Kindeswohlgefährdung - Carmen Osten - E-Book

Kindeswohlgefährdung E-Book

Carmen Osten

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Beschreibung

Kindeswohlgefährdungen gehören bedauerlicherweise zur gesellschaftlichen Realität. Im Buch wird das Thema Kindeswohl mit seinen möglichen täglichen Bedrohungen beschrieben und es werden die gesetzlichen Grundlagen behandelt, die Kinder in Deutschland vor Gefährdungen schützen sollen. In 30 auf wahren Begebenheiten basierenden Therapiegeschichten werden die Facetten und diversen Szenarien von Gewalt, deren kumulierende Wirkung und auch deren Tarnung dargestellt und theoretisch erläutert. Die Therapieverläufe offenbaren unglaubliche Kinderschicksale. Die Geschichten sind letztlich Erzählungen über unsere verletzte Gesellschaft und ein Plädoyer für die Pflicht zum präventiven Handeln und zur Rekonstruktion der kindlichen Würde. Im Anschluss an die Geschichten gibt die Autorin konkrete Hinweise, wie Professionelle und Angehörige bzw. das soziale Umfeld im Falle eines Verdachts oder des tatsächlichen Vorliegens von Kindeswohlgefährdung reagieren sollten.

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Inhalt

Cover

Titelei

Geleitwort

Dankesworte

I Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung – Grundlagen und Hintergründe

Einleitung

II Therapiegeschichten von Kindern und Jugendlichen

1 Leila ... Die sich selbst befreite Im Flüchtlingsheim gibt es keine Schlüssel

2 Ben ... Der Mutige erzittert Eine unglaubliche innerdeutsche Flucht

3 Jessica ... Die Wartende Meine Mutter war ein Straßenkind

4 Mara ... Die orientalische Prinzessin Prostitution und Elternschaft

5 Joana ... Die Sanftmütige Die erste Liebe endet im Fiasko

6 Clara ... Die Sehnsüchtige Wenn die Nähe fehlt

7 Ella ... Die schlagende Fee überlebt Inzest und Kinderprostitution oder die Gerichte sind unabhängig

8 Max ... Der Maler mit der Kacke Die Penispumpe

9 Dana ... Die Verlorene Das Leid von Generationen

10 Dunja ... Die Kämpferin Wenn es kein Mitgefühl mehr gibt

11 Amir ... Der Ausgestoßene Integration ist Würde

12 Doro ... Das Königskind Eine schöne Mutter will eine gute Mutter werden

13 Yasha ... Der Gnädige Die Liebe höret nimmer auf, hoffentlich!

14 Greta ... Die Duldsame Prüfet die Akten

15 Marco ... Der Schöne Gewalt kommt von Gewalt

16 Olympia ... Die Übersehene Wer trägt die Schuld

17 Caesar ... Der Überfallene Ein Hoch auf die Gemütlichkeit

18 Amal ... Der mit den Augen spricht Der Papa hat mir Aua gemacht

19 Sofia und Athene ... Die im Treibsand wandern Wenn die Mutter ihre Kinder verlässt

20 Shadi ... Der Gaukler Der Vater, der nichts wollte

21 Shirin ... Sterntaler Die Mutter als Assistentin des Missbrauchers

22 Penny ... Die kleine Hexe Enttäuschung tut weh oder wie ich meine Eltern in die Therapie brachte

23 Chiara und Bella ... Die sich vor dem Lehrer fürchteten Es ist ja zum Glück nichts passiert

24 Justus ... Wenn Eltern immer streiten Das verzeihe ich dir nie

25 Lotti ... Ein Kriegskind Trauer und Schmerz bleiben

III Therapiegeschichten von Erwachsenen

26 Helga ... Die Verleugnende Mein Mann hat unsere Tochter geschändet

27 Heinz ... Der Besserwisser Von nichts kommt nichts

28 Linda ... Die Einsame Ich liebe meine Kinder

29 Erich ... Der Quäler Sag den Kindern nichts

30 Wolfgang ... Der Narzisst Ich bin ein Kinderversteher

IV Handlungsempfehlungen

Erste Hilfe im Kinderschutz

V Anhang

Literatur

Kinderzeichnungen

Die Autorin

Carmen Osten ist Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis und Mitarbeiterin im Kinderschutz-Zentrum München.

Carmen Osten

Kindeswohlgefährdung

Therapiegeschichten zur Gewalt an Kindern und deren Prävention

Verlag W. Kohlhammer

für

Severin, Rosanna, Kathi, Ben

und für meine

Therapiekinder

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042112-7

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042113-4epub: ISBN 978-3-17-042114-1

Geleitwort

Carmen Osten und ich kennen uns seit vielen Jahren. Zum ersten Mal sind wir uns begegnet als Kooperationspartnerinnen im Kinderschutz: Sie war damals als Therapeutin im Kinderschutz-Zentrum München und ich als Sozialpädagogin im Jugendamt der Stadt München tätig. Als ich mich später aus der praktischen Arbeit verabschiedet hatte und in der Forschung im Kinderschutz angekommen war, haben wir uns auf Fachveranstaltungen getroffen und gemeinsam Fortbildungen im Kinderschutz gegeben.

Als Carmen Osten mich gefragt hat, ob ich ein Geleitwort zu ihrem Buch schreiben würde, war ich sehr erfreut und geschmeichelt. Nachdem ich ihr Buch gelesen habe, ist es mir eine Ehre. Denn das Außergewöhnliche an diesem Buch ist, dass die Autorin Misshandlung, Vernachlässigung und sexualisierte Gewalt in erster Linie aus der Perspektive der betroffenen Kinder betrachtet. Anhand der Geschichten ihrer »Therapiekinder« eröffnet sie uns Einblicke, welche zum Teil widersprüchlichen und ambivalenten Gefühle das Erlebte bei den Kindern auslösen kann. Sie zeigt auf, mit welchen emotionalen, sozialen und körperlichen Folgen die Kinder oft ihr Leben lang zu kämpfen haben und wie Misshandlung und Vernachlässigung über Generationen hinweg weitergegeben werden können. Darüber hinaus führt sie uns vor Augen, wie Kinder Kinderschutz, also das Handeln der Jugendämter, der Familien- und Strafgerichtsbarkeit, der Kinderschutzeinrichtungen und der Polizei erleben. Eine Perspektive, die aus meiner Sicht so oft fehlt.

Wir diskutieren in der Fachwelt Kinderschutz vor allem aus der Perspektive der gesetzlichen Vorgaben: Wer muss wann, was tun? Wer ist wofür verantwortlich? Wer darf wann, was? Natürlich alles mit dem Ziel, zum Wohle der Kinder zu handeln und sie vor weiteren Schädigungen zu bewahren. Aber gelingt uns das auch und sehen wir wirklich alles, was Kinder in solchen Situationen bewegt und was sie brauchen? Sehen wir, wie existenziell wichtig aber auch wie belastend oder gar bedrohlich Entscheidungen und Handlungen im Kinderschutz für Kinder sein können?

Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre für Fachkräfte im Kinderschutz. Es stellt die Kinder in den Mittelpunkt des Kinderschutzes. Es macht die Komplexität guter, individueller Hilfekonzepte für Kinder und ihre Eltern deutlich, die notwendig sind, nicht nur um die Vernachlässigung und Misshandlung eines Kindes zu beenden, sondern auch, um die Kinder bei der Bewältigung der Folgen zu unterstützen.

Abschließend wünsche ich mir, dass es mehr Therapeutinnen und Therapeuten gibt, denen es gelingt, eine gute Beziehung zu den Kindern aufzubauen, ohne dabei die notwendige professionelle Distanz zu verlieren und auf die sie auch in ihrem späteren Leben immer wieder als Stütze zurückgreifen können.

München, im Juni 2022Christine Gerber, Deutsches Jugendinstitut, München

Dankesworte

Wenn ich an all die Kinder denke, mit denen ich therapeutisch verbunden war, empfinde ich große Freude, tiefe Demut und eine unbedingte Zuversicht, dass sich ihr Leben – aufgrund ihres Mutes, ihrer Berührbarkeit und ihrer Bereitschaft immer wieder neu zu vertrauen – in eine für sie Glück bringende Weise verändern wird.

Ich denke an meine einst große Familie mit all den Menschen, die mich berührten und deren Lebensschicksale mich einfühlsam werden ließen.

Ich denke an meinen Vater, dem moralisches Handeln wichtig war und der es liebte, kleine Kinder mit seinen Scherzen zu erfreuen und an meine Großmutter, die mir Hingabe für kindliche Bedürfnisse vorlebte. Mein Großvater beeindruckte mich mit seiner Ruhe und seinem geduldigen Suchen nach Lösungen oder nach verloren gegangenen Spielsachen. Meine Onkel und Tanten verwöhnten uns Kinder oder wollten uns strenger erziehen. Aber am Ende korrigierten sie einander, so dass ihre guten Absichten uns moderat trafen. Sie halfen einander und stritten um das rechte Maß von Lebenshaltungen.

Von meiner Mutter erfuhr ich, wieviel Kraft und Disziplin es kostet, eine Familie jeden einzelnen Tag zu versorgen, um den Kindern den nötigen Halt zu geben. Das Schicksal meiner Mutter lehrte mich, dass gute Absichten nur bedingt umgesetzt werden können, wenn belastende Erfahrungen von Krieg, Flucht und Verlust ihre Spuren traumatisierend hinterließen und in Folge täglich die Tatkraft sowie die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft eintrüben.

Ich danke meinem lieben Mann, der mich bereits jahrelang drängte, meine Erfahrungen im fachlichen Diskurs zum Kindeswohl zu veröffentlichen. Mit großer Freude blicke ich auf unseren gemeinsamen 30-jährigen privaten und beruflichen, von regem und diskussionsfreudigem Austausch geprägten, Lebensweg zurück.

Ich danke meiner Schwester für ihre Begleitung im Leben, für ihre Bereitschaft zur kritischen Reflexion unserer gemeinsamen Erfahrungen und für ihre Liebe zur Familie. Sie war mir viele Male hilfreiche Unterstützung im Werdensprozess dieses Buches.

Meinem lieben Sohn danke ich für all die Freude und das Glück, dass ich als seine Mutter erlebe. Und Kathi, Rosanna und Ben danke ich für Ihr herzliches Vertrauen und all die schönen gemeinsamen Erfahrungen, die uns als Familie bereichern.

Ich denke auch an die Menschen meines Heimatdorfes, die sich für alle Kinder verantwortlich fühlten, die einander beistanden und uns eine schönere Welt errichten wollten als die, die sie als Kriegskinder erlebt hatten. Ich danke allen FreundInnen, die sich für meine Arbeit im Kinderschutz interessieren und mein Engagement teilen.

Besonderer Dank gilt meinen Kolleginnen und Kollegen aus den Kinderschutzteams, deren Fachwissen und Diskursbereitschaft mich immer wieder zum Nachdenken und Umdenken bewegten. Außerdem möchte ich meiner früheren Chefin Helene Nemetschek danken, die meine Ideen und mein Talent mit ihrem Interesse und ihrer Großzügigkeit förderte. Ebenso möchte ich unsere Vorständin Hanna Prausnitz vom Kinderschutzbund München für ihre unermüdliche Ernsthaftigkeit und ihren Kampfgeist im Kinderschutz ehren und Maria Terhürne, unser aller Chefin im alltäglichen Bemühen um Effizienz und Ordnung, möchte ich Dank sagen.

Ich danke Christine Gerber vom Deutschen Jugendinstitut für ihre kraftvollen und engagierten Worte. Mit großer Freude denke ich an unsere intensiven und gewinnbringenden Fachdiskussionen zurück. Steven Hohn danke ich für seine graphische Unterstützung und gestalterische Beratung ganz besonders am Beginn meines Schreibens.

Schließlich möchte ich allen Kindern und ihren Familien, die ich im Kinderschutz-Zentrum München kennenlernen durfte, für ihr Vertrauen und ihre Zuneigung danken.

München, im Sommer 2022Carmen Osten

IKinderschutz und Kindeswohlgefährdung – Grundlagen und Hintergründe

Einleitung

Das wahre und interessante Leben eines menschlichen Wesens spielt sich im Verborgenen wie unter dem Schleier der Nacht ab; jede persönliche Existenz ist ein Geheimnis.Anton Tschechow

Kinderschutz und Kindeswohl haben in unserer Gesellschaft eine hohe Bedeutung. Wir wollen, dass die Lebensbedingungen und Entwicklungschancen unserer Kinder gut ausfallen. Unsere Kinder sollen fröhliche, widerstandsfähige, soziale und erfolgreiche Menschen werden können.

Gefährdungen früh erkennen und Ressourcen nutzen

Für ihr Gedeihen benötigen Kinder umfassende Fürsorge und Einfühlung. In der Regel wollen Eltern ihren Kindern gute Eltern sein und die erzieherischen Anforderungen erfüllen. Allerdings spüren alle Eltern auch, wie viel Kraft der Marathon des Familienlebens ihnen abverlangt. Eltern, die sich in einem Kreis von guten Freunden und Verwandten aufgehoben und umgeben fühlen, werden um eine helfende Hand bitten, wenn sie Überlastung erfahren oder sich wechselseitig mit anderen Familien unterstützen. Manchmal hilft schon ein tröstendes »Das verstehe ich«, um nicht überzureagieren.

Auch öffentliche Angebote wie Sportvereine, Pfadfindergruppen oder Horte übernehmen erzieherische Aufgaben und können Eltern entlastende Ressourcen sein. Festzustellen ist ohnehin, dass der Großteil aller Erziehenden meistens intuitiv richtig reagiert und bei anhaltender Belastung Unterstützung sucht.

Schwierig wird eine belastende Familiensituation nur für diejenigen Eltern, die ihre Überforderung weder bemerken noch wissen, dass sie Hilfe beanspruchen dürfen, oder für die, die nicht über ihre Misere nachdenken oder eben auch keine Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Erst dann wird der Staat eingreifen: Die Notsituation der Kinder soll beendet werden. Und Eltern sollen lernen, eine bessere Beziehung zu ihren Kindern zu gestalten und Verantwortung für die familiären Probleme zu übernehmen.

Gleiches gilt für Schulen und öffentliche Einrichtungen: Manche Institutionen suchen nach Fachberatung, wenn sie in Sorge um ein Kind sind, andere fühlen sich nicht zuständig. Dabei kann sich jeder Aufsichtspflichtige vertraulich an eine Beratungseinrichtung oder das Jugendamt wenden.

Ganz neue Herausforderungen ergaben sich durch die digitale Entwicklung und den damit verbundenen Einzug der technischen Medien ins Kinder- oder Jugendzimmer. Kinder sollten auch hier Schutz und Begrenzung erfahren. Die unzähligen Kontaktmöglichkeiten über die digitalen Plattformen und die Möglichkeiten des Live-Streaming bieten teilweise große Vorteile wie z. B. beim Homeschooling, können aber genauso gravierenden Gefahren – wie sie bei Verlust der Intimsphäre und bei sexueller Ausbeutung auftreten – Tür und Tor öffnen. So mancher Missbraucher kommt nicht mehr durch die Haustür, sondern über das Netz zu unseren Kindern (BMFSFJ, 2014)

Kinder haben Rechte

Das Wohlergehen unserer Kinder ist auch ein gesetzlicher Gegenstand. So schützt das Grundgesetz die Würde und die Unversehrtheit des Kindes und garantiert ein Aufwachsen in der eigenen Familie. Das Bürgerliche Gesetzbuch regelt das Recht des Kindes auf Förderung und auf eine gewaltfreie Erziehung. Ebenso sprechen sich die Vertragsstaaten der UN-Kinderrechtskonvention für 41 Kinderrechte aus und verpflichten sich gleichfalls, Familien Schutz und Beistand zu gewähren. Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz will das Kindeswohl hüten, indem es Kindern Recht und Stimme verschafft und den Staat zu besonderen Hilfen verpflichtet (Wiesner, 2006).

Allen Gesetzen gemein ist: Sie wollen ausschließlich das Leben der Familie zum Guten wenden und die Entwicklungschancen unserer Kinder sichern (BMFSFJ, 2014).

Risikofaktoren kennen – Kindeswohl beurteilen

Das Kindeswohl zu beurteilen ist allerdings nicht einfach, wirken doch eine Vielzahl von persönlichen, familialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und generationalen Faktoren an den Lebensbedingungen eines Kindes mit.

Seit langem sind spezifische Umstände und Bedingungen bekannt, die auf jeden Fall als bedeutsame Risikofaktoren ausgemacht werden konnten. Diese sind Armut, psychische Erkrankungen der Eltern, eine nicht gewünschte Schwangerschaft, frühe Elternschaft, häufige Umzüge mit folgender Entwurzelung, zahlreiche Beziehungsabbrüche, Arbeitslosigkeit, Suchterkrankungen, Zukunftsangst und Kriminalität sowie hohe Stressbelastungen mit gleichzeitigem Fehlen von Bewältigungsstrategien (Egle et al.2015)

Des Weiteren können eine schnelle Geburtenfolge, ein sogenanntes schwieriges Kind mit erhöhtem Versorgungsbedarf, zu hohe Gehorsamserwartungen sowie bereits fremduntergebrachte Kinder als Hinweise für Überforderungen gelten. Auch die Vernachlässigung von Kindern, häufige Unfälle der Kinder oder fehlende Unfallverhütungsmaßnahmen können die Überlastung anzeigen.

Auch der direkte Hinweise von Eltern, nämlich, dass bereits Überlastung bestünde, sollte als ein Warnzeichen ernst genommen und Hilfen eingeleitet werden. Nicht zu vergessen ist der Umstand, dass viele Erziehende grundsätzlich mit Bangen auf die lebenslange Verantwortung, die die Elternschaft ihnen abverlangen wird, blicken (Schmid & Meysen, 2006).

Kinderschutzprinzipien – Verstehen statt Verurteilen und Hilfe statt Strafe

Bei Bestehen einer Krisensituation sollte das Prinzip des Verstehenwollens der multiplen Wirkfaktoren von Gewalt erste Priorität haben und danach sollte dieses Prinzip impulsgebend für individuell angepasste Hilfeangebote und Interventionen angewendet werden.

Bereits in den 80er Jahren wurde diese Fachdebatte zum Kinderschutz angestoßen, deren Erkenntnis darin bestand, dass Hilfe im Vergleich zur Strafe als die angemessenere und effektivere Konsequenz gilt. Bis heute heißt die gültige Maxime des modernen Kinderschutzes: Hilfe statt Strafe. Die ersten Kinderschutzfachambulanzen, die sogenannten Kinderschutz-Zentren, wurden ins Leben gerufen. Häufig verdanken wir deren Gründung der Initiative Ehrenamtlicher. Motiv und Ziel waren unkompliziertere, unbürokratische und niederschwellige Hilfen für Familien bereitzustellen.

Schon damals war bekannt, dass sich hilfsbedürftige Eltern nicht aus eigener Initiative an das Jugendamt wenden. Zu schlecht war das Image des Amtes und zu groß die Angst, Vorwürfe und negative Konsequenzen wie Kindesentzug einkalkulieren zu müssen. Dieses Risiko schien Familien zu hoch (Schlüter, 2009).

Ein Politikum – zu viele tote und missbrauchte Kinder

Auch die Politik stand und steht immer wieder unter großem Druck angesichts vieler Tausend Kinder, die in unserem Land verschiedene Formen von Gewalt erleben. Über 100 Kinder sterben jährlich sogar an den Folgen. Außerdem ist bekannt, dass 50 Prozent aller Todesfälle sich im ersten Lebensjahr ereignen und dass 90 Prozent aller Misshandlungen in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes stattfinden (Bundeskriminalamt, 2020).

Ebenso erschreckend ist die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angegebene Zahl der Kinder, die sexuell missbraucht und damit seelisch schwer beschädigt wurden. Derzeit leben in Deutschland mindestens eine Million Kinder, die dies erleiden mussten.

Welche Schlüsse und Konsequenzen waren aus diesem Faktenwissen nun zu ziehen?Bestimmte gesellschaftliche Gruppen benötigen unbedingt früh einsetzende staatliche und institutionelle Hilfen, um möglichen Schaden bereits präventiv abzuwenden. Die stets glücklich lächelnden Eltern auf Werbeplakaten zeichnen ein verzerrtes und damit falsches Bild des Elternseins. Unsere Werbung erzeugt Ansprüche und verrückt die Realität. Elternsein bedeutet eben nicht ewiges Glück, sondern fordert Eltern in täglicher Disziplin verlässliches Funktionieren ab. Glück hat darüber hinaus, wer Unterstützung durch Familie oder Freunde hat.

Die Kinderschutzpraxis bezeugt: Eltern benötigen für ihre Rolle als Sorgende Vorbereitung und sie brauchen ganz besonders in den ersten Lebensmonaten mit ihrem Kleinkind Unterstützung. Aus Kenntnis eben dieses Bedarfes entstand in den ersten 2000er Jahren ein spezifisches bundesweit angelegtes Versorgungsangebot der sogenannten »Frühen Hilfen« für Familien. Dieses Kooperationsprojekt bestehend aus Hebammen, Gynäkologen, Kinderärzten, Krankenschwestern und Jugendhilfe stellt ein niedrigschwelliges Präventionsangebot dar. Hausbesuche erleichtern das frühzeitige Erkennen von Überforderungen und Gefährdungen und machen unbürokratisches Versorgen möglich.

Bereits bestehende und fehlende Hilfsangebote

In unserem reichen Land gibt es seit langem Institutionen, die als gelungene Anpassungen an soziale Gegebenheiten gelten. Beispielsweise stellen Mutter-Kind-Heime eine unbestrittene gesellschaftliche Notwendigkeit dar. Wir wollen die Erkenntnis, dass junge Mütter eine Risikogruppe beschreiben, berücksichtigt sehen. Junge, nicht abgesicherte Mütter benötigen ebenso unsere besondere Fürsorge, um auch ihren Kindern ein liebevolles Aufwachsen und Behütetsein zu gestatten.

Eine weitere, schützenwerte Gruppe unserer Gesellschaft stellen Kinder aus Familien dar, deren Ursprungsland nicht Deutschland ist. Noch immer leben 90 Prozent unserer Einwandererkinder, das sind ein Drittel aller Kinder in Deutschland, in prekären Lebensverhältnissen und leiden besonders unter Armut und Ausgrenzung. Alle diese Kinder warten seit langem schon auf entsprechende Teilhabe garantierende sozialpolitische Veränderungen. Auch ihnen ständen angemessenere und ihre Würde berücksichtigende Bildungs- und Lebenschancen selbstverständlich zu.

Seit Kenntnis dieser Zahlen und angesichts der entwürdigenden Lebensbedingungen für viele ausländische Kinder schäme ich mich für unseren reichen Staat und hoffe auf Verbesserungen, die sodann allen Kindern unseres Landes den gleichen Respekt zusichern. Kinder mit anderen ethnischen Wurzeln verdienen unser aller Solidarität, weil auch ihre Eltern für uns und unseren Reichtum arbeiten und Steuern zahlen.

Besondere Fürsorge für traumatisierte Menschen

Während der letzten 30 Jahre kamen Menschen mit ihren Kindern aus allen Kriegsgebieten der Erde als Flüchtlinge oder Asylsuchende nach Deutschland. Wir empfingen Familien und unbegleitete Minderjährige, weil sich das Leben dieser Menschen in Tragödien verwandelt hatte. Viele trugen die Hoffnung auf ein besseres und sichereres Leben mit sich. Im Gepäck trugen sie aber oft auch schwer an ihren unzähligen Gewalterfahrungen. Diese Menschen kamen aus den Ländern Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Ghana und Nigeria in unsere verschiedenen Fachstellen und Kinderschutzeinrichtungen.

Aus der Traumaforschung wissen wir seit langem, dass Gewalterfahrungen sowie Kriegshandlungen Menschen zu Opfern machen und diese Opferschaft vielfältige Persönlichkeitsveränderungen nach sich ziehen kann. Die lange Liste der dokumentierten Leiden umfasst beispielsweise Angststörungen, anhaltende Alpträume, Depressionen, die Verflachung des Gefühlslebens als auch eine erhöhte Impulshaftigkeit (ICD-11-GM, 2022; Ehring & Ehlers, 2019).

Deshalb dürfen wir uns nicht wundern, wenn sich die, aus eigenen Gewalt- oder sogar Foltererfahrungen angestauten, Aggressionsgefühle gegenüber den eigenen Kindern oder anderen Mitmenschen entladen. Auch Erfahrungen von Verfolgung, Heimatverlust und Entwurzelung finden nicht selten im späteren Leben Ausdruck in seelischen und psychosomatischen Erkrankungen.

In mindestens der Hälfte der Fälle unserer Beratungen im Kinderschutz-Zentrum München haben wir es mit deutschen Eltern zu tun, deren Väter und Großväter im Zweiten Weltkrieg Soldaten waren und als psychisch schwer verletzte Menschen ihre Kinder hochgradig misshandelten und so ihre erfahrene Gewalt und Fühllosigkeit an die nächsten Generationen weitergaben. Unsere Zahlen belegen: Die Hälfte aller Gewaltdelikte werden von deutschen Eltern ausgeübt (Kinderschutz-Zentrum München, 2020).

Fazit und Ziele für den Kinderschutz

Um den Kinderschutz in Deutschland stetig zu verbessern, bleibt eine kontinuierliche öffentliche Diskussion dringend erforderlich und im Weiteren braucht es eine umfassende Investition in den Kinderschutz (Nationaler Rat, 2021).

Mit großer Freude nahm ich die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier vor dem Nationalen Rat im Sommer 2021 zur Kenntnis. Darin bezieht er Stellung zur Situation der sexuellen Ausbeutung von Kindern in unserem Land. Er verurteilt die missbräuchlichen und pornographischen Darstellungen von Kindern im weltweiten Netz und fordert moralische Verantwortung und politische Pflicht ein, um den Schutz von Kindern in kirchlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen sicherzustellen. Er warnt vor falsch verstandener Loyalität und Schuldumkehr. Er fordert die Gesellschaft auf, hinzuschauen, zuzuhören, nachzufragen und einzuschreiten, wenn die Not eines Kindes offenbar wird. Der Bundespräsident bittet eindringlich darum, Verschweigen und Verharmlosung nicht den Vorrang zu geben (Steinmeier, 2021).

Johannes-Wilhelm Rörig, der ehemalige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, spricht von einer bestehenden Kinderschutzkatastrophe angesichts des Wissens, dass laut WHO in Deutschland eine Million Kinder von sexuellem Missbrauch betroffen sind und dass Schutzkonzepte in Schulen, Sportverbänden und Internaten häufig noch fehlen. Er beklagt ebenso das Fehlen von Gesetzen und Masterplänen zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Kindern und die Zunahme an Kinderpornographie, wie sie die Kriminalstatistik mit über 65 % Nachfragesteigerung im Netz während der Corona-Pandemie dokumentiert. Rörig weist darauf hin, dass Cybergrooming noch nicht unter Strafe gestellt wurde und Internetplattformbetreiber noch immer nicht verpflichtet wurden, selbst nach kinderpornographischen Material zu suchen, um es hernach zu vernichten. Der ehemalige Unabhängige Beauftragte Rörig prangert zudem die Verzögerungstaktiken im Rahmen der Aufklärung der kirchlichen Vorfälle an (Großbongardt & Müller, 2021).

Rörig fordert, dass es Landesmissbrauchsbeauftragte und eine europaweite Behörde zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch an Kindern bräuchte. Außerdem fordert er nationale Aufklärungskampagnen sowie einen Fond für Ausgleichszahlungen an Betroffene. Ebenso benötigt würden Kooperationen mit den Sozial-‍, Bildungs-‍, Gesundheits- und Familienministerien. Es bräuchte darüber hinaus sogenannte Cybercrimeteams, die auch im Darknet ermitteln könnten (ZDF heute, 2021).

Grundsätzlich resümiert Rörig, fiele das Interesse und der dezidierte Einsatz bezüglich des Themas sexueller Kindesmissbrauch bei Parteien und Regierungen, kurz der Politik, nur äußerst mäßig aus. Rörig scheint mit der Aufzählung konkreter Zahlen nochmal auf die absolute Dringlichkeit von Schutzkonzepten für 32.000 Schulen, 54.000 Kindertageseinrichtungen und 88.000 Sportvereine hinweisen zu wollen.

Röhrigs Nachfolgerin, Kerstin Claus, betonte bei Ihrem Amtsantritt, wie wichtig es sei, das Thema Missbrauch gesellschaftlich und politisch wahrzunehmen und dabei ausdrücklich die Perspektive Betroffener zu berücksichtigen (Casdorff, 2022).

Eindeutige Positionierungen für den Kinderschutz

Mit Freude stellte ich fest, dass die von Staatsoberhaupt Steinmeier als auch vom ehemaligen Unabhängigen Beauftragten Rörig genannten Forderungen sich mit denen der Kinderschutzeinrichtungen decken. Nachfolgend seien noch einige im Detail ergänzt:

·

Die zusätzlich zu schaffenden Kinderschutzkapazitäten müssen dringend dem Bedarf angeglichen werden. Das bedeutet eine zahlenmäßige Erweiterung wie auch eine flächendeckende Installation von Kinderschutz-Knowhow. Bislang verfügt unser Land über gerade mal 32 Kinderschutz-Zentren für zwölf Millionen Familien.

·

In Bayern kommen zwei Kinderschutz-Zentren auf 1,9 Millionen Familien. In Berlin kommen immerhin auf 500.000 Familien zwei Kinderschutz-Zentren, in vier Bundesländern gibt es keine Kinderschutzeinrichtungen und in Nordrhein-Westfalen fallen auf 2,5 Millionen Familien immerhin zehn Kinderschutz-Zentren.

·

Es bedarf vermehrter, dezidierter Forschungskapazitäten zu Dynamiken von Gewalt und Kindeswohlgefährdung sowie zu adäquaten Interventionsmaßnahmen.

·

Aus der Analyse kritischer Hilfeverläufe lernten wir, dass es eine bessere Vernetzung interdisziplinärer Austauschgremien geben sollte und Erziehende an deren Überlegungen partizipieren sollten.

·

Die Methoden zur Einbeziehung der Kinder und die Vernehmung in Gerichtsprozessen müssen kindgerechter ausgestaltet werden.

Meine Motivation zu diesem Buch

In den vergangenen 30 Jahren traf ich mit vielen Kindern, Jugendlichen und Familien zusammen und kooperierte mit Erziehern, Lehrern, Kinderärzten und Therapeuten sowie mit Fachkräften der Jugendämter und zuständigen Familiengerichten. Manchmal brachten mir auch Großeltern, Nachbarn oder andere für eine Kind engagierte Personen ihre Sorge zum Ausdruck. Allen war eines gemeinsam: Sie wollten, dass es dem jeweiligen Kind besser geht. Dieses Ziel zu erreichen, prägt meinen täglichen Arbeitsauftrag sowie den meiner Kolleginnen und Kollegen.

Dieses Buch entstand, weil mich so viele Lebensverläufe tief bewegten und diese einen wesentlichen Teil unserer Gesellschaft abbilden. In mir entwickelte sich der Wunsch, viele Menschen über das Lesen am Leben und an der gesellschaftlichen Realität meiner Therapiekinder teilhaben zu lassen. Auch die Kraftanstrengungen ihrer Familien möchte ich würdigen.

Mein Buch richtet sich an junge als auch erfahrene Kolleginnen und Kollegen aus den Fachbereichen der Psychologie, der Pädagogik, der Juristik und der Medizin.

Charakteristisches der familialen Konstellationen

In den nachfolgenden Therapiegeschichten habe ich die Daten anonymisiert, ähnliche Lebensgeschichten zu einer verwoben, Geschwister- und Familienkonstellationen verändert und Handlungen dazu erfunden oder neu konstruiert, so dass sie keinem realen Menschen gleichen. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die Therapiegeschichten sind in zwei Teile gegliedert: Der erste, deutlich umfangreichere Teil enthält die Therapiegeschichten von Kindern und Jugendlichen. Der zweite Teil der Therapiegeschichten fokussiert die Persönlichkeit von Erwachsenen und zeigt auf, wie die erfahrenen eigenen Misshandlungen ihr Verhalten prägen.

Meine Therapiekinder – und auch die Erwachsenen – kamen aus allen Gesellschaftsbereichen und erlebten in einigen wesentlichen Bereichen ihres Lebens unglaublich ähnliche Problematiken: Der Großteil hatte den gravierenden Verlust eines Elternteils zu beklagen. Das bedeutete, dass sich viele Kinder und Jugendliche gleichzeitig in einem Trauerprozess befanden, der in der Regel kaum wahrgenommen wurde. Über zwei Drittel der Kinder und Elternteile erlebten massive körperliche, seelische und sexuelle Gewalt. Ebenso viele Kinder kamen aus Familien, in denen sie schlimme elterliche Streitigkeiten und dramatische Eskalationen miterlebten, die sie in Angst und Schrecken versetzten. Nicht selten musste in diesen Fällen die Polizei zum Schutz der Kinder und eines Elternteils gerufen werden.

Ein Plädoyer

Wenn all diese Kinder gekonnt hätten, hätten sie sich zusammengetan, um gemeinsam zu mahnen und um auf Besseres hinzuwirken. Als ihre Zeugin habe ich es für sie getan.

Ich möchte Sie, die Leser, gern am therapeutischen Prozess teilhaben lassen. Deshalb lasse ich Sie in die sich entwickelnde Krise miteintreten und erläutere hernach mein professionelles Vorgehen.

Ich wünsche mir, dass jedes Kind in der ersten Reihe seines Lebens sitzen kann und die Therapie ihm hilft, seine Würde zurückzuerlangen. Außerdem wünsche ich mir, dass noch viele Menschen sich des Kinderschutzes annehmen, vielleicht Mitglied in einem Kinderschutzverein werden oder einen solchen ins Leben rufen. Denn: Kinderschutz geht alle an!

IITherapiegeschichten von Kindern und Jugendlichen

1 Leila ... Die sich selbst befreiteIm Flüchtlingsheim gibt es keine Schlüssel

Leilas Familie war bereits fünf Jahre auf der Flucht gewesen, als ich sie kennenlernte. Und Leila wurde in dieser Zeit geboren. Deutschland sollte das Ende ihrer familiären Odyssee sein, alle wähnten sich endlich in Sicherheit in dem neuen Asylheim. Sie waren erschöpft und für jede Hilfe und Unterstützung dankbar. Im Heim wohnten sie mit vielen Nationen Tür an Tür und unter ihnen weilten auch einige unbegleitete minderjährige junge Männer. Einer von ihnen brachte Leila immer wieder mit seinen Scherzen und Neckereien zum Lachen. Der freundliche Unbekannte bot manchmal an, auf Leila aufzupassen. Na ja, es würde ihn auch ablenken, fanden die Eltern. Er befand sich ohne Familie in einem fremden Land mit ungewisser Zukunft. Der junge Fremde und Leila schienen viel Freude aneinander zu haben. Einmal überraschte Leilas Mutter ihn jedoch am Bett ihrer schlafenden Tochter sitzend. Das gefiel ihr nicht. Bedauerlicherweise fehlen in einer Flüchtlingsunterkunft meistens die Schlüssel, sodass jeder bei jedem Zutritt hat. Ein anderes Mal kam sie dazu, als er dabei war, das Kind zu wecken, um mit ihm zu spielen. Jetzt reichte es! Leilas Vater sprach ein Machtwort. In der nächsten Zeit wollten sie ihn nicht mehr sehen. Er sollte sich fernhalten von ihrem Kind!

Nur wenige Tage nach diesem Vorfall wurde Leilas Mutter während des Kochens in der Gemeinschaftsküche von einem Schrei aufgeschreckt. Was für ein Schrei! Lautes Weinen! Das Kind rannte tränenerstickt über den Flur des Asylheims und brüllte: »Auaaaa! Auaaaa! Wo bist Du, Mama? Wo bist du?«

Der Fremde hatte Leila heimlich mit in sein Zimmer genommen, sie ausgezogen und versucht, mit einem Finger in Leilas Scheide einzudringen. Es war zu einem sexuellen Übergriff gekommen und dabei hatte er Leila beschimpft und geohrfeigt. Leila konnte sich befreien. Leilas Eltern erstarrten im Schock, versuchten Hilfe zu erhalten, aber man folgte dem Wunsch der Eltern, ihr Kind einem Arzt zuzuführen, erst nach Tagen.

Der Fremde wurde verlegt, in ein anderes Heim. Das Kind beruhigte sich langsam, wirkte aber verändert. Die Eltern wollten keine Anzeige. Wer wusste schon, was diese für ihren Aufenthaltsstatus für Konsequenzen hätte. Alle litten. Der Täter tauchte immer wieder auf dem Gelände der Unterkunft auf, um Landsleute zu besuchen. Er schien kein Unrechtsbewusstsein zu haben. Ich telefonierte mit der Leitung des Asylheims und erfuhr, dass man ihm einen anderen Grund für seine Verlegung mitgeteilt hatte. Es war Zeit, das Jugendamt zu informieren und um eine Dolmetscherin zu bitten.

Leila kam am Rockzipfel ihrer Mutter hängend in die erste Therapiestunde. Der Vater war auch dabei. Er war ein freundlicher, älterer Mann und ich erfuhr, dass die sechsköpfige Familie bereits in vier Ländern gelebt hatte. Seine Frau war noch keine 40 Jahre alt, trug ein Kopftuch und hatte eigentlich keine Mimik mehr. Leila war begeistert von so vielen Spielsachen. Sie wollte, dass ihre Mutter mit ihr spielte. Diese folgte den Aufforderungen ihrer Tochter liebevoll. Leila schien nichts und niemanden außer sich und die Mutter im Spieltherapiezimmer wahrzunehmen. Meine Fragen konnte ich mit Vater und Dolmetscherin klären. So ähnlich verliefen einige Stunden. Ich ließ Leila in ihren zwei Quadratmetern bei der Mutter spielen, hielt Abstand und erwartete nicht, dass sie mit mir in Kontakt trat. Leila benötigte Sicherheit und die konnte ihr im Moment die Mutter mehr geben als ich (intego, 2020).

Nach einigen Therapiestunden bat ich die Mutter, Leilas Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich hatte eine Idee für eine kleine Intervention: Ich durchquerte bedacht das Spieltherapiezimmer, setzte mich auf eine kleine Kante und steckte eine schwarze männliche Figur in den alten hölzernen Gefängniswagen. Leila konnte aus sicherer Distanz dieser Szene folgen. Im nächsten Moment erhob sich das kleine Mädchen, ging schnurstracks auf den Gefängniswagen zu, ließ sich nieder und streifte ihre Hände mehrmals aneinander, als würde sie sagen: »So, das geschieht ihm recht und ich kann den Schmutz endlich von meinen Händen wischen.« Die Eltern konnten kaum glauben, was sie beobachtet hatten.

Von diesem Moment an traute sich Leila mit mir direkt in Interaktion zu treten. Im Verstehensprozess half uns eine Dolmetscherin, bis Leilas Deutsch gut genug war. Diese wunderbare junge Frau sollte noch oft die Lücken zwischen der europäischen und arabischen Welt überbrücken. Immer wieder blieben auch Vater oder Mutter mit im Therapiezimmer, damit Leila sich sicher fühlen konnte. Leila wurde immer mutiger und bald begann sie das Spieltherapiezimmer Stück für Stück zu erkunden. Ihr angeborenes Neugierverhalten war zurückgekehrt. Ein gutes Zeichen! Dieses Verhalten bezeugte eine Belebung und wies darauf hin, dass der erlittene traumatische Schockzustand überstanden war. Ich freute mich so sehr und erklärte den Eltern diesen großen Genesungsschritt. Beide mussten vor Erleichterung und Freude weinen.

Der Übergriff hatte Leila in ihrem Selbstvertrauen und ihrem Sicherheitsempfinden verletzt. Sie hatte massive Ängste vor allem Neuen. Und jede kleine Trennung von ihrer Mutter erschütterte ihre kleine Persönlichkeit. Noch oft warf Leila ihrer Mutter fragend vor, warum sie sie nicht beschützt hatte.

Die Eltern sagten mir nach fast jeder Stunde, wie sehr sie sich wünschten, dass ihre Tochter alles Schlimme vergessen möge. Aber das würde ja niemals geschehen. In den Therapiestunden durchlebte Leila mit mir viele unterschiedliche Gefühlslagen. Das, was ihr half, war die eigene Selbstwirksamkeit immer und immer wieder zu erfahren. Deswegen wollte Leila wie fast alle Therapiekinder die gleichen Abläufe ihrer Therapiestunde erleben und immer wieder die gleichen Spiele spielen. Für den Außenstehenden können Therapiestunden wie ewige Wiederholungen des Gleichen aussehen: Wir malen mit Fingerfarben, wir spielen Mutter und Kind, wir basteln Sterne und Kronen, wir spielen mit dem Kaufmannsladen, wir verkleiden uns, wir kämpfen, wir tanzen oder wir spielen Kicker.

Die Krone wird häufig im vorangeschrittenen Therapieprozess wesentlich. Es gibt verschiedene im Therapiezimmer. Aber häufig soll ich sie dem Kind aus Goldpapier anfertigen. Manchmal klebe ich noch kleine bunte »Edelsteine« darauf. Die sich anschließende Zeremonie des Aufsetzens der Krone wird zu einem feierlichen Akt. Das Tragen dieses heiligen Gegenstandes auf dem erhobenen Haupt wirkt wie die Inthronisation der eigenen rehabilitierten Würde.

Im Lauf der Zeit hatten wir oft Grund, uns gemeinsam an Leilas Entwicklungsfortschritten und an ihren Erfolgen zu freuen. Eines liebte Leila besonders, nämlich, wenn sie als Siegerin aus unseren Spielen hervorging. Gewinnen heißt eine unberechenbare Situation kontrollieren, und das war genau das, was Leila brauchte. Deshalb erfüllte ich ihr selbstverständlich diesen Wunsch. Ich wusste: Nichts heilt Wunden besser als das Gefühl, Gewinnerin zu sein.

In den Therapiestunden darf ein Kind in der Regel den Inhalt und Verlauf der Stunde bestimmen, ich folge ihm – mit Wachheit, Präsens und Reflexion über das, was gerade passiert. Immer wieder verbalisiere ich die Geschehnisse unseres Tuns, äußere meine Gefühle und Gedanken oder biete vorsichtig eine Deutung an. Manchmal sage ich auch, dass ich mich wohl geirrt hätte oder dass das Kind die Bedeutung ja viel besser kenne als ich. Ich möchte meine Therapiekinder ermutigen, über sich nachzudenken und eine Meinung über sich zu entwickeln. Dieses Tun beinhaltet die Arbeit an der Identität des kleinen Menschen: Was sehe ich in mir, was sehen die anderen in mir und was meine ich, wie die anderen mich wohl betrachten?

Nach jeder Stunde dokumentiere ich meine Eindrücke, vorläufigen Erkenntnisse und Hypothesen zum Therapiegeschehen. Viele Gespräche führte ich natürlich auch mit Leilas Eltern. Unzählige Male berichteten sie von ihren Ängsten, ob mit Leila je alles wieder gut werden würde, und sie fragten mich nach beinahe jeder Stunde, ob ihre Tochter schon wieder ein wenig mehr gesundet wäre. Ich antwortete stets mit Ja, weil ich davon fest überzeugt war.

Nach einem Jahr teilte mir Leilas Mutter mit, dass sie erfahren hätte, dass es in Deutschland auch Kindergynäkologinnen gäbe. Sie bat mich, ihr Adressen zu besorgen. Das erste Mal im Verlauf der Therapie war ich richtig unsicher und konnte meine Ambivalenz kaum zurückhalten. Ich war besorgt, wie Leila eine Untersuchung ihrer entblößten Genitalien hinnehmen würde. Dennoch folgte ich dem Wunsch der Mutter. Schließlich entschieden die Eltern über die medizinische Versorgung.

Leilas Mutter ließ sich von der Dolmetscherin begleiten. Später erfuhr ich von beiden, dass die zwei Ärztinnen ihre Sache gut machten und die Mutter die erlösende Mitteilung von der Unversehrtheit ihrer Tochter erhielt. Ab diesem Zeitpunkt war Leilas Mutter eine andere. Sie konnte wieder lächeln und ihre Mimik kehrte zurück. Leilas Mutter umarmte mich herzlich und dankte mir vielmals für meine Unterstützung. Sie sagte, sie könne die ganze Welt umarmen, sie lebe wieder, tausend Ängste und Schuldgefühle seien von ihr abgefallen.

Bald darauf besuchte ich Leila in ihrem heilpädagogischen Kindergarten und in ihrem Zuhause. Das war der ausdrückliche Wunsch ihrer Eltern. In der neuen Wohnung wartete ein köstliches Mahl im Kreise der ganzen Familie auf mich. Leila zeigte mir stolz, dass sie inzwischen Fahrradfahren gelernt hatte. Ich konnte sehen und fühlen, wie stolz sie auf ihr Zuhause und ihre Familie war. Sie hatte unglaubliche Schritte gemacht und ihre Familie hatte sie dabei intensiv unterstützt. Ihr Lebensgefühl enthielt wieder Sicherheit.

Bald würde Leila eingeschult werden. Das wäre der Moment, in dem vielen Kindern gesagt würde, dass ab jetzt dann »der Ernst des Lebens« für sie begänne. Leila hatte davon bedauerlicherweise schon genug erlebt.

Eineinhalb Jahre später: Leila war tüchtig gewachsen und gereift und wirkte sehr sportlich. Sie trug ihre schönen braunen Locken offen und war wieder ein absolut fröhliches Mädchen geworden. Sie war stolz auf all ihre Fähigkeiten, wirkte selbstbewusst und war sich der Unterstützung ihrer liebevollen Eltern und ihrer drei großen Geschwister sicher. Bei ihrem letzten Besuch berichtete mir Leila mit strahlenden Augen von ihrem Berufswunsch. Sie möchte Polizistin werden. Vielleicht aber auch Kinderärztin.

2 Ben ... Der Mutige erzittertEine unglaubliche innerdeutsche Flucht

Ben hatte eine Zeitlang bei seinem Vater gelebt. So hatten es die Eltern vereinbart. Damit die Mutter ihre Ausbildung fertig machen konnte, sollte Ben zwei Jahre beim Vater bleiben. Ben war natürlich traurig gewesen, weil er die Mutter nicht mehr täglich sehen würde, aber es gab ja die Aussicht auf die Besuchswochenenden und Ferien. Er hatte sich aber auch auf die Zeit mit seiner väterlichen Familie in Meeresnähe gefreut, denn es erwarteten ihn viele Tiere auf dem Bauernhof der Großeltern. Dorthin wollte er oft gehen und die Tiere besuchen und füttern. Er sollte auch einen eigenen Hund zum zehnten Geburtstag bekommen.

Anfänglich war alles wie besprochen gelaufen: Unter der Woche lebte Ben beim Vater und 14-tägig am Wochenende fuhr er zu seiner Mutter. Der neue Freund der Mutter war »echt nett« und der neue Stiefbruder war auch »cool«. Mit beiden konnte Ben stundenlang Fußball spielen. Oder sie zockten. Die Zukunft schien vielversprechend, auch wenn die Eltern sich getrennt hatten.

Der Vater hatte recht viel arbeiten und manchmal tagelang auf Dienstreise gehen müssen. Anfangs machte es Ben nicht so viel aus, hatte er doch auch noch zwei nette Cousins in der Familie. Einzig die Hausaufgaben waren immer schwieriger und schwieriger geworden. Oma und Opa hatten versucht Ben zu helfen, aber mit der Zeit hatten sie zunehmend ungeduldiger und unbeherrschter reagiert: »Warum passt du in der Schule nicht besser auf?! Du bist so dumm wie Bohnenstroh!« Wenn Ben seinen Vater bat, nicht mehr so oft fortzufahren, hatte dieser nur gesagt: »Tut mir leid, aber ich muss doch arbeiten.« Und wenn der Vater sehr genervt war, sagte er zu Ben: »Das ist alles die Schuld deiner Mutter. Warum hat sie nicht besser mit dir gelernt?«

Ja, wie denn? Die Mutter hatte Ben immer seltener gesehen, und manchmal kam es Ben so vor, als versage der Vater ihm ein Wochenende bei der Mutter. Besonders wenn Ben keine guten Noten heimbrachte, durfte er nicht mit seiner Mutter telefonieren. Immer wieder erzählte ihm der Vater, dass die Mutter ihn gebeten hätte, sie bei Ben zu entschuldigen, weil sie angeblich arbeiten oder lernen musste. Ben war dem Vater gegenüber immer misstrauischer geworden. Der Vater hatte ihm ein Handy versprochen, mit dem er abends noch eine Stunde spielen oder telefonieren dürfe. Aber meistens blieb dieses Gerät eingeschlossen. Und einen Hund hatte Ben auch nicht bekommen, angeblich wegen der vielen Dienstreisen des Vaters. Ben hatte sich vorgenommen, beim nächsten Besuch in Ruhe mit der Mutter über alles zu sprechen und Vaters Aussagen zu überprüfen.

Es sollte außerdem eine weitere Veränderung in Bens Leben kommen. Der Vater fand eine neue Freundin und bald zog sie zu ihnen. Olga war anfangs eigentlich recht nett zu Ben gewesen und der Vater war immerhin des Öfteren wieder besserer Laune. Nur wenn der Vater auf Geschäftsreise weilte, wollte es die Freundin nicht, dass Ben bei ihr blieb. Also musste er seine Sachen zurücklassen und zu den Großeltern ziehen. Mit dem Großvater war es immer toll, aber dieser war häufig nicht da, weil er noch arbeitete oder anderweitig beschäftigt war. Die Großmutter hingegen schimpfte ihn ständig, genauso wie sein Vater es tat. Zwar kochte die Oma gut, aber sie tadelte ihn zu oft, angeblich wegen seiner schlechten Tischmanieren. Eigentlich hatte Ben das Gefühl, dass er es niemandem recht machen könne und das fühlte sich scheußlich an. Manchmal sagte die Oma in Anwesenheit Bens zu Verwandten: »Ich glaube, der Junge ist behindert.« Das tat weh! Ben fühlte sich ganz allein, es reichte ihm. Er wollte zur Mutter zurück.

Bens Mutter hatte schon mehrfach mit dem Vater gesprochen, um Ben wieder früher zu sich zurückzuholen. Aber der Vater hatte es nicht gewollt. Ben versuchte mit dem Vater zu verhandeln. Er bot ihm an, auf Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten zu verzichten, wenn er dafür zur Mutter zurückkehren dürfe. Aber der Vater blieb unbeeindruckt! Stattdessen wurde er noch strenger, erhöhte die Zahl der Verbote und manchmal hatte er Ben sogar geschlagen. Das war echt gemein! Das würde er dem Vater nicht verzeihen! Ben wurde immer unglücklicher und seine Schulleistungen verschlechterten sich zusehends. Alles, was dem Vater dazu einfiel, war, dass er seinen Sohn des Öfteren einen Versager schimpfte. Und Bens Handy blieb meist verschlossen im Wohnzimmerschrank.

Die Mutter hatte das Jugendamt um Unterstützung gebeten und einen Antrag auf Veränderung des Aufenthaltsortes beim Familiengericht gestellt. Ben wurde von der Richterin befragt, was er sich wünschte. »Zur Mama zurück«, sagte er. Die Richterin wollte Ben jedoch nicht glauben, wie sehr er litt und unterstellte seiner Mutter, dass sie sich alles ausgedacht hätte. Außerdem beschloss sie, Ben sollte beim Vater bleiben, weil häufige Wechsel Kindern nicht guttäten. Also blieb alles beim Alten.

Bens Schulleistungen sanken in den Keller und man riet den Eltern, Ben auf die Sonderschule zu geben. Hinzu kam, dass Ben immer dann, wenn er sehr unter Spannung stand, im Unterricht zittern musste. Das fanden zunächst alle komisch und es kam vor, dass seine Mitschüler ihn deswegen auslachten. Zu Kindergeburtstagen wurde Ben auch immer seltener eingeladen. Wenn Ben sehr viel Angst oder Wut in sich trug, dann wurde sein Körperzittern so stark, dass er sich auf den Boden legen musste. Die Umstehenden fürchteten sich ein wenig vor ihm und ein Mitschüler nannte ihn Epileptiker. Jetzt hatte er noch einen Stempel: krank oder schlimmer noch: verrückt! Sein Leben war aus seiner Sicht nicht mehr zum Aushalten.

Ich holte Ben und seine Mutter aus dem Wartezimmer zum Erstgespräch und fragte zum Einstieg: »Warum bist Du heute hier? »Weil ich nicht mehr bei meinem Vater leben will. Und weil ich in den Zug von Kiel nach München gestiegen bin und mir das niemand glauben will!«, sagte Ben. »Warum will das niemand glauben?«, fragte ich nach. »Das trauen die mir alle nicht zu, weil ich oft zittere und schlechte Noten habe«, berichtete Ben. »Wer sind denn alle«, wollte ich wissen. »Der Papa, die Oma, die Richterin und das Jugendamt«, erzählte Ben. Ich erfuhr, dass Ben heimlich sein Handy aufgeladen hatte, die Abfahrtszeiten der Züge nach München auswendig lernte und dass er einen Tag vor Ferienbeginn seine Flucht angetreten hatte. Ben hatte inzwischen bereits über zwei Jahre beim Vater gelebt, aber die ursprüngliche Abmachung wollte dieser nicht mehr einhalten.

Ben versteckte sich vor den Schaffnern und versuchte auf der Fahrt, die Mutter zu erreichen. Er erreichte seinen Stiefvater und erfuhr, dass die Mutter gerade ihre Verwandten auf einem anderen Kontinent besuchte. Aber Ben war zu allem bereit. Um keine Unannehmlichkeiten zu bekommen, unterrichtete der Stiefvater Bens leiblichen Vater. Eigentlich hätte Ben zurückgebracht werden müssen, aber da Ben das nicht wollte, ging der Stiefvater mit Ben zur Polizei. Ben wurde für eine Woche in einer Inobhutnahmestelle untergebracht, weil die erziehungsberechtige Mutter nicht anwesend war. Auch das nahm Ben in Kauf, wenn er nur nicht zum Vater zurückgeschickt wurde. Ich empfand großen Respekt vor dem Mut dieses Jungen.

Die hiesige Familienrichterin hatte sich nach Bens Flucht alles genau erzählen lassen und hatte dann entschieden, dass Ben wieder bei seiner Mutter leben durfte. Bens Eltern kamen zur Beratung in unsere Einrichtung und Ben zu mir in Psychotherapie. Der Vater verstand nach wie vor nicht, warum Ben geflohen war. Er war Manager einer Firma und daran gewöhnt, dass alle taten, was er anordnete. Er hatte wieder geheiratet und mit seiner Frau Olga eine kleine Tochter bekommen. Ben wollte diese nicht kennenlernen und seinen Vater nicht sehen. Auch dann nicht, als der Vater mit seiner neuen kleinen Familie wieder in München wohnte.

Bens Mutter heiratete auch noch einmal und über sie bekam Ben einen kleinen Bruder. Ben liebte diesen sehr, überhaupt fühlte er sich wunderbar und genoss das neue Familienleben. Bens Mutter berichtete mir, dass sich Ben langsam erholte, sein Zittern zurückginge und er auch nicht an Epilepsie litt, wie ihr die Klinikärzte versicherten. In seine Therapiestunden kam Ben bald eigenständig. Anfangs hatte ihn seine Mutter bringen müssen, weil Ben von vielen Ängsten geplagt wurde und weil er fürchtete, zufällig auf seinen Vater treffen zu können. In erster Linie spürte ich Bens große Erleichterung darüber, dass er wieder bei seiner Mutter leben durfte und dass ich ihm seine Fluchtgeschichte glaubte.

In seinen Therapiestunden malte Ben gern und häufig Raumschiffe oder Ufos, die stets weit weg in den Weltraum flogen – dorthin wo sein Vater ihn nicht erreichen konnte. Ben sprach nicht viel. Deshalb ermutigte ich ihn, mir Geschichten über seine Reisen in den Weltraum zu erzählen. Meistens flog er allein mit einem Hund und viel Proviant durch die Galaxien. In Wirklichkeit bräuchte es ja Tausende von Jahren, um das zu tun. Aber in der Phantasie war Ben ja allmächtig.

Manchmal erfanden wir auch gemeinsam Geschichten und ich durfte mitfliegen auf eine weite Reise ins Universum. Erst nach Monaten landeten wir dann wieder auf der Erde, aber nur, um neue Reserven für den nächsten Flug einzuladen. Ben brauchte die Sicherheit, dass er Einfluss auf sein Leben nehmen konnte. Er musste spüren, dass er selbstwirksam war und sich wieder selbst schützen konnte. Dabei stellten die Phantasiereisen einen ersten Schritt in Richtung Autonomie und neuer Souveränität dar. Sie waren quasi ein Vehikel zu seinen Zielen.

Ich freute mich sehr, dass in Ben wieder Bewegung entstanden war. Es gab erste Impulse nach langen Wochen, in denen Ben wie in einer Starre verharrt hatte. Seine Ausstrahlung drohte auch mich zu lähmen. Manchmal wurde ich in seiner Gegenwart schlagartig müde oder mich überkam eine große Langeweile. Dann schämte ich mich, wollte ich doch als engagierte Kindertherapeutin Wachheit und geduldige Präsenz ausstrahlen. Was hatte das alles zu bedeuten?

Es gab noch einen anderen Impuls, der sich in Bens Nähe in mir bemerkbar machte. Ich spürte mein Bemühen, Ben die Therapiestunden »angenehm« machen zu wollen. Meine Begründung für mich lautete: Der Junge hatte es doch lange so schwer gehabt. Aber diese Begründung war nur eine Rationalisierung, weil ich den Sinn meines Aktivwerdens noch nicht verstanden hatte. Mit der Zeit begriff ich jedoch, dass ich auf Bens Unlebendigkeit reagierte. Von Ben ging eine Atmosphäre aus, in der sich nichts bewegte; daraus entstand die Langeweile und danach kam die Müdigkeit. Und um nicht von allem »verschluckt« zu werden, aktivierte ich mich selbst. Endlich hatte ich die Dynamik der Stunde entdeckt. Das war meine diagnostische Aufgabe gewesen.

Nach über einem Jahr wurden die Reisen ins Universum weniger. Stattdessen begann Ben, sich wieder für die Lebewesen auf der Erde zu interessieren. Ben war in tiefster Seele Tierschützer. Wochenlang befassten wir uns mit bedrohten Tierarten, wie z. B. den Bienen. Deshalb erklärte mir Ben die Sinnhaftigkeit von Insektenhotels. Er selbst hatte sich belesen und mit Hilfe seines Stiefvaters eines gebaut. Er animierte mich, es ihm gleichzutun.

Unsere gemeinsamen Stunden sollten mit der Zeit einen immer vielfältigeren Charakter bekommen: Wir spielten Billard, malten zusammen oder lösten Rätsel. Oft lachten wir miteinander. In solchen Momenten fiel mir auf, dass ich Ben zu Beginn unseres Kennenlernens niemals hatte lachen hören. Meistens war sein Gesichtsausdruck ernst und traurig gewesen und er besaß kaum eine Mimik. So erloschen wirken Kinder nach lang anhaltenden Stressphasen ohne emotionalen Halt. Sie können in eine umfassende Erschöpfung oder Depression geraten.

Die therapeutische Beziehung stellt eine Übungsbeziehung dar, in welcher Kinder als auch Erwachsene ihre Kontaktwünsche, ihre Ängste, ihre Wut sowie viele andere Themen platzieren können. Ich gebe meinen Therapiekindern manchmal meine private Telefonnummer, damit sie mir ohne Hilfe ihrer Eltern eigenständig eine Nachricht hinterlassen können. Selbstverständlich gibt es auch hier begrenzte Sprechzeiten und Ruhepausen. Ben war mir unendlich dankbar, dass er selbständig Kontakt zu mir aufnehmen konnte. Viele Male dankte er mir für meine Hilfe und Unterstützung. Es verging kein Feiertag, an dem er mir nicht einen Gruß oder seinen Dank schickte.

Glücklicherweise respektierte Bens Vater den Wunsch seines Sohnes nach Abstand. Er vertraute mir und meinem Kollegen. Er konnte spüren, dass wir ihn nicht für seine Erziehungsfehler verurteilten. Es wurde deutlich, wie wenig Bens Vater in der Lage war, sich in einen anderen Menschen, also auch in Ben, einzufühlen. Er verstand es nicht, mit seinem Kind in Beziehung oder Dialog zu treten, sondern Bens Vater manövrierte sich stattdessen mit rigiden Verhaltensmaßregeln durch seine Erziehungsaufgabe.

Alle um Ben herum merkten: Ben hatte Fortschritte auf ganzer Linie gemacht. Seine sozialen Ängste waren weniger geworden, er konnte endlich einem Sportverein beitreten und einen Kampfsport erlernen. Das hatte er sich schon lange gewünscht. Ben konnte sogar eine höhere Schule besuchen. Sein Leben war so geworden, wie er es sich immer gewünscht hatte. Nun fehlten ihm nur noch ein oder zwei Freunde, wie er mir kürzlich mitteilte.

Früher hatte mich Ben manchmal gefragt, ob ich ihn für krank hielte. Darauf hatte ich immer Folgendes geantwortet: »Nein, du bist ein ganz normaler Junge! Du wirst noch viel Spaß im Leben haben. Und ich kenne keinen mutigeren!«

Etwa zwei Jahre nach Therapieende war aus Ben ein cooler Youtuber geworden. In seinen Spots wirbelt er nur so mit seinen Armen herum, nutzt den Resonanzraum seiner Stimme und genießt seinen Auftritt im Welt umspannenden Netz. Seine Anfälle sind längst Geschichte.

3 Jessica ... Die WartendeMeine Mutter war ein Straßenkind

Jessica und ihre Mutter wollten wieder zueinanderfinden. Über ein Jahr hatte Jessica bei ihrer Tante und deren Familie gelebt, weil ihre Mutter gravierende gesundheitliche Probleme hatte und operiert werden musste. Die Tante hatte auch kleine Kinder, leider aber auch Geldsorgen und wechselnde Partnerschaften. Es wurde viel gefeiert und viel getrunken. Bald hatte die Schwester ihrer Mutter es nicht mehr geschafft, für die Familie zu sorgen. Es gab nur unregelmäßig etwas zu essen, viel Geschrei und manchmal Schläge. Irgendwann war dem Kindergarten aufgefallen, dass Jessica und ihre Cousinen immer seltener und dazu ungepflegt in die Einrichtung kamen. Man sprach mit ihrer Tante und erkundigte sich danach, ob diese Hilfe benötigte. Aber die Tante wollte keine Einmischung, wie sie immer sagte.

Schließlich hatte es bei Jessicas Tante einen Hausbesuch der Behörde gegeben und Jessica war in Obhut genommen worden. In dem kleinen Heim hatte es ihr dann eigentlich ganz gut gefallen, schade nur, dass die Mama sie noch nicht besuchen konnte. Sie wäre noch sehr schwach, hieß es.

Die Zeit war vergangen und Jessica war inzwischen sieben Jahre alt. Sie musste fast zwei Jahre warten, bis sich ihre Mutter im Heim zum Besuch angekündigte. Jessica konnte die Nacht davor kaum schlafen. Die Mutter begrüßte ihre Tochter kurz, unsicher und fremd und wendete sich dann wieder dem neuen Baby zu. Es war ein Bruder, er war wirklich süß, das fand auch Jessica. Jedoch war die Mutter hauptsächlich mit diesem neuen Kind beschäftigt. Es musste getragen, gefüttert, gewindelt und geherzt werden. Die Mutter schien ganz begeistert von dem kleinen Blondschopf. Das schmerzte Jessica. Sie hatte die Mutter in all den langen Monaten so sehr vermisst. Nun kündigte die Mutter ihrer Tochter an, dass sie eine neue Bleibe gefunden hätte und sie bald alle zusammen wohnen könnten. Bis es soweit war, würde die Mutter sie jetzt wieder häufiger besuchen kommen. Jessica konnte ihr Glück kaum fassen und freute sich auf ihre neue Zukunft.

Ich konnte nicht so unbeschwert in die Zukunft der kleinen Familie blicken wie Jessica, denn eine so lange Beziehungsunterbrechung ohne Besuchskontakte verletzt die Bindung zwischen Kind und Eltern erheblich. Vertrauen und Sicherheit zerfallen. Verschiedenste Gefühle drängen sich auf, Wut und Trauer wechseln sich ab, Misstrauen und Verlassensängste lassen Unruhe und nicht selten provokatives Verhalten entstehen. Den Eltern kommt ihr Kind manchmal merkwürdig verändert vor. Sie wundern sich, dass ihr Kind sie nicht mehr als Garant für Verlässlichkeit und Halt wahrnimmt.