Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Lern- und emotional-soziale Entwicklungsauffälligkeiten bei Schülerinnen und Schülern treten häufig gemeinsam auf und werden von Lehrkräften als besondere Herausforderung wahrgenommen. Mit Fachbeiträgen und Kommentaren renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie anhand von Interviews mit schulischen Akteurinnen und Akteuren werden in diesem Buch aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse im Hinblick auf grundlegendes Praxiswissen für die Gestaltung von Unterricht und Schule beschrieben. Der Fokus liegt auf den Themenschwerpunkten problembezogene Grundlagen, Trends in der Diagnostik, Trends in Prävention und Intervention sowie Ableitungen für die Lehrkraftprofessionalisierung.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 376
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Herausgebenden
Stefan Blumenthal
Stefan Blumenthal arbeitet derzeit als Dozent an der Universität Rostock. Seine aktuellen Projekte befassen sich mit der Verlaufsdiagnostik verhaltensbezogener und akademischer Aspekte von Schüler*innen.
Yvonne Blumenthal
Yvonne Blumenthal lehrt an der Universität Greifswald sowie an der Universität Rostock Sonder- und Inklusionspädagogik sowie Pädagogik mit dem Förderschwerpunkt Lernen und emotionale, soziale Entwicklung. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Diagnostik und Förderung der emotionalen und sozialen Entwicklung von Schüler*innen.
Kathrin Mahlau
Kathrin Mahlau ist Professorin für Sonderpädagogik und Inklusion an der Universität Greifswald. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Erstellung von Diagnostikverfahren für die Förderschwerpunkte Sprache und emotionale und soziale Entwicklung sowie die Evaluation von Teilaspekten inklusiven Unterrichts.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.
1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-039250-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-039251-9
epub: ISBN 978-3-17-039252-6
Eine besondere Herausforderung für Lehrkräfte ist der Umgang mit Kindern, die neben Lernschwierigkeiten emotional-soziale Entwicklungsauffälligkeiten zeigen (Linderkamp & Grünke, 2007), da diese Kombination von Problematiken bei Schüler*innen häufig zu beobachten ist (Bos & Vaughn, 2006; Ricking, 2005). Gründe hierfür werden im Zusammenspiel gleicher Risikofaktoren auf die Lern- und Verhaltensentwicklung vermutet (Linderkamp & Grünke, 2007). Insgesamt ist von komplexen Wechselwirkungen auszugehen, sodass nicht klar festzustellen ist, ob die Lern- oder die Verhaltensprobleme die primäre Disposition ausmachen (Bos & Vaughn, 2006). Um eine ausreichende Entwicklung in beiden Bereichen zu ermöglichen, müssen mit jedem Kind individuell angepasste, umfassende und mehrere Lern- und Entwicklungsdimensionen betreffende Fördermaßnahmen umgesetzt werden. Daher überrascht es, dass dieses häufige Phänomen in der Fachliteratur oft diskret voneinander beschrieben wird. Nicht selten fehlt es Lehrkräften an Informationen, wie Diagnose-, Präventions- und Interventionsansätze für Kinder mit Problemen sowohl im Lernen als auch in der emotional-sozialen Entwicklung aufeinander bezogen werden können.
Dieser Lücke widmet sich die sonderpädagogische Forschung seit Jahren, wobei Bodo Hartke als Professor an der Universität Rostock nicht nur wissenschaftlich wegweisende Diskurse führte, sondern auch konkrete Möglichkeiten für die und in der Schulpraxis initiierte. Fachlich vielbeachtete Konzepte wie die schulische Prävention und Inklusion, genauso wie das evidenzbasierte pädagogische Handeln als auch das Erfassen von kindlicher Entwicklung im zeitlichen Verlauf verband Bodo Hartke in einem deutschlandweit einzigartigen Praxis- und Forschungsprojekt: Dem Rügener Inklusionsmodell.
Kürzlich hat Bodo Hartke sein Berufsleben an der Universität Rostock beendet und ist in den Ruhestand getreten. Als seine langjährigen Teampartner*innen wollen wir dies zum Anlass nehmen, dem beruflichen Wirken Bodo Hartkes in Form dieses Fachbuches zu gedenken.
Beruflich hat sich Bodo Hartke stets engagiert, einen direkten und bleibenden Beitrag für die pädagogische Praxis zu erzielen, sei es im direkten Wirken gegenüber Schüler*innen in schwierigen Lebenslagen in seinem schulischen Alltag in einer Heimschule in Schleswig-Holstein oder in der Entwicklung, Evaluation und Vermittlung von anwendungsbezogenen Konzepten als Dozent und Professor an den Universitäten Kiel und Rostock.
Inhaltlich hat er immer einen weiten Blick auf die schulische Entwicklung von Schüler*innen gelegt. Multiperspektivisch stand dabei die Auffassung einer Interdependenz zwischen der akademischen und der emotional-sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt seiner Forschungstätigkeiten. Dieses Zusammendenken der Förderschwerpunkte Lernen und emotional-soziale Entwicklung erscheint angesichts der Forschungslage notwendig und schulpraktisch innovativ.
Diese Wirkfelder Bodo Hartkes oder auch »die Marke Hartke«, wie es einst Mathias Brodkorb in seiner damaligen Funktion als Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern ausdrückte, sollen sich in dieser Festschrift »Kinder mit Lern- und emotional-sozialen Entwicklungsauffälligkeiten in der Schule: Diagnostik – Prävention – Förderung« wiederspiegeln. In kurzen Beiträgen renommierter Wissenschaftler*innen, die in enger inhaltlicher, kollegialer und auch persönlicher Verbindung zu Bodo Hartke stehen, werden derzeitige Fachdiskurse und bedeutsame Ergebnisse empirischer Studien abgebildet. Als große Themenkomplexe werden »Problembezogene Grundlagen«, »Trends in der Diagnostik«, »Trends in Prävention und Intervention« sowie »Ableitungen für die Lehrkraftprofessionalisierung« behandelt. Jeder Themenkomplex wird mit spannenden Interviewbeiträgen von Schulpraktiker*innen eingeleitet und abschließend vor dem Hintergrund der aktuellen Forschung zusammenfassend diskutiert.
Im Namen aller beteiligten Autor*innen freuen wir uns, dir, lieber Bodo, dieses Buch überreichen zu können und wünschen dir und allen interessierten Leser*innen viele fachlich interessante Momente bei der Lektüre.
Rostock, im März 2021
Stefan Blumenthal, Yvonne Blumenthal und Kathrin Mahlau
Bos, C. S. & Vaughn, S. (Hrsg.) (2006). Strategies for teaching students with learning and behavior problems (5. Aufl., S. 228-278). Allyn and Bacon.
Linderkamp, F. & Grünke, M. (Hrsg.) (2007). Lern- und Verhaltensstörungen: Genese – Diagnostik – Intervention. Beltz.
Ricking, H. (2005). Der »Overlap« von Lern- und Verhaltensstörungen. Sonderpädagogik, 35(4), 235–248.
Vorwort
Literatur
I Problembezogene Grundlagen
Interview I: Erfahrungen mit der Zielgruppe in den Förderschwerpunkten Lernen und emotional-soziale Entwicklung
Uta Hartke & Kristina Hartke
1 Sonderpädagogische Bildung, Beratung und Förderung des Lernens: Die Empfehlungen der Ständigen Konferenz der Kultusminister für die Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Lernen 2019
Ulrich Heimlich & Clemens Hillenbrand
1.1 Zielsetzung der neuen KMK-Empfehlungen zum Schwerpunkt LERNEN
1.2 Analysen zu den neuen KMK-Empfehlungen zum Schwerpunkt Lernen
1.3 Diskussion
Literatur
2 Lern- und Verhaltensstörungen: Bedingungsgefüge und Implikationen für die Sonderpädagogische Diagnostik
Friedrich Linderkamp
2.1 Empirischer Erklärungsansatz
2.2 Implikationen für Sonderpädagogische Diagnostik
2.3 Fazit
Literatur
3 Zur Spezifik von Förderbedarfen von Kindern mit diagnostizierten Lernstörungen
Stefan Blumenthal, Yvonne Blumenthal & Marcel Daum
3.1 Methode
3.2 Ergebnisse
3.3 Fazit
Literatur
4 Einmal Lernstörung, immer Lernstörung? Ergebnisse zur Persistenz von attestierten Förderbedarfen am Beispiel der Befunde zum Rügener Inklusionsmodell
Stefan Blumenthal, Yvonne Blumenthal & Toni Bauer
4.1 Zusammenfassende Darstellung der Forschungslage
4.2 Fragestellung
4.3 Methode
4.4 Ergebnisse
4.5 Diskussion
Literatur
5 Diskussion: Grundlagen akademischer und emotional-sozialer Unterstützung – ein Kommentar
Clemens Hillenbrand
Literatur
II Trends in der Diagnostik
Interview II: Chancen und Herausforderungen inklusiver Beschulung – Das Rügener Inklusionsmodell aus schuladministrativer Sicht
Anne Schöning, Silke Wolff & Michael Kossow
Literatur
6 Verlaufsdiagnostik und einzelfallbasierte Veränderungsmessung im Rahmen schulischer Förderung
Moritz Börnert-Ringleb & Jürgen Wilbert
6.1 Beschreibung von Veränderung: Lernverlaufsdiagnostik
6.2 Evaluation von Veränderung: Kontrollierte Einzelfallforschung
6.3 Adaptation und Gestaltung von Instruktionen: Dynamisches Testen
6.4 Fazit
Literatur
7 Prävention von Lernschwierigkeiten – Welche Rolle spielt eine systematische Lernverlaufsdiagnostik?
Simon Sikora
7.1 Ziele und Grundfragen schulischer Prävention
7.2 Herausforderungen bei der Planung präventiver Maßnahmen
7.3 Das Konzept der formativen Evaluation
7.4 Varianten und Beispiele der Lernverlaufsdiagnostik
7.5 Curriculumbasierte Messverfahren
7.6 Formative Schulleistungstests
7.7 Fazit
Literatur
8 Curriculumbasiertes Messen im Bereich Schreiben – State of the art und Perspektiven
Julia Winkes, Pascale Schaller & Erich Hartmann
8.1 CBM-Schreiben: Konzept und Vorgehen
8.2 Herausforderungen der Lernverlaufsdiagnostik im Bereich Schreiben
8.3 Ausblick
Literatur
9 Entwicklungsorientierte Diagnostik und Förderung eines tragfähigen Mengen- und Zahlenverständnisses
Annemarie Fritz, Miriam Balt & Antje Ehlert
9.1 Theoretischer Hintergrund
9.2 Entwicklungsmodell arithmetischer Konzepte
9.3 Entwicklungsorientierte Diagnostik
9.4 Verbindung von Entwicklungstheorie, Diagnostik und Förderung
9.5 Ausblick
Literatur
10 Prüfung eines Itempools zur Entwicklung eines Kurzscreenings im Verhaltensbereich
Yvonne Blumenthal & Bodo Hartke
10.1 Grundlage der Entwicklung des Itempools
10.2 Methode
10.3 Ergebnisse
10.4 Diskussion
Literatur
11 Universell oder spezifisch? Eine Studie zum Vergleich unterschiedlicher Konkretionen von Verhaltensaspekten in Direct Behavior Ratings
Stefan Blumenthal, Yvonne Blumenthal & Patricia Schultze-Petzold
11.1 DBR in empirischer Forschung
11.2 Fragestellung und Ziel der Studie
11.3 Ergebnisse
11.4 Diskussion
Literatur
12 Multimodale Diagnostik im inklusiven Unterricht
Kathrin Mahlau, Stefan Blumenthal & Kerstin Ehrich
12.1 Multimodale Diagnostik – besonders geeignet für Kinder mit abweichenden Lernprofilen
12.2 Multimodale Diagnostik im inklusiven Unterricht
12.3 Zusammenfassung und weiterführende Hinweise
Literatur
13 Diskussion: Aufgaben, Ansätze und Trends für und in der sonderpädagogischen Diagnostik
Gabi Ricken
13.1 Probleme, die beim Klassifizieren zu bedenken sind
13.2 Analysen von Lehr-Lernprozessen
13.3 Verläufe beobachten
13.4 Wie werden Lernende selbst einbezogen, welche diagnostische Aufgabe übernehmen sie?
Literatur
III Trends in Prävention und Förderung
Interview III: Chancen und Herausforderungen inklusiver Beschulung – Das Rügener Inklusionsmodell aus sonderpädagogischer Sicht
Anna Hensen & Ricarda Bethke-Köhler
14 Mehrebenenmodelle im inklusiven Unterricht: Trojanische Pferde oder zukunftsfähige Innovationen?
Franz B. Wember
Literatur
15 Zehn Jahre Rügener Inklusionsmodell – Die Ergebnisse im Überblick
Stefan Blumenthal, Yvonne Blumenthal, Marcel Daum, Bodo Hartke & Kathrin Mahlau
15.1 Das Rügener Inklusionsmodell
15.2 Forschungsbefunde zum RIM und Ziel des vorliegenden Beitrags
15.3 Methode
15.4 Ergebnisse
15.5 Diskussion
15.6 Ausblick
Literatur
16 Partizipation in Response-to-Intervention (PARTI): Eine (kleine) konzeptuelle Erweiterung von Response-to-Intervention (RTI)
Michael Grosche & Christian Huber
16.1 Grundideen des Response-to-Intervention Modells
16.2 Das Rügener Inklusionsmodell als das erste RTI-Pionierprojekt
16.3 Partizipation in Response-to-Intervention (PARTI)
16.4 Fazit
Literatur
17 MultiMo – Eine schulbasierte Konzeption eines multimodalen und mehrstufigen Förderkonzeptes bei externalisierendem Problemverhalten in der Grundschule
Gino Casale, Thomas Hennemann, Charlotte Hanisch, Tobias Hagen, Johanna Krull, Hanna Meyer & Dennis C. Hövel
17.1 Schüler*innen mit externalisierenden Verhaltensproblemen
17.2 Schulischer Umgang mit externalisierenden Verhaltensproblemen
17.3 Schoolwide Positive Behavior Support als schulisches Handlungsmodell im Umgang mit Verhaltensproblemen
17.4 SW-PBS in MultiMo
17.5 Ausblick
Literatur
18 Datenbasierte Leseförderung im (inklusiven) Grundschulunterricht. Eine Umsetzung adaptiver Förderung mit Unterrichtsmaterialien und Lernverlaufstests
Jana Jungjohann, Kirsten Diehl & Markus Gebhardt
18.1 Schwierigkeiten im Lesen in der Grundschule
18.2 Methoden der Leseflüssigkeitsförderung
18.3 Datenbasierte Leseflüssigkeitsförderung in der Schulpraxis
18.4 Verknüpfung zwischen Leseförderung und Lernverlaufsdiagnostik
18.5 Fazit
Literatur
19 Individuelle Rechtschreibförderung unter Anwendung des RESAN Rechtschreibfördermaterials
Anke Sagert
19.1 Grundlagen des Konzeptes des RESAN Rechtschreibmaterials
19.2 Struktur und Aufbau des RESAN Rechtschreibmaterials
19.3 Individualisierte Vorgehensweise
Literatur
20 Implementation von Data-Based Decision-Making – Erfahrungen mit der Lernverlaufsdiagnostik
quop
Natalie Förster & Elmar Souvignier
20.1 Data-based decision-making (DBDM)
20.2 Forschungsbefunde zu DBDM mit der Lernverlaufsdiagnostik quop
20.3 Implementation von DBDM in den schulischen Alltag
20.4 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
21 Diskussion: Zeit zu handeln – Effektive Präventions- und Förderkonzepte müssen endlich mehr Anwendung im inklusiven Schulalltag finden
Matthias Grünke
21.1 Wissenschaft macht das Leben besser
21.2 Wissenschaft spielt in der inklusiven Pädagogik kaum eine Rolle
21.3 Fundierte Modelle wie Response to Intervention (RTI) könnten die Welt verändern
21.4 Der Preis für die Missachtung der Wissenschaft in der inklusiven Pädagogik ist zu hoch
21.5 Es ist höchste Zeit für ein Umdenken
Literatur
IV Ableitungen für die Lehrkraftprofessionalisierung
Interview IV: Professionalisierung in der Lehramtsausbildung
Marit Schwede-Anders & Miriam Haferkamp
Literatur
22 Professionalisierung des Gesprächsverhaltens in der 1. und 3. Phase der Lehrer*innenbildung – Beratungstrainings für Sonder- und Inklusionspädagogikstudierende an der Universität Rostock
Oliver Carnein, Daniel Stockheim, Yvonne Blumenthal & Andreas Methner
22.1 Kennzeichen professioneller Gesprächsführung in pädagogischen Kontexten
22.2 Training professioneller Gesprächsführung innerhalb akademischer Beratungstrainings
22.3 Ausblick
Literatur
23 Zehn Jahre »Planungshilfen Schulische Prävention« – Zum Einsatz in der Lehrkraftprofessionalisierung
Robert Vrban & Oliver Carnein
23.1 Ausgangsbeispiel und Gegenstandsverständnis
23.2 Das Konzept »Planungshilfen Schulische Prävention«
23.3 Das Konzept der »Planungshilfen Schulische Prävention« in der ersten und dritten Phase der Lehrer*innenbildung
23.4 Ausblick auf die kommenden zehn Jahre
Literatur
24 Lehrerprofessionalität – Entwicklung und Inhalte eines berufsbegleitenden Masterstudiengangs Sonder- und Inklusionspädagogik
Cathrin Grotjohann, Solveig Haugwitz & Daniel Stockheim
24.1 Fort- und Weiterbildung in der dritten Phase der Lehrer*innenbildung
24.2 Die Entwicklung eines Masterstudienganges Sonder- und Inklusionspädagogik am Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation der Universität Rostock
24.3 Studieninhalte und Studienorganisation
24.4 Resümee und Ausblick
Literatur
25 Diskussion: Professionalisierung von Lehrkräften – Anforderungsbereiche im Rahmen inklusiver Bildung
Conny Melzer
25.1 Intervention
25.2 Diagnose
25.3 Management und Organisation
25.4 Beratung und Kommunikation
25.5 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
Autor*innenverzeichnis
Liebe Uta Hartke, liebe Kristina Hartke, Ihr Mann bzw. Vater hat sein berufliches Leben den ›besonderen‹ Kindern und Jugendlichen gewidmet, vor allem Kindern mit Schwierigkeiten im Lernen und im Verhalten gilt sein Interesse. Sie sind bzw. waren als Lehrerin tätig, wie erleben Sie Kinder mit Störungen im Lernen und im Verhalten im schulischen Bereich? Was sind für Sie die größten Herausforderungen bei der Förderung von Kindern mit Förderbedarfen?
Uta Hartke & Kristina Hartke: Für uns liegen die größten Herausforderungen bei der Förderung von Kindern mit Förderbedarfen in folgenden Aspekten:
Probleme treten durch die Heterogenität der Lerngruppe auf. Es ist schwierig den Kindern mit besonderen Förderbedarfen gerecht zu werden und die anderen Kinder der Klasse weiterhin im Blick zu haben. Außerdem spielen der Zeit- und Leistungsdruck sowie die formalen Vorgaben des Schulsystems eine wichtige Rolle.
Neben der fehlenden Diagnostik und mangelnder Unterstützung von Sonderpädagog*innen und Schulleitungen gibt es auch noch zu wenig Unterrichtsmaterialien, die eine gute notwendige Differenzierung gewährleisten.
Auch werden Kinder ohne anerkannten Förderbedarf immer auffälliger.
Die Zusammenarbeit mit außerschulischen Instanzen und den Eltern gestaltet sich teilweise schwierig.
Die Schulpraxis in Schleswig-Holstein ist aus unserer Sicht gekennzeichnet durch das Fehlen eines sinnvollen, erprobten Konzeptes der Inklusion. Die Inklusion wird aus unserer Sicht weitestgehend durch engagierte Lehrkräfte getragen.
In der Literatur zur Lehramtsausbildung wird ja zuweilen von einem Theorie-Praxis-Gap gesprochen. In welchen Situationen Ihres beruflichen Lebens konnten Sie von Rückgriffen auf theoretische Überlegungen profitieren? Welche Theorie bzw. welches Modell ist für Sie besonders wegleitend?
Uta Hartke & Kristina Hartke: Im Rahmen der Tätigkeit als Klassenlehrerin spielen Überlegungen zum Classroom Management und Aspekte der Lerntheorie (Belohnung, Token) eine wichtige Rolle.
Für die Arbeit als Deutschlehrerin ist das Wissen über die phonologische Bewusstheit und den Schriftspracherwerb von großer Bedeutung. Die Kenntnis von Kommunikationsmodellen spielt in vielfältigen Situationen des Schulalltags eine Rolle, z. B. in der Elternarbeit und bei der Arbeit im multiprofessionellen Team.
Was wäre Ihrer Meinung nach das Wichtigste, was Sie Kindern und Jugendlichen mit besonderen Förderbedarfen – oder ihren Eltern – mit auf den Weg geben würden?
Uta Hartke & Kristina Hartke: Für besonders relevant halten wir es, das Selbstwertgefühl dieser Kinder zu stärken, ihnen zu vermitteln, nie aufzugeben und an sich zu glauben. In der Praxis ist es von großer Bedeutung, den Kindern Lernwege aufzuzeigen, die kleinschrittig gemeinsam gegangen werden – gemeinsam schaffen wir das! Außerdem ist es wichtig, die Kinder in den Klassenverband gut zu integrieren, sie zu stärken und sich innerhalb der Klasse dafür einzusetzen, dass Unterschiedlichkeit normal ist. Jeder hat Stärken und Schwächen. Darüber hinaus ist es notwendig, dass man mit den Eltern ein Team bildet, ihnen Mut macht, Verständnis zeigt und ihnen schulische und außerschulische Hilfsangebote aufzeigt. Man sollte sich gemeinsam mit den Eltern für das Kind auf den Weg machen.
An welchen Stellen Ihres beruflichen Lebens konnten Sie von theoretischen Überlegungen oder praktischen Erfahrungen Bodo Hartkes profitieren … oder vielleicht auch nicht?
Uta Hartke & Kristina Hartke: Für uns ist der rege Austausch mit Bodo immer eine Bereicherung gewesen. Seine Herangehensweise und sein Herz für Kinder mit Schwierigkeiten haben uns beständig begleitet und die Gespräche und Diskussionen haben zur Klärung von schwierigen pädagogischen Problemen beigetragen. Sein Blick auf die Inklusion, aber auch die kritische Sicht auf die praktische Umsetzung waren häufig Thema. Durch ihn haben wir den RTI-Ansatz kennengelernt und damit eine Möglichkeit von gelingender Inklusion, die sich am Kind orientiert.
Sein fundiertes theoretisches Hintergrundwissen und seine differenzierte Sicht auf Lern- und Verhaltensprobleme führten zu einer starken Durchdringung der Thematik.
In unserem Lehreralltag konnten wir mit dem SEVE Beobachtungsbogen und anderen Teilen von Bodos Buch Schwierige Schüler – was kann ich tun? 49 Handlungsmöglichkeiten bei Verhaltensauffälligkeiten sehr gut arbeiten und es gelang uns, unseren Blick auf die Kinder zum Positiven zu verändern bzw. das Problem zu benennen und darauf aufbauend Lösungswege zu entwickeln.
Uta Hartke: Als Ehefrau von Bodo habe ich seinen beruflichen Werdegang vom Sonderschullehramtsstudenten, über seine schulische Tätigkeit, seine Dissertation, seine Habilitation und die damit verbundene Auseinandersetzung und das Ringen um wissenschaftliche Erkenntnis begleitet. Die zahlreichen Gespräche, Diskussionen und seine Veröffentlichungen haben mich in meiner Praxis in der Grundschule inspiriert und bereichert.
Kristina Hartke: Für mich als Tochter waren pädagogische Themen häufig Gesprächsstoff. Am Mittagstisch wurde viel über theoretische und praktische Probleme im schulischen Alltag gesprochen. Mir war frühzeitig klar, dass ich ebenfalls mit Kindern arbeiten möchte. Schließlich wuchs mein Berufswunsch, Grundschullehrerin zu werden. Mein Herz und mein Blick für bzw. auf Kinder wurde stark von Bodo geprägt. Bodo hat mich viel gelehrt, u. a. auch den Blick auf den familiären Hintergrund zu schärfen und sich zu fragen, wieso handelt dieses Kind so wie es gerade handelt. Viele Gespräche und Diskussionen im Laufe meines Studiums, Referendariats und meiner Lehrerlaufbahn haben mich sowohl fachlich als auch menschlich überaus bereichert und ohne Bodo wäre ich nicht die Lehrerin, die ich geworden bin.
Nach dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur UN-Convention on the Rights of Persons with Disabilities stand die Transformation des Bildungssystems zu einem »inclusive education system« (UN-CRPD, Art. 24) jahrelang im Zentrum der öffentlichen (Althoff & Melzer, 2018) wie auch der fachlichen Debatte (Bless 2018; Preuß-Lausitz, 2019). In zahlreichen Konferenzen, Tagungen und Kongressen wurde um das Verständnis und tragfähige Wege zur Verwirklichung des Rechts auf inklusive Bildung gerungen. Schulstrukturelle und organisatorische Fragen sowie die Ausrichtung zukünftiger Lehrkräftebildung standen dabei im Zentrum der Debatte und engagierter Kritik, wie die verschiedenen Publikationen der Bertelsmann-Stiftung belegen. Der Förderschwerpunkt Lernen bildet dabei einen Fokus der Diskussion: Aufgrund der größten Häufigkeit innerhalb der Förderschwerpunkte (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018) und der oft unscharfen Diagnosen mit divergierenden Kriterien steht insbesondere die Organisationsform einer eigenständigen Förderschule Lernen zur Disposition, wie beispielhaft das schulgesetzlich vorgesehene Auslaufen dieser Organisationsform in Niedersachsen belegt.
Die Kultusministerkonferenz, deren Aufgabe in der kommunikativen Absicherung einer grundlegenden Gemeinsamkeit der Bildungssysteme in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland ist, verabschiedete 2011 richtungsweisende Empfehlungen zur Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems (KMK, 2011). Auf dieser Basis steht aktuell die Entwicklung von Empfehlungen für die einzelnen, bisher als Förderschwerpunkte bezeichneten sonderpädagogischen Arbeitsbereiche auf der Tagesordnung. Ganz analog zu dem früheren Vorgehen – Verabschiedung einer Empfehlung für den gesamten Bildungsbereich 1994 mit nachfolgenden Empfehlungen für die als Förderschwerpunkte bezeichneten sonderpädagogischen Arbeitsschwerpunkte 1999/2000 – legte die Kultusministerkonferenz im Jahr 2019 ihre Empfehlungen für den »sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf Lernen« vor. Dieser Text bildet die erste spezifische Empfehlung zu den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten und damit zu den sonderpädagogischen Aufgabenfeldern auf Basis des Grundlagenpapiers zur allgemeinen Ausrichtung für den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems.
Wenn ein solcher Text zwar die Aufgabe einer bildungspolitischen Konsensfindung und Orientierung verfolgt, kann er dennoch nicht unabhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Befunden argumentieren. Einerseits wäre eine Aufarbeitung von Ergebnissen der Forschung für die wissenschaftliche Fundierung der Konzeption wünschenswert, andererseits könnten wissenschaftliche Erkenntnisse zur kritischen Reflexion wie auch zur Realisierung und Implementation konkreter Maßnahmen und Strukturänderungen beitragen. Der Diskurs wäre damit durchaus an vielen Stellen zu führen. Zwar sind die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung per se divergent, perspektiven- und methodenabhängig und damit Gegenstand intensiver Diskurse, gerade diese Mehrperspektivität und Diskursivität wissenschaftlicher Beiträge aber kann einen Beitrag zur kritischen Reflexion der konzeptionellen Ausrichtung zukünftiger Systemänderungen leisten.
Diesen Diskurs möchte der folgende Beitrag weiterführen. Auf der 54. Jahrestagung der Sektion Sonderpädagogik in der DGfE an der Bergischen Universität Wuppertal 2019 fand eine Roundtable-Diskussion mit mehr als 30 Teilnehmer*innen von Universitäten aus dem deutschsprachigen Raum statt. Leitend war die Fragestellung: Wie schätzen Wissenschaftler*innen die neuen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz für den Förderschwerpunkt Lernen ein? Ausgehend von einem Bericht zur Vorgeschichte der neuen KMK-Empfehlungen (Heimlich, 2016) entwickelte sich eine lebhafte Debatte über Eckpunkte der KMK-Empfehlungen und zu deren Beurteilung aus verschiedenen Perspektiven wissenschaftlicher Sonderpädagogik. Ausgehend von diesem Fachgespräch greift der vorliegende Beitrag zentrale Themen der Empfehlungen auf und analysiert sie, um die Zielrichtung der Empfehlungen offenzulegen und die weitere Diskussion zwischen Bildungsadministration und Wissenschaft anzuregen.
Vor dem Hintergrund der in der Bundesrepublik Deutschland 2009 in Kraft getretenen UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) und den daraufhin von der Kultusministerkonferenz (KMK) herausgegeben Empfehlungen »Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen« vom 20.10.2011 erging der Auftrag des Schulausschusses der KMK zur Neufassung der früheren Empfehlungen für den Förderschwerpunkt Lernen, die vom 01.10.1999 datieren. Zuständig war eine KMK-Arbeitsgruppe der Referent*innen der Länder für sonderpädagogische Förderung unter Federführung von Ministerialrat Sönke Asmussen (Baden-Württemberg). Erstmals war in der Entwicklung eines solchen Papiers zur sonderpädagogischen Förderung auch eine Vertretung des Bereichs Berufsschule beteiligt.
Der Text versteht sich als »Ergänzung zur Empfehlung« (KMK, 2019, S. 3) von 2011. Zum Charakter von KMK-Empfehlungen und deren bildungspolitischer Wirksamkeit muss im Rückblick auf die früheren Verlautbarungen der KMK für den Bereich der Sonderpädagogik seit den 1960er Jahren konstatiert werden, dass von weitreichenden Effekten bezogen auf die Gesetzgebung der Bundesländer und die fachlichen Diskurse in der Bildungspolitik und -administration der Bundesländer auszugehen ist. Diese Effekte stellen sich erfahrungsgemäß selbst dann ein, wenn es sich jeweils nur um einen politischen Minimalkonsens von 16 Bundesländern mit diversen Bildungssystemen handelt und die KMK-Empfehlungen keine juristische Bindung haben, sondern allenfalls als Beitrag zur Koordination der Bildungspolitik der Bundesländer Geltung beanspruchen können. Insofern lohnt die tiefergehende Analyse des Textes und der fortzusetzende Diskurs auch aus wissenschaftlicher Perspektive, werden hier doch konkrete Entwicklungsprozesse initiiert.
Ziel der neuen Empfehlungen für die Bildung, Beratung und Unterstützung im sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen soll nach Auffassung der KMK-Arbeitsgruppe insbesondere der quantitative und qualitative Ausbau inklusiver Bildungsangebote im deutschen Bildungssystem sein. Auf der 408. Sitzung des Schulausschusses der KMK vom 28. und 29.09.2017 präsentierte die Arbeitsgruppe ein erstes Eckpunktepapier zu den neuen Empfehlungen. Am 09.10.2018 fand bei der KMK in Berlin eine Anhörung von Verbänden wie auch von Wissenschaftler*innen statt, denen im Vorfeld der Entwurfstext der Empfehlungen zugegangen war und die dazu schriftlich Stellung nehmen konnten. Diese Stellungnahmen waren auch Gegenstand der Anhörung in Berlin. Es stellt ein Novum dar, dass die Sonderpädagogik als Wissenschaft in dieser Form beteiligt wurde. Dieses Vorgehen ermöglicht die Einbindung wissenschaftlicher Perspektiven in die Entwicklung bildungsadministrativer Empfehlungen, zumal die Ergebnisse der Anhörungen in den am 14.03.2019 veröffentlichten »Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt LERNEN« Berücksichtigung fanden (Asmussen & Ehlert, 2019). Der Struktur und Argumentationsweise dieser Empfehlungen wie auch dem Prozess zur Erstellung des Textes wird aller Voraussicht nach Modellcharakter für die Bearbeitung weiterer sonderpädagogischer Schwerpunkte zukommen.
Schon auf den ersten Blick fallen zwei terminologische Merkmale auf, die zu beachten sind. Zum einen nutzt der Text eine Kombination verschiedener sonderpädagogischer Handlungsformen, wenn er bereits im Vorwort und in der weiteren Argumentation häufig von »Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt LERNEN« spricht. Diese Kombination von Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten wird mehrfach genannt. Die Aufgaben der Sonderpädagogik – so lässt sich interpretieren – gehen auch in diesem Schwerpunkt über die Gestaltung von Unterricht hinaus. Eine solche Betonung umfassender Aufgabenstellungen entspricht fachlich den aktuellen wissenschaftlichen Beschreibungen (Heimlich, 2016). Hingegen ist die auffällige Großschreibung des Terminus »Schwerpunkt LERNEN« der Empfehlung erklärungsbedürftig und schwer nachvollziehbar.
Die nun also vorliegenden Empfehlungen sollen die Zielrichtung der UN-Konvention, der KMK-Empfehlungen von 2011 und die darauf fundierende Veränderung zu einem inklusiven Bildungssystem durch die Neuausrichtung der Argumentation unterstützen. Neu in den KMK-Empfehlungen zum Schwerpunkt Lernen ist der Terminus »Sonderpädagogischer Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsbedarf«, der den Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, wie er in den KMK-Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung von 1994 erstmals enthalten war, ersetzen soll. Die Subsidiarität, also die Nachrangigkeit der Sonderpädagogik im Vergleich zur Unterstützung in allgemeinen Schulen, gilt weiterhin als leitendes Prinzip (KMK, 2019, S. 3). Die Empfehlungen beanspruchen, sich an einem entwicklungs- und kompetenzorientierten Bild von Kindern und Jugendlichen zu orientieren, die KMK wendet sich damit explizit von einer einseitigen Defizitorientierung ab. Dennoch bleibt die Argumentation orientiert an Beschreibungen der Zielgruppe, strukturell folgt der Text weiterhin einem individuumszentrierten Beschreibungsansatz.
Bemerkenswert, wenn auch nicht neu, ist die Zielgruppenbestimmung in diesem Papier. Unterschieden wird zwischen Schülergruppen mit einem »Unterstützungsbedarf in ihrem schulischen Lernen« von Schülergruppen »mit einem festgestellten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot entsprechend einem sonderpädagogischen Förderbedarf, auch wenn die Übergänge fließend sein können« (KMK, 2019, S. 3). Damit wird zugleich der allgemeinen Schule – der Begriff umfasst die allgemeinbildenden Schulen ohne Förderschulen und soll eine wertneutralere Beschreibung gegenüber dem häufig genutzten Begriff »Regelschule« ermöglichen – die Aufgabe zugesprochen, für Lernende mit einem entsprechenden Bedarf zunächst grundsätzlich Unterstützung, Bildung und Beratung zukommen zu lassen. Damit verbunden sind wohl Sorgen um eine Entgrenzung des sonderpädagogischen Auftrags und der damit verbundenen Diffusion von Ressourcen: Wenn Unterstützungsbedarfe in einem zunehmenden Umfang als Aufgabe der Sonderpädagogik definiert werden, kommt es zu einer Delegation pädagogischer Aufgaben der allgemeinen Schule. Dahinter kann – nicht zu Unrecht – die Sorge um eine Ausweitung der Zielgruppen, Aufgaben und Erwartungen sonderpädagogischer Fachkräfte angenommen werden, die dann zu einem Personal- und Ressourcenmangel für andere Situationen führen kann.
Die allgemeine Schule soll aus ihrer Verantwortung für viele erschwerte Situationen des Lernens nicht entlassen werden. Diese Konstruktion formuliert allerdings eine Klarheit der Abgrenzung zwischen pädagogischem und sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, der ernsthaft betrachtet keine Chance auf Eindeutigkeit besitzt. Es fehlt hier an administrativen wie letztlich auch an wissenschaftlichen Kriterien zur Differenzierung zwischen den vermeintlich unterschiedlichen Gruppen.
Zugleich leitet sich daraus eine Orientierung der spezifisch sonderpädagogischen Unterstützung des Lernens an den Strukturen der allgemeinen Schule ab:
»Schulische Bildung im Schwerpunkt LERNEN orientiert sich in den Unterrichtsfächern hinsichtlich der Inhalte und der Bildungsziele an denen der allgemeinen Schule. Das heißt auch, dass das Fortbestehen des Anspruchs auf sonderpädagogische Bildungsangebote, Beratung und Unterstützung regelmäßig zu überprüfen ist« (KMK, 2019, S. 3).
Die Übergänge in beide Richtungen – von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in die durch die allgemeine Schule zu leistende Unterstützung wie auch umgekehrt – wird damit explizit angesprochen. Man kann darin die Abkehr von einem rein kategorialen Verständnis mit einer entsprechenden kategorisierenden Diagnostik (Döpfner & Petermann, 2012) hin zu einem dimensionalen Verständnis von Lernstörungen (Klauer & Lauth, 1997) sehen, zumindest zeigt sich ein dynamisches Verständnis der Entwicklung von Lernkompetenzen.
Ein eigener Schulabschluss bei zieldifferentem Unterricht im Schwerpunkt Lernen ist nicht anzustreben, dafür sind die Übergänge und Anschlussmöglichkeiten im differenzierten Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland umfassend auszubauen.
Die differenzierte Beschreibung der Bedarfe von Lernenden mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Unterstützungsangebot benennt dann einzelne Entwicklungsbereiche, die im Fokus sonderpädagogischer Unterstützung stehen sollen.
»Schülerinnen und Schüler mit erheblichen Schwierigkeiten im schulischen Lernen weisen in wesentlichen Grunderfahrungen und Grundvoraussetzungen zum Lernen … sowie bei der Entwicklung von Kompetenzen und Lernstrategien Denk- und Lernmuster auf, die bei der Begegnung und Auseinandersetzung mit schulischen Lerngegenständen zu einer Irritation bzw. Desorientierung führen können, so dass durch Unterstützungs- und Fördermaßnahmen der allgemeinen Schule allein noch keine Basis für den Anschluss an schulisches Lernen gefunden werden kann« (KMK, 2019, S. 4).
Als Stichworte zur näheren Beschreibung der erschwerten Voraussetzungen des Lernens gelten Vorerfahrungen, Interesse, Antrieb, Neugier, Durchhaltevermögen, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Motorik, sozial-emotionale Dispositionen, Denken, Wahrnehmung, Sprache, soziales Handeln und Emotionen. Zur Verursachung verweist das Papier auf soziale und individuelle Faktoren, wenn Lernende »häufig aus erschwerten Lebenssituationen in die Schule eintreten. Dabei spielen Traumatisierungen, kognitive und organische Erschwernisse ebenso eine mögliche Rolle wie das Aufwachsen in einem soziokulturell und sozioökonomisch benachteiligenden Umfeld« (KMK, 2019, S. 6). Die Debatte um die Verursachungsfaktoren, die jahrzehntelang die Fachdiskussionen einer wissenschaftlichen Bearbeitung des Feldes bestimmten (Walter & Wember, 2007), finden hier eine zusammenfassende Berücksichtigung. Vielleicht fallen bei näherer Betrachtung jedoch aktuelle Perspektiven ins Auge, die hier keine Berücksichtigung finden. Ein radikal konstruktivistisches Verständnis wie auch ein Ansatz der Analyse von Barrieren in der Linie der International Classification of Functioning lässt sich hier nicht nachweisen.
Die Listung der Symptome greift auf die zentralen Bereiche schulischen Lernens, häufig als Kulturtechniken benannt, und damit auf regelmäßig fokussierte Themenfelder zurück. Ergänzt wird dies durch eine metakognitive Perspektive: Lernende mit einem Anspruch auf sonderpädagogische Unterstützung
»zeigen in besonderer Weise Schwierigkeiten beim Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen sowie beim Lernen des Lernens. Probleme beim Lernen-Lernen ergeben sich besonders in der Steuerung und Reflexion des Bildungsprozesses (Metakognition) sowie beim Einsatz bzw. Nutzen von Lernstrategien« (KMK, 2019, S. 6).
Aus der Symptomliste ergeben sich auch Konsequenzen für die Diagnostik: Relevante Informationen über die grundlegenden Lernprozesse mit Metakognition sind zu erheben.
Auf diese Grundlagen greift die KMK nun in ihrem Definitionsversuch zurück:
»Bei Schülerinnen und Schülern, denen unter den gegebenen individuellen Voraussetzungen – auch bei Ausschöpfung aller Formen der pädagogischen und unterrichtsfachlichen Unterstützung – ein Erreichen der Mindeststandards und der Lernziele der allgemeinen Schule über einen längeren Zeitraum nicht oder nur in Ansätzen möglich ist, kann sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt LERNEN angenommen werden« (KMK, 2019, S. 6).
Zur Definition der Zielgruppe wird damit implizit die Qualität des Unterstützungsangebots der allgemeinen Schule herangezogen. Es sind damit nicht allein individuelle Merkmale gemeint, sondern die fehlende Passung von Bedarf und Unterstützungsangebot – und das über eine erhebliche Zeitspanne hinweg mit der Gefahr eines Scheiterns an Bildungsnormen und damit von schulischen Bildungsbiographien. Die damit erforderliche diagnostische Abgrenzung eines »Bedarfs an sonderpädagogischen Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten im Schwerpunkt LERNEN zu Schülerinnen und Schülern, die aufgrund ihrer Lernvoraussetzungen grundsätzlich den allgemeinen Leistungsanforderungen und Standards gerecht werden könnten« (KMK, 2019, S. 11), stellt der Diagnostik schwierige, vielleicht sogar nicht erfüllbare Aufgaben. Nicht nur dass Annahmen über die zukünftige Entwicklung von Lernkompetenzen von Schüler*innen einzubeziehen sind, diese Definition erfordert zugleich die Einschätzung der Leistungsfähigkeit der allgemeinen Schule für aktuelle und insbesondere zukünftige Unterstützungsprozesse. Diese Aufgabenbestimmung wird weiterhin zu Unschärfen in der Diagnostik führen. Zugleich fehlt an dieser Stelle eine konsequente Orientierung am biopsychosozialen Modell der International Classification of Functioning (ICF) (Hollenweger, 2015), der ja eine wichtige Funktion in der Umsetzung der UN-Konvention zukommt.
Die Empfehlungen der KMK haben auch die Aufgabe, Orientierung für ein sonderpädagogisches Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebot zu entwickeln.
»Erfolgreiche Lernprozesse vollziehen sich auf der Basis eines gelingenden Zusammenwirkens der Entwicklungsbereiche Motorik und Wahrnehmung, Denken und Aufbau von Lernstrategien, Kommunikation und Sprache sowie Emotionen und soziales Handeln. Die Grundlage bilden adaptiv gestaltete Curricula bzw. individuell angepasste Anforderungsbeschreibungen, die (Lern-)Barrieren berücksichtigen und es ermöglichen, sich an den Curricula der allgemeinen Schule zu orientieren« (KMK, 2019, S. 6 f).
Nimmt man diese Grundlagen beim Wort, stellt sich die KMK selbst die Aufgabe zu weitreichenden Veränderungen der Curricula in Richtung auf Passung von Lehrplänen an die Bedürfnisse der Lernenden. Die grundsätzliche Frage, ob es weiterhin eigene Curricula für den Unterricht bei sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf Lernen geben soll (»adaptiv gestaltete Curricula«), also die bisherigen Lehrpläne für den Förderschwerpunkt Lernen weiterentwickelt werden sollten oder ob die Curricula der allgemeinen Schule gelten und durch »individuell angepasste Anforderungsbeschreibungen« gewissermaßen auf den einzelnen Lernenden adaptiert werden sollen, sind jedoch zwei divergierende Positionen, die hier nebeneinander gestellt werden. Während eigene Curricula für die Gestaltung einer eigenständigen Förderschule Lernen eine bedeutende Leitfunktion einnehmen, ist die langfristige Wirkung einer solchen curricularen Selbstständigkeit als Bildungsgang mit niedrigerem Abschluss unterhalb des allgemeinen Abschlusses der Sekundarstufe 1 kontraproduktiv für schulische Teilhabe. Im Kontext gemeinsamen Lernens hingegen beansprucht das Curriculum der allgemeinen Schule Gültigkeit. Hier könnte ein eigenständiges Curriculum höchstens eine Funktion zur Individualisierung der Lernanforderungen und Lernbeurteilung übernehmen, wie etwa im Bayerischen LehrplanPlus Förderschule im Schwerpunkt Lernen (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, 2012). Soll jedoch die »individuell angepasste Anforderungsbeschreibung« diese Funktion übernehmen, wird dies eine rechtliche Legitimation (Bewertung von Schulleistungen) erfordern. Hier stellen sich also der Bildungspolitik zukünftige Aufgaben, die über spezifische Fragen sonderpädagogischer Unterstützung sogar hinausgehen – Beispiel Passung der Curricula – und es wird spannend sein, ob die politisch Verantwortlichen auf die Unterstützung von anderen Interessengruppen, insbesondere von Eltern und Lehrerverbänden, bauen können.
Die adaptive Gestaltung soll den individuellen Bedürfnissen entsprechen: »Erziehung und Unterricht orientieren sich an den individuellen Unterstützungsbedürfnissen der einzelnen Schülerin bzw. des einzelnen Schülers« (KMK, 2019, S. 7). Dies setzt natürlich die zuvor genannten Möglichkeiten zur Adaption der curricularen Vorgaben voraus, damit möglichst ohne systematische Benachteiligung (Zugang zu Bildungsabschlüssen, Stigmatisierungseffekte) diese Individualisierung sonderpädagogischer Angebote erfolgen kann. An dieser Stelle bleibt offen, welche Theorien des Lehrens und Lernens herangezogen werden. Ein Hinweis auf spezifische Konzepte oder Methoden zur Bestimmung der individuellen Bedürfnisse fehlt, so dass hier die Akteur*innen in der Praxis weiterhin eine Wahlfreiheit besitzen, die eine hohe Expertise und wissenschaftlich gut abgesicherte Professionalität voraussetzt. Die konkrete Planung und Implementation sonderpädagogischer Unterstützungsangebote untersteht in dieser Konzeption dem vorrangigen Auftrag einer individuellen Passung, die jedoch aus divergierenden Perspektiven bestimmt werden und dann zu sehr unterschiedlichen Handlungskonzepten führen kann. Eine Orientierung an bestimmten Standards, wie sie auch in der Sonderpädagogik gewinnbringend diskutiert wurde (Wember & Prändl, 2009), könnte zumindest für eine gewisse Vergleichbarkeit sorgen. Die Ergebnisse der Evaluationsforschung machen zugleich deutlich, dass es nicht beliebig ist, wie und mit welchen Verfahren eine solche Unterstützung gestaltet wird (Grünke, 2006; Wember, 2015).
In der Konsequenz bedingt dies für die Bildungsadministration wie auch für das praktische Handeln von Fachkräften die Hervorhebung einer stark individualisierten entwicklungs- und prozessorientierten Diagnostik sowie die Forderung nach einer verstärkten Berücksichtigung individueller Normorientierung in der Leistungsmessung und -bewertung. Es
»soll regelmäßig geprüft werden, ob eine Leistungsbewertung in allen Lern- und Leistungsbereichen bzw. in Teilbereichen bezogen auf die Standards der allgemeinen Schule möglich ist und der Anspruch auf ein zieldifferentes Bildungsangebot im Schwerpunkt LERNEN damit weiter besteht oder aufzuheben ist« (KMK, 2019, S. 13).
Dem Charakter des bildungspolitischen Kompromisses entsprechen die Empfehlungen durch ihre gleichwertige Anerkennung der vorfindbaren Organisationsformen:
»Das Spektrum sonderpädagogischer Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote reicht von der Phase des Übergangs in die Primarstufe bis zum Übergang in die berufliche Bildung. Es ist durch präventiv wirkende, unterrichtsbegleitende sowie schulische Maßnahmen gekennzeichnet, die von punktuellen Unterstützungsangeboten in einzelnen Unterrichtsfächern bis zu einem vollumfänglichen zieldifferenten Unterrichts- und Schulangebot reichen können« (KMK, 2019, S. 9).
Daran anschließend lässt sich jedoch durchaus die Frage stellen, warum nicht präventive Maßnahmen in vorschulischen Einrichtungen, außerschulischen Angeboten und in Phasen beruflicher Bildung gezielt in die Konzeption einbezogen werden.
Die regionale und fachliche Vernetzung wird durchaus unterstrichen. Sonderpädagogische Unterstützungssysteme sollten sich zukünftig in regionalen Netzwerkstrukturen weiterentwickeln (KMK, 2019, S. 3).
Zahlreiche Teilnehmende im Wuppertaler Fachgespräch begrüßten die Tatsache, dass nun aktuelle KMK-Empfehlungen für den sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen vorliegen. Angesichts der real existierenden Problemlagen des Bildungssystems, den Kindern mit besonderen Bedarfen gerecht zu werden, so dass Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben, Rechnen sowie beim Lernen des Lernens entstehen und die mit der überwiegenden Herkunft aus sozial benachteiligenden Lebenswelten zusammenhängen, sei dieser Schwerpunkt keineswegs zu vernachlässigen. Auch in einem inklusiven Bildungssystem würden diese Problemlagen keineswegs automatisch verschwinden. Auch weiterhin wird die sonderpädagogische Fachkompetenz im Schwerpunkt Lernen als erforderlich und unverzichtbar eingeschätzt. Auch in einem inklusiven Bildungssystem besitzt eine entsprechende sonderpädagogische Fachkompetenz eine unterstützende Funktion.
Der Terminus »sonderpädagogischer Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsbedarf« lässt sich aufgrund seiner bildungspolitischen Funktion verstehen, er kann jedoch nicht als wissenschaftliche Begrifflichkeit verstanden werden. Dies ist in der Diskussion und Implementation der Empfehlungen zu beachten.
Kritisiert wurde ebenfalls die Kennzeichnung der Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt Lernen in den Empfehlungen, insbesondere auch die Großschreibung des Begriffs. Im Gegensatz zum Anspruch eines inklusiven Bildungs- und Erziehungssystems ist in den Empfehlungen ein Festhalten an einer Zwei-Gruppen-Theorie erkennbar. Der sonderpädagogische Schwerpunkt Lernen ist gemäß der Konzeption der Empfehlungen jedoch nicht mehr abgrenzbar, Unterstützung im Lernen beziehe sich letztlich auf alle Schüler*innen und in aller Regel auch auf alle anderen sonderpädagogischen Schwerpunkte. Dahinter steht, so die Einschätzung von Fachvertreter*innen, das weiterhin ungelöste Problem der Abgrenzung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung von anderen Bedarfen aufgrund heterogener Ausgangslagen, nicht zuletzt aus Ressourcengründen und der fehlenden Personalressourcen.
Ein expliziter Kritikpunkt im Fachgespräch stellt die Thematisierung der sonderpädagogischen Förderdiagnostik in den Empfehlungen dar. Der Auftrag der Diagnostik ist weg von Fragen der Platzierung von Kindern und Jugendlichen im Bildungssystem und hin auf die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen auszurichten. Auf der Ebene des Unterrichts unterstützten viele Fachvertreter eine Pluralität von Konzeptionen und Methoden des Unterrichts.
Im wissenschaftlichen Diskurs der Sonderpädagogik kristallisiert sich, neben kontextspezifischen Begriffsverwendungen, im Unterschied zu kategorialen Festlegungen zunehmend eine dimensionale Beschreibung von Bedarfen und die kriteriale Form der Abgrenzung von unterschiedlichen Unterstützungs- bzw. Förderbedarfen heraus. Gerade an dieser Stelle kann sich eine engere Zusammenarbeit zwischen Bildungsadministration auf der einen und Sonderpädagogik als Wissenschaft auf der anderen Seite für die reflektierte Begriffsentwicklung und eine auch wissenschaftlich fundierte Entwicklung von Kriterien der Unterstützung als hilfreich erweisen.
Angesichts des großen Einflusses der empirischen Bildungsforschung, die selten differenziert genug Aussagen für sonderpädagogische Fragestellungen bieten, sollten die vorhandenen Forschungsbefunde aus der Sonderpädagogik bei der Erstellung von KMK-Empfehlungen zukünftig stärker berücksichtigt werden. Die neuen Empfehlungen sind zugleich geeignet, um neue Forschungsperspektiven in der Sonderpädagogik, auch zu Fragen im Schwerpunkt Lernen, anzustoßen. Die Erprobung und Überprüfung von Konzepten, Verfahren und Methoden muss die Wirksamkeit in zielgenauen empirischen Studien unter Beweis stellen, um die Umsetzung von bildungspolitischen Zielsetzungen mit möglichst geringen unerwünschten Wirkungen zu ermöglichen. Auch die unterschiedliche Wahrnehmung von sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen zwischen den Professionen und Personen (Lehrkräften der allgemeinen Schulen und für Sonderpädagogik, Eltern und Lernende) stellt ein hoch bedeutsames Forschungsfeld dar, da sich nach neueren Studien hier gravierende Unterschiede in den verschiedenen Perspektiven ergeben, die nur zum geringen Teil zur Deckung gebracht werden können.
Der Wunsch nach einem intensiveren Dialog der Bildungspolitik und Bildungsadministration mit der Wissenschaft zeigt sich angesichts der Veröffentlichung der KMK-Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt Lernen sehr deutlich. Sinnvollerweise findet ein solcher Dialog in großer Kontinuität statt, und nicht nur in einer späten Phase der Erarbeitung bildungspolitischer Papiere. Die Perspektiven der Wissenschaft können Optionen und Risiken frühzeitig offenlegen.
Althoff & Melzer, C. (2018). »Was wir über unsere Gesellschaft wissen, wissen wir aus den Massenmedien« Analyse der Diskussion zur inklusiven Bildung in überregionalen Zeitungen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 69, 569–581.
Amussen, S. & Ehlers, A. (2019). Empfehlungen zur schulischen Bildung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt LERNEN. Entstehungsgeschichte, inhaltliche Weiterentwicklung und Diskussion der überarbeiteten »Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Lernen«. Zeitschrift für Heilpädagogik, 70(7), 339–342.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018). Bildung in Deutschland 2018 Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung. wbv.
Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus (Hrsg.) (2012). Rahmenlehrplan für den Förderschwerpunkt Lernen. https://www.lehrplanplus.bayern.de/schulart/foerderschule/inhalt/fachprofile?w_schulart=foerderschule&wt_1=schulart&w_foerderschwerpunkt=lernen&wt_2=foerderschwerpunkt
Bless, G. (2018). Integrationsforschung: Entwurf einer Wissenskarte. Zeitschrift für Heilpädagogik, 68, 216–227.
Döpfner, M. & Petermann, F. (2012). Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Hogrefe.
Grünke, M. (2006). Zur Effektivität von Fördermethoden bei Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen: Eine Synopse vorliegender Metaanalysen. Kindheit und Entwicklung, 15, 238–253.
Heimlich, U. (2016). Pädagogik bei Lernschwierigkeiten. Sonderpädagogische Förderung im Förderschwerpunkt Lernen (2. Aufl.). Klinkhardt.
Hollenweger, J. (2015). Anwendung der ICF im Kontext von Lernen und Lernstörungen. Lernen und Lernstörungen, 4, 31–41.
Klauer, K. J. & Lauth, G. W. (1997). Lernbehinderungen und Leistungsschwierigkeiten bei Schülern. In F. E. Weinert (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie: Pädagogische Psychologie, Bd. 3: Psychologie des Unterrichts und der Schule (S. 701–738). Hogrefe.
Kultusministerkonferenz (2019). Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung, Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt LERNEN. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2019/2019_03_14-FS-Lernen.pdf
Preuss-Lausitz, U. (2019). Ergebnisse der Inklusions- und Separationsforschung nach zehn Jahren UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bilanz und Perspektiven. Zeitschrift für Heilpädagogik, 70, 468–483.
Walter, J. & Wember, F.B. (Hrsg.). Sonderpädagogik des Lernens. Hogrefe.
Wember, F.B. (2015). Unterricht professionell: Orientierungspunkte für einen inklusiven Unterricht mit heterogenen Lerngruppen. Zeitschrift für Heilpädagogik, 66, 456–473.
Lern- und Verhaltensstörungen stellen Lehrkräfte in Schulen seit jeher vor sehr große Herausforderungen, welche sich seit dem Paradigmenwechsel zur Inklusion noch erhöht haben (vgl. Hartke, 2016). Für eine wirksame Unterstützung und Förderung der betreffenden Kinder und Jugendlichen ist ein differenziertes Wissen bzgl. der Erscheinungsformen und der Bedingungsgefüge erforderlich, auf deren Grundlage dann eine methodisch hochwertige Diagnostik konzipierbar wird, welche eine passende, individualisierte Förderung erst möglich macht.
Lernstörungen lassen sich als gravierende Minderleistungen beim absichtsvollen Wissenserwerb in einer formalisierten Lernumgebung definieren. Einerseits lassen sich Lernstörungen als Leistungsschwächen beim Kind diagnostizieren (z. B. unterdurchschnittliche Intelligenz, Teilleistungsschwächen, schulleistungsspezifische Schwächen), die nicht auf eine Sinnesschädigung, eine längere Abwesenheit von der Schule oder einen eindeutig unangemessenen Unterricht zurückgeführt werden dürfen. Andererseits haben Kontextvariablen einen hohen Erklärungswert und zwar sowohl im Hinblick auf die Entstehungsbedingungen (z. B. wenig lernanregendes familiäres Umfeld, Kultur- und Sprachbarrieren) als auch bzgl. aktueller Faktoren, wie z. B. der individuellen Lehrkraft als normativer Instanz bei der subjektiven Zuweisung des Labels einer Lernschwäche (vgl. Linderkamp & Grünke, 2007).
Bei den Lernstörungen sind Lese-Rechtschreibschwäche, Rechenschwäche, Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (allgemeine Lernschwäche), Lernbehinderung und Underachievement zu unterscheiden. Die jeweiligen störungsspezifischen Merkmale sind in Infobox 1 angeführt.
Infobox 1: Störungsspezifische Merkmale von Lernstörungen
• umschriebene Probleme beim Schriftspracherwerb
• werden bereits beim Erstleseunterricht deutlich
• keine/kaum zeitgleiche Auffälligkeiten in anderen Fächern
• gravierender Unterschied (mindestens zwei Standardabweichungen) zwischen dem allgemeinen intellektuellen Niveau und der Lese- und Rechtschreibleistung bzw.
• alternativ: Prozentrang < 15 in einem standardisierten Lese- bzw. Rechtschreibtest
Wenn die Schwierigkeiten auf den Bereich des Rechtschreibens begrenzt sind, liegt eine (isolierte) Rechtschreibstörung vor.
• unzureichende Rechenfertigkeiten im Bereich der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division
• Probleme in der Pränumerik schon im Vorschulalter auffällig
• keine/kaum zeitgleiche Auffälligkeiten in anderen Fächern
• gravierender Unterschied (mindestens zwei Standardabweichungen) zwischen dem allgemeinen intellektuellen Niveau und der Rechenleistung bzw.
• Prozentrang < 15 in einem standardisierten Rechentest
• basale Probleme beim Erlernen des Lesens, des Schreibens und des Rechnens
• gravierender Unterschied (mindestens zwei Standardabweichungen) zwischen dem allgemeinen intellektuellen Niveau und den Schulleistungen
• basale Probleme beim Erlernen des Lesens, des Schreibens und des Rechnens
• gravierender Rückstand des allgemeinen intellektuellen Niveaus; reduzierte Allgemeinintelligenz (IQ 70–85)
• überdurchschnittliche Intelligenz
• bereichsübergreifendes Zurückbleiben schulischer Leistungen hinter dem Intelligenzniveau (mindestens eineinhalb Standardabweichungen)
• Schulleistungen bestenfalls im Normalbereich
Die Noten der Schüler*innen können nur im Verhältnis zu ihrer individuellen Begabung, nicht aber hinsichtlich der sozialen Bezugsnorm ihrer jeweiligen Klassen als schlecht bezeichnet werden.
Lernstörungen weisen unterschiedliche Prävalenzen auf, wobei die spezifischen Lernstörungen je nach Festlegung des Diskrepanzkriteriums bzw. der Standardabweichung variieren:
• Lese-Rechtschreibschwäche: 3.7 % (1.0 SD), 2.33 % (1.3 SD), 1.8 % (1.5 SD); Rechenschwäche: 12.9 % (1.0 SD), 7.7 % (1.3 SD), 4.9 % (1.5 SD); Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten: 3.5 % (1.0 SD), 1.9 % (1.3 SD), 1.1 % (1.5 SD; Moll et al., 2014)
• Lernbehinderung: 2.6 % (KMK, 2020)
• Underachievement: Etwa 0.3 %. In der Gruppe der Hochbegabten liegt die Zahl deutlich höher, ist aber schwer zu beziffern, da Underachievement mal als allgemeines, mal als bereichsspezifisches Phänomen definiert und diagnostisch sehr unterschiedlich erfasst wird (Preckel & Vock, 2013).
Verhaltensstörungen stehen für maladaptive sozial-emotionale Reaktionen und Handlungsweisen. Sie sind dann als Zeichen einer Störung zu werten, wenn das betreffende Verhalten
• grob von den zeit-, kultur- oder gruppenspezifischen Erwartungsnormen abweicht,
• über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate) mit großer Häufigkeit und hoher Intensität auftritt,
• sich in mindestens zwei Lebensbereichen äußert,
• die eigene Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie die Interaktionsfähigkeit mit der Umwelt beeinträchtigt und
• ohne gezielte pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend abgebaut werden kann (Linderkamp & Grünke, 2007; Goetze, 2007; Myschker, 2005).
Verhaltensstörungen lassen sich in Störungen mit unterkontrolliertem Verhalten (sogenannte externalisierende Verhaltensstörungen) und Störungen mit überkontrolliertem Verhalten (internalisierende Verhaltensstörungen) einteilen.
Bei den externalisierenden Verhaltensstörungen lassen sich im Wesentlichen drei Problematiken voneinander abgrenzen: die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten, die Störungen des Sozialverhaltens und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.
Die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten stellt eine impulsiv-aggressive Störungsform dar, d. h. es liegt eine durchaus von Ängstlichkeit begleitete, impulsive bzw. eine andere Problematik der Selbstkontrolle vor. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz sowie verzerrte Wahrnehmung der Bedrohung oder Benachteiligung. Bei Störungen des Sozialverhaltens handeln die Kinder und Jugendlichen instrumentell-aggressiv, d. h. nicht aus dem Affekt heraus. Sie möchten Macht und Dominanz herstellen, um gezielt eigene Interessen durchzusetzen. Dabei sind sie furchtlos, emotional unempfindsam und unempathisch. Es besteht kaum Leidensdruck und kaum Bereitschaft zur Veränderung (vgl. Stadler, 2012). Insofern stellen sich Störungen des Sozialverhaltens deutlich schwerwiegender dar. Störungsspezifische Merkmale von externalisierenden Verhaltensstörungen sind in Infobox 2 zu finden.
Infobox 2: Störungsspezifische Merkmale von externalisierenden Verhaltensstörungen
• das Kind ist andauernd (seit wenigstens sechs Monaten), beständig und in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß aufbrausend, empfindlich und uneinsichtig für eigenes Fehlverhalten
• es streitet sich häufig mit Erwachsenen
• widersetzt sich häufig Anweisungen oder Regeln von Erwachsenen
• verärgert und beleidigt andere absichtlich
• es bestehen bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen oder schulischen Funktionsbereichen
• Brechen gesellschaftlicher Normen und Regeln
• wiederholtes und anhaltendes Verletzen der Rechte anderer
• aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Tieren (wie Schlägereien, Tierquälerei, Einsatz von Waffen, Erzwingen sexueller Handlungen)
• Brandstiftung
• Zerstören des Eigentums anderer
• Einbrüche
• Betrügen
• Stehlen
• wiederholt über Nacht weg bleiben vor dem 13. Lebensjahr
• Schule schwänzen
• bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen oder schulischen Funktionsbereichen
• Kardinalsymptomatiken Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität/Impulsivität müssen bereichsübergreifend (also in Kindergarten/Schule und Elternhaus) vorliegen
• müssen seit wenigstens sechs Monaten zu beobachten sein
• müssen in einem verglichen mit dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes deutlich unangemessenen Ausprägungsgrad vorliegen
• verursachen einen deutlichen Leidensdruck bzw. eine manifeste Beeinträchtigung der sozialen und schulischen Funktionsfähigkeit
Zu den internalisierenden Störungen zählen v. a. Kindheitsängste sowie Depressionen. Bei den Ängsten lassen sich im Kindes- und Jugendalter die Störung mit Trennungsangst, die Soziale Angst und die Generalisierte Angststörung unterscheiden. Die jeweiligen störungsspezifischen Merkmale sind in Infobox 3 angeführt.
Infobox 3: Störungsspezifische Merkmale von internalisierenden Verhaltensstörungen