflug von Röte auf meinen Wangen.
»Alles in Ordnung bei euch beiden?«, fragte er.
»Oh, mehr als nur in Ordnung, würde ich sagen«, erwiderte Mum fröhlich.
»Ach ja?«
»Claire hat ein Tête-à-Tête.«
»Ich habe kein Tête-à-Tête, Mum! Das sagt doch kein Mensch mehr! Paul kommt nur mit Essen vorbei.«
»Das hat Geoff vor fast zwanzig Jahren auch gemacht.«
»Seitdem ist sie mich nicht mehr losgeworden.« Geoff lachte und drückte mit seiner großen, schwieligen Hand Mums Schulter, bevor er sich neben ihr an den Tisch setzte.
»Ihr beiden seid hoffnungslos«, sagte ich liebevoll, bevor ich die Tassen holen ging.
»Wann kommt er vorbei?« Geoff pustete auf seinen Tee.
»Ich weiß nicht, später?«
»Sollen wir eine Flasche Wein oder so holen gehen?«
»Nein, das mache ich selbst.« Mum und Geoff wechselten einen kurzen Blick.
»Claire, soll ich dich begleiten?«, fragte Mum behutsam.
»Es geht schon.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja, ich will allein gehen.«
»Sehr schön!«, rief Geoff ein wenig zu enthusiastisch.
Es gab nicht jeden Tag etwas, worauf ich mich freuen konnte. Und es war nicht jeden Tag notwendig, dass ich mich überhaupt anzog. Paul kam zurück, wollte mich treffen – und ganz unerwartet hatte ich plötzlich ein Ziel.
Ich musste irgendwas tun, bevor ich ihn traf. Also beschloss ich, in die Welt hinauszugehen und eine Flasche Wein und etwas zum Nachtisch zu besorgen – das sollte meine Aufgabe sein.
Doch zuerst musste ich mich vorbereiten.
APRIL 2006
BALLYBUNNION, WEST-IRLAND
Nummer eins
Der böige Wind vom Atlantik hatte den ganzen Tag über nicht nachgelassen, und jetzt, wo die Abenddämmerung hereinbrach, nahm er noch an Stärke zu. Die Böen tosten, und er hörte, wie die Bäume, die den Golfplatz von Ballybunnion säumten, ächzten, als würden sie sich verzweifelt gegen den Angriff stemmen. Der unbarmherzige Wind von rechts bereitete ihm Ohrenschmerzen, die bis hinunter zu seinem Kiefer und hinter sein Auge ausstrahlten. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, zu tun, was er tun musste. Im Gegenteil – der Schmerz machte diesen Moment noch eindringlicher, sein Leiden erinnerte ihn an die Notwendigkeit seiner Aufgabe.
Trotz des Wetters ging er langsam, die Schmerzen in seinem Ohr waren wie ein vertrauter Freund, der ihn beruhigte. Als er am neunten Loch vorbeikam, blieb er stehen und blickte zur Bucht zurück, die sich an das Zentrum des Städtchens schmiegte. Seiner Mutter hätte die Aussicht gefallen. Der Golfplatz selbst war geschlossen, was bedeutete, dass er die letzten Strahlen der schwachen Frühlingssonne, die über dem Meer schien, genießen konnte, ohne sich vor Leuten in Acht nehmen zu müssen. Sobald es stockfinster wäre – eine Dunkelheit, die man in Städten nicht kannte, die einen vollständig umgab, die zu einem alles verzehrenden Nichts wurde –, würde er mit seiner Arbeit beginnen. Er würde nicht verzeihen, wie ein gnädiger Gott es tat. Nein, er würde denjenigen bestrafen, der bestraft werden musste.
Was er nun vorhatte, flüsterte ihm eine innere Stimme ein, die schon viele Jahre versucht hatte, zu ihm durchzudringen, allerdings lange ohne Erfolg. Erst als sein Vater gestorben war – und damit der Letzte, auf den er noch hatte hören müssen –, erst dann hatte er sich gestattet zu lauschen, was diese Stimme ihm mitteilen wollte.
Sie erklärte ihm seine Aufgabe und warum er sie erfüllen musste. Ihre Argumente waren vernünftig, gelassen, klar und schienen absolut einleuchtend. Endlich hatte sein Dasein einen Sinn.
Es dauerte allerdings noch einige weitere Monate, bis er den richtigen Mann gefunden hatte, mit dem er anfangen wollte. Es war unabdingbar, dass er auf die Beschreibung passte, die er so gut kannte. Und es musste jemand sein, der eine Strafe verdiente. Also begann er nachzuforschen, stellte eine Liste der gewünschten Eigenschaften seines potenziellen Opfers auf und wählte es dann auf der Grundlage dieser Liste aus. Er besuchte Pubs in der Gegend und weiter weg, hörte den Männern zu, die tranken und damit protzten, was für ein gutes Leben sie hätten, und wenn einer von ihnen etwas Interessantes sagte, merkte er es sich. Für diese Männer war er Jim oder Jimmy, Frank oder Donny, und er sprach gerade nur so viel mit ihnen, dass sie glaubten, ihn zu kennen. Die meisten, mit denen er redete, waren uninteressant. Doch mit den wenigen, die in seinem Inneren irgendwas bewegten, beschäftigte er sich nahezu zwanghaft. Er lief ihnen »ganz zufällig« über den Weg, und wenn sie sich dann in seiner Gegenwart wohlfühlten, sorgte er dafür, dass sie sich volllaufen ließen – und bot ihnen an, sie nach Hause zu fahren. So fand er heraus, wo sie wohnten. Sie bedankten sich überschwänglich bei ihm und sahen überhaupt keine Veranlassung, an ihrem neuen Saufkumpan zu zweifeln. Er beobachtete ihr Haus, fand heraus, wie sie lebten, sobald die Haustür geschlossen war. Sein Instinkt täuschte ihn nie. Sie waren die richtige Sorte Mann. Nach ein paar Wochen hatte er eine engere Auswahl getroffen, die er dann auf nur einen herunterkürzte.
Blair Patterson.
Während er den Blick von den gewaltigen Wellen abwandte, die an den Strand rollten, dachte er an die vier anderen, die er aussortiert hatte, und genoss das Gefühl der Überlegenheit. Es war allein seine Entscheidung gewesen, wer weiterleben durfte. Einer von ihnen wohnte in einer Wohnung in Kanturk; ein anderer an einer viel befahrenen Hauptstraße in einem Vorort von Limerick. Zu ihnen würde er kommen, wenn er sich sicherer fühlte, sollten sich keine weiteren Optionen auftun. Die anderen beiden hatten Kinder, und er hoffte, dass sie sich änderten, achtsamer würden, wenn die Welt erst mal wusste, auf wen er abzielte – wenn nicht, würden die Kinder ohne Vater aufwachsen. Das war nicht ideal, aber womöglich war es immer noch besser, keinen Vater zu haben, als so einen wie seinen eigenen. Er überlegte kurz, was für ein Mann wohl aus ihm geworden wäre, wenn jemand wie er da gewesen wäre und das Verhalten seines Vaters geändert hätte. Oder der ihn getötet hätte, bevor er größeren Schaden hatte anrichten können.
Blair, seine Nummer eins, besaß ein Haus im abgelegenen, südlichsten Teil Ballybunnions, wo noch ein halbes Dutzend anderer Häuser stand. Hinter dem kleinen, frei stehenden Haus lag der geschlossene Golfplatz, über den er gerade ging, und davor mündete ein Fluss in den Atlantik. Der nächste Nachbar war nah, vielleicht neun Meter entfernt, aber er wusste, dass Geräusche aus Blairs Haus kaum zu hören wären.
Dunkelheit senkte sich über den Golfplatz, und endlich war es so weit. Er verließ ihn durch eine schmale Lücke in der hintersten Ecke, die zu einem Parkplatz führte, auf dem Leute ihren Wagen abstellen konnten, die durch das sandige Mündungsgebiet spazieren wollten. Dann lief er über den Fußweg zurück und an dem Haus vorbei, in dem sein Opfer lebte. Er schaute durchs Fenster und sah ihn vor dem Fernseher sitzen: den einen Arm über den Bauch gelegt, die Beine weit gespreizt, in der anderen Hand eine Bierflasche. Durch das zweite Fenster an der Vorderseite des Hauses erkannte er Josephine, Blairs Frau. Sie war nett, er kannte sie von den paar Malen, als er Blair nach dem Pub-Besuch nach Hause gefahren und man ihn ins Haus gebeten hatte. Sie spülte gerade das Geschirr, ihr Gesicht wirkte müde und starr. Wenn er käme, um Blair zu töten, wäre sie nicht mehr zu Hause, denn es war Mittwoch, und mittwochabends ging sie immer arbeiten.
Er setzte sich unter einen Baum und beobachtete, was im Haus vor sich ging. Josephine werkelte in der Küche herum, bemühte sich, beschäftigt zu bleiben. Blair saß reglos da und starrte auf den Fernseher. Bald würde sie gehen. Es machte ihm nichts aus zu warten. Die beiden zu beobachten war spannend, denn er wusste ja, dass nach dieser Nacht einer tot und der andere frei wäre.
Eine Stunde später zog sich Josephine ihren Mantel an, wünschte ihrem Mann eine gute Nacht und verließ das Haus, um ihre Nachtschicht im Supermarkt zu beginnen. Vermutlich hatte sie sich um diese Schicht beworben, um Blair wenigstens eine Nacht pro Woche aus dem Weg gehen zu können. Während er ihr nachblickte, wie sie die Sandhill Road entlangfuhr, stand er auf. Es war Zeit, sein Werk zu beginnen. Ein Werk, über das man nicht nur hier, sondern in ganz Irland, womöglich auf der ganzen Welt reden würde.
Knapp zweihundert Meter hinter dem Haus lag die Verteilerstation, die er lahmlegen musste. Der einen Meter hohe Metallkasten beherbergte die Stromversorgung für die kleine Siedlung und ein paar Hundert weitere Häuser am anderen Ende des Golfplatzes in Richtung Stadt. Er holte seinen Bolzenschneider heraus, schnitt sich seinen Weg in den eingezäunten Bereich frei und öffnete die Tür. Vorsichtig entfernte er den Transformator und schaute zu, wie sich die umliegende Gegend verdunkelte. Er schlug mit dem Bolzenschneider auf den Generator, um den Eindruck von purem Vandalismus zu erwecken. Dann ging er langsam zurück zu Blairs und Josephines Haus und betrachtete dabei die anderen Gebäude, in denen Taschenlampen und Kerzen aufleuchteten; die Menschen darin waren nicht beunruhigt, hatten keine Angst. Genau wie er gehofft hatte.
Er bog vom Hauptweg ab und trat geräuschlos hinter Blairs Haus. Dort kletterte er über den Zaun. Durch das Fenster sah er das Licht einer Taschenlampe im Wohnzimmer. Er sah, wie Blair zurück ins Schlafzimmer schlurfte, öffnete die Hintertür, trat ein und schloss sie leise hinter sich. Er ging zur Tür zwischen den beiden Räumen und beobachtete, wie seine Zielperson über den Couchtisch stolperte und laut fluchte. Blair fand wieder Halt, drehte sich um und steuerte die Küche an. Ohne in Panik zu verfallen, trat er hinter die geöffnete Tür und hielt den Atem an. Sein Opfer ging in die Küche, öffnete im Licht der Taschenlampen-App seines Handys den kleinen Schrank, in dem sich der Sicherungskasten befand.
Sinnlos, hineinzuschauen, dachte er grinsend.
Blair schaltete die Sicherungen wohl ein halbes Dutzend Mal ein und aus, natürlich ohne Erfolg. »Was für eine Scheiße! Dann kann ich ja verdammt noch mal genauso gut schlafen gehen«, fluchte er laut. Als Blair an ihm vorbeistolperte – er hatte sich im Schatten zwischen dem Wohnzimmer und der Küche versteckt –, spürte er den Luftzug.
Er lauschte der Küchenuhr, die von einer Minute zur nächsten tickte. Der Sekundenzeiger absolvierte zehn Runden, dann ging er leise die Treppe hinauf. Blair schnarchte inzwischen in seinem Bett. Im Türrahmen hielt er inne, beobachtete, wie sich die Mitte des Fleischbergs mit jedem tiefen, vibrierenden Atemzug hob und senkte, und lächelte vor sich hin. Blair ahnte nicht, dass seine Zeit auf dieser Erde abgelaufen war.
Er kauerte sich neben ihn und betrachtete seine Gesichtszüge. Blair wirkte vollkommen entspannt, er schlief wie ein Mann, den keinerlei Sorgen plagten. Ein Mann ohne Dämonen. Plötzlich dachte er unwillkürlich an den Sommer 1989, als er ungefähr sieben gewesen war. Wie er zum ersten Mal getötet hatte.
Es war damals so heiß und trocken gewesen, dass der Boden im Garten zentimetertief aufgerissen war. Er war wieder weggelaufen, war gerannt, bis seine Tränen versiegt waren und er nicht mehr weiter gekonnt hatte. Er lief zu seinem üblichen Versteck hinter dem alten Gerichtsgebäude, einer Burg aus dem siebzehnten Jahrhundert am Rande von Kanturk. Dort angekommen, presste er den Rücken an den kühlen Stein der alten, dreißig Meter hohen Mauer und rang nach Atem. Über ihm flatterten Vögel. Natürlich bekam er jede Menge Ärger, weil er wieder weggelaufen war, doch er konnte es nicht ertragen – nicht mehr. Das Gebrüll seines Vaters war wie ein Flüstern, das direkt zu seinem Trommelfell geleitet wurde, die unterdrückten Schreie seiner Mutter jedoch waren ohrenbetäubend. Er ahnte es damals nicht, aber was dann geschah, bestimmte, wer er war. Und wer er sein würde.
Unter den Bäumen, die die Burg säumten, spielte eine schwarz-weiße Katze mit irgendwas, warf es in die Luft, schlug mit den Pfoten danach, die Krallen ausgefahren. Zuerst dachte er, es wäre ein Frosch oder eine Ratte, und unternahm nichts, doch als ein kleiner Vogel versuchte, davonzufliegen, und wieder gefangen wurde, schaute er genauer hin. Frösche mochte er nicht, und Ratten übertrugen Krankheiten. Doch der kleine Vogel war nur herumgeflogen und hatte gesungen. Hübsches Kerlchen. Alles, was so süß sang, sollte keinen Schmerzen ausgesetzt werden. Er warf einen Stein und verfehlte die Katze um Haaresbreite. Dann sprang er auf und brüllte sie an. Die Katze geriet in Panik, ließ den Vogel fallen und rannte davon. Der Vogel blieb auf dem Boden zu seinen Füßen zurück; sein Genick war gebrochen, aber er atmete noch. Er hob ihn auf, hielt das kleine Tier in seinen Händen und beobachtete seinen Überlebenskampf. Der winzige Magen lag offen da, der Inhalt klebte an seinen Fingern. Er wusste, dass der Vogel litt, dass er wegen eines anderen Lebewesens litt, und er wusste, dass der Vogel qualvoll sterben würde, auch wenn er sich nichts sehnlicher wünschte, als zu fliegen und zu singen. Behutsam legte er ihn auf die Erde, hob sein Bein – und stampfte mit aller Kraft auf sein kleines Köpfchen.
Nachdem er die Überreste des Tieres von seiner Stiefelsohle gekratzt hatte, dachte er an seine Mutter.
An jenem Tag hatte sich etwas verschoben. Er hatte gelernt, dass er unermesslich mächtig sein, alles bestimmen konnte.