Kindheit - Oskar Jenni - E-Book

Kindheit E-Book

Oskar Jenni

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Beschreibung

8 Kapitel über die zentralen Themen der Kindheit: Glückliche Kinder, Gute Eltern, Digitalisierte Gesellschaft, Schule und Gerechte Bildung – von einem interdisziplinären wissenschaftlichen Team, das Orientierung in der aktuellen Diskussion leisten möchte.

Die Kindheit wird in unserer Gesellschaft kontrovers diskutiert: Kinder sollen frühestmöglich gefördert werden, um im Wettbewerb später bestehen zu können. Wie unterschiedlich Kinder sind und wie viele ihrer Fähigkeiten angeboren, gerät dabei aus dem Blick. Kinder, die sich nicht reibungslos einfügen, werden schnell pathologisiert, und es scheint, als bestünde die Kindheit immer mehr aus Gefährdung, Krankheit und Störung. Eltern fühlen sich unter Druck, perfekte Mütter und Väter von möglichst erfolgreichen Kindern zu sein. Dabei sind sie in vielen Bereichen gefordert: im Umgang mit digitalen Medien, bei Fragen nach optimaler Förderung oder danach, wie viel Freiheit und wie viel Kontrolle ein Kind braucht. Dieses Buch zeigt aktuelle Entwicklungen und deren Ursachen auf. Es möchte zu einem gelasseneren Umgang mit unseren Kindern beitragen – und zur Beruhigung eines Diskurses, der zwischen Romantisierung und Perfektionierung der Kindheit hin- und herpendelt.

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Seitenzahl: 244

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTOREN

Der Herausgeber Oskar Jenni, geboren 1967, ist ein Schweizer Kinder- und Jugendarzt. 2005 übernahm er in der Nachfolge von Remo H. Largo die Leitung der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich. Seit 2020 ist er Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich.

Die weiteren 11 Autorinnen und Autoren des Buches gehören zum 2018 initiierten Thinktank der Zürcher »Akademie. Für das Kind. Giedion Risch.«

Sie stammen aus den Fachbereichen Anthropologie, Entwicklungspsychologie und -pädiatrie, Erziehungswissenschaft, Ethik und Philosophie, Politologie, Psychologie, Kommunikationswissenschaft und Ökonomie.

ÜBER DAS BUCH

In diesem Buch versucht ein Interdisziplinäres wissenschaftliches Team eine Bestandsaufnahme: Was wissen wir heute wirklich über die Kindheit?

Das Thema Kindheit wird heute mehr denn je diskutiert: Anzutreffen sind dabei einerseits Beunruhigung und Sorge, andererseits eine Reihe von Ratgebern, Patentrezepten und zugespitzten Meinungen. Wer hat nicht schon mit Menschen gestritten, die es ganz genau wissen – ob man Kleinkinder ab dem Säuglingsalter betreuen lassen soll oder nicht, wie optimale Förderung aussieht, ob man die Nutzung von digitalen Medien kategorisch ablehnen oder willkommen heißen will oder wie man mit Kindern umgeht, die von der Norm abzuweichen scheinen? Der Diskurs über Kinder ist häufig von Schwarz-Weiß-Denken geprägt.

Das erschöpfte Kind. Das depressive Kind. Das überforderte Kind. Das ausgebrannte Kind. Das sozial auffällige Kind. Das lernschwache Kind. Das hochsensible Kind. Das hochbegabte Kind. Das schlafgestörte Kind. Das stille Kind. Das laute Kind. Von all diesen und anderen Abweichungen vom »normalen« oder »normierten« Kind ist in der heutigen Zeit oft die Rede. Eltern sind voller Sorge und fragen sich, ob sie ihre Kinder möglichst früh in eine Abklärung schicken sollen, damit diese nicht abgehängt werden und in einer zunehmend als unsicher wahrgenommenen Zukunft den Anschluss verlieren. Oder ob es besser ist, darauf zu vertrauen, dass die Kinder ihren Weg und ihren Platz in der Welt schon finden. Aber auch wenn alles unauffällig verläuft, haben viele Eltern Angst und fühlen sich oftmals ratlos und überfordert. Sollen sie ihr Kind möglichst früh fördern und zielgerichtet auf das spätere Leben als Erwachsene vorbereiten – oder sie mehr »Kind sein« lassen und ihnen eine möglichst sorglose Kindheit mit viel Raum für »zweckloses« Spielen ermöglichen? Wie sollen sie die Erziehung ihrer Kinder gestalten – so viel wie möglich auf deren Bedürfnisse eingehen und eine enge Bindung suchen – oder doch mehr Kontrolle und Autorität ausüben? Wie viel Kinderbetreuung ist in welchem Alter in Ordnung? Wie viel Zeit sollten Kinder mit digitalen Medien verbringen und welche Effekte hat dies auf ihre Entwicklung?

Auch jenseits dieser individuellen Ebene von Familien – egal welcher Konstellation und Gestalt – stellen sich auf gesellschaftlicher und politischer Ebene schwierige Fragen: Wie soll die moderne Schule gestaltet werden, um möglichst allen Kindern gerecht zu werden und ihnen den Weg zu einem selbstbestimmten und verantwortungsvollen Leben zu ebnen, ohne dass sie schon als Kinder gestresst oder ausgebrannt sind? Wie verhalten sich diese Ziele zu der Aufgabe, soziale Ungleichheiten entschlossen anzugehen und nicht im Bildungswesen zu reproduzieren? Und welchen Platz sollten Kinder in einer Gesellschaft haben, in der sich immer mehr Menschen bewusst entscheiden, kinderfrei zu bleiben?

All diese Fragen und Themen werden in der heutigen Zeit ausführlich diskutiert – anzutreffen sind dabei einerseits eine große Beunruhigung und Sorge, andererseits eine Reihe von Ratgebern, Patentrezepten, Reformvorschlägen und klaren Meinungen. So gibt es nicht nur viel Unsicherheit, Angst und Überforderung, sondern auch viel Kopfschütteln, Reinreden und Besserwissen. Wer hat nicht schon mit Freunden oder Bekannten diskutiert oder gar gestritten, die es ganz genau wissen – sich der »Bindungstheorie« verschreiben, sich ganz bewusst als »Helikoptereltern« oder aber als »antiautoritär« bezeichnen, externe Kinderbetreuung im frühen Kindesalter problematisch oder aber besonders wertvoll finden, die Nutzung von digitalen Medien kategorisch ablehnen oder willkommen heißen, die zunehmenden Hilfs- oder Abklärungsangebote im Kindergarten und in der Schule für grundfalsch oder für einen wichtigen Schritt nach vorne halten, das Bekommen von Kindern als einen egoistischen Akt oder aber einen Beitrag zu einer lebendigen und zukunftsfähigen Gesellschaft verstehen. Der Diskurs über Kinder ist dabei häufig polarisiert und von Schwarz-Weiß-Denken geprägt. Darin drückt sich eine Sehnsucht nach einfachen Lösungen und Antworten aus, der auch an die Wissenschaft herangetragen wird. Dies gilt ebenso für Fragen der Bildung, der Bildungsgerechtigkeit und nach dem Platz von Kindern in der Gesellschaft. So werden einseitig Selbstverantwortung und Kompetenzen propagiert, frühe Förderung ist in aller Munde, und viele Menschen haben eine erstaunlich klare Antwort darauf, warum sie Kinder bekommen haben oder warum nicht.

Warum verspricht dieses Buch angesichts der vielfältigen Fragen und der kontroversen Diskussionen gerade eine Beruhigung? Ist Beunruhigung nicht die einzig richtige Reaktion auf die »gefährdete Kindheit« und die Herausforderungen unserer Zeit? In gewisser Weise ja. Aber die Beruhigung, von der im Titel die Rede ist, bezieht sich weniger auf die Fragen als auf die Art und Weise, wie über Kindheit heute diskutiert wird. Es ist an der Zeit, die Fragen präziser zu stellen, sie in ihrer Schwierigkeit und Komplexität zuerst einmal zuzulassen, den Wissensstand der Forschung kompetent und vorurteilsfrei zur Kenntnis zu nehmen, die Erwartung einer schnellen Lösung aufzugeben und auf dieser Grundlage neue Vorschläge und Perspektiven zu erarbeiten. Mit einer solchen Versachlichung geht eine bestimmte Ruhe einher: Es wird klar, worum es geht und welche Erkenntnisse es schon gibt. Es wird ausgehalten, dass die Fragen und Probleme komplex sind und keine einfache Lösung bieten. Es werden Perspektiven entwickelt, die Widersprüche und Ambivalenzen zulassen und gegenseitiges Verständnis und in gewisser Weise auch Demut befördern.

Die Autorinnen und Autoren dieses Buches haben sich über viele Jahre mit der Kindheit beschäftigt und sich die herausfordernde Aufgabe gestellt, zusammen ein Buch zu zentralen Fragen der Kindheit zu schreiben. Sie bringen dabei Wissen und Erfahrung aus ganz verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und aus der Praxis mit. Der Entwicklungspädiater und Gründer des »Thinktank. Für das Kind. Giedion Risch« OSKAR JENNI begegnet jeden Tag Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten und hat kürzlich in einem Buch die wissenschaftliche Sicht auf die kindliche Entwicklung detailliert zusammengetragen. Den Philosophen HOLGER BAUMANN interessiert besonders, wie wir Kindern als Kindern begegnen und sie respektieren können, ohne sie mit zu viel Freiheit zu überfordern. Die Philosophin und Journalistin BARBARA BLEISCH beschäftigt sich in ihren Büchern zur Ethik der Familienbeziehungen mit zentralen Fragen der innerfamiliären Verantwortung, auch im Hinblick auf gute Elternschaft und den Wunsch nach eigenen Kindern. Die Anthropologin JUDITH BURKART erforscht das Verhalten von Krallenaffen, bei denen im Unterschied zu anderen Affenarten die »gemeinschaftliche Jungenaufzucht« anzutreffen ist, die maßgeblich für die evolutionäre Entwicklung des Menschen war und immer noch ist. Der Entwicklungspsychologe MORITZ DAUM untersucht, wie, wann und warum Kinder bestimmte Fähigkeiten entwickeln, was mit der Kommunikation passiert, wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen, und hat unter anderem eine umfassende und für viele beruhigende Studie zur Rolle von Kitas für die frühkindliche Entwicklung durchgeführt. Der Ökonom GÜNTHER FINK nimmt aus einer globalen Perspektive die Frage nach den wirtschaftlichen Voraussetzungen in den Blick, um Kindern eine freie und individuelle Entwicklung zu ermöglichen, und hat die zentrale Rolle von Gesundheitsförderung und früher Förderung aufgezeigt. Die Politikwissenschaftlerin SILJA HÄUSERMANN beschäftigt sich im Rahmen ihrer umfassenden Sozialstaats- und Ungleichheitsforschung mit der Frage, wie den Anliegen von Kindern und Jugendlichen mehr politisches Gewicht und Gehör verschafft werden kann und wie eine kinderfreundliche Politik aussehen sollte. Der Pädagoge ROLAND REICHENBACH untersucht in seinen zahlreichen Arbeiten Aspekte der Bildungs- und Erziehungsphilosophie sowie der ethischen, ästhetischen und politischen Bildung von Kindern und verwehrt sich unter anderem eindimensionalen Lösungsvorschlägen und Schulreformen. Der Pädagoge DIETER RÜTTIMANN gründete die Gesamtschule Unterstrass und hat Formen der Zusammenarbeit mit dem Institut Unterstrass an der Pädagogischen Hochschule mitentwickelt. Nach all den Jahren ist er nach wie vor begeistert und fasziniert davon, in Beziehung mit Kindern und Jugendlichen zu treten und sie in ihrem Sein und Werden zu begleiten. Die Psychologin HEIDI SIMONI hat viele Jahre das »Marie Meierhofer Institut für das Kind« geleitet und dort unter anderem mit ihrem Team erforscht, wie sich die Arbeit mit Konzepten der »Frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung« auf die Prävention problematischer Entwicklungsverläufe und die Unterstützung gelingender Entwicklung auswirken. DANIEL SÜSS, Medienpsychologe und Kommunikationswissenschaftler, nimmt in seiner Forschung immer wieder eine unvoreingenommene Perspektive auf den von Sorgen und Ängsten geprägten Diskurs über die Nutzung von digitalen Medien durch Kinder ein und entwickelt Empfehlungen für Eltern, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen wie auch für Medienanbieter.

Herausgekommen ist ein Buch, das anhand einer Versachlichung in Teilen auch eine Beruhigung und Entspannung bietet. Um nur einige »gute Botschaften« zu nennen: Alle Kinder sind verschieden, und wir sollten Abweichungen nicht zu schnell pathologisieren. Unser Einfluss auf Kinder ist weniger groß, als wir oft denken, und wir können uns entspannen, weil die meisten Kinder am Ende ihren Platz in der Welt finden. Die Nutzung digitaler Medien ist nicht per se schädlich, solange der Lebensmittelpunkt von Kindern in der realen Welt und im Zusammensein mit anderen Kindern liegt. Und wenn wir keine schnelle oder gute Antwort auf die Frage haben, warum wir Kinder wollen (oder nicht), hat das vielleicht damit zu tun, dass Kinder zu haben immer ein existenzielles Wagnis und Abenteuer darstellt, das sich der Zweckrationalität entzieht. Aber die Bestandsaufnahme in diesem Buch eröffnet auch den Blick auf reale und schwierige Probleme: Damit Kinder glücklich und zufrieden sind, müssen ihre Eltern selbst ruhiger und zufriedener sein und Kindern ihre Liebe und Begeisterung für die Welt zeigen. Damit die Schule ihre vielfältigen und teilweise widersprüchlichen Aufgaben erfüllen kann, müssen Eltern den Fokus auf den individuellen Lernerfolg ihrer Kinder lockern, und alle Beteiligten sollten mehr Ambivalenztoleranz und Verständnis aufbringen. Damit Schule gerecht ist, muss noch viel mehr in der Bekämpfung von ungleichen Bildungschancen getan werden als bislang. Und schließlich: Damit es Kindern in unserer Gesellschaft besser geht, müssen wir ihnen mehr als bis jetzt eine Stimme in der Politik geben und ihre Perspektive wahrnehmen. So soll dieses Buch vor allem einen Beitrag dazu leisten, ein tieferes Verständnis für die vielen verschiedenen Facetten der Kindheit zu fördern und aufzuzeigen, dass durch gemeinsame Anstrengung eine hoffnungsvolle Zukunft für die Kinder gestaltet werden kann.

Kinder scheinen erst einmal eine Selbstverständlichkeit zu sein: Die meisten Menschen haben Kinder, in jeder Gesellschaft gibt es Kinder, und eine Welt ohne Kinder scheint weder vorstellbar noch wünschenswert. Dennoch haben Kinder in jüngerer Zeit ein Stück weit just an dieser Selbstverständlichkeit eingebüßt. Viele junge Menschen und Paare setzen sich heute mit der Frage nach eigenen Kindern bewusst auseinander: Wollen wir Kinder? Werden wir gute Eltern und eine gute Familie sein? Was bringen Kinder an Verzicht mit sich, und sind wir bereit und in der Lage, diesen zu leisten? Und schließlich: Können wir es verantworten, Kinder in diese Welt zu setzen?1

Zwar sind diese Fragen nicht gänzlich neu, und es gab immer schon Personen, die sich gegen die vermeintliche »Normalität« einer Familiengründung gestellt und ganz bewusst auf Kinder verzichtet haben. Anderen standen berufliche Ambitionen im Weg oder sie hatten keine Partnerin respektive keinen Partner, mit der oder dem sie sich eine Familiengründung vorstellen konnten.

Jene, die Elternschaft für sich bewusst ausschließen, sind auch heute noch in der Minderzahl. Doch Jahr für Jahr erscheinen mehr Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften und auch ganze Bücher über die sogenannte »K-Frage«2 und über die Generation der »Kinderfreien«, für die Kinderlosigkeit kein Manko mehr ist, sondern Resultat einer wohlüberlegten Entscheidung.3 Die Kinderfreien kämpfen dabei nicht zuletzt für eine Pluralisierung von Lebensformen und für gesellschaftliche Normen, in denen Kinder nicht mehr zwingend zum Lebensglück und zu einem »seriösen Lebensplan« dazugehören. Jede und jeder soll das Anrecht haben, sein Leben auf eigene Art und Weise zu gestalten und selbstbestimmt zu entscheiden, ob Kinder Teil davon sein sollen. Dennoch fühlen sich viele Frauen weiterhin unter Druck, Kinder zu bekommen, als wäre eine Frau erst dann vollständig, wenn sie auch Mutter geworden ist.

Dass wir uns heute die Frage stellen können, ob wir überhaupt Kinder bekommen wollen, hat zum einen wirtschaftliche Gründe: Hatten Kinder früher die Funktion einer Altersvorsorge und mussten in Haus und Hof oder in der Fabrik mitarbeiten und später die betagten Eltern pflegen, sind wir gegenwärtig in unserer Gesellschaft ökonomisch nicht mehr von Nachkommen abhängig. Im Gegenteil: Kinder können vor allem für allein oder getrennt Erziehende sogar zum Armutsrisiko werden. Kinder muss man sich, um es deutlich zu sagen, leisten können. Studien weisen die Kosten pro Erstkind in Deutschland bei etwa 150000 Euro4 und in der Schweiz mit rund 330000 Schweizerfranken aus: Eltern und insbesondere Mütter reduzieren oft ihre entlohnte Arbeitszeit und müssen langfristige Einbußen beim Erwerbseinkommen und Lücken bei der sozialen Absicherung hinnehmen – mit zuweilen fatalen Folgen, was das Risiko von Altersarmut anbelangt.5

Zum anderen werden heute auch moralische und ökologische Gründe genannt, weshalb einige sich für bewusst gewählte Kinderfreiheit aussprechen: Sie halten es schlicht für nicht mehr tragbar, Kinder in eine Welt zu setzen, die auf einen Klimakollaps zusteuert. Es sei dem einzelnen Kind nicht zuzumuten, in eine äußerst fragile Zukunft hineingeboren zu werden. Darüber hinaus sei das Bevölkerungswachstum ein starker Treiber des Klimawandels, weshalb wir gut daran täten, unsere Reproduktionsrate niedrig zu halten.

Während die einen also bewusst von der Vorstellung eigener Kinder Abstand nehmen, entscheiden sich andere ebenso bewusst für »Wunschkinder« und beziehen diese nach sorgfältigem Abwägen in die eigene Lebensplanung ein. Wie auch immer die Antwort auf die Kinderfrage ausfallen mag: Es ist keine Frage, deren Beantwortung sich einfach »ergibt«. Vielmehr gehen wir sie in unserer Zeit und Kultur oft wohlüberlegt an – respektive können sie wohlüberlegt angehen. Denn vergessen wir nicht, dass wir die längste Zeit der Menschheitsgeschichte Elternschaft überhaupt nicht planen konnten: Verlässliche Verhütungsmethoden existieren erst seit rund fünfzig Jahren. Davor gehörten Kinder zum Erwachsenenleben und zu einer Paarbeziehung einfach dazu. Blieb der Kindersegen in einer Paarbeziehung aus, wurde dies schnell als Krankheit oder gar als Strafe oder Fluch gedeutet. Umgekehrt konnte sich Kinderreichtum persönlich und sozial auch als große Belastung entpuppen.

Mit den modernen Mitteln der Empfängnisverhütung und der Reproduktionsmedizin wurde gegen die Jahrtausendwende jedoch das, was Sigmund Freud 1898 als »einen der größten Triumphe der Menschheit« prophezeit hatte, wahr: nämlich »den verantwortlichen Akt der Kinderzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten Handlung zu erheben«.6 Zweifellos ist damit der Faktor Schicksal nicht ganz aus der Elternschaft eliminiert, kommt es doch weiterhin zu ungeplanten Schwangerschaften, zu ungewollter Kinderlosigkeit und letztlich für alle Eltern zur Begegnung mit einem unbekannten, neuen Leben. Dennoch ist richtig, dass sich heute – jedenfalls in unserer Kultur – grundsätzlich entscheiden lässt, ob man eigene Kinder haben möchte oder nicht. Doch warum wünschen wir uns eigentlich Kinder?

NACHWUCHS ALS NATÜRLICHES BEGEHREN

Zunächst scheint es plausibel, dass der Kinderwunsch ein »natürliches Begehren« ist, das evolutionsbiologisch auf den Fortbestand der eigenen Spezies angelegt ist. Daraus jedoch einen Kinderwunsch abzuleiten, der uns natürlicherweise angeboren wäre, wäre vorschnell. Evolutionär angelegt ist lediglich der Sexualtrieb. Selbst Tiere paaren sich nicht in der Absicht, Nachkommen zu zeugen, sondern wollen in erster Linie ihre sexuellen Bedürfnisse stillen – und reproduzieren sich sozusagen als Nebeneffekt. Mit den modernen Mitteln der Schwangerschaftsverhütung ist es für uns Menschen aber schon länger (und mehr oder weniger auch verlässlich) möglich, Sexualität auch in gemischtgeschlechtlichen Beziehungen unabhängig von der Zeugung von Kindern zu leben.

Statt vom Kinderwunsch als einem »natürlichen Begehren« zu sprechen, ist es an dieser Stelle zielführender zu fragen, woher die nach wie vor weit verbreitete Sehnsucht nach eigenen Kindern kommt. Der Mensch als reflektierendes Wesen verfügt über die Fähigkeit, über Sinn und Zweck seines Wesens und seines Verhaltens nachzudenken. Er kann neben vielem anderen auch die eigene Fortpflanzung persönlich und gesellschaftlich hinterfragen. Einen Weg, diese Debatte zwischen Natur und Kultur einzuordnen, bietet der Philosoph Dieter Thomä in seinem Buch Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform. Der Kinderwunsch sei insofern in uns »angelegt«, als wir uns zwangsläufig zu ihm verhalten müssen. Elternschaft präsentiere sich erwachsenen Menschen als »eine Möglichkeit, die, ohne weiteres Zutun, in ihnen steckt – oder aber auch nicht«.7 Gemeint ist damit, dass wir uns andere Lebensprojekte erst ausdenken müssen oder sie von außen an uns herangetragen werden – etwa der Wunsch, ein Hotel zu kaufen und zu führen, auszuwandern oder Profifußballerin zu werden.

Die Möglichkeit, Kinder zu bekommen, verlangt jedoch von jenen, die in einer gemischtgeschlechtlichen Beziehung sexuell aktiv sind, zwingend nach einer Auseinandersetzung: entweder indem sie eine Schwangerschaft verhindern oder die Möglichkeit von Nachwuchs in Kauf nehmen. Freilich können sich auch berufliche Pläne oder Karrieren so anfühlen, als hätten sie immer schon in uns geschlummert. Und man kann auch beruflich oder intellektuell »Eltern werden«, wie dies zum Beispiel bei Lehrmeistern und ihren Lehrlingen oder bei Doktormüttern und ihren betreuten Doktorierenden der Fall ist. Vielleicht ist der Unterschied zwischen verschiedenen existenziellen Projekten, die unser Leben füllen und bestimmen können, also gar nicht so groß, und es ist vor allem das Bedürfnis jener, die Kinder haben, das Außergewöhnliche des »Projekts Elternschaft« herauszustreichen.

DIE SEHNSUCHT NACH EINEMFÜRSORGEBEDÜRFTIGEN WESEN

Wer von sich sagt, der Kinderwunsch fühle sich wie ein natürliches Begehren an, meint ohnehin meist etwas anderes – etwa eine Art Sehnsucht nach einem kleinen, schutzbedürftigen Wesen, dem man sich zuwenden und für das man sorgen möchte. Diese Sehnsucht fällt – so zeigen verschiedene Studien – umso stärker aus, je mehr wir von Säuglingen und Kleinkindern umgeben sind und mit ihnen interagieren. So haben Kinder aus Großfamilien oft ihrerseits viele Kinder.8 Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft erhöht, wenn die eigene Schwester oder eine Teamkollegin ein Kind bekommt.

Viele Kinder wachsen mittlerweile aber ohne kleinere Geschwister auf, und auch junge Erwachsene kommen nicht mehr unbedingt mit Kleinkindern in Kontakt. Es ist also nicht nur den vorhandenen Möglichkeiten der Geburtenkontrolle zuzuschreiben, dass wir die Kinderfrage heute zunehmend rational angehen und sich manche gegen eigene Kinder entscheiden. Vielmehr beeinflusst auch ein verändertes Umfeld unsere Entscheidung. Ebenso ausschlaggebend dürfte die soziale Erwartung sein, ob und wie viele Kinder zum Leben sozusagen »dazugehören«. In den Industriestaaten wünschen sich beispielsweise nur noch wenige Paare mehr als drei Kinder – anders als vor fünfzig Jahren, als die Mehrheit der Paare mehr als drei Kinder anstrebte.9

Die Sehnsucht nach einem fürsorgebedürftigen Wesen muss sich dabei keineswegs zwingend auf ein genetisch eigenes Kind beziehen. Dass dennoch viele zunächst versuchen, ein eigenes Kind zu bekommen, und nicht eines adoptieren, liegt einerseits daran, dass es einfacher und verbindender scheint, gemeinsam mit einem Partner oder einer Partnerin ein Kind zu zeugen, auch wenn Schwangerschaft und Geburt bis heute Risiken bergen. Adoptionsverfahren sind kompliziert und oft langwierig. Andererseits dürften viele auch die Vorstellung teilen, ein genetisch eigenes Kind werde einem ähnlicher und vertrauter sein als ein adoptiertes, und die Liebe zu ihm werde sich auf natürlicherem Wege einstellen. Die Realität zeigt hingegen, dass auch Adoptiveltern ihre Kinder sehr lieben können und dass sich umgekehrt die Beziehung auch zu genetisch eigenen Kindern kompliziert gestalten kann.

Bei Frauen kommt als zusätzlicher Grund für ein biologisch eigenes Kind möglicherweise die Sehnsucht hinzu, Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit zu durchleben und sich somit einer einzigartigen Erfahrung zu öffnen. Bis zu einem gewissen Grad gilt dies auch für die Väter, die an der Schwangerschaft ihrer Partnerin zunehmend teilhaben und bei der Geburt des eigenen Kindes oft zugegen sein möchten, was bei einem Adoptivkind nicht möglich ist (es sei denn, es wird von einer dem Paar bekannten Leihmutter ausgetragen).

Die Sehnsucht, für ein anderes Wesen sorgen zu wollen, ist jedoch kaum etwas, wofür oder wogegen man sich entscheiden könnte – vielmehr schlummert sie in den einen und in den anderen nicht. Dieses Begehren als das alleinige natürliche Empfinden zu bezeichnen, würde aber unterstellen, dass jene, die diesen Wunsch nicht verspüren oder sich aus anderen Gründen gegen Kinder entscheiden, ein unnatürliches Verhalten an den Tag legten. Dabei ist »unnatürlich« keine reine Beschreibung, sondern birgt eine Wertung: Wer keinen Kinderwunsch hege, sei demnach defizitär und handle wider die Natur.

Eine solche Haltung wertet nicht nur andere Lebensentwürfe ab, sondern leugnet überdies, dass man »natürlichen« Sehnsüchten und Trieben nicht unbedingt nachgeben muss. Tatsächlich müssen Frauen aber ihre Entscheidung, keine Kinder bekommen zu wollen, nach wie vor häufig rechtfertigen.10 Ihnen wird oft unabhängig davon, wie sie selbst über Mutterschaft denken, eine Art »Mutterinstinkt« nachgesagt, der sie unweigerlich dazu dränge, Kinder bekommen zu wollen.11 Dies ist allerdings ein Konstrukt der Moderne. Freilich wurden Frauen auch davor schon Mütter, aber diese Rolle hatte gesellschaftlich gesehen keinen herausragenden Wert.

Die Zeiten, in denen Frauen auf ihre Funktion als Gebärerin und Erzieherin reduziert wurden, sind heute glücklicherweise weitgehend vorbei. Der Mythos der Frau, die mit einem angeborenen Aufopferungswillen gesegnet ist und sich natürlicherweise zur Mutterschaft hingezogen fühlt, ist aber nach wie vor präsent: Von Frauen wird grundsätzlich erwartet, dass sie Kinder haben wollen und dass sie, wenn sie keine haben, darüber unglücklich sind.12

Frauen, die nicht Mütter werden wollen, gelten in wertkonservativen Kreisen entsprechend nach wie vor als suspekt; ganz zu schweigen von Frauen, die ihre eigene Mutterschaft kritisch sehen und offen zugeben, sich zeitweise oder rückblickend einen anderen Lebenslauf gewünscht zu haben. Dies trat besonders deutlich bei den teilweise harschen Reaktionen auf Regretting Motherhood zutage. Diese Studie der Soziologin Orna Donath erschien 2015 und thematisierte das Leiden von Frauen, die ihre Mutterschaft bereuten.13 Die Reaktionen auf das Buch beleuchten dabei auch, wie stark Selbst- und Fremderwartungen sowie gesellschaftliche Normen die Entscheidung für die Elternschaft prägen. Nicht zuletzt wird mit der Elternschaft nach wie vor eine Erwartung oder Versprechung von Glück oder Sinnhaftigkeit verbunden.

ELTERNSCHAFT UND DIE VERSPRECHUNGVON LEBENSGLÜCK

Die Studie Regretting Motherhood warf aber nicht nur die Frage auf, wie Frauen ihr Muttersein erleben (nämlich nicht ausschließlich positiv), sondern mündete in die grundsätzlichere Frage, ob Elternschaft glücklich macht – und glücklich machen soll. Die Sozialwissenschaften sind sich bezüglich dieser Frage weitgehend uneins, zumal die Antwort in den verschiedenen Kulturen und Gesellschaften auch stark variiert.14 Zwar lassen sich mit Blick auf das subjektive Wohlbefinden oft nur geringe Unterschiede zwischen Personen mit und ohne eigene Kinder feststellen. Allerdings äußern viele kinderlose Personen am Ende ihres Lebens, sie würden sich, könnten sie noch einmal zurück, für ein Leben mit Kindern entscheiden.15 Studien, die nach den Ursachen fürs Lebensglück fragen, sind allerdings mit Vorsicht zu genießen: Zum einen operieren sie oft mit einem Glücksbegriff, der einseitig auf Wohlbefinden ausgerichtet ist und beispielsweise die Dimension des Lebenssinns oder den Aspekt des Gebrauchtwerdens ausklammert. Zum anderen zeigen Studien auch, dass nichts dauerhaft glücklich macht. Der Mensch gewöhnt sich im Lauf der Zeit an fast jede Veränderung, im Positiven wie im Negativen, und die Effekte der Veränderung sind empirisch im Verlauf meist nicht mehr nachzuweisen.16

Unbestritten ist, dass Mütter und Väter heute andere Erwartungen an ihre Partnerschaft haben als bis vor etwa fünfzig Jahren, und dass diese Erwartungen das Glückspotenzial, das eine Familiengründung birgt, schmälern können. In jüngerer Zeit wird das Partnerschaftsmodell, in dessen Zentrum die Kinder stehen, zunehmend durch ein paarzentriertes Modell ersetzt: Das Motiv, eine Partnerschaft einzugehen und in diese zu investieren, bestimmt mehr und mehr das eigene Liebes- und Lebensglück. Entsprechend wird die Qualität der Partnerschaft respektive deren Glückspotenzial zur tragenden Säule einer Beziehung – mit dem Ergebnis, dass gemeinsame Kinder nun der Vertiefung der Paarbeziehung zuträglich sein sollen. Allerdings stellen Kinder aus dieser Perspektive für eine Liebesbeziehung auch eine Herausforderung dar, weil sie die Zeit begrenzen, in der sich ein Paar exklusiv einander widmen kann. So erstaunt es nicht, dass der Beitrag der Kinder zum persönlichen Glück kritischer gesehen wird als früher. Kommt es zur Trennung oder Scheidung, werden Kinder überdies oft zu einer großen finanziellen Belastung für beide Elternteile, und die Regelung der elterlichen Sorge zu einer emotionalen und logistischen Herausforderung.

Ein weiterer Faktor, der die Lebenszufriedenheit von Eltern beeinträchtigt, ist dem Umstand geschuldet, dass Elternschaft heute von vielen als anspruchsvoller wahrgenommen wird als noch vor dreißig Jahren. Die vormalige elterliche Rolle als Zeugende, Ernährende und Fürsorgende hat sich in ein umfangreiches Aufgabenportfolio verwandelt. Eltern fühlen sich heute gefordert, ihre Kinder nicht nur zu umsorgen und zu lebenstüchtigen Erwachsenen zu erziehen, sondern optimal auf das Leben vorzubereiten und sie im Wettbewerb der Leistungsgesellschaft möglichst günstig zu positionieren. Was »gute Eltern« ausmacht und was »hinreichend gut« in diesem Kontext bedeutet, darauf wird in KAPITEL 4 eingegangen.

Elternschaft scheint aus diesen Gründen aufs Lebensglück von vielen Paaren nicht nur einen positiven Effekt zu haben. Allerdings ist der Kinderwunsch mit der Sehnsucht nach Glücksmaximierung sicher nicht erschöpfend beschrieben. Im Leben geht es schließlich nicht allein darum, satt, glücklich und zufrieden zu sein. Vielmehr wird als sinnstiftend oft beschrieben, was wir in gewisser Hinsicht auch als herausfordernd erleben – und als eine Form der Herausforderung, die sich explizit an uns richtet. Mit Blick auf viele Aufgaben, die wir in unserem Leben haben, scheinen wir oft ersetzbar, und deren Erledigung kommt uns vielleicht sinnlos oder unnütz vor. Davon hebt sich Elternschaft insofern ab, als sich die Bindung zum eigenen Kind nicht einfach beenden, delegieren oder einsparen lässt. Dies im Übrigen nicht nur, weil die Kinder auf verlässliche Bezugspersonen angewiesen sind, sondern ebenso, weil Elternschaft auch für Väter und Mütter existenziell und prägend ist. Die damit verbundenen Aufgaben gänzlich zu delegieren, hieße somit auch, einen Teil der eigenen Identität aufzugeben.

Die Entwicklungspsychologen Erik und Joan Erikson beschrieben schon in den 1950er-Jahren in ihrem berühmten Modell der psychosozialen Entwicklung, dass Erwachsene im Lauf ihrer Persönlichkeitsentwicklung den Wunsch nach »Generativität« ausbilden, sich um zukünftige Generationen zu kümmern und eigene Kinder großzuziehen. Dazu zählt auch die Weitergabe von Wissen, Können und sozialem Engagement.17 So verstanden, geht es in der Elternschaft nicht nur ums Kind, sondern ganz wesentlich um die Eltern selbst: einerseits um die existenzielle Erfahrung, mit der Kinder einhergehen, andererseits um den elterlichen Wunsch, etwas weiterzugeben und durch die eigenen Kinder an einer Zukunft mitzuwirken. In dieser Art und Weise existenziell verantwortlich zu sein, mag sich zuweilen zwar als überfordernd anfühlen, es kann dem Leben aber auch Sinn und Tiefe verleihen.

ELTERNSCHAFT ALS ENTSCHEIDUNG,DIE UNS TRANSFORMIERT

Die Sehnsucht nach einem eigenen Kind lässt sich argumentativ also nicht durchdringen, weil wir nicht wissen können, worauf wir uns einlassen: Wir wissen nicht, wie das Kind sein wird, das zu uns stößt – weder zum Zeitpunkt der Geburt noch während des Heranwachsens –, und können somit auch die Beziehung zu diesem neuen Wesen nicht antizipieren. Unvorhersehbar ist aber auch, wie es sich anfühlen wird, Mutter respektive Vater zu sein, bevor wir es tatsächlich geworden sind. Die Philosophin Laurie A. Paul spricht in diesem Zusammenhang von »transformierenden Erfahrungen«18: Sie verändern uns so tiefgreifend, dass wir als die, die wir nach dieser Erfahrung sind, die Entscheidung, die wir davor getroffen haben, möglicherweise anders treffen würden. Wir werden also während des Prozesses selbst ein Stück weit zu anderen, und auch unsere Rollen in der Familie und in der Gesellschaft verändern sich. Weil wir aber nicht wissen, wie wir danach sein und empfinden werden, wissen wir auch nicht, ob wir eine Entscheidung, die wir heute fällen, morgen noch als richtig empfinden. Diese radikale Unsicherheit, das Wagnis, welches Elternschaft daher bedeutet, wirkt im heutigen Kontext der Plan- und Kontrollierbarkeitsansprüche fast schon unzeitgemäß und archaisch.

Ob die Personen, zu denen wir als Eltern werden, das Leben mit ihren Kindern mögen werden oder nicht, lässt sich deshalb nicht vorwegnehmen. Wie also sollen wir entscheiden können, ob wir Kinder haben wollen oder nicht? Noch schwieriger wird es, wenn wir uns vor Augen führen, dass die Entscheidung für ein Kind unumkehrbar ist: Wer Vater oder Mutter geworden ist, bleibt es ein Leben lang. Aufs Ganze betrachtet, gibt es also tatsächlich nur wenige Dinge im Leben, die so anspruchsvoll, kosten- und zeitintensiv und gleichzeitig unumkehrbar und unberechenbar sind wie Elternschaft. Ein rationales Abwägen für und wider Kinder ist aufgrund der vielen Unwägbarkeiten unmöglich. Deswegen stützen sich Erwachsene im Laufe des Entscheidungsprozesses auf wenige Aspekte wie etwa die Erfahrung von Freunden, die Stärke des eigenen Wunsches, die Erinnerung an die eigene Kindheit und nicht selten auf einen vielleicht naiven, aber nicht minder wichtigen »Das schaffen wir schon«-Optimismus.

Freilich sind auch andere Dinge in unserem Leben unplanbar und entziehen sich weitgehend unserer Kontrolle. Das gilt nicht nur für die Frage, wie gern wir Vater oder Mutter sein und welche Kinder wir bekommen werden, sondern auch für berufliche Wechsel, den Eintritt ins Rentenalter, schwere Krankheiten oder den Verlust eines nahen Menschen. Solch einschneidende Veränderungen stellen uns stets vor große Herausforderungen.

Aus der Perspektive der Kinder stellt sich der Abwägungsprozess potenzieller Eltern noch einmal anders dar: Vermutlich ist es für ein Kind eher unangenehm, wenn ihm die Eltern auf seine Frage, warum es eigentlich hier sei, erklären, es sei das Resultat einer wilden Nacht – ein ungeplantes Ereignis, im Endeffekt aber durchaus willkommen. Nicht minder befremdlich dürfte es sich für die Kinder anhören, wenn man ihnen erzählt, mit welchem Aufwand man sie zu zeugen versuchte. Auch die Vorstellung, das lang ersehnte Wunschkind zu sein, kann aus der Kinderperspektive eher überfordern denn beglücken. Was, wenn es die elterlichen Vorstellungen nicht zu erfüllen vermag?

Tatsächlich sollte ein Mensch für sein Dasein keine Rechtfertigung benötigen: Die Würde eines Menschen zu achten, heißt: Jeden Menschen als Individuum zu verstehen, das sich selbst genügen darf und nicht als Mittel zum Zweck anderer dienen muss. Zu fragen, warum wir Kinder haben, darf nicht dazu führen, die Daseinsberechtigung eines einzelnen Menschen zu hinterfragen oder zu bewerten. Vielmehr kann es bei dieser Frage nur um Motive gehen, die die Eltern selbst betreffen – also darum, welche Hoffnungen und Bilder sie mit einer Familiengründung verbinden, sowie um das Abwägen, inwiefern Elternschaft zu einem guten Leben beitragen kann – ganz unabhängig davon, welches Kind zu einem stoßen wird.

KINDER ALS GESELLSCHAFTLICHE NOTWENDIGKEIT