Kinder- und Jugendhilfe - Peter Hansbauer - E-Book

Kinder- und Jugendhilfe E-Book

Peter Hansbauer

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Beschreibung

Die Kinder- und Jugendhilfe ist eines der wichtigsten und der differenziertesten Arbeitsfelder in der Sozialen Arbeit. Dieses Lehrbuch trägt der Vielfalt der Kinder- und Jugendhilfe Rechnung und liefert eine entsprechend umfassende Darstellung: von den grundlegenden konzeptionellen Vorstellungen über die zentralen Handlungsfelder und Strukturen bis hin zum professionellen Handeln im Rahmen der dort bestehenden vielfältigen Spannungsfelder. Studierende der Sozialen Arbeit und Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe erlangen so ein Verständnis für den gesellschaftlichen, fachlich-konzeptionellen und organisationalen Rahmen, in den die unterschiedlichen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe eingebettet sind. Die aktuell diskutierten Planungen zu Änderungen im SGB VIII und deren Folgen für die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe sind selbstverständlich in die Darstellung mit einbezogen. Mit der inhaltlichen Ausrichtung an der Leitfrage "Was benötigt man, um eine gute Kinder- und Jugendhilfe zu gestalten?" erhält das geplante Lehrbuch ein einzigartiges Profil. Es richtet den Fokus aber nicht nur auf das Herstellen einer guten Kinder- und Jugendhilfe, sondern ermöglicht auch einen Vergleich zwischen den Handlungs-, Kompetenz- und Organisationsprofilen der verschiedenen Handlungsfelder, Organisationen und Träger innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe. Auf diese Weise bietet das Lehrbuch den Leserinnen und Lesern fundierte Orientierung und zugleich alltagstaugliche Hilfen für die Arbeitspraxis.

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Inhalt

Cover

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Vorwort des Herausgebers

Zu diesem Buch

1 Ein historischer Abriss über die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zu einem eigenständigen System mit rechtlich- institutionell garantierter Zuständigkeit

1.1 Erste organisatorische Differenzierungen – Fürsorge im ausgehenden Mittelalter (bis ca. 1500)

1.2 Ausgrenzung und Sozialdisziplinierung – Armenpolitik und Kinderfürsorge am Beginn der Neuzeit (1500–1650)

1.3 Kommunale und private Kinderfürsorge unter dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung (1650–1820)

1.4 Staatlicher Rückzug aus der Fürsorge und private Rettungshausbewegung (1820–1870)

1.5 Das System der Kinder- und Jugendhilfe formiert sich (1870–1915)

1.5.1 Das Wiedererstarken öffentlicher Fürsorge

1.5.2 Jugendbewegung und Jugendpflege

1.5.3 Das Jugendamt als generativer Kern der Kinder- und Jugendhilfe

1.6 Die Einführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (1915–1925)

1.7 Kinder- und Jugendhilfe im Nationalsozialismus (1933–1945)

1.8 Fortsetzung und Neubeginn in BRD und DDR (1945–1990)

1.9 Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) – SGB VIII

2 Kinder- und Jugendhilfe heute – Selbstverständnis und konzeptionelle Leitorientierungen

2.1 Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe – zwischen Infrastrukturleistung, Ansprüchen auf Hilfe und Schutzauftrag für Kinder und Jugendliche

2.2 Konzeptionelle Entwicklungslinien der Kinder- und Jugendhilfe

2.2.1 Zur Bedeutung konzeptioneller Orientierungen für professionelles Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe

2.2.2 Umfassendere theoretische Orientierungen

2.2.3 Konzeptionelle Leitbegriffe heute

3 Trägerstrukturen in der Kinder- und Jugendhilfe

3.1 Öffentliche, freie gemeinnützige und gewerbliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe

3.2 Zum Verhältnis öffentlicher und freier Träger in der Kinder- und Jugendhilfe

3.3 Gewährleistungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe

3.4 Finanzierungsmodalitäten

4 Professionelles Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe

4.1 Professionelles Handeln

4.1.1 Kinder- und Jugendhilfe als Feld »komplexer Tätigkeit«

4.1.2 Diagnose, Inferenz und Behandlung als Kern professionellen Handelns in komplexen Situationen

4.1.3 Professionalität und die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe

4.2 Organisation als Kontext professionellen Handelns

4.2.1 Definition und Merkmale von Organisation

4.2.2 Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe in ihrem Bezug zur Umwelt

4.3 Professionelles Handeln in interorganisationaler Kooperation

4.4 Infrastruktur als Bedingungskonstellation für professionelles Handeln

4.5 Professionelles Handeln und Kompetenz

4.5.1 Fallkompetenz als Voraussetzung professionellen Handelns

4.5.2 Systemkompetenz als Voraussetzung professionellen Handelns

4.5.3 Selbstkompetenz als Voraussetzung professionellen Handelns

5 Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe

5.1 Kinder- und Jugendarbeit

5.1.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.1.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.1.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.1.4 Entwicklungsperspektiven

5.2 Jugendberufshilfe/arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit

5.2.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.2.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.2.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.2.4 Entwicklungsperspektiven

5.3 Schulsozialarbeit

5.3.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.3.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.3.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.3.4 Entwicklungsperspektiven

5.4 Kindertageseinrichtungen/Kindertagespflege

5.4.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.4.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.4.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.4.4 Entwicklungsperspektiven

5.5 Förderung der Erziehung in der Familie

5.5.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.5.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.5.3 Spannungsfelder

5.5.4 Entwicklungsperspektiven

5.6 Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)

5.6.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.6.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.6.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.6.4 Entwicklungsperspektiven

5.7 Hilfen zur Erziehung

5.7.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.7.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.7.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.7.4 Entwicklungsperspektiven

5.8 Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung

5.8.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.8.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.8.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.8.4 Entwicklungsperspektiven

5.9 Mitwirkung in familiengerichtlichen Verfahren

5.9.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.9.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.9.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.9.4 Entwicklungsperspektiven

5.10 Vormundschaft/Pflegschaft

5.10.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.10.2 Handlungsanforderungen an die Akteure

5.10.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.10.4 Entwicklungsperspektiven

5.11 Mitwirkung in jugendgerichtlichen Strafverfahren – Jugendgerichtshilfe (JGH)

5.11.1 Funktion und sozialpädagogischer Auftrag

5.11.2 Handlungsanforderungen an die Fachkräfte

5.11.3 Spannungsfelder im Handlungsfeld

5.11.4 Entwicklungsperspektiven

6 Perspektiven: Kinder- und Jugendhilfe – ein professioneller Institutions- und Handlungsbereich in kontinuierlicher Entwicklung

6.1 Aspekte zur Beobachtung und Weiterentwicklung von Professionalität

6.1.1 Haltung: Ambivalenz-Toleranz und balancierender Umgang mit Widersprüchen

6.1.2 Herausbildung und Festigung eines auf Reflexivität ausgerichteten Verständnisses von Planung und Steuerung in der Kinder- und Jugendhilfe

6.1.3 Förderung von Kompetenzen zur Kooperation mit anderen Organisationen (Kooperationskompetenz)

6.1.4 Bereitschaft und Fähigkeit zur systematischen Bewertung von Qualität, einschließlich der Thematisierung von »Wirkung«

6.2 Thematische Herausforderungen für die Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe

6.2.1 Umgang mit kultureller Vielfalt

6.2.2 Medien und Digitalisierung

6.2.3 Inklusion als struktureller Einbezug von jungen Menschen mit Behinderungen in die Kinder- und Jugendhilfe

6.3 Schlussbemerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Literatur

Die Autoren

Kohlhammer

Grundwissen Soziale Arbeit

Herausgegeben von Rudolf Bieker

Das gesamte Grundwissen der Sozialen Arbeit in einer Reihe: theoretisch fundiert, immer mit Blick auf die Arbeitspraxis, verständlich dargestellt und lernfreundlich gestaltet – für mehr Wissen im Studium und mehr Können im Beruf.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/grundwissen-soziale-arbeit

Peter Hansbauer,Joachim Merchel,Reinhold Schone

Kinder- und Jugendhilfe

Grundlagen, Handlungsfelder,professionelle Anforderungen

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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2., aktualisierte Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-045034-9

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-045035-6epub: ISBN 978-3-17-045036-3

Vorwort des Herausgebers

Mit dem so genannten »Bologna-Prozess« galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin »berufliche Handlungsfähigkeit« zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autorinnen und Autoren der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese‍(r)- freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

Wie der Titel bereits andeutet: Das vorliegende Buch soll Leserinnen und Leser in die Kinder- und Jugendhilfe einführen, ihnen grundlegendes Wissen und grundlegende Orientierungen vermitteln zu dem, was sich in Deutschland als Vielfalt von Institutionen und Handlungsfeldern herausgebildet hat und im Begriff »Kinder- und Jugendhilfe« gebündelt wird. Man kann sich auf verschiedenen Wegen die Kinder- und Jugendhilfe zu erschließen versuchen: über die Rekonstruktion der geschichtlichen Grundlagen, über die Darstellung der rechtlichen Grundlagen (insbesondere des SGB VIII), über die additive Erläuterung von Handlungsfeldern und der darin wirkenden Einrichtungsformen u. a. m. Unsere Darstellung stellt einen anderen Faktor in das Zentrum: die Anforderungen an professionelles Handeln.

Die Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe sind dadurch zu einem gesellschaftlich relevanten Institutionensystem geworden, dass sie Erziehungsanforderungen, die in der Familie und in anderen pädagogischen Institutionen (z. B. Schulen) nicht durchgängig und ausreichend bewältigt werden (können), mit einer einigermaßen glaubwürdigen Bearbeitungs- und Erfolgsoption angehen. Die Akteurinnen und Akteure der Kinder- und Jugendhilfe – so die Erwartung – handeln nicht zufällig und nicht primär ›aus dem Bauch heraus‹, sondern methodisch strukturiert. Aber was macht diese »methodische Strukturierung« aus? Wodurch erweisen sich die in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Personen als »Fachkräfte« und die Einrichtungen als »kompetente, vertrauenswürdige Organisationen«, also als Teile eines Institutionensystems, dem man zutraut, Erziehungsanforderungen gut zu realisieren und die die Gesellschaft dementsprechend finanziert? Wie ist die spezifische Form von »Professionalität« zu beschreiben, bei deren Realisierung die Kinder- und Jugendhilfe die für ihren Bestand erforderlichen materiellen und immateriellen Ressourcen zugesprochen bekommen und die sie auch künftig aufrechterhalten kann?

Die Erläuterung der Anforderungen an professionelles Handeln bildet den thematischen Ausgangspunkt und die inhaltliche Klammer des Buches. Kapitel 4 charakterisiert die Handlungslogik für die Bearbeitung und Bewältigung komplexer Anforderungen, wie sie für sozialpädagogische Aufgaben und Kontexte typisch sind. Ferner wird in diesem Kapitel verdeutlicht, dass professionelles Handeln sich nicht allein in interaktiven Bezügen (Fachkraft – Leistungsadressat bzw. Leistungsadressatin) abspielt, sondern diese Interaktionen sich in einem organisationalen Rahmen vollziehen, der sich fördernd oder hinderlich auf die Herausbildung von Professionalität auswirkt. Professionalität in der Interaktion und Organisation stehen somit in einer engen Verbindung, und Organisation als professionalitätsbedingender Faktor ist wiederum nicht zu denken ohne die Einbindung in interorganisationale Bezüge und in eine (regional und überregional) gewachsene Infrastruktur. Professionalität als methodische Handlungsstrukturierung und deren organisationale und infrastrukturelle Rahmung, wie sie in Kapitel 4 charakterisiert werden, markieren also das thematische Zentrum der Darstellung (▸ Kap. 4).

Organisationssystem und Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, wie wir sie heute vorfinden, sind nicht zu verstehen ohne ihre geschichtliche Basis und ohne die konzeptionellen Leitlinien, die sowohl jeweilige gesellschaftliche Anforderungen und deren Dynamik als auch deren Verarbeitung in professionsinternen Debatten widerspiegeln. Insofern bedarf es zum Verständnis heutiger Kinder- und Jugendhilfe einer kurzen Darstellung des ›Geworden-Seins‹ dieses Institutionensystems (▸ Kap. 1) und einer Erläuterung der zentralen Leitorientierungen und Leitkonzepte, die die Vielfalt der Konzeptionen in den Handlungsfeldern rahmen und die aktuell für die Legitimation von handlungsfeldorientierten Konzeptionen eine erhebliche Bedeutung haben (▸ Kap. 2). Eine Einführung in die Kinder- und Jugendhilfe würde ferner ihren orientierenden Anspruch nur unzureichend einlösen, wenn darin nicht die tätigen und für alle sichtbaren Träger (öffentliche, freie gemeinnützige und freie gewerbliche Träger) und deren Verhältnisse zueinander angesprochen und erläutert würden (▸ Kap. 3). In den »Trägern« und in deren Bezügen zueinander konkretisieren sich diejenigen formalrechtlichen und trägerpolitischen Konstellationen, innerhalb derer die »Organisation« als Rahmung professionellen Handelns (▸ Kap. 4.2) wirkt.

In Kapitel 5 wird der im vierten Kapitel dargestellte allgemeine Rahmen professionellen Handelns in die verschiedenen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe ›übersetzt‹ und für diese konkretisiert. Dabei werden sowohl tradierte, innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe herausgebildete und im SGB VIII benannte Handlungsfelder (z. B. Kinder- und Jugendarbeit, Hilfen zur Erziehung, Kindertageseinrichtungen) als auch solche einbezogen, die sich im Schnittbereich zu anderen institutionellen Kontexten bewegen (z. B. Schulsozialarbeit). Bei der Darstellung der Handlungsfelder werden jeweils Aufgaben bzw. die sozialpädagogische Funktion des Handlungsfeldes, spezifische Anforderungen an professionelles Handeln der Fachkräfte und Entwicklungsperspektiven des Handlungsfeldes erläutert. Ferner werden die für jedes Handlungsfeld zentralen Spannungsfelder markiert, mit deren Bewältigung die Organisationen und die Fachkräfte in ihrem Handeln konfrontiert sind. Denn – so die These – die Anforderungen in einem Handlungsfeld sind i. d. R. nicht einlinig und gut miteinander kompatibel, sondern Professionalität in der Kinder- und Jugendhilfe erweist sich vielfach gerade darin, widersprüchliche und in Spannung zueinanderstehende Anforderungen wahrzunehmen und diese balancierend zu handhaben (▸ Kap. 5).

Kapitel 6 widmet sich abschließend den Entwicklungsperspektiven. Vielfältige Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe sind zu beobachten. Einige, in unserer Beobachtung besonders augenfällige und für die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe besonders bedeutsame haben wir in diesem Kapitel gekennzeichnet: zum einen Herausforderungen, die wir für bedeutsam erachten im Hinblick auf die Herausbildung und Weiterentwicklung von Professionalität als Grundlage einer fachlich tragfähigen Kinder- und Jugendhilfe, zum anderen einige thematische Herausforderungen, mit denen aktuell und voraussichtlich künftig Organisationen und Fachkräfte in mehreren Handlungsfeldern konfrontiert sind oder sein werden (▸ Kap. 6). Mit diesem abschließenden Kapitel spannt sich ein Bogen zurück zu den Ausführungen in Kapitel 1: Kinder- und Jugendhilfe erscheint als historisch geworden, als in einem gesellschaftlichen Kontext stehender Institutionsbereich mit einer dynamischen Entwicklung, die von den Akteurinnen und Akteuren beobachtet, bewertet und verarbeitet werden muss. Ob und wie dies gelingt, macht einen Teil der Professionalität in der Kinder- und Jugendhilfe aus.

Die Argumentationslogik des Buches eröffnet zwei unterschiedliche Lese-Optionen. Interessierte Leserinnen bzw. Leser können mit der Lektüre des Kapitel 4, der Kennzeichnung zum professionellen Handeln, beginnen und sich dann die historischen Hintergründe, konzeptionellen Orientierungen und trägerbezogenen Aspekte erschließen. Aber auch der andere Weg ist sinnvoll: sich zunächst mit den historischen, konzeptionellen und trägerpolitischen Rahmungen zu beschäftigen und mit diesem Vorwissen an die Frage der Professionalität heranzugehen.

Mit dem Abschlusskapitel verbinden wir einen Appell an die Leserinnen und Leser: die Entwicklungen im gesellschaftlichen Umfeld und in der Kinder- und Jugendhilfe wach zu beobachten, diese zu interpretieren und daraus Schlussfolgerungen für eine Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Professionalität zu ziehen. Wir haben die Hoffnung, dass wir mit unserem Buch einige Kategorien und Zusammenhänge markieren können, um Beobachtungen zu schärfen und Interpretationen zu ermöglichen. Wir können dies nur hoffen, die Entscheidung darüber treffen letztlich die Leserinnen und Leser und diejenigen, die unsere Ausführungen vielleicht – so unser Wunsch – für Zwecke der Ausbildung und Fortbildung verwenden.

Die hier vorliegende zweite, aktualisierte Auflage nimmt die Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen, insbesondere im Rahmen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) in ihren nicht unerheblichen inhaltlichen und strukturellen Folgen für die aktuelle und zukünftige Kinder- und Jugendhilfe auf und aktualisiert die im Buch referierten statistischen Daten auf den Anfang 2024 verfügbaren Stand. Wir verbinden mit der Aufnahme von aktuellen Trends und Entwicklungslinien in dieser Überarbeitung die Hoffnung, den Lesern und Leserinnen weitergehende Impulse zur Gestaltung und Weiterentwicklung einer zukunftsgerichteten professionellen Aufgabenwahrnehmung geben zu können.

Münster, März 2024Prof. Dr. Peter Hansbauer, Prof. Dr. Joachim Merchelund Prof. Dr. Reinhold Schone

1 Ein historischer Abriss über die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zu einem eigenständigen System mit rechtlich-institutionell garantierter Zuständigkeit

Auch wenn von Jugendhilfe im engeren Sinne erst ab dem 19. Jahrhundert gesprochen werden kann (vgl. Struck/Schröer 2015, 805), so liegen deren Anfänge bereits mehr als ein halbes Jahrtausend zurück – mindestens seit dieser Zeit existieren Formen von Anstaltserziehung. Während dieses Zeitraums unterlag die Wahrnehmung des eigentlichen Bezugsproblems – als ›problematisch‹ geltende Kinder und Jugendliche bzw. solche, die in ›problematischen‹ Situationen aufwachsen – einer Vielzahl unterschiedlicher, oftmals lokal uneinheitlicher und zeitgebundener Deutungsweisen. Und ebenso unterschiedlich wie die Wahrnehmung des Phänomens im Zeitverlauf waren auch die Ansätze für dessen Bearbeitung. Für das Verständnis des Systems der heutigen Kinder- und Jugendhilfe ist es gleichermaßen notwendig, sowohl organisatorische Differenzierungs-‍, Spezialisierungs- und Verflechtungsprozesse genauer zu betrachten als auch diese Prozesse auf Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu beziehen, die in ihrer Dynamik oft weit über konkrete Veränderungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe hinausweisen. Erst vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen, sich wechselseitig beeinflussenden und bedingenden Entwicklungen – d. h. nur im Zusammenspiel von internen Dynamiken und extern gegebenen ›Möglichkeitshorizonten‹ – wird deutlich, wie sich die Kinder- und Jugendhilfe sukzessive als System etablieren konnte, das sich durch einen eigenständigen, rechtlich-institutionell garantierten Exklusivitätsanspruch auszeichnet. Dabei wird deutlich werden, dass diesem Prozess keine Zwangsläufigkeit oder ein bestimmtes Telos zugrunde liegt. Vieles an dieser Entwicklung ist zufällig, abhängig von einzelnen Personen und ihren Ideen, von Kämpfen, Siegen und Niederlagen, von den Interessen der Mächtigen und deren Verwobenheit in größere Zusammenhänge. An zentralen Wegscheiden wären deshalb oftmals Alternativen denkbar gewesen – Entwicklungspfade, die aus heutiger Sicht vielleicht einsichtiger oder funktionaler gewesen wären und erst in der Retrospektive und der Rekonstruktion der beteiligten Interessen verständlich werden. Jedoch wird beim Blick zurück ein Muster erkennbar, das vielleicht typisch ist für ein Staatsgebiet, das einstmals eine Ansammlung weitgehend unabhängiger Staaten auf dem Boden des Deutschen Reiches war und heute in einer föderal strukturierten Bundesrepublik weiterlebt: Immer wieder folgt die Praxis Eigengesetzlichkeiten, die Antworten auf lokale Erfordernisse oder das Ergebnis mikropolitischer Prozesse darstellen. Die Heterogenität des Staatswesens und der politischen Strukturen machten und machen Deutschland in der Kinder- und Jugendhilfe, wenn man es denn so nennen will, zu einem ›Innovationsinkubator‹ par excellence. Hingegen sind die Beispiele, bei denen sich belegen lässt, dass Gesetzesnovellen zu Innovationen geführt haben, äußerst rar gesät. Die Regel ist eine andere: Immer wieder schreitet die Praxis voran, während der Gesetzgeber diese Praxis hinterher zusammenfasst, systematisiert, vereinheitlicht und manchmal erst legalisiert. Kennzeichnend für die Entwicklung der deutschen Kinder- und Jugendhilfe ist daher, dass Strukturen i. d. R. schon bestanden, bevor sie formal, in kodifizierter Form als Gesetz, umfassenden Erwartungscharakter annahmen.

1.1 Erste organisatorische Differenzierungen – Fürsorge im ausgehenden Mittelalter (bis ca. 1500)

In der mittelalterlichen Feudalgesellschaft erfolgte die Versorgung hilfsbedürftiger Kinder – vor allem der Waisen – noch überwiegend im Rahmen verwandtschaftlicher Bindungen. Eine Ausnahme bildeten lediglich diejenigen Kinder, deren Sippe oder Familie nicht zu ermitteln war, sog. »Findelkinder«, also verlassene, ausgesetzte oder verlorene Kinder mit unbekannter Abstammung. Wenn man diese Kinder nicht erbärmlich zugrunde gehen lassen wollte, was oft genug geschah, mussten sie durch das Gemeinwesen versorgt werden (Sauer 1979, 8). Ihre Versorgung erfolgte im Allgemeinen in der universellen Fürsorgeeinrichtung des Mittelalters: dem Hospital. Dort wurden Findelkinder, meist gemeinsam mit anderen hilfsbedürftigen Gruppen – z. B. alte Menschen, Kranke sowie körperlich und geistig Behinderte – abgesondert von der übrigen Bevölkerung untergebracht (Scherpner 1979, 18). Aus heutiger Sicht mag diese unspezifische organisatorische Wahrnehmung von Kindern im Kontext allgemeiner Hilfsbedürftigkeit überraschen, vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, in der Kindheit und Jugend als eigenständige Lebensphase praktisch unbekannt war (vgl. Ariès 1985), erscheint sie jedoch nur konsequent:

»Sobald ein Kind sich allein fortbewegen und verständlich machen konnte, lebte es mit den Erwachsenen in einem informellen natürlichen ›Lehrlingsverhältnis‹, ob dies nun Welterkenntnis oder Religion, Sprache oder Sitte, Sexualität oder Handwerk betraf. Kinder trugen die gleichen Kleider, spielten die gleichen Spiele, verrichteten die gleichen Arbeiten, sahen und hörten die gleichen Dinge wie die Erwachsenen und hatten keine von ihnen getrennten Lebensbereiche« (von Hentig 1985, 10).

Erst als das mittelalterlichen Spitalwesen anfing, sich allmählich organisatorisch auszudifferenzieren, und erst, als vor allem infolge epidemisch sich ausbreitender Krankheiten gesonderte Krankenanstalten geschaffen wurden, wurde auch die Kinderfürsorge zunehmend aus dem allgemeinen Spitalwesen ausgelagert.

Die in dieser Zeit im Entstehen begriffenen »Findel- und Waisenhäuser« waren jedoch zunächst reine Versorgungseinrichtungen, in denen die Kinder i. d. R. so lange aufgezogen wurden, bis sie selbständig genug waren, um wie andere Arme Almosen zu erbetteln. Von einem eigentlichen Erziehungsauftrag, der unserem heutigen Verständnis von Erziehung gerecht würde, kann deshalb im Mittelalter keine Rede sein (Scherpner 1979, 26).

Vielmehr wurde die Kinderfürsorge bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein primär im Kontext der Armenfrage – und damit primär unter Versorgungs- und Sanktionsaspekten – gesellschaftlich wahrgenommen und öffentlich bearbeitet. Dennoch ist diese erste organisatorische Differenzierung beachtenswert, weil sie dazu beitrug, Kinder und Jugendliche dauerhaft aus dem Bereich der allgemeinen Fürsorge herauszulösen und in speziell dafür geschaffenen Organisationen zu versorgen.

1.2 Ausgrenzung und Sozialdisziplinierung – Armenpolitik und Kinderfürsorge am Beginn der Neuzeit (1500–1650)

Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit war politisch, ökonomisch und sozial durch tiefgreifende Umbrüche charakterisiert und mit erheblichen Auswirkungen auf das damalige Fürsorgewesen verbunden (Sauer 1979, 10). Die Auflösung der relativ statischen mittelalterlichen Ständeordnung, Katastrophen, Hungersnöte und Kriege sowie insbesondere die großen Pestepidemien, die ganz Europa in der Mitte des 14. Jahrhunderts heimsuchten, führten zur Herauslösung größerer Bevölkerungsteile aus tradierten Sozialbindungen und zu einem Anwachsen der Armut. Letzteres führte mittelfristig zu einer Überforderung des kirchlichen Almosen- und Spitalwesens in den Städten. Infolgedessen ging die Armenpflege nach und nach von kirchlichen Einrichtungen auf die Städte über, die allmählich die Aufsicht über die Gesamtheit aller die Stadt betreffenden Aufgaben, inklusive des Armenwesens, übernahmen (Amthor 2012, 53 ff.). Hatte das Betteln bzw. das Almosengeben in der katholisch geprägten Gesellschaftsordnung des Mittelalters noch eine klar umrissene Bedeutung für die jenseitigen Heilserwartungen der Reichen (Dort 2014), wurde es nun immer stärker als gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommen, und die Städte gingen sukzessive zu einer restriktiveren Armenpolitik über, bei der das Betteln verboten oder stark eingeschränkt wurde. Ab dem Ende des 14. Jahrhunderts wurden in den hierzu erlassenen Bettelordnungen erstmals Kriterien entwickelt, um die tatsächlich Bedürftigen von den (vermeintlichen) Simulanten und (potenziell) arbeitsfähigen Armen, die zur Arbeit gezwungen werden konnten, zu unterscheiden. Bettelabzeichen, die offen zu tragen waren, dienten gleichfalls der Unterscheidung zwischen ortsansässigen und nicht ortsansässigen Bettlern (Schilling/Klus 2015, 26 f.), also der Unterscheidung zwischen legitimen und nicht legitimen Ansprüchen.

Im Gefolge religiöser Umbrüche im Zuge der Reformation und einem Erstarken humanistischer Ideen kam es praktisch zeitgleich mit der Reform des Armenwesens zu einer stetigen »Aufwertung« der Berufsarbeit. Selbst wenn der Einfluss dieser neuen Ideen auf das Fürsorgewesen nicht genau zu bemessen ist, so lag die Leistung der Reformation zuvorderst darin, »dass im Kontrast gegen die katholische Auffassung der sittliche Akzent und die religiöse Prämie für die innerweltliche, beruflich geordnete Arbeit mächtig schwoll« (Weber 1988, 74). Als Folge dieses weitreichenden gesellschaftlichen Einstellungswandels setzte sich nun auch in der Fürsorge zunehmend der Gedanke einer Arbeitspflicht für Arme durch (Scherpner 1979, 27 ff.), und bereits die zweite Nürnberger Bettelordnung von 1478 enthielt die Forderung, Kinder nicht mehr nur aufzuziehen, bis sie selbst ihren Lebensunterhalt erbetteln konnten, sondern sie dazu zu befähigen, »sich ohne Almosen, nur durch ihre eigene Arbeit zu unterhalten« (Schilling/Klus 2015, 26). Dazu wurden ihnen von der Stadt Arbeitsplätze vermittelt.

Umfassend theoretisch ausgearbeitet wurde diese Position durch den spanischen Humanisten Juan Luis Vives, der in seiner 1526 erschienenen Schrift De subventione pauperum entschieden den Gedanken einer systematischen Arbeitserziehung formulierte:

»Der einzige Weg ist die planmäßige erziehende Bemühung um den einzelnen Armen. Mit der Unterstützung und durch die Unterstützung soll der Arme erzogen und, wenn er arbeitsfähig ist, zur Arbeit erzogen werden. Der innere Kern allen fürsorgerischen Handelns ist die Erziehung zur Arbeit« (Scherpner 1979, 28).

Begreiflicherweise musste eine so verstandene Fürsorge, wenn sie Erfolg haben wollte, vor allem bei den Kindern einsetzen. Vives forderte daher, die Erziehung der Findel- und Waisenkinder, zusammen mit den Kindern der Armen, dem Gemeinwesen zu unterstellen, das diese Kinder in einer öffentlichen, internatsähnlichen Schule unterrichten sollte (Schmidt 2014, 81 ff.). Selbst wenn es zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe von Findel- und Waisenhäusern gab, die darum bemüht waren, zumindest den Jungen eine Bildung und Ausbildung zu verschaffen, blieb die allgemeine Praxis der Armenkinder-Erziehung jedoch weit hinter diesen programmatischen Ansprüchen zurück (Röper 1976, 102).

Interessant ist die Reform der städtischen Armenfürsorge im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert aber noch aus einem anderen Grund: Sie beendete nämlich die Phase der bloßen Ausgrenzung und leitete, wie Sachße/Tennstedt (1980, 38) zusammenfassend feststellen, »den Prozess der ›Sozialdisziplinierung‹ der untersten Bevölkerungsschichten der spätmittelalterlichen Gesellschaft, ihre Erziehung zu Arbeitsdisziplin, Fleiß, Ordnung und Gehorsam« ein. Mit diesen frühen Ansätzen zur Disziplinierung der Armenbevölkerung durch Erziehung wird ein neues Muster in der organisierten Bearbeitung sozialer Probleme erkennbar: Bedeutete »Fürsorge« bis dahin zumeist die dauerhafte räumliche und soziale Entfernung aus der Gemeinschaft, so hat etwa Foucault am Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit geistig Behinderten (1969) und Straftätern (1977) exemplarisch herausgearbeitet, dass Fürsorge und Sozialdisziplinierung im 17. und 18. Jahrhundert immer stärker einen inklusionsvermittelnden Charakter annahmen: Ausgrenzung, bis dahin Selbstzweck, wird nun zu einem Mittel, das die Voraussetzungen für eine erneute Inklusion in den Sozialzusammenhang der Gesellschaft zu einem späteren Zeitpunkt schafft, indem der Ausgegrenzte sich bessern soll, während er ausgegrenzt ist.

Europaweit scheitert die breite Durchsetzung einer allgemeinen Arbeitspflicht für Arme allerdings vor allem an dem vorhandenen Überangebot an verfügbarer Arbeitskraft, dem kein entsprechender Bedarf gegenüberstand. Mit dem Aufkeimen frühkapitalistischer Wirtschaftsformen und dem Entstehen einzelner Manufakturbetriebe am Ende des 16. Jahrhunderts änderte sich dies allmählich:

Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurden in England, zur Behebung des Armutsproblems und zur Sicherung des einsetzenden Arbeitskräftebedarfs, bei gleichzeitigem Verbot des Bettelns vereinzelt Anstalten geschaffen, in denen umherziehende Arme unter Anwendung härtester Körperstrafen zur Arbeit gezwungen wurden. Nach und nach entwickelte sich in den damaligen Zentren des Kapitalismus – England, Frankreich und Holland – ein Anstaltstypus ganz neuer Art: das Zucht- oder Arbeitshaus (Scherpner 1979, 40 ff.).

Auch in den alten Handelsstädten Hamburg, Bremen und Lübeck wurden bald Anstalten des ›neuen‹ Typs geschaffen. Diese waren, bedingt durch die engen Handelsverflechtungen mit den Niederlanden, vor allem an holländischen Vorbildern orientiert. Dort verlief die Entstehung der Zuchthäuser, anders als in Frankreich und England, teilweise unabhängig von der allgemeinen Armenfürsorge. Beeinflusst durch humanistische und reformatorische Glaubensvorstellungen sah der niederländische »Sonderweg« eine getrennte Behandlung jugendlicher Straftäter und verwahrloster Jugendlicher vor, die im »tuchthuis« durch strenge Zucht und schwere Arbeit moralisch gebessert und zu nützlichen Gliedern der Wirtschaftsgesellschaft erzogen werden sollten. Im Gegensatz zu Frankreich und England war Arbeitserziehung in den Niederlanden also vorwiegend an wirtschaftspolitischen und pädagogischen – nicht armenpolizeilichen und disziplinierenden – Überlegungen orientiert (ebd., 58 ff.). Insgesamt waren aber die Voraussetzungen im konfessionell wie politisch zersplitterten Deutschland für den ›neuen‹ Anstaltstyp eher ungünstig. Er setzte sich dort erst verspätet, mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, allmählich durch. Zu diesem Zeitpunkt war es vor allem der massive, kriegsbedingte Bevölkerungsrückgang und der notwendige ökonomische Neuaufbau, die das Interesse der Obrigkeit an der wirtschaftlichen Nutzung kindlicher Arbeitskraft anwachsen ließ. Dabei gingen häufig die Interessen einzelner Kapitalgeber Hand in Hand mit den Interessen der jeweiligen Landesherren an der Einführung und Entwicklung neuer Produktionszweige, während pädagogische Überlegungen in den Hintergrund traten.

1.3 Kommunale und private Kinderfürsorge unter dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung (1650–1820)

Neue Impulse erhielt die Anstaltserziehung in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg durch das Aufkommen des Pietismus. Der Pietismus, wurzelnd im lutherischen Protestantismus, betonte vor allem die persönliche Glaubensüberzeugung und Frömmigkeit sowie die Verantwortung des Einzelnen für sein Seelenheil. Dazu gehörte auch die aktive Befassung mit dem Wort Gottes. Auf diese Weise formulierte der Pietismus gleichzeitig die Programmatik für die grundlegende Bildung breiter Schichten, denn die individuelle Befassung mit der übersetzten Bibel erforderte Kenntnisse im Lesen und förderte Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Arbeitsamkeit, Bescheidenheit, Ordnung und Pflichtgefühl. Die für die Kinder- und Jugendfürsorge wohl wichtigste Person des Pietismus war August Hermann Francke (1663 – 1727), der um 1695 damit begann, die späteren »Halleschen Anstalten« aufzubauen, in denen die Kinder, getreu seiner pietistischen Überzeugung, wonach erst Bildung den Zugang zu Gott ermögliche, auch eine Schulbildung erhielten, selbst wenn das vorrangige Ziel von Franckes Arbeit mit den Kindern das »Einpflanzen der wahren Gottseligkeit« war. Um einen Teil der Unterhaltskosten selbst bestreiten zu können, vor allem aber, um sie vor den »Verlockungen der Welt« zu schützen, sollten die Kinder in den Anstalten unter ständiger Aufsicht stehen und allzeit nützlich beschäftigt werden, um sie, früh an Arbeit gewöhnt, entsprechend ihren Neigungen und Fähigkeiten auf die Berufsarbeit vorzubereiten (Röper 1976, 107 ff.).

Von zentraler Bedeutung für die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe ist Francke aber weniger wegen seines pädagogischen Programms und der vielfach auf ihn zurückgehenden Armenschulen, sondern vielmehr deshalb, weil mit ihm ein völlig neuer Organisationstyp in die Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge eintritt: Lag bisher die Verantwortung für die Versorgung von Schutzbedürftigen bei den Städten, den Landesherren oder kirchlichen Einrichtungen, so bemüht sich mit Francke erstmals ein Einzelner, angetrieben von religiösen Motiven, um die Beseitigung sozialer Notstände und gründet dafür eine besondere Einrichtung, wobei die finanzielle Unterstützung von Gesinnungsfreunden den Bestand der Einrichtung sicherstellte (Scherpner 1979, 72 f.). Francke war also, wenn man einen Begriff von Howard S. Becker heranziehen will, der erste erfolgreiche »Moralunternehmer« (Moral Entrepreneur) auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe. Seine Einrichtung stand Pate für viele weitere, ähnlich geartete Institutionen. Das so entstandene Nebeneinander privater, überwiegend religiös motivierter Fürsorge und staatlicher bzw. kommunaler Fürsorge sollte bis in die Gegenwart hinein bestimmend bleiben für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe.

Allerdings blieben die »Halleschen Anstalten« eine – wenngleich in ihrer Modellwirkung nicht zu unterschätzende – Ausnahmeerscheinung im damaligen System der Fürsorge. Die überwiegende Mehrzahl der Waisenkinder war noch immer unter widrigsten Bedingungen in Einrichtungen untergebracht, deren vorrangiges Ziel die Ausbeutung und ökonomische Nutzung kindlicher Arbeitskraft war.

Bekannt geworden ist die Beschreibung Christian Gotthilf Salzmanns, der in der 1783 – 1787 in Leipzig erschienenen Schrift Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend die Zustände in einem dieser Waisenhäuser wie folgt beschreibt:

»Nie habe ich so anschauliches Gemälde vom menschlichen Elend gehabt, als in dieser Stube. Ein ganzes Heerdchen Kinder (...) Alle sahen sie bleich aus, wie die Leichen, hatten matte, viele triefende Augen, kein Zug von Munterkeit war an ihnen sichtbar, einige hatten verwachsene Füße, andere verwachsene Hände, und alle starrten vor Grätze, die alles Mark auszusaugen schien. Die Stube war schwarz vom Oeldampfe, und an den Wänden flossen die Ausdünstungen herab, die diese Elenden von sich gaben. (...) Und alle ihre Arbeit war Spinnen. Einige, besonders die Kleinen, sponnen sitzend, die anderen stehend.«

Der mit der Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende »Waisenhausstreit« (Röper 1976, 140 ff.; Sauer 1979, 25 ff.) richtete sich daher in erster Linie gegen die unhygienischen und gesundheitsgefährdenden Zustände in den Anstalten sowie die inhumane Behandlung der Kinder und die Profitgier der Anstaltsbetreiber. Kritisiert wurde auch das Übermaß an religiöser Erziehung, das nicht mehr den Forderungen eines aufgeklärten Christentums entsprach. Indes wurden keine prinzipiellen Einwände gegen eine Erziehung durch und zur Arbeit erhoben (Eilert 2012, 533 ff.). Im Gefolge dieser Auseinandersetzung kam es jedoch zur Auflösung eines Teils der bestehenden Waisenhäuser, deren Insassen anschließend meist in Familienpflege überführt wurden.

Zwei Entwicklungen, die in dieser Zeit ihren Anfang nahmen, scheinen für die weitere Entwicklung der Anstaltserziehung folgenreich: erstens die weitere Ausdifferenzierung der Waisenhäuser, die bis dahin noch immer eine eher unspezifische Fürsorgeeinrichtung gewesen waren. So entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts »aus der Einsicht in die besonderen Erziehungsbedürfnisse bestimmter Gruppen von Kindern die ersten Sonderanstalten: die Blinden- und Taubstummenfürsorge findet von Frankreich ausgehend überall Nachahmung, die Anfänge von Idioten-(Kretinen-)‌Anstalten tauchen auf, denen später Krüppelanstalten und Epileptikeranstalten folgen. An die Stelle jenes einen Waisenhauses traten die verschiedensten Anstalten mit besonderen Aufgaben und eigenen Arbeitsformen« (Klumker 1931, 670). Erst durch die ›Auslagerung‹ von geistig- und körperbehinderten Kindern und Jugendlichen, für die nun eigene Spezialeinrichtungen geschaffen wurden, wurde für die verbleibenden Anstalten der Weg frei, sich nun sukzessive immer stärker Erziehungsaufgaben zu widmen. Die zweite folgenreiche Entwicklung, die sich mit Namen wie Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi verbindet, mündete in die Forderung, Kindheit als eine eigenständige Lebens-‍, Lern- und Entwicklungsphase zu betrachten. Damit einher ging eine Aufwertung der Pädagogik, die nun konkurrierende Ansprüche, etwa das Interesse der Landesfürsten an möglichst rentablen Produktionsbetrieben, in spezifischer Weise überformte. Sichtbar wurde dieser Wandel an der allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse in den noch bestehenden Waisenhäusern: Man bemühte sich z. B. nicht nur um eine Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Verpflegung, sondern versuchte auch die Kinderarbeit zu reduzieren und stattdessen den Schulunterricht auszuweiten und zu modernisieren.

»Bei Neubauten machte man sich jetzt Gedanken über einen pädagogisch geeigneten Standort und sorgte für Gärten und Spielplätze. Insbesondere aber versuchte man, die Vorteile der Familienerziehung mit denen der Anstaltserziehung zu verbinden und sprach sich für kleine Gruppen aus, die in voneinander getrennten Häusern oder doch in abgetrennten Abteilungen wohnen sollten, so dass die Kinder zu ihrem Hauselternpaar (eine ganz neue Vorstellung!) besser ein persönliches Verhältnis gewinnen könnten« (Sauer 1979, 32).

Parallel dazu entwickelte sich allmählich das allgemeine Schulwesen, das nun auch für Kinder aus den sozialen Unterschichten zunehmend die gesellschaftlich notwendigen Integrationsaufgaben übernahm.

In diesem Kontext muss auch die Hamburger Armenreform aus dem Jahr 1788 gesehen werden, die dort zu einer vollständigen Neuorganisation der städtischen Armenfürsorge führte (Scherpner 1979, 99 ff.): Durch ein feinmaschiges Netz städtischer Armenüberwachung wurden nicht nur unmittelbar hilfsbedürftige Kinder erfasst, sondern alle armen Kinder, um so vorbeugend auf deren Erziehung einzuwirken. Durch eine planvolle schulische Erziehung und das Erlernen handwerklicher Fertigkeiten sollten diese Kinder auf ihren Stand, den der »arbeitenden Armen«, vorbereitet werden (ebd., 100). Im Kern der Hamburger Armenkindfürsorge stand folglich ein umfassendes Armenschulsystem, das Arbeitsausbildung, Erwerbsarbeit und Lehrschule miteinander verband. Die Hamburger Armenreform ging damit weit über Reformen hinaus, die zur selben Zeit an anderen Orten Europas stattfanden, was vermutlich ihre Vorbildfunktion auch außerhalb von Deutschland erklärt:

»Man machte hier den ersten Versuch, die Kinder- und Jugendfürsorge aus der Armenpflege herauszulösen und als ein eigenes Gebiet gesellschaftlicher Hilfeleistungen zu erkennen und zu organisieren. Die Armenkinder waren (...), soweit sie in die Schule gingen, im Wesentlichen von der Schule erfasst und erzogen worden. Daneben aber stand von Anfang an die häusliche Beaufsichtigung aller von der Armenpflege versorgten Kinder durch die Armenpfleger in den einzelnen Armenquartieren« (ebd., 110).

Die Hamburger Reform ist also in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen nahm sie in Ansätzen bereits vorweg, die mehr als 130 Jahre später reichsweit durchgesetzt werden sollten – die kommunale Organisation der Kinder- und Jugendhilfe. Zum anderen wurde hier erstmals in Deutschland ein präventiver Ansatz – Kinderfürsorge als vorbeugende Armenpflege – verfolgt und notfalls auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt, indem der Armenpfleger die Kinder aus den Familien nehmen konnte. Im Grunde finden sich hier also bereits die ersten Vorläufer der späteren Jugendämter.

In der Kinder- und Jugendfürsorge zeichnen sich damit weit früher als in anderen Bereichen des organisierten Umgangs mit sozialen Problemen erste Umrisse einer »Pädagogisierung« ab. Mit Richard Münchmeier (1981, 9 f.) kann »Pädagogisierung« hier verstanden werden, als »die ›Umdefinition‹ sozialer und sozial verursachter Probleme in solche individuell zu konstatierende Defizite von Moral, Lernen und Erziehung. In dieser individualisierenden Deutung sowohl der Erscheinungsformen wie der Ursachen sozialer Not ergibt sich eine – politisch ungemein relevante – veränderte Lokalisierung der Probleme von Armut, Desintegration und Devianz: im Rückgang von der äußeren Not auf den ›inneren Menschen‹ wird das innere Leiden an der Armut zur ›eigentlichen‹ Not und die Bearbeitung des inneren Leidens an der äußeren Not zur genuinen Aufgabe einer sich pädagogisch verstehenden Fürsorge.« Erst diese »Pädagogisierung« der Kinder- und Jugendfürsorge öffnete den Blick auf Normalisierungsarbeit im engeren Sinne und wurde zu einem generativen Kern, um den herum sich das Selbstverständnis der Jugendhilfe bis in die jüngste Zeit kristallisiert.

1.4 Staatlicher Rückzug aus der Fürsorge und private Rettungshausbewegung (1820–1870)

Das Ende der napoleonischen Kriege bedeutete für die Entwicklung der Kinder- und Jugendfürsorge einen tiefgreifenden Einschnitt. Nicht nur wurden durch den Krieg, wie in Hamburg, viele ehemals pädagogisch genutzte Einrichtungen in Mitleidenschaft gezogen oder einer anderweitigen Verwendung zugeführt, sondern der völlige Zusammenbruch der Wirtschaft zog zugleich eine allgemeine Verarmung nach sich und brachte viele Städte an den Rand des finanziellen Ruins. Zeitgleich führten das Erstarken der Restauration und die daran geknüpften anti-aufklärerischen Tendenzen zu einer gesellschaftlichen Neubewertung der Armenfrage, die auch die Kinder- und Jugendfürsorge einschloss (Scherpner 1979, 117 f.). Gemäß der damals allgemein vorherrschenden Auffassung, die stark durch den englischen Nationalökonomen Thomas Robert Malthus beeinflusst war, galten nun staatliche Eingriffe zugunsten einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen als im höchsten Maße verfehlt.

Malthus hatte in seinem damals viel beachteten Essay on the Principle of Population (1798) die Theorie entwickelt, wonach die Bevölkerung sehr viel schneller wachse als die für ihre Ernährung notwendigen Subsistenzmittel. Die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung hätte damit zwangsläufig die Not der anderen zur Folge gehabt. Malthus war deshalb ein entschiedener Gegner jeder geordneten öffentlichen Armenpflege, denn jede öffentliche Fürsorge, die aus dem Steueraufkommen die Mittel zum Unterhalt der Armen entnahm, musste sie zu früher Eheschließung anreizen und so die Geburtenzahl erhöhen. Nur moralische Enthaltsamkeit konnte seines Erachtens das Los der Armen verbessern; eine Forderung, die sich im Laufe der Diskussion um die malthusischen Lehren so sehr in den Vordergrund schob, dass schließlich Not und Elend der untersten Bevölkerungsschichten als deren selbstverschuldetes Los erschien. Dabei korrespondierten die malthusischen Überlegungen mit dem individualistischen Geist des deutschen Frühliberalismus, nach dessen Staatsverständnis die Obrigkeit ausschließlich die Interessen der Gesamtheit der Bevölkerung zu schützen habe, es fehle ihr aber jedes Recht, in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben oder in das von Familien einzugreifen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es deshalb zu einem fast vollständigen Rückzug staatlicher und kommunaler Organe aus dem Bereich der öffentlichen Fürsorge: Allenfalls ein regelmäßiger Schulbesuch sollte gewährleistet bleiben, darüber hinaus beschränkten sich das Handeln von Staat und Kommunen auf die Durchführung polizeistaatlicher Maßnahmen, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und das Betreiben von Gefängnissen und Besserungsanstalten.

Die Armen – ebenso wie ihre Kinder – waren damit unmittelbar den Bedingungen des einsetzenden Industriezeitalters ausgesetzt und auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen: Die Verelendung und Verwahrlosung der unteren Bevölkerungsschichten, von der besonders die Kinder betroffen waren, nahm deshalb bald dramatische Ausmaße an (Scherpner 1979, 117 ff.). Parallel zum Rückzug des Staates kam es im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge zu einer Zunahme privater, überwiegend religiös geprägter Hilfsorganisationen und zu zahlreichen Neugründungen von Erziehungsanstalten und Fürsorgeeinrichtungen. Im Zentrum ihrer erzieherischen Arbeit stand die »Seelenrettung« von »leidenden, entwurzelten und unerzogenen Kindern« (Sauer 1979, 39).

Von zentraler Bedeutung für die gesamte »Rettungshausbewegung« war Johann Heinrich Wichern, der 1833 das »Rauhe Haus« in Horn bei Hamburg gründete und später, 1848, eine zentrale Rolle beim Zusammenschluss der protestantischen Hilfsorganisationen zum »Centralausschuß für die Innere Mission der evangelischen Kirche« spielte. Wichern sah, wie die meisten Vertreter der Rettungshausbewegung, die vorrangigen Ursachen der herrschenden sozialen Misere in der unkontrollierten Ausweitung gesellschaftlicher Freizügigkeit. Sein pädagogischer Ansatz war deshalb an romantisch verklärten Vorstellungen einer ständisch-patriarchalen, letztlich vorindustriellen Gesellschaft ausgerichtet, zu der er hoffte, durch traditionale Gemeinschaftsbindung zurückzukehren. Während der praktischen Umsetzung im »Rauhen Haus« kamen allerdings auch neue pädagogische Ansätze zum Tragen: So beispielsweise der »familienähnliche Charakter der Erziehung in der Einrichtung (bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Geschlechtertrennung), die Verteilung der Verantwortung (Anfänge von Mitverwaltung), die Verbindung von theoretischer Ausbildung und Werkbildung oder die Integration der Freizeit in den Erziehungsprozess« (Jordan/Maykus/Stuckstätte 2012, 34). Gleichzeitig engagierte sich Wichern in der Ausbildung von Diakonen; er schuf gar eine eigene Berufsausbildung für sie.

Wicherns zentrale Bedeutung für die Kinder- und Jugendhilfe rührt jedoch vor allem aus seiner tragenden Rolle beim freiwilligen Zusammenschluss aller evangelischen Einrichtungen zum »Centralausschuß für die Innere Mission der Evangelischen Kirchen« auf dem Kirchentag in Wittenberg (1848), einer Vorläuferorganisation der heutigen »Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband«. Über die damaligen Landesgrenzen hinweg entstand nun die Möglichkeit, die Aktivitäten der vielfältig zersplitterten Einrichtungen und Vereine durch Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch zu bündeln, überörtlich zu planen, neue Notstände aufzudecken und für spezifische Gruppen von Kindern differenzierte fürsorgerische Angebote zu schaffen (Scherpner 1979, 148 ff.). Zwar waren auf katholischer Seite im 19. Jahrhundert ähnliche Bestrebungen zu beobachten, bis zu einem Zusammenschluss der katholischen Einrichtungen im Jahr 1897, vergleichbar dem der evangelischen, sollte allerdings noch rund ein halbes Jahrhundert vergehen (Buck 1991, 143). Mit dem Zusammenschluss der kirchlichen Träger ging natürlich auch eine Stärkung des kirchlichen Einflusses in der Fürsorge einher.

Gleichzeitig bemühten sich die kirchlichen Einrichtungen erkennbar um Distanz zum Staat, indem sie z. B. aus Gründen der Autonomiewahrung gegenüber dem Staat Kinder und Jugendliche nur mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten aufnahmen. Ungeachtet dessen entwickelten sich einige dieser kirchlichen Einrichtungen – finanziert durch Spenden und Beiträge der Eltern – zu großen Anstaltskomplexen, in denen oftmals mehrere hundert Kinder versorgt und erzogen wurden. Delinquente Kinder und Jugendliche blieben allerdings von dieser Form privater Fürsorge ausgeschlossen. Das Disziplinierungs- und Sanktionsinstrumentarium in Form von Armen- und Besserungsanstalten oder Gefängnissen, das gegenüber straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen zum Einsatz kam, blieb vorerst noch unverändert in den Händen der staatlichen Obrigkeit. Allerdings wäre den staatlichen Organen, die sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wieder stärker in der Kinder- und Jugendfürsorge engagierten, kaum möglich gewesen, eine per Gesetz eingeführte Zwangserziehung durchzusetzen, wenn nicht die privaten Anstalten schließlich ihren Widerstand aufgegeben hätten, im staatlichen Auftrag erzieherisch zu handeln (Scherpner 1979, 155).

Parallel zu den Entwicklungen in der Heimerziehung erfolgten in dieser Phase der »Protoindustrialisierung« und der durch sie erzeugten gesellschaftlichen Wandlungen auch erste Vorstöße zu einer Organisation der öffentlichen Kleinkinderziehung (Erning/Neumann/Reyer 1987; Hering/Schröer 2008). Dabei spielten verschiedene Gründe zusammen: Neben dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit der Armen, indem man arme Familien von der Kinderbeaufsichtigung versuchte zu entlasten, um insbesondere den Müttern die Aufnahme einer Erwerbsarbeit zu ermöglichen und Unfälle bei unbeaufsichtigten Kindern zu vermindern, spielte dabei die Angst vor möglichen Aufständen bzw. die Erziehung der Kinder zur Selbstgenügsamkeit und zur Vorbereitung auf ihren späteren Stand als erwerbstätige Arme ebenso eine Rolle wie die Erziehungsvorstellungen eines aufgeklärt-philanthropischen Bürgertums, das Kindern zunehmend altersspezifische Entwicklungs- und Bildungsbedürfnisse zubilligte. Typisierend lassen sich diese Ansätze öffentlicher Kleinkinderziehung mit den Begriffen »Bewahranstalt«, »Kleinkinderschule« und »Kindergarten« zusammenfassen, die mit den Namen Johann Georg Wirth, Theodor Fliedner und Friedrich Fröbel als deren zentrale Promotoren verbunden sind (Erning/Neumann/Reyer 1987, 29 ff.).

1.5 Das System der Kinder- und Jugendhilfe formiert sich (1870–1915)

Obwohl es bereits während des 19. Jahrhunderts in einigen Staaten des deutschen Bundes Ansätze gab, die Situation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern (z. B. Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht, Einschränkung der Kinderarbeit, Verbesserung der Situation der Pflegekinder, Sonderbestimmungen für jugendliche Straftäter), setzte ein eigentlicher Umschwung in der Frage der Kinder- und Jugendhilfe erst nach 1871 und der Gründung des Deutschen Reiches ein. Industrialisierung, Verstädterung, Binnenwanderungen enormen Ausmaßes, die bedrohliche Zusammenballung der Armut in den Arbeiter- und Elendsvierteln der Städte und vor allem der sich immer mehr verschärfende Interessengegensatz zwischen Unternehmern und organisierter Arbeiterschaft zwangen den Staat gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend, seine liberale Grundhaltung aufzugeben und Sozialreformen einzuleiten (Sachße 1986, 18 ff.). Mit der Anerkennung seiner grundsätzlichen Verantwortlichkeit für die Ordnung der sozialen Verhältnisse erschien nun auch die allgemeine Fürsorge sukzessive in einem neuen Licht:

»Zivilisierung der Unterschichten im allgemeinen, Kanalisierung des bedrohlichen Massenpotentials der ›gefährlichen Klassen‹, Ersetzung der mangelhaften privaten Wohltätigkeit durch effektivere Staatshilfe, Tendenzen zur generellen Ausdehnung der pädagogischen Provinz und der fortschrittsoptimistische Glaube an die Evolution der modernen Humanwissenschaften zu praktisch durchgreifenden Instrumenten der Abschaffung von Krankheit, Elend und Kriminalität: Solche Strategien und Zielvorgaben standen im Hintergrund der neuen sozialpädagogischen Initiativen« (Peukert/Münchmeier 1990, 6 f.).

Parallel dazu vollzog sich in der Pädagogik »eine dramatische Richtungsänderung der Gedankenentwicklung (...), ein neues Bild vom Kinde, von den Zielen und den Mitteln der Erziehung und des Unterrichts setzt sich immer mehr durch« (Plake 1991, 9).

Dieser von Plake diagnostizierte »Paradigmenwechsel in der Erziehungstheorie« und die Renaissance reformpädagogischer Leitideen führten zusammen mit dem sich wandelnden Staatsverständnis dazu, dass Kinder- und Jugendhilfe nun immer mehr als öffentliche Aufgabe begriffen wurde. Die Kinder- und Jugendhilfe trat damit sukzessive in eine neue Phase ein, in deren Verlauf sie sich zum einen von der staatlichen Armenfürsorge endgültig ablöste und zum anderen immer stärker gegen den konkurrierenden Erziehungs- oder Sozialisationsanspruch der Familie als primäre Sozialisationsinstanz durchsetzte.

1.5.1 Das Wiedererstarken öffentlicher Fürsorge

Als Ausdruck dieses relativ günstigen »reformerischen Milieus« lassen sich in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung eine ganze Reihe folgenreicher Entwicklungen, zunächst vor allem im rechtlichen Bereich, beobachten: Seit der Novelle zum Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1876, wonach strafunmündige Kinder unter zwölf Jahren nach Maßgabe landesrechtlicher Vorschriften in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt untergebracht werden konnten, war es grundsätzlich möglich, statt einer Gefängnisstrafe Zwangserziehung für Kinder und Jugendliche zu verhängen. In der Folge ergingen dann in zahlreichen deutschen Staaten Ausführungsgesetze, wie z. B. das preußische Zwangserziehungsgesetz von 1878. Dieses Gesetz war für die Entwicklung der Fürsorgeerziehung (FE) insofern von Bedeutung, als es in Form der Provinzialverbände erstmals spezifische Erziehungsbehörden vorsah, die FE ausdrücklich außerhalb der Armenfürsorge ansiedelte und die strafrechtliche Beurteilung strafunmündiger Kinder zumindest teilweise aus dem allgemeinen Strafrecht auslagerte (Sachße 1986, 72).

Eine zweite wesentliche Neuerung war die Einführung der Berufsvormundschaft (nach Art. 136 EG.BGB). Vor allem infolge der rasch voranschreitenden Industrialisierung, zogen immer mehr junge Frauen aus ländlichen Gebieten in die damaligen industriellen Zentren. Ein Anstieg der nichtehelichen Geburten dort war die Folge. Da sich die Mütter häufig zur Sicherung des eigenen Überlebens als Dienstmädchen oder Arbeiterinnen verdingen mussten, wurden die Kinder vielfach in Pflege gegeben (Scherpner 1976, 169). Als Folge davon stieg die Säuglingssterblichkeit bei nichtehelichen Kindern rasch an, denn die Bedingungen in den Pflegestätten waren häufig erbärmlich. Um 1900 betrug sie in Teilen der städtischen Agglomerationen Berlins und des Ruhrgebiets zwischen 40 % und 80 % (Spann 1912, 27). Nicht zuletzt waren diese hohen Sterblichkeitsraten eine Folge der damaligen Praxis im Vormundschaftswesen, die sich stark auf das Ehrenamt stützte: Da viele der zugezogenen Frauen über keine verwandtschaftlichen Bindungen in der Stadt verfügten, auf die man bei der Wahl des Vormunds hätte zurückgreifen können, war es bei nichtehelichen Geburten üblich, dass die Gemeindewaisenräte willkürlich Namen aus Adressbüchern auswählten und diese Männer den Vormundschaftsrichtern vorschlugen. Diese oftmals nur widerwillig ihren Bürgerpflichten nachkommenden Personen wurden dann zu Vormündern bestellt, um das Aufwachsen der Kinder zu beaufsichtigen (ebd., 13). Da ein persönliches Interesse an Mutter und Kind meist nicht gegeben war, beschränkten sich die so Ausgewählten oftmals nur auf die gesetzliche Vertretung, ohne eine angemessene Betreuung der Kinder sicherzustellen und deren Aufwachsen zu überwachen. Der Schutzgedanke, der seit dem späten Mittelalter immer hinter der Vormundschaft gestanden hatte, wurde so systematisch ausgehöhlt.

Unter der Führerschaft des Arztes Max Taube entwickelte sich deshalb zwischen 1886 und 1900 in Leipzig die sog. »Generalvormundschaft« auf kommunaler Ebene. In ihr wurden, anknüpfend an die ältere Form der Anstaltsvormundschaft, mehrere Vormundschaften zusammengeführt und an einzelne Personen übertragen, die sich als behördliche Vertreter berufsmäßig um das Wohl der Kinder kümmern sollten (Klumker 1931; Jenner 2006, 18 ff.). Diesen »Berufsvormündern« oblag neben der Überwachung der Erziehung und Versorgung der Kinder auch die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen gegenüber dem Kindesvater (Studders 1919, 29 ff.). Somit brachte die Schaffung der Berufsvormundschaft für alle Seiten erhebliche Vorteile, sowohl für die wirtschaftliche und soziale Lage der Kinder und deren Mütter als auch für die kommunalen Armenkassen, da die Behörde sofort nach der Geburt des Kindes dessen Rechts- bzw. Unterhaltsansprüche gegenüber dem Vater durchsetzen konnte. Aus dieser zunächst auf einzelne Städte begrenzten Neuerung entwickelte sich später die sog. Amtsvormundschaft des Jugendamts über nichteheliche Kinder, die 1922 im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz rechtsverbindlich festgeschrieben wurde (Hasenclever 1978, 21 ff.; Scherpner 1976, 170).

Von besonderer Bedeutung für den Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe war ferner, nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am 1. Januar 1900, die Möglichkeit, die elterliche Gewalt nach § 1666 BGB einzuschränken. Damit einher ging die landesrechtliche Ermächtigung zu privatrechtlicher Zwangserziehung (nach Art. 135 EG.BGB), die bei einem Versagen der elterlichen Erziehung und drohender Verwahrlosung des Jugendlichen angeordnet werden konnte (Hasenclever 1978, 20 ff.). Noch im selben Jahr verabschiedete Preußen das »Gesetz für die FE Minderjähriger«, das Zwangserziehung sowohl im Kontext der Strafunmündigkeitsproblematik als auch durch vormundschaftliche Eingriffe »zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens« des Minderjährigen vorsah (Peukert/Münchmeier 1990, 7). Dieses Gesetz verdient Beachtung nicht nur wegen seiner ›modernen‹ Terminologie – FE statt Zwangserziehung – und dem sich darin andeutenden Umschwung von Strafe zur Erziehung, also von einem reaktiven zu einem eher präventiven Vorgehen, sondern auch, weil es insbesondere bezüglich des Verfahrens die Regelungen des Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) im Jahr 1922 bereits vorwegnahm (Sachße 1986, 73).

1.5.2 Jugendbewegung und Jugendpflege

Im Übergang zum 20. Jahrhundert lassen sich also auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge eine ganze Reihe von Entwicklungen erkennen, die auf eine veränderte Wahrnehmung dieser Aufgabe hindeuten. Parallel dazu setzten mehrere Entwicklungen ein, aus denen sich die später so bezeichnete Jugendarbeit speisen sollte: So begann sich etwa um die Jahrhundertwende eine autonome bürgerliche Jugendbewegung zu formieren, die zumeist mit dem Begriff »Wandervogel« assoziiert wird (Giesecke 1981; Krafeld 1984). Diese zunächst überwiegend von Schülerinnen und Schülern getragene selbstorganisierte Bewegung reagierte auf die Verunsicherungen einer dynamischen Industrialisierung mit einer romantisch verklärten Hinwendung zu intensivem Naturerleben, indem die Jugendlichen beispielsweise Wanderungen und Reisen ins Umland der Städte unternahmen, dabei Volkslieder sangen und zusammen am Lagerfeuer campierten. Oder wie Krafeld (1984, 26) formuliert: »Dem romantischen Vagantenbild entsprach es, sich frei von den Sorgen des Alltags und achtlos gegenüber gesellschaftlichen Zwängen in der Natur wiederzufinden und sich selbst zu entfalten.« 1901 erfolgte dann die Gründung des »Wandervogels« durch Karl Fischer. Die daraus hervorgegangene Vereinsbewegung bestand aus zahlreichen kleinen autonomen Ortsgruppen, die meist unter Anleitung eines jungen Erwachsenen selbstorganisierte Wochenendfahrten im Freien durchführten. Von zentraler Bedeutung für die spätere Bedeutungsgeschichte der Jugendbewegung war das Treffen auf dem Hohen Meißner bei Kassel im Oktober 1913, auf dem etwa 2000 »Wandervögel« zusammenkamen, um den »nicht wieder verhallenden Anspruch auf Selbstbestimmung, Gegenseitigkeit und Aufrichtigkeit« (Breyvogel 2005, 14) zu bekräftigen.

Etwa zeitgleich begann sich auch die Arbeiterjugend zu organisieren: Als Reaktion auf den Selbstmord eines Schlosserlehrlings, der sich erhängte, weil er die Schikanen seines Lehrmeisters nicht mehr ertragen konnte, gründete sich 1904 in Berlin der »Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter Berlins« und bildete gewissermaßen den Kontrapunkt zur bürgerlichen Jugendbewegung. Giesecke (1981, 38) schreibt dazu:

»Der emanzipatorische Ausgangspunkt der proletarischen Jugendbewegung war ein ganz anderer als bei der bürgerlichen Jugend. Weniger von den Sozialisationsdeterminanten der eigenen Familie und deren sozio-kultureller Umwelt musste man sich befreien, mit ihr war man vielmehr durch die Solidarität der gemeinsamen materiellen Notlage verbunden, sondern von der ökonomischen Ausbeutung durch den Arbeitgeber, der zugleich aufgrund der Gewerbeordnung von 1896 die ›väterliche Erziehungsgewalt‹ über seine Lehrlinge hatte.«

Dieses Aufbegehren und der Versuch, der alltäglichen Repression zu begegnen, spiegelten sich vielfach in der klassenkämpferischen Zielsetzung der sozialistischen Jugendverbände.

Schon einige Jahrzehnte früher begannen sich die Kirchen, vorwiegend aus sozialen und missionarischen Motiven, in Form von Jünglingsvereinigungen, Gesellenvereinen, Jünglingsbünden u. a. m., für männliche Jugendliche zu engagieren (Gries/Ringler 2003, 18). Zu dieser freien Jugendpflege gesellte sich Anfang des 20. Jahrhundert – gestützt auf die preußischen Jugendpflegeerlasse von 1911 und 1913 – die behördliche Jugendpflege.

Hauptsächlich aus zwei Gründen wurde damals eine immer stärkere Notwendigkeit gesehen, junge Menschen außerhalb von Familie und Schule zu betreuen: Einerseits sollte mit der Förderung der Jugendpflege auf vermeintliche Gefährdungen reagiert werden, denen schulentlassene männliche Jugendliche ausgesetzt waren (Wirtshäuser, Alkohol, Tanz, Schundliteratur, Prostitution usw.), andererseits stellte die Jugendpflege aber auch eine Reaktion auf die vermeintliche Gefährdung dar, die von diesen Jugendlichen ausging (Verwahrlosung, Kriminalität, politische Radikalisierung usw.).

Besonders plastisch wird dieses in Sorge gekleidete Kontrollbedürfnis des Staates in den ersten Sätzen des preußischen Jugendpflegeerlasses von 1911:

»Die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Veränderung der Erwerbsverhältnisse mit ihren nachteiligen Einflüssen auf das Leben in Familie und Gesellschaft hat einen großen Teil unserer heranwachsenden Jugend in eine Lage gebracht, die ihr leibliches und noch mehr ihr sittliches Gedeihen aufs schwerste gefährdet« (zit. nach Naudascher 1990, 32).

Wenn man so will, zielte die staatliche Jugendpflege also vor allem auf die »Schließung der ›Kontrolllücke‹ zwischen Schulbank und Kasernentor« ab (Lindner 2015, 736; auch Peukert/Münchmeier 1990, 8).

Für das Jahr 1911 wurde zu diesem Zweck erstmals ein Fonds von einer Million Reichsmark zur Verfügung gestellt, aus dem jugendpflegerisch tätige Vereine und Verbände in ihrer praktischen Arbeit unterstützt werden konnten – allerdings nur, wenn diese vaterländisch gesinnt waren (Müller 1994, 26). Mit dem ministeriellen Erlass wurde nicht nur der Begriff Jugendpflege endgültig etabliert, sondern auch die Notwendigkeit freier Jugendpflege hervorgehoben:

»Das Werk der Jugendpflege bedarf aber vor andern des Wohlwollens und der opferwilligen Mithilfe aller Vaterlandsfreunde in allen Ständen und Berufsklassen. Es ist daher dringend erwünscht, dass die warmherzige Liebe und opferwillige Begeisterung, die ihr von Einzelpersonen und freien Vereinigungen wie den zahlreichen kirchlichen Vereinen, den großen Turn-‍, Spiel- und Sportvereinigungen, Vereinen für Volkswohlfahrt u. a., bisher schon zugewandt worden ist, ihr nicht bloß erhalten bleibe, sondern an Umfang und Stärke zunehme« (zit. nach Naudascher 1990, 33).

Nun ist es vermutlich richtig zu konstatieren, der Staat habe mit der Jugendpflege vorrangig sozialdisziplinierende Absichten verfolgt und versucht, mit dieser Form der Unterstützung außerhalb der Kinder- und Jugendfürsorge Jugendliche in die staatliche Ordnung zu integrieren, allerdings weist Müller darauf hin, dass sich dadurch erst die Möglichkeit für eine wenigstens modellhafte pädagogische Praxis eröffnet habe, »die durch die nachträgliche Hilfe bei der Korrektur defizitärer Lebenslagen und Lebensläufe gekennzeichnet war« (Müller 1994, 26).

1.5.3 Das Jugendamt als generativer Kern der Kinder- und Jugendhilfe

Wie eben gezeigt, sind im Übergang zum 20. Jahrhundert an vielen unterschiedlichen Stellen Ansätze und Initiativen entstanden, die verdeutlichen, dass der Staat – ob aus echter Sorge, oder untergründiger Angst vor den »gefährlichen Klassen« sei dahingestellt – seine Funktion nun anders definierte als im zurückliegenden Jahrhundert. Die Folge dieser neu entstandenen staatlichen und kommunalen Aktivitäten war jedoch zunächst eine starke behördliche Zersplitterung der Zuständigkeiten, denn noch immer arbeitete eine Vielzahl von Behörden relativ unkoordiniert neben- und miteinander: die Polizei in ihren verschiedenen Funktionen, die Gewerbeaufsichtsbehörden beim Kinderarbeitsschutz, die Pflegekindaufsichtsbehörden, die städtischen Armen- und Waisenämter, die Ordnungsbehörden der Landgemeinden, die in den einzelnen Ländern unterschiedlich organisierten FE-Behörden, die kommunalen Gesundheitsämter, die Vormundschafts- und Strafgerichte u. a. m. (Scherpner 1979, 172). Erst dieses Nebeneinander macht die Forderung nach einem Amt verständlich, das diese unterschiedlichen Bereiche koordiniert.

Bereits im Jahr 1880 war es zu einem überregionalen Zusammenschluss von Fachleuten auf dem Gebiet der Armenpflege zum »Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit« (heute: »Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V.«) gekommen, der sich bald als Motor für wesentliche Neuerungen auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendfürsorge erweisen sollte. Neben Ärzten, Lehrern und sonstigen Fachleuten gehörten diesem Kreis auch Vertreter kommunaler bzw. staatlicher Behörden an, ebenso wie Vertreter der freien Wohlfahrtspflege. Der Deutsche Verein beschäftigte sich neben anderen, die Armenpflege betreffenden Fragen auch mit Fragen der Kinderfürsorge. Stellungnahmen des Vereins befassten sich beispielsweise mit Fragen der Fürsorge für arme, schwächliche und kranke Kinder, der Fürsorge für arme aufsichtlose Kinder, der Fürsorge für verwaiste, verlassene und verwahrloste Kinder, der Zwangserziehung, der Fürsorge für vernachlässigte und misshandelte Kinder und der Fürsorge für arbeitende Kinder. Die Anregungen des Vereins wurden in erster Linie von den großen Städten aufgenommen, deren finanzielle Möglichkeiten einen zügigen Ausbau der Kinder- und Jugendfürsorge zuließen. Besonderer Wert wurde dabei auch auf die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in den Armenvierteln und die gesundheitliche Prävention gelegt (ebd., 166 ff.).

Enttäuscht von dem z. T. zögerlichen Vorgehen des Deutschen Vereins, begannen sich aber bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Vorkämpfer der »Jugendfürsorgebewegung« vom Deutschen Verein abzuspalten und sich z. B. im AFET, dem »Allgemeinen Fürsorgeerziehungstag« (heute: »Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe«) neu zu formieren. Die Anfänge des AFET gehen auf das Jahr 1889 zurück, als sich eine Reihe von Anstaltsleitern aus verschiedenen preußischen Provinzen zusammenfanden, um in einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch einzutreten und sich über Methoden zu verständigen, wie die – als Folge des preußischen Zwangserziehungsgesetzes von 1878 – an sie überwiesenen Minderjährigen zu behandeln seien. Dieser Kreis hatte sich jährlich erweitert, so dass dort im Jahr 1900, dem Jahr des Inkrafttretens des BGB, auf einem Treffen in Hannover bereits alle norddeutschen Bundesländer vertreten waren. Diese forderten im Folgenden eine vereinheitlichte, eigenständige Jugendfürsorge, besondere Jugendbehörden und teilweise auch schon ein besonderes Jugendfürsorgegesetz (Hasenclever 1980, 204).

In einem Festbeitrag anlässlich des 60-jährigen Bestehens des AFET heißt es: Durch die an das BGB geknüpfte Fürsorgeerziehungsgesetzgebung

»regte sich alsbald bei den Behörden, die für die Durchführung der Fürsorgeerziehung verantwortlich waren, wie auch bei den Erziehungsheimen und Erziehungsvereinen, denen die Betreuung Minderjähriger anvertraut wurde, der Wunsch nach einem ständigen Erfahrungsaustausch. Dies war umso nötiger, als die Behörden sich gar nicht in der Lage sahen, für die nunmehr in viel größerer Zahl als bisher ihnen zugewiesenen Erziehungsfälle die erforderlichen Einrichtungen selbst zusätzlich zu den vorhandenen staatlichen und kommunalen Heimen zu schaffen. Sie entschlossen sich daher, in erster Linie aus pädagogischen, aber auch aus finanziellen Gründen, sich der erzieherischen Erfahrungen zu bedienen, die bereits bisher in Heimen und Organisationen der Freien Jugendwohlfahrt, insbesondere der Inneren Mission und des Caritasverbandes, gemacht worden waren. Gelingen konnte die gemeinsame Arbeit jedoch nur, wenn unter den Beteiligten eine Basis des Vertrauens griff und wenn von vornherein eine ständige wechselseitige Aussprache über alle organisatorischen und methodischen Fragen, die bei der Durchführung der pädagogischen Aufgaben jeweils auftauchten, sichergestellt werden konnte. Aus diesen Motivationen heraus ist der ›Allgemeine Fürsorgeerziehungstag‹ im Jahre 1906 gegründet worden« (Wolff 1966, 17).

Durch die offensichtlichen Nachteile der bestehenden behördlichen Zersplitterung einerseits und dem Nebeneinander von privater und öffentlicher Fürsorge andererseits wuchs nun sukzessive der Druck auf den Gesetzgeber, die bestehende Praxis der Jugendfürsorge neu zu ordnen. Im Deutschen Verein, der mittlerweile zum wichtigsten überorganisatorischen Zusammenschluss im Fürsorgewesen geworden war, herrschte allerdings Uneinigkeit darüber, in welche Richtung das System der Kinder- und Jugendhilfe reformiert werden sollte: Die eine Gruppe, die sich überwiegend aus den Vertretern der Kommunen im Deutschen Verein zusammensetzte, betrachtete die Kinder- und Jugendhilfe mehrheitlich noch immer als präventive Armenpflege. Sie wollte deshalb die Armenkindfürsorge zusammen mit der öffentlichen Armenpflege neu regeln und als eigenständiges Gebiet der öffentlichen Fürsorge ausbauen. Durch eine Übertragung fürsorgerischer Aufgaben auf überregional organisierte Verbände und Organisationen hoffte man dort, die in ländlichen Gebieten noch immer erheblichen Missstände auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe zu beheben und die Ausstattung der öffentlichen Fürsorge insgesamt verbessern zu können. Die zweite Gruppe betonte dagegen das Primat der Erziehung gegenüber der Versorgung und tendierte dahin, die Kinder- und Jugendhilfe aus der Armenpflege ganz herauszulösen und mit der neu entstandenen Berufsvormundschaft in einer eigenen Behörde zu verbinden. Nachdem sich die auf mehreren Hauptversammlungen des Deutschen Vereins von der zweiten Gruppe erhobene Forderung nach einem Jugendamt nicht durchsetzen konnte, verlagerte sich das Schwergewicht der Reformdiskussion, wie eben schon kurz angedeutet, auf das Archiv Deutscher Berufsvormünder, den AFET und die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge (Hasenclever 1978, 28 ff.). Wie sich noch zeigen wird, sollte sich diese Gruppe mit ihrer Forderung nach einem eigenen Jugendamt letztlich durchsetzen.

In diesem Zusammenhang muss auch die stetige Professionalisierung der Sozialarbeit Erwähnung finden (Sachße 1986; Amthor 2003, 2012; Hering/Münchmeier 2014), durch die die Bestrebungen zur Zusammenfassung der unterschiedlichen Zweige der Jugendfürsorge zu einem einheitlichen Rechtsfeld zusätzliche Impulse erhielten. Das Entstehen der sozialen und sozialpädagogischen Berufe war eng verknüpft mit dem Entstehen der Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, deren Vorkämpferinnen u. a. nach beruflichen Aufgaben für Frauen suchten, die sie auf dem Gebiet der sich neu bildenden Jugendfürsorge und des reformbedürftigen Armenwesens in reichlicher Weise fanden. Insbesondere die Berufe der Sozialarbeiterin und Jugendleiterin waren Tätigkeiten, die überwiegend von Frauen und vorwiegend für Frauen geschaffen wurden. Bereits 1905 wurde deshalb in Hannover die »Christlich-Soziale-Frauenschule« gegründet, der bald, 1908 in Berlin, die von Alice Salomon geleitete »Soziale Frauenschule« folgensollte (Amthor 2003, 195 ff.). In der Eröffnungsrede von Alice Salomon am 15. Oktober 1908 heißt es:

»Es ist Wunsch und Hoffnung der Gründer unserer Schule, dass Sie [die anwesenden Frauen, d. Verf.] hier Ihre Arbeit finden sollen. Wunsch und Hoffnung zugleich. Und die Berechtigung zu dieser Hoffnung nehmen wir aus der Wahl der Unterrichtsgebiete, die im Mittelpunkt unseres Lehrplans stehen. Es sind pädagogische und soziale Aufgaben, für die Sie hier vorbereitet werden sollen« (zit. nach Müller 1988, 139).

In ehrenamtlicher und hauptberuflicher Mitwirkung sollten die so ausgebildeten Frauen später einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Jugendhilfe in Praxis und Theorie sowie auf die Ausgestaltung des RJWG nehmen (Hasenclever 1978, 30).

Ungeachtet der noch immer anhaltenden Reformdiskussion etablierten sich in der kommunalen Praxis etwa um 1910 die ersten Jugendämter, die allerdings mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen ausgestattet und in unterschiedlicher Form organisiert waren. So wurde etwa 1909 in Mainz der Städtische Erziehungsbeirat zu einer selbständigen »Deputation für Jugendfürsorge« umgestaltet; 1910 wurde in Hamburg das erste mit umfassenden Kompetenzen ausgestattete Jugendamt geschaffen, zu dem bereits die Jugendgerichtshilfe (JGH) gehörte. Es folgten die Städte Breslau (1912) und Lübeck (1913). Obwohl diese Versuche weder repräsentativ waren noch flächenwirksam umgesetzt wurden, ist die Tendenz kaum zu übersehen, die unterschiedlichen Aspekte der Jugendfürsorge rechtlich und organisatorisch zu verbinden, d. h. sie aus der allgemeinen Fürsorge bzw. dem allgemeinen Strafrecht herauszulösen und zu integrieren. Gleichzeitig wurden an mehreren Stellen im Reich Bestrebungen vorangetrieben, die private Jugendfürsorge mit den kommunalen Behörden stärker arbeitsteilig zu verbinden. Zu diesem Zweck bildeten sich halbamtliche Jugendfürsorgeausschüsse oder -vereine, die auch gesetzlich nicht geregelte Aufgaben übernehmen konnten und in denen private und amtliche Fürsorgeaktivitäten zusammengefasst wurden (Hasenclever 1978, 28).

Sieht man von den kirchlichen Verbänden teilweise ab, so herrschte im Bereich der privaten Fürsorge allerdings noch immer ein reges Neben- und Gegeneinander: Neben Vereinen, die auf lokaler Basis arbeiteten und sich nur mit sehr spezifischen Notständen befassten, standen die Zweigvereine von Organisationen, die für größere Bezirke zuständig waren, und neben landes- oder reichsweit durchgegliederten Fachverbänden die konfessionellen Einrichtungen und humanitären oder politisch geprägten Bestrebungen. Die auch hier bestehenden Ansätze zu einer Vereinheitlichung von Organisationsformen bleiben zunächst in ihrer Wirkung begrenzt und scheiterten in erster Linie an den grundsätzlichen weltanschaulichen Interessengegensätzen zwischen den einzelnen Einrichtungen und Vereinen. Weiterhin ungeklärt war auch die Frage nach dem Verhältnis von staatlicher bzw. kommunaler und privater Jugendfürsorge (Scherpner 1979, 176).

Vor diesem Hintergrund wurde deshalb auch innerhalb der freien Jugendfürsorge der Ruf nach einem Jugendamt zunehmend lauter, das nicht nur die öffentliche Fürsorge einheitlich regeln, sondern auch als Bindeglied zur privaten Fürsorge fungieren sollte. Das größte Hemmnis auf dem Weg zum kommunalen Jugendamt war allerdings die Tatsache, dass die verschiedenen Zweige der Jugendfürsorge noch immer auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhten. Erst mit dem Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) 1923 bzw. dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) 1924 konnte dieses Hindernis weitgehend beseitigt werden.

Obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch keine reichsweit verbindlichen rechtlichen Strukturen gab, lassen sich bereits vor der Einführung des RJWG inselartige Konsolidierungen und Institutionalisierungen interorganisatorischer Beziehungen zwischen freier und öffentlicher Kinder- und Jugendhilfe beobachten. In Teilbereichen der Jugendfürsorge war diese Entwicklung bereits zu Beginn des Jahrhunderts