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Alle Kinder haben Rechte! Janusz Korczak (1878–1942), der polnisch-jüdische Kinderarzt und Pädagoge, forderte als erster nachhaltig Rechte für diejenigen, die über Jahrhunderte hinweg weitgehend rechtlos waren: die Kinder. 75 Jahre nach seiner Ermordung erhebt die 66. Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg die Kinderrechte, wie sie von der UNO erstmals 1959 beschlossen und 1989 zur rechtsverbindlichen Kinderrechtskonvention erweitert wurden, zum Thema. In diesem Buch von Anna Maria Kalcher und Karin Lauermann werden die Bedeutung und die Auswirkungen dieser UN-Kinderrechtskonvention reflektiert. Im Fokus stehen Konzepte der Demokratiepädagogik, der Entwicklung von Selbstständigkeit und Verantwortungsgefühl sowie Fragen nach Verbindlichkeiten, die wir von Kindern und Jugendlichen in erzieherischen Kontexten erwarten. Zudem werden die Ansätze Janusz Korczaks diskutiert und Emmi Piklers Engagement als Anwältin für Säuglinge und Kleinkinder beleuchtet. Über diese pädagogischen Grundfragen sprechen namhafte Referentinnen und Referenten: Univ.-Prof. Dr. Lothar Krappmann, Freie Universität Berlin Mag. Dr. Andreas Paschon, Universität Salzburg Univ.-Prof. Dr. Michael Winkler, Universität Jena Univ.-Prof. Dr. Annedore Prengel, Universität Potsdam Dr. Andrea Holz-Dahrenstaedt, Kinder- und Jugendanwaltschaft Salzburg Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Hannelore Reicher, Universität Graz MMag. DDr. Andrea Richter, Schulpsychologie Bildungsberatung Niederösterreich Anna Tardos, Pikler-Institut Budapest Univ.-Prof. Dr. Dr. hc. mult. Fritz Oser, Universität Fribourg 66. Internationale Pädagogische Werktagung vom 10. bis 14. Juli 2017
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Seitenzahl: 252
Anna Maria KalcherKarin Lauermann (Hg.)
Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg
Tagungsband der 66. Tagung 2017
Katholisches Bildungswerk Salzburg
F.W.-Raiffeisenstraße 2, 5061 Elsbethen, Österreich
www.bildungskirche.at
Mit freundlicher Unterstützung der Universität Salzburg und der Caritas Österreich.
Anmerkung
Die in diesem Band gesammelten Texte spiegeln die Gedanken und Auffassungen der Autorinnen und Autoren wider.
Für die Korrektheit der Zitationen zeichnen allein diese verantwortlich.
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
©2017 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.
Umschlagbild: © KonstantinChristian 2017,
mit Genehmigung von shutterstock.com
Grafik, Satz und Produktion: Tanja Kühnel
Lektorat: Dorothea Forster
ISBN 978-3-7025-0876-0
eISBN: 978-3-7025-8041-4
www.pustet.at
Kinderrechte – Rechte der Kinder und Jugendlichen. Eine Einleitung
Anna Maria Kalcher und Karin Lauermann
Die Menschenrechte auch für Kinder?
Lothar Krappmann
Janusz Korczak – Denken in bestimmter Offenheit
Michael Winkler
Janusz Korczak und das Recht des Kindes auf seine Rechte
Andreas Paschon
Zur kinderrechtlichen Verbesserung pädagogischer Beziehungen – Der Beitrag der Reckahner Reflexionen
Annedore Prengel
25 Jahre Kinderrechte in Österreich – Anspruch und Wirklichkeit
Andrea Holz-Dahrenstaedt
Mitbestimmen – Mitgestalten. Pädagogische Potenziale von Partizipation
Hannelore Reicher
Kinderrechte versus Kinderpflichten – zwei Seiten einer Medaille?
Andrea Richter
Emmi Pikler – Anwältin der Säuglinge und Kleinkinder
Anna Tardos
Das Kind hat ein Recht darauf, das zu tun, was es nicht tun will. Kinderrechte, wenn Kinder stören, streiten, quälen. Ein Essay.
Fritz Oser
Autorinnen und Autoren
Herausgeberinnen
Anna Maria Kalcher und Karin Lauermann
Jedes Kind, jede und jeder Jugendliche hat Rechte – und zwar die gleichen, egal an welchem Ort der Erde sie aufwachsen. Seit die UN-Kinderrechtskonvention am 20. November 1989 in Kraft getreten ist, haben fast alle Staaten dieses weltweite Grundgesetz für Kinder ratifiziert. Am 5. September 1992 ist die Kinderrechtskonvention auch in Österreich formal in Kraft getreten (vgl. BGBl I 4/2011).
Der Weg bis dahin war jedoch ein langer: 1959 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Erklärung über die Rechte des Kindes. Ebenso wie die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 war sie nicht rechtsverbindlich. Erst 30 Jahre und viele Aushandlungsprozesse später, am 20. November 1989, wurde die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. Bereits am ersten Tag wurde sie von 61 Staaten unterschrieben. Bis heute haben 193 Staaten die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Somit ist sie das Menschenrechtsinstrument mit den meisten Mitgliedstaaten (vgl. UNICEF 2009).
1989 wird von den Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention beschlossen, die in Österreich 1992 in Kraft trat. Diese Konvention beinhaltet 54 Artikel, in welchen Schutzrechte, Versorgungsrechte und Beteiligungsrechte festgelegt sind. Die Konvention wird vom Kinderrechtsausschuss in Genf regelmäßig evaluiert. Am 16. Februar 2011 übernimmt Österreich schließlich wichtige Kinderrechte in die Verfassung, wie z. B. das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Schutz vor Gewalt, auf Kontakt zu beiden Elternteilen und auf Partizipation. Als vorrangiges Prinzip gilt das Kindeswohl (vgl. Hiebl 2015, S. 40).
Der Weg bis zur Einrichtung der UN-Kinderrechtskonvention führt jedoch noch weiter in die Geschichte zurück: 1900 veröffentlichte die schwedische Pädagogin Ellen Key ihr epochales Werk Das Jahrhundert des Kindes, das einen wichtigen Beitrag zur internationalen Kinderschutzbewegung darstellt. 1909 legt Maria Montessori ihr Hauptwerk Die Entdeckung des Kindes vor, in dem sie sich für die Würde des Kindes starkmacht. Das Schlusskapitel des Mitte der 1930er-Jahre erschienenen Werkes Das Kind (1938; auf Deutsch Kinder sind anders, 1952) trägt die Überschrift: Rechte des Kindes. Die britische Sozialreformerin Eglantyne Jebb, die sich u. a. für Flüchtlingskinder nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte, gründete 1919 die internationale Kinderschutzorganisation Save the Children. 1924 veröffentlichte der Völkerbund die Genfer Erklärung zum internationalen Kinderschutz, welche stark von Jebb beeinflusst war. 1942 stieg Janusz Korczak, der Leiter des Waisenhauses Dom Sierot in Warschau, mit den ihm anvertrauten jüdischen Kindern in die Güterwaggons, die sie ins Vernichtungslager Treblinka brachten. Der polnische jüdische Arzt und Pädagoge Korzcak war es auch, der als Erster und nachhaltig Rechte für diejenigen einforderte, die über Jahrhunderte weg weitgehend rechtlos waren: die Kinder. 1978 hält die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eine Rede gegen Gewalt an Kindern. 1979 rufen die Vereinten Nationen das Internationale Jahr des Kindes aus. 1980 veröffentlichte der österreichische Kinderarzt Hans Czermak gemeinsam mit dem Arzt und Psychotherapeuten Günter Pernhaupt das Buch Die gesunde Ohrfeige macht krank. Über die alltägliche Gewalt im Umgang mit Kindern. Und obwohl im Jahr 2000 zwei zusätzliche Fakultativprotokolle zur UN-Kinderrechtskonvention in Kraft traten – das Fakultativprotokoll betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und das Fakultativprotokoll betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie –, erleben 2017 Kinder noch immer Gewalt- und Missbrauchserfahrungen oder werden auf der Flucht von ihren Eltern getrennt. – »Bis jetzt hing alles vom guten Willen und von der guten oder schlechten Laune des Erziehers ab. Das Kind war nicht berechtigt, Einspruch zu erheben. Dieser Despotismus muss ein Ende haben« (Korczak 1920/1992, S. 304). Diese Worte stammen aus der Feder Janusz Korczaks. Sie wurden 1920 in seinem pädagogischen Hauptwerk Wie man ein Kind lieben soll erstmals veröffentlicht und beziehen sich auf die Situation in öffentlichen Erziehungsanstalten jener Zeit. Doch die Einschätzung und der Appell Korczaks haben bis heute nur wenig an Aktualität verloren. Partizipation bedeutet, Kinder und Jugendliche an Angelegenheiten, die sie betreffen, zu beteiligen. Kinder zu beteiligen bedeutet, das, was um sie herum geschieht, zu ihren Angelegenheiten zu machen, für die sie zuständig sind und für die sie Verantwortung übernehmen dürfen – nicht müssen –, um Bildungsprozesse herauszufordern oder zu intensivieren. Denn: Wenn Bildung als Selbstbildung verstanden wird, dann ist sie ohne die aktive Beteiligung der Kinder nicht möglich. Damit wird Partizipation zum Schlüssel in pädagogischen Prozessen (vgl. Hansen 2008). Das heißt jedoch nicht gleichermaßen, die Verantwortung für das gute Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen an sie zu delegieren.
Die UN-Kinderrechtskonvention anerkennt das Kind als Träger von Rechten und beinhaltet umfassende Schutz-, Beteiligungs- und Förderrechte. Sie ist das einzige Menschenrechtsinstrument, das ökonomische, soziale, kulturelle, zivile und politische Grundrechte beinhaltet Die 54 Artikel der Kinderrechtskonvention bezeichnen jedoch nicht nur materielles Recht, sondern auch eine ganze Reihe von Verfahrensrechten, wie etwa die Verpflichtung der Staaten, die Kinderrechte bekannt zu machen (Artikel 42) (vgl. Hiebl 2015, S. 40). Mit der UN-Kinderrechtskonvention sind Kinder erstmals zu Subjekten eigenen Rechts geworden. Sie hat die Debatte um Kinderrechte weltweit belebt und in vielen Ländern zu Initiativen und gesetzlichen Maßnahmen geführt, die eine Verbesserung der Rechtsstellung der Kinder mit sich brachten (vgl. Maywald 2012; Liebel 2015). Doch als allgemeine Grundsätze, die weltweit Geltung haben sollen, können sie nicht auf alle Fragen eine Antwort geben, die sich aus dem Leben von Kindern und dem Umgang mit ihnen ergeben. Sie bedürfen immer der Interpretation, Konkretisierung und Weiterentwicklung (vgl. Liebel 2007).
Um zu erreichen, dass sich Kinder Rechte zu eigen machen und als für sich nützlich verstehen, müssen sie in einer kontextspezifischen Weise konzipiert werden und auf die Lebenserfahrungen der Kinder eine Antwort geben. Es kann nicht einfach darum gehen, formal bestehende Kinderrechte umzusetzen, sondern sie müssen in ihren kulturellen, politischen und strukturellen Zusammenhängen reflektiert und in ihren möglichen Auswirkungen auf das Leben der Kinder abgewogen werden. Die Kinder sind dabei als Personen zu achten, die ihre Rechte mitkonstruieren und den Umgang mit ihren Rechten mitbestimmen und mitgestalten (vgl. Liebel 2015, S.11). Ein pädagogischer Ansatz, der an den Kinderrechten orientiert ist, steht also vor der Frage, welche Rechte Kinder beispielsweise in einer pädagogischen Einrichtung haben sollen. Die Kinderrechte der UN-Konvention einfach zu übernehmen ist weder sinnvoll noch notwendig. Dabei, so Michael Winkler (2015, S. 9), »soll und darf gar nicht bestritten werden, dass schon kleine Kinder hoch souverän sind, die Welt und sich kontrollieren, als Säuglinge etwa ihren Nahbereiche souverän bestimmen«, eben, mit Martin Dornes (1993) gesprochen, »kompetente Säuglinge [sind]«. Dennoch, betont Winkler, ist es Entwicklungstatsache, dass Bedürfnisse von Kindern befriedigt werden müssen und Zuwendung die Grundlage guten Aufwachsens ist. Kinder sind aber nicht
»minder darauf angewiesen, Fehler machen zu dürfen und Handlungen einzuüben, um Fähigkeiten und Fertigkeiten zu gewinnen. Etwas platt formuliert, […]: Kinder haben ein Recht auf ihre Kindheit, darauf in ihrer Kindheit und in ihrer Jugend anerkannt und geachtet zu sein, nicht bloß formal juristisch, sondern aus einer letztlich ethischen und übrigens auch pädagogischen Haltung heraus« (Winkler 2015, S. 9).
Pädagoginnen und Pädagogen unterschiedlicher Genres beschäftigen sich mit Kindern und Jugendlichen in Familie, Schule, im Gesundheitswesen, in der freien Jugendarbeit oder in Wohngruppen u. a. m. Die Kinderrechte und die damit verbundenen Standards und Ansätze stellen eine Verbindung zwischen diesen Gruppen her, bieten einen gemeinsamen Referenzrahmen sowohl als Vergleichsmaßstab wie auch als Antrieb für gesellschaftliche Veränderungen (vgl. Sax 2015, S. 19).
Der Leitgedanke der Kinderrechtskonvention ist das Wohl des Kindes. D. h. jede Entscheidung, die Kinder von 0 bis 18 Jahren betrifft, soll im Interesse des Kindes getroffen werden. Ein Gedanke, der unmittelbar zum weiten Handlungsfeld der Pädagogik und zur Frage nach dem Verhältnis von Kinderrechten und Pädagogik führt. Können Kinderrechte zu einem »Fixstern« werden, der in einem extrem »unübersichtlichem Gelände« Orientierung gibt (vgl. Schrappe/Hartwig/Mennen 2016; Maywald 2016)? Gleichermaßen werfen sie aber auch Fragen auf, die im Rahmen der 66. Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg 2017 verhandelt und aus unterschiedlichen disziplinären und professionellen Blickrichtungen betrachtet worden sind: Was müssen Erwachsene tun, damit Kinder und Jugendliche tatsächlich zu ihrem Recht kommen? Wie weit sollen Kinder und Jugendliche mitentscheiden und wo ist erwachsene Verantwortung gefragt? Welches Verhältnis besteht zwischen Rechten und Pflichten sowie zwischen Recht und Unrecht? Was tun, wenn der Wille eines Kindes nicht seinem Wohl entspricht?
Zum Auftakt betont der Pädagoge und Soziologe Lothar KRAPPMANN die große Bedeutung der Kinderrechtskonvention, die nicht nur den Schutz der Kinder, sondern auch ihre umfassende Förderung und wirksame Beteiligung beinhalten, und weist darauf hin, dass auch schon vor der Konvention sich Menschen für Kinder engagiert und ihre Rechte gefordert haben. So zeigen die pädagogischen Ansätze von Janusz Korczak und Maria Montessori, wie Kinder als mitverantwortliche Partnerinnen und Partner der Erwachsenen in die Gestaltung ihres Lebens einbezogen werden können. In diesem Verständnis gibt die Kinderrechtskonvention dem Leben von Erwachsenen und Kindern ein notwendiges Fundament, das mit Leben zu füllen ist.
Michael WINKLER, Professor für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik, verhandelt »Denken in bestimmter Offenheit« ausgehend von der These: »Janusz Korczak kann nicht als Kronzeuge für die Kinderrechte in Anspruch genommen werden«. Auf eine textnahe Verteidigung der These präsentiert er eine kurze, jedoch prägnante Darstellung der Grundideen der Pädagogik von Janusz Korczak, um schließlich jene besondere Denkform, die Korczak den Pädagoginnen und Pädagogen ans Herz legt, zu betonen. Denn: Korczak lehrt uns eine andere Pädagogik, eine offene, den Kindern als Menschen zugewandte, getragen von einer kritischen Öffnung des Denkens und Handelns, ohne den Anspruch darauf aufzugeben, pädagogisch zu denken und zu handeln.
Andres PASCHON fokussiert seinen Beitrag aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive auf den Vater der Kinderrechte Janusz Korczak: sein Leben, seine Werke und seine Pädagogik. In den Ausführungen werden Meilensteine aus dem Leben von Korczak ebenso aufgegriffen wie eine Auswahl seines umfangreichen Werkes und Grundaussagen seiner Pädagogik. Gedanken zu Korczak und die Folgen in der Gegenwart werden mit einer praxisnahen Spurensuche nach Korczaks Pädagogik in der Gegenwart und durch Prätentionen aktueller Projekte zum Thema abgerundet.
Die Erziehungswissenschaftlerin Annedore PRENGEL verweist auf die Bedeutung einer pädagogischen Beziehungsqualität, die von Anerkennung und Respekt geprägt ist, da diese eine hohe Relevanz für emotionale, soziale und kognitive Entwicklungs- und Lernprozesse einnimmt. Um pädagogische Beziehungen aus kinderrechtlicher Sicht zu verbessern und insbesondere verbalen und seelischen Verletzungen vorzubeugen, stellt sie Ausschnitte der Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen vor. Dieses Manifest wurde 2017 von insgesamt 150 Personen aus allen bildungsbezogenen Bereichen nach einer sechsjährigen Arbeitsphase verabschiedet.
Aus der Sicht der Kinder- und Jugendanwaltschaft, der kinderrechtlichen Interessensvertretung in Österreich, reflektiert Andrea HOLZ-DAHRENSTAEDT Handlungsbedarfe zur Umsetzung der Kinderrechte. Sie zeigt anhand von Befunden aus diversen Studien auf, dass nach wie vor eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht und in welchen Bereichen Kinder und Jugendliche nach wie vor die spezifische Unterstützung und das Lobbying von professionellen Stellen benötigen. Neben erforderlichen strukturellen Maßnahmen gibt sie Beispiele, wie Pädagoginnen und Pädagogen innerhalb ihrer Tätigkeitsfelder Heranwachsende stärken und begleiten können.
Partizipation ist einer der Zielgedanken der Internationalen Kinderrechtskonvention, die auf den drei Leitideen provision, protection und participation basiert. Die Psychologin und Integrationspädagogin Hannelore REICHER akzentuiert, dass die Beteiligungsrechte (participation) neben dem Recht auf Förderung und Entwicklungschancen (provision) sowie dem Schutz vor Gewalt (protection) den dritten wesentlichen Schwerpunkt bilden. Sie rückt das Thema Partizipation in den Fokus und diskutiert thematisch relevante Fachdiskurse zu Partizipationsrechten von Kindern und Jugendlichen.
Aus der Sicht der Schulpsychologie unterzieht Andrea RICHTER den Zusammenhang zwischen Rechten und Pflichten einer genaueren Betrachtung und geht den Fragen nach: Sind Kinderrechte und Kinderpflichten gegeneinander aufzurechnen? Sind sie die zwei Seiten einer Medaille? Müssen sich Kinder ihre Rechte durch Erfüllung ihrer Pflichten, durch ihr Wohlverhalten verdienen? Sie setzt sich hierbei für die Realisierung von Kinderrechten im alltäglichen Miteinander ein.
Wie die Rechte von Säuglingen und Kleinkindern verwirklicht werden können und welche Konsequenzen sich daraus für konkrete Betreuungs- und Pflegesituationen ergeben, veranschaulicht die Kinderpsychologin Anna TARDOS. Sie zeigt auf, dass Emmi Pikler durch ihre frühkindlichen Studien einen erheblichen Beitrag für einen achtsamen und beziehungsorientierten Umgang mit Kleinkindern geleistet hat. Pikler kann vor diesem Hintergrund zu Recht als Anwältin der Säuglinge bezeichnet werden. Indem Kinder das Recht auf ungeteilte Aufmerksamkeit in der pädagogische Beziehung erhalten, kompetent in ihrer Selbstständigkeitsentwicklung unterstützt werden, können die Rechte der Pflegenden und der Kinder geschützt werden, so der Tenor.
Fritz OSER, Erziehungswissenschaftler und Experte für moralische Entwicklung, diskutiert die Bedeutung der Kinderrechte vor dem Hintergrund schulischer disziplinärer Probleme und Konflikte. Er verdeutlicht, dass es sich beim Regelsystem, wie es schon Janusz Korczak formuliert hat, nicht um Kinderrechte im juristischen Sinn handelt, sondern diese Regeln vielmehr als pädagogische Prinzipien zu verstehen sind. Er führt Korczaks Konzept weiter und entwirft eigene, aktuelle Prinzipien, die er anhand empirischer und theoretischer Arbeiten fundiert. Damit zeigt er Möglichkeiten des Klassenmanagements auf, die Lehrenden wie Lernenden ein gelungenes Miteinander ermöglichen und Lehr- und Lernsituationen fruchtbar machen.
Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes von 1989 gilt als ein Meilenstein. Erstmals sind Kinderrechte umfassend in einem internationalen Vertragswerk mit weltweitem Geltungsanspruch verankert. Welche Herausforderungen und Handlungsperspektiven ergeben sich aus der UN-Kinderrechtskonvention für Pädagoginnen und Pädagogen? Wo müssen Menschenrechte und damit auch Kinderrechte stärker berücksichtigt und verankert werden, um Kinder wirkungsvoll zu schützen, zu fördern und zu beteiligen? Diese und weitere Fragen werden auf den folgenden Seiten des interdisziplinär angelegten Dokumentationsbandes zur 66. Internationalen Pädagogischen Werktagung diskutiert und verhandelt. In diesem Sinn möge die vorliegende Publikation Impulse für die pädagogische Arbeit in unterschiedlichen Handlungsfeldern geben, um den Prozess der Bildung von Menschenrechts- und Kinderrechtsbewusstsein nachhaltig voranzubringen.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (1990): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien. Online: https://www.bmfsfj.de/blob/93140/8c9831a3ff3ebf49a0d0fb42a8efd001/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-data.pdf [15.8.2017].
Bundesverfassungsgesetz über die Rechte der Kinder BGBL I 4/2011. Online: http://www.kinderrechte.gv.at/wp-content/uploads/2013/10/Bundesverfassungsgesetz-ueber-die-Rechte-von-Kindern.pdf [15.8.2017].
Dornes, Martin (1993): Der kompetente Säugling: Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Hansen, Rüdiger (2008): Kindern geRecht werden – Kinderrechte in der pädagogischen und politischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen. In: Textor, Martin R. (Hrsg.): Das KitaHandbuch. Online: http://www.kindergartenpaedagogik.de/1932.html [23.7.2017].
Hiebl, Josef (2015): Sozialpädagogische Arbeit ist Menschenrechtsarbeit. In: Sozialpädagogische Impulse 1/2015, S. 40.
Key, Ellen (1900/1902): Das Jahrhundert des Kindes. Übersetzt von Marie Franzos unter dem Pseudonym Francis Maro: Stockholm/Bonnier, 1900. Deutsche Erstausgabe: Berlin, S. Fischer 1902.
Korczak, Janusz (1920/1992): Wie man ein Kind lieben soll. Göttingen, 10. Aufl. 1992 (Erstveröffentlichung 1920).
Liebel, Manfred (2007): Wozu Kinderrechte. Grundlagen und Perspektiven. Weinheim: Beltz/Juventa.
Liebel, Manfred (2015): Kinderrechte – Rechte der Kinder. In: Sozialpädagogische Impulse, 1/2015, S. 11–14.
Lindgren, A. (1978): Ansprachen anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Frankfurt/Main.
Maywald, Jörg (2012): Kinder haben Rechte! Kinderrechte kennen – umsetzen – wahren. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Maywald, Jörg (2016): Kinderrechte in der Kita: Kinder schützen, fördern, beteiligen. Freiburg: Herder.
Montessori, Maria (1909): Die Entdeckung des Kindes. Freiburg: Herder.
Montessori, Maria (1938): Il segreto dell’infanzia. Deutsch: Kinder sind anders. (1952).
Pernhaupt, Günter/Czermak, Hans (1980): Die gesunde Ohrfeige macht krank. Über die alltägliche Gewalt im Umgang mit Kindern. Wien: Orac.
Sax, Helmut (2015): Anspruch und Wirklichkeit. In: Sozialpädagogische Impulse 1/2015, S. 18–20.
Schrapper, Christian/Hartwig, Ludwig/Mennen, Gerald (2016): Kinderrechte als Fixstern moderner Pädagogik? Grundlagen, Praxis, Perspektiven. Weinheim: Beltz Juventa.
Übereinkommen über die Rechte des Kindes, BGBl. Nr. 7/1993, 4. Stück, Ausgegeben am 8. Jänner 1993, https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1993_7_0/1993_7_0.pdf [27.7.2017].
UNICEF (2015): Kinderrechtskonvention. Online: https://www.unicef.at/kinderrechte/die-un-kinderrechtskonvention/ [3.8.2017].
UNICEF (2009): Eine kurze Geschichte der Kinderrechte. Online: https://unicef.at/fileadmin/media/Infos_und_Medien/Info-Material/Kinderrechte/Eine_kurze_Geschichte_der_Kinderrechte.pdf [15.8.2017].
Winkler, Michael (2015): Kinder haben ein Recht auf ihre Kindheit. In: Sozialpädagogische Impulse, 1/2015, S. 8–11.
Lothar Krappmann
Über die Menschenrechte der Kinder will ich sprechen, die in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen 1989 anerkannt wurden.1 Mit der Ratifikation der Konvention haben sich die Staaten auferlegt, die Rechte der Kinder in ihr Rechtssystem verbindlich aufzunehmen. Diese Rechte betreffen nicht nur den Schutz, sondern auch eine umfassende Förderung und wirksame Beteiligung der Kinder an der Ausrichtung des eigenen Lebens. Sind es wirklich Menschenrechte, die den Kindern zugesichert wurden?
Nicht erst im Zusammenhang mit der Konvention, sondern schon viel früher haben Menschen, die sich für Kinder engagierten, Rechte der Kinder gefordert, die ihnen nicht genommen werden dürften. Unter ihnen ist Janusz Korczak, der polnische jüdische Arzt und Pädagoge, der bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlangt und praktiziert hat, Kinder als mitverantwortliche Partner der Erwachsenen in die Gestaltung ihres Lebens einzubeziehen. Auch Maria Montessori hat nachdrücklich für Kinderrechte gekämpft.
Ich werde die große Bedeutung der Kinderrechtskonvention herausstellen; sie gibt dem Leben von Erwachsenen und Kindern ein notwendiges Fundament. Wer sich für gute Betreuung, Erziehung ohne Gewalt, Förderung benachteiligter Kinder einsetzt, ist durch die Annahme der Konvention keine Bittstellerin, kein Bittsteller mehr, sondern steht auf dem Boden zugesagter Rechte. Rechte müssen jedoch auch gelebt werden. Janusz Korczak, zu dessen Zeit es noch keine Kinderrechtskonvention gab, hilft uns heute auszuschöpfen, was die Konvention den Kindern verspricht.
Es fällt zurzeit schwer, einen Vortrag über die Menschenrechte der Kinder zu halten, der erläutern will, wie sich unsere Vorstellungen von Kindern und den Rechten, die ihnen zustehen, entwickelt haben, welche Auseinandersetzungen es gab, bis es zu verbindlichen Texten kam, und welche Hoffnungen sich mit diesem großen Menschenrechtsprojekt verbinden. Lohnt es denn angesichts der vielen Rechtsverletzungen überhaupt noch, auf diese Bemühungen um menschliches Zusammenleben in Würde, Sicherheit und wechselseitigem Respekt Hoffnungen zu setzen?
Zu viele schreckliche Nachrichten hören und lesen wir täglich, die all dem Hohn sprechen, was die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen erreichen will: Leib und Seele der Kinder schützen, sie mit dem versorgen, was sie für eine gute körperliche, geistige, seelische, soziale und moralische Entwicklung benötigen, und sie befähigen, ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung zu führen – alles Worte aus der Konvention.
Stattdessen hungern unzählbar viele Kinder, werden ihre Schulen und Krankenhäuser zerbombt, arbeiten Millionen von ihnen, zum Teil unter schrecklichen Bedingungen, um zu überleben. Junge Mädchen werden unter Zwang verheiratet. Millionen von Kindern fliehen mit Eltern oder allein unter Lebensgefahr aus ihrem Land. Auch in Europa leiden nach wie vor viel zu viele Kinder unter Gewalt, Armut, Vernachlässigung und Missbrauch.
Es war und ist ein Ziel der Kinderrechtskonvention, die Kinder – gemeint sind in den UN-Dokumenten junge Menschen bis zur Volljährigkeit im Alter von 18 Jahren – so weit wie möglich aus Elend, Verfolgung und Misshandlung herauszuholen und mit ihnen einen neuen und guten Anfang des Zusammenlebens aller Menschen einzuleiten. »Das Kind erzeugt nichts Geringeres als die Menschheit selbst«, schrieb einst Maria Montessori (1952, S. 290).
Ist das alles gescheitert? Nein, es ist nicht alles gescheitert, es gibt gute Entwicklungen, an denen die Kinderrechtskonvention und ihr überwachender UN-Ausschuss ihren Anteil haben: zurückgehende Kindersterblichkeit, mehr Schulbildung, und zwar auch für Mädchen, Rückgang der besonders schädlichen Kinderarbeit, Gewaltverbote in vielen Staaten. Aber trotz mancher Lichtblicke: Die Frage danach, wie Kinder unterstützt werden können, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und an den großen Aufgaben eines gemeinsamen guten Lebens mitzuarbeiten, wird angesichts der Katastrophen und dunklen Aussichten nur noch dringlicher.
Die Kinderrechtskonvention soll den Weg der Kinder zu voller Verantwortung für sich und ihre Mitmenschen unterstützen. Sie gibt Kindern eine Stimme in allen Angelegenheiten, die sie berühren, und verlangt, dass ihre Interessen, ihre Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten und vor allem ihre Teilhaberechte berücksichtigt werden, zusammengefasst: Das Wohl der Kinder solle bei allen Maßnahmen mit Vorrang bedacht werden. Das sind menschenrechtliche Garantien, die die Konvention allen Kindern ohne Diskriminierung zusichert. Kinder sind Subjekte und nicht erwachsenen Entscheidungen unterworfene Objekte.
Sind das nicht vielleicht nur Sonderrechte, auf welche die Staaten sich verständigt haben, um Kindern den Weg in später erst auszuübende Rechte und Freiheiten der Erwachsenen zu sichern? Nein, die Kinderrechtskonvention bezieht sich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und legt fest, wie diese für Kinder verstanden und verwirklicht werden müssen. Stehen also die Menschenrechte im vollen Sinn auch bereits den Kindern zu? Trotz deren Abhängigkeit, mangelnder Erfahrung, unzulänglichem Wissen und Können?
Das Fragezeichen am Ende der Überschrift dieses Vortrags drückt die Zweifel aus, die manche Menschen teilen, welche Erfahrungen mit Kindern haben. Sie fragen sich, ob Kinder wirklich schon so weit sind, Rechte in Anspruch nehmen zu können und dürfen. Diesen Zweifeln widerspricht Janusz Korczak sehr energisch. Schon vor mehr als einem Jahrhundert sagte er: »Kinder werden nicht erst Menschen – sie sind schon welche!« (Korczak 1999a, S. 49, Fn. 1; zuerst 1899). Es war eine wegweisende Formulierung. Kinder sind »keine Puppen«, sagt Korczak (ebda.). Sie sind »vollständige Menschen«, meint ein Korczak nahestehender französischer Pädagoge, Philippe Meirieu: vollständig, jedoch nicht vollendet (vgl. Meirieu 2002, S. 12 f.).
Vollständig, denn Kinder tragen alle Potentiale in sich, die uns Menschen auszeichnen: Affekte und Vernunft, Für-sich-Sein und Zugehörigkeit, Abneigung und Liebe. Jedoch nicht vollendet: Auch das gehört zum Menschsein, wie uns Philosophinnen und Philosophen, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Theologinnen und Theologen erklären. Wer nicht mehr fragt, keinen Zweifel kennt, wer nicht mehr neugierig, erstaunt oder erschüttert ist, wer nicht mehr sucht und sich sehnt, dem fehlt Wesentliches von dem, was unsere Menschlichkeit auszeichnet. Da ziemlich viele Erwachsene ihre feststehenden Meinungen haben und Ungewisses beiseiteschieben, fragt man sich gelegentlich, ob Kinder nicht dem Menschsein näher sind als manche in sich eingeschlossene Erwachsene.
Nicht vollendet ist also kein Argument gegen Menschenrechte der Kinder, so Meirieu (2002). Aber es bleibt bestehen, dass Kinder infolge der allmählichen Entfaltung ihrer Fähigkeiten und noch fehlender Erfahrungen besonderer Unterstützung bedürfen, wenn sie beginnen – und dies geschieht sehr früh –, eigene Meinungen und Wünsche zu äußern und auf ihnen zu bestehen, also wenn sie anfangen – obgleich zunächst nicht mit diesen Worten –, Respekt und Berücksichtigung für sich einzufordern.
Hat die Kinderrechtskonvention für diesen Konflikt zwischen voller Zusicherung der Menschenrechte auch den Kindern und dem offenkundigen Unterstützungsbedarf der Kinder, wenn sie ihnen zustehende Rechte selber ausüben wollen, eine Lösung bereit?
Ich bin sicher, dass viele hier im Saal bereits etliches über die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen wissen, möchte aber mit einigen Sätzen erläutern, wie sich die Vorstellungen von Kinderrechten hin zu einer Kinderrechtskonvention herausgebildet haben. Arbeiten, die zu der nun vorliegenden Konvention führten, begannen bei der Vorbereitung des Internationalen Jahr des Kindes 1979. Das UN-Mitglied Polen schlug vor, eine frühere Erklärung der Vereinten Nationen zu den Rechten des Kindes, 1959 verabschiedet, in eine Konvention, in einen völkerrechtlichen Vertrag umzuwandeln.
Konventionen wurzeln in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, die ein ehrwürdiges Dokument ist, aber nur ein Appell an die Staaten, Menschenrechte zu achten und zu sichern. Konventionen machen aus dieser Erklärung rechtlich verpflichtende Vereinbarungen. In der UN werden die Texte von Konventionen ausgearbeitet und schließlich von der Generalversammlung gebilligt. Dann muss jeder Staat für sich entscheiden, ob er beitreten will. Falls er es will, muss er die Konvention ratifizieren und zusagen, ihre Bestimmungen in sein Rechtssystem aufzunehmen. Nach langer Vorarbeit verabschiedete die UN-Generalversammlung 1989 die Kinderrechtskonvention. Österreich und Deutschland ratifizierten sie im Jahr 1992, die Schweiz im Jahr 1997. Der Kinderrechtskonvention sind mehr Staaten beigetreten als allen anderen Menschenrechtsverträgen, nämlich 196.2
Konventionen führen im Einzelnen aus, wie die Menschenrechte in einer besonderen Lebenslage oder im Hinblick auf besondere Gefährdungen verstanden und umgesetzt werden sollen, also etwa im Hinblick auf Rassendiskriminierung oder Benachteiligung von Frauen oder eben auch im Hinblick auf den Bedarf der Kinder auf Schutz, Unterstützung und Teilhabe.
Es sind keine Sonderrechte, sondern die Menschenrechte ohne Abstriche, alle, einschließlich der bürgerlichen Freiheitsrechte, so wie sie Kindern sinnvoll-angepasst garantiert werden müssen. Und sie sind schon gar nicht eine Simplifizierung für Kinder nach Art der Kinderpost oder des Kinderkaufladens und auch kein Spielplatz zum Üben. Sie sind unverlierbare, unveräußerliche, nicht einschränkbare Kindermenschenrechte, die Kinder sich nicht durch Wohlverhalten verdienen und ihnen nicht bei Fehlverhalten entzogen werden dürfen.
Um das auch gleich anzufügen: Kinder haben auch Pflichten, die sich aus den Menschenrechten ergeben. Die anderen um das Kind herum, Erwachsene und Kinder, haben ja auch Rechte, an deren Respektierung und Erfüllung sich Kinder durchaus beteiligen können und müssen. Wenn Kinder diese Pflichten verletzen, ist es wichtig, sie aufmerksam zu machen, zu mahnen, ihnen Wiedergutmachung aufzuerlegen und möglicherweise auch Annehmlichkeiten zu entziehen. Aber ihre Kindermenschenrechte verlieren diese Kinder nicht. Der harte Testfall dafür ist die Gerichtsbarkeit für ältere Kinder bzw. Jugendliche, die mit Gesetzen in Konflikt geraten sind.
Diese eindeutige Auffassung, dass Kindern die Menschenrechte ohne Abstriche, jedoch sinnvoll an ihre Lebenssituation angepasst zustehen, war nicht schon immer klar. Der Schutzgedanke stand lange im Vordergrund und prägte die juristische Vorgeschichte der heutigen Kinderrechtskonvention, die im Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg begann. Die Genfer Erklärung über Kinderrechte, die der Völkerbund 1924 beschloss, gab Kindern keine Rechte. Sie war lediglich ein hochherziger Appell an die Staaten, Aufwachsen und Entwicklung der Kinder in Zeiten von Zerstörung, Entbehrung und Flucht nach dem Ersten Weltkrieg zu sichern.
Janusz Korczak machte eine ziemlich abschätzige Anmerkung über diese Erklärung (Korczak 1999b, S. 401; zuerst 1929).3 Es gab und gibt Pädagoginnen und Pädagogen, die aus seiner Äußerung folgern, Kinderrechte seien etwas Abwegiges, denn mit Rechten würde man lebendigen, liebenden, trauernden, leidenden Kindern nie gerecht. Das war nicht Korczaks Meinung; er hat oft von Rechten gesprochen, die Kindern zustehen, um für ihre Interessen Anerkennung zu finden. Es gibt nicht nur seine Magna Charta der Freiheiten des Kindes, die sich allerdings kaum durch Gesetze einlösen lässt, sondern er nennt auch Rechte der Kinder, die für die Konvention essentiell sind, wie das Recht zu fragen, zu fordern und zu widersprechen.4
Eglantyne Jebb, eine englische Kämpferin gegen Kinderelend, kannte Korczaks Werk nicht, als sie den Völkerbund dazu brachte, die Genfer Kinderrechtserklärung zu verabschieden. Auch ihr wurde immer klarer, dass Wohltätigkeit nicht reicht und Kinder Rechte haben, die erfüllt werden müssen (vgl. Kerber-Ganse 2015). Die Völkerbund-Erklärung enthält dies noch nicht, aber Eglantyne Jebb sorgte dafür, dass die Frage nach Rechten der Kinder in die internationale Politik Eingang fand.
So bekannten sich auch die nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründeten Vereinten Nationen noch einmal zu dieser kinderschutzlastigen Genfer Erklärung. Das geschah 1948 fast gleichzeitig mit der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die Staaten hätten auch einen Artikel über die Rechte, die den Kindern zustehen, in diese Allgemeine Erklärung aufnehmen können. Sie taten es nicht. Die Anerkennung von Kindern als Träger von unbedingten Rechten war noch nicht weit genug entwickelt.
Es breitete sich jedoch bald Unzufriedenheit darüber aus, dass im Rahmen der Menschenrechte eine eindeutige Äußerung zum Status der Kinder fehlte. Erst 1959 kam es zu einer UN-Erklärung zu Kinderrechten. Diese umfangreiche Erklärung erwähnte zwar Interessen der Kinder, enthielt jedoch keine Bestimmung darüber, wie Kinder an der Verwirklichung ihrer Interessen mitwirken könnten. Und diese gravierende Lücke in der Verwirklichung der Menschenrechte mit und durch Kinder wies auch der erste Entwurf der Kinderrechtskonvention auf, an dem eine UN-Arbeitsgruppe 1978 zu arbeiten begann.
Diesen Entwurf hatte der polnische Vorsitzende der UN-Arbeitsgruppe vorgelegt. Der Vorschlag zu einer Konvention kam also aus Polen, der erste Entwurf einer solchen Konvention kam aus Polen, der Vorsitzende der Arbeitsgruppe kam aus Polen: Alles klar, sagen viele, die die Entstehung der Konvention untersuchen: Polen, Polen, Polen – also Korczak! Korczak inspirierte die Konvention. Aber das trifft nicht zu.5 Weder in den Unterlagen der UN-Arbeitsgruppe und ihrer Teilnehmer aus Regierungen und Zivilgesellschaft noch in den Veröffentlichungen des polnischen Vorsitzenden gibt es Hinweise auf einen Einfluss Janusz Korczaks. Dieser Entwurf der Konvention war nicht aus dem Geist Korczaks und seinen Vorstellungen über Kinder als aktiv mitwirkende Menschen geschrieben worden.
Dieser erste Entwurf wurde überarbeitet und ein Jahr später gab es einen zweiten Entwurf, in dem Kinder auf einmal eine aktive Rolle in der Gestaltung wichtiger Lebensfragen gegeben wurde: Die Vertragsstaaten
»[…] geben dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht, seine Meinung zu allen Angelegenheiten zu äußern, die seine Person betreffen, insbesondere zu Eheschließung, Berufswahl, medizinischer Behandlung, Bildung und Freizeit« (OHCHR 2007, S. 437).
Dieser Text wurde weiter bearbeitet; die Einschränkung auf eine Reihe von besonders wichtigen Themen fiel weg. Heute steht in der Konvention, dass das Kind das Recht hat, seine »Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern«. Und weiter: Die Staaten sichern dem Kind zu, seinen Meinungen, Vorschlägen, Forderungen und auch seinen Einwänden »angemessenes Gewicht« zu geben. Erst dieser Zusatz, Gewicht zu geben, macht dieses Recht stark. Meinungen und Vorschläge von Kindern müssen in alle Maßnahmen, die Kinder berühren, mit Gewicht einfließen.
Das war der Umbruch vom Kind als Objekt zum Kind als Subjekt. Dieser Artikel 12 über das Kindern zugesicherte Gehör sorgt dafür, dass den Kindern nicht nur Rechte bestätigt werden, die dann andere für sie wahrnehmen, sondern dass Kinder selber einbezogen werden müssen. Diese Bestimmung strahlt auf alle anderen Rechte der Kinder in der Konvention.