Kings of Retribution MC: Finding Solace - Crystal Daniels - E-Book
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Kings of Retribution MC: Finding Solace E-Book

Crystal Daniels

5,0

Beschreibung

Ein kurzer Moment genügt, um Reid Carters Leben für immer zu verändern. Reid Carter – Road Captain für den Kings of Retribution MC. Er wurde in dieses Leben hineingeboren. Eine Welt, in der man nach eigenen Regeln lebt und spielt. Eine Tragödie schlägt doppelt zu und raubt nicht nur Reids Bruder Noah das Leben, sondern kostet Reid auch ein Bein. Jahre später ist er immer noch verbittert über die Grausamkeit des Schicksals. Bis Mila und ihre Tochter in sein Leben treten und ihn wieder etwas fühlen lassen. Die alleinerziehende Mutter Mila Vaughn kennt den täglichen Überlebenskampf aus eigener Erfahrung. Nach ihrer Rückkehr nach Polson, dem einzigen Ort, an dem sie wirklich Frieden empfand, schafft sie ein Zuhause für sich und ihre Tochter und erfüllt sich ihren Traum, Krankenschwester zu werden. Als ihre beruflichen Fähigkeiten sie zum Outlaw-Biker Reid Carter bringen, erweist es sich als schwierig, ihr Herz vor ihm zu schützen. Hals über Kopf verliebt sie sich in Reid. Als eine große Gefahr in ihre Heimatstadt einzieht, macht Reid vor nichts Halt, um die Frau, ihre Tochter und aller gemeinsame Zukunft zu beschützen. Teil 3 der Kings of Retribution MC-Reihe des USA Today-Bestsellerautorinnenduos.

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Sandy Alvarez & Crystal Daniels

Kings of Retribution MC Teil 3: Finding Solace

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Oda Janz

© 2018 by Sandy Alvarez & Crystal Daniels unter dem Originaltitel „Finding Solace (Kings of Retribution MC Book 3)“

© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg

(www.art-for-your-book.de)

ISBN Print: 978-3-86495-596-9

ISBN eBook: 978-3-86495-597-6

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch oder Ausschnitte davon dürfen ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers nicht vervielfältigt oder in irgendeiner Weise verwendet werden, außer für kurze Zitate in einer Buchbesprechung.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Autorinnen

Kapitel 1

Reid

Road Captain. Das ist mein Titel, mein Job beim Kings of Retribution MC. Es klingt vielleicht eingebildet, aber ich bin verdammt gut in dem, was ich tue. Als Road Captain manage ich alle Fahrten. Ich habe mir den Titel verdient, weil ich effizient recherchiere, plane und organisiere, bis hin zu den kleinsten Details, damit alles so reibungslos wie möglich abläuft. Wenn auf der Straße etwas schiefläuft, ist es meine Schuld. Meine Brüder vertrauen auf meine Fähigkeit, den Überblick zu behalten und dementsprechend zu planen, denn alles kann sich in einem Augenblick ändern. Sie vertrauen mir genauso wie ich ihnen. Außerdem kann ich gut mit einer Waffe umgehen. Doc hat meinen kleinen Bruder Noah und mich zusammen mit Logan unterrichtet, als wir aufwuchsen. Mein Vater hat mir beigebracht, wie man sich unsichtbar macht. Mit der Zeit hat sich das als wertvolle Fähigkeit herausgestellt.

Bin ich ein Heiliger? Sicher nicht! Habe ich jemanden getötet? Ich habe in meinem Leben Dinge für meinen Club getan – für meine Familie –, die man als unbarmherzig bezeichnen könnte, und ich würde sie wieder tun, wenn ich meine Familie damit schützen könnte. Das ist der Grund, warum ich mich so beschissen fühle. Ich liege in diesem verdammten Krankenhaus und kann meinen Verpflichtungen gegenüber meinem Club nicht nachkommen. Das bringt mich um!

Als ich vor einigen Jahren mein Bein verlor, dachte ich, das wäre das Schlimmste, was mir je passieren könnte, aber das hier ist noch viel schlimmer: Ich liege in diesem beschissenen Krankenhausbett und bin aufgrund einer Schwellung an der unteren Wirbelsäule teilweise bewegungsunfähig in der unteren Hälfte meines Körpers. Außerdem ist mein Arm an zwei Stellen gebrochen.

Als ich nach dem Unfall aufwachte, dachte ich als Erstes an Alba und Leyna. Waren sie okay? Kam Gabriel noch rechtzeitig bei ihnen an? Letztlich versicherten mir alle, dass es beiden Frauen gut ginge und dass Alba und Gabriel sogar ihr erstes Kind bekommen hätten, aber das linderte nicht wirklich meine Schuldgefühle, dass sie überhaupt in Gefahr gewesen waren. Wenn ich nicht eingeschlafen wäre, wäre ich schneller dort gewesen und nichts von alledem wäre passiert. Ich konnte nicht glauben, dass ich es verpasst hatte, dass einer meiner Brüder Vater wurde.

Allmählich spüre ich meine Beine wieder, aber es reicht noch nicht aus, um darauf zu stehen. Ich liege nun seit vier Wochen in diesem Bett und allmählich zerrt es an den Nerven. Ich liege die ganze Zeit hier, während die Leute ein und aus gehen, an mir herumdoktern und mich anstupsen. Jeder sagt mir, dass es irgendwann besser wird. Doch in der Zwischenzeit gehen ihre Leben weiter, während meines stillsteht. Natürlich kommen die Jungs fast täglich vorbei und erzählen mir die neuesten Club-Geschichten, aber meine Stimmung hebt das nicht wirklich. Die Tatsache, dass ich nicht aufstehen und gehen kann, wann ich möchte, macht mir wesentlich mehr zu schaffen, als es das tun sollte, wenn man bedenkt, dass ich schon zweimal in meinem Leben lernen musste, wie man läuft. Jetzt muss ich das alles noch einmal machen. Ein leises Klopfen an der Tür unterbricht mich in meinem Selbstmitleid. Vanessa, die Krankenschwester, die sich in den letzten Wochen um mich gekümmert hat, kommt lächelnd herein. „Guten Morgen, Mr. Carter. Wir müssen noch ein bisschen daran arbeiten, wie sie vom Bett in den Rollstuhl kommen, bevor sie heute entlassen werden“, sagt sie.

Ich schlage die Bettdecke zur Seite und hebe den linken Arm hoch zur Halterung über meinem Kopf. Dann ziehe ich mich in eine aufrechte Position und versuche, meine untere Körperhälfte zur Bettseite zu bewegen. Die Krankenschwester schiebt meinen Rollstuhl zu mir und ich lasse das Bett herunter.

„Okay, verlagern Sie jetzt langsam Ihr Gewicht, bis Sie in den Rollstuhl gleiten.“

Zu Hause habe ich einen besseren Rollstuhl, einen, mit dem ich das allein hinkriegen sollte. Er ist einfacher zu bedienen mit meinem gebrochenen Arm. Von einer 1973er Harley-Davidson Shovelhead zu einem Rollstuhl. Ich bin total gefrustet. Mit diesem verdammten Gips kann ich wenig allein machen, also muss ich mich vor allem auf meinen linken Arm verlassen, der das Gewicht meines gesamten einen Meter achtzig großen Körpers stützen muss. Mit ein wenig Hilfe verlasse ich das Bett und sitze endlich im Rollstuhl.

„Großartig! Das wiederholen wir noch ein paar Mal, bevor der Arzt heute Morgen seine Visite macht“, sagt sie aufmunternd.

Ich muss ihr ein Kompliment machen. Diese Krankenschwester musste seit Wochen meine Launen ertragen. Selbst dann, als ich so schlimm drauf war, dass ich mir am liebsten selbst eine reingehauen hätte, weil ich so ein Arschloch war.

„Wissen Sie, ich werde all die gutaussehenden Männer vermissen, die Sie jeden Tag besucht haben. Wir Krankenschwestern hatten immer etwas, worauf wir uns freuen konnten“, sagt sie leichthin, mit einem Lächeln im Gesicht. Sie steht direkt neben mir, falls ich ihre Hilfe brauchen sollte.

„Ich bin sowas von bereit, von hier abzuhauen“, stöhne ich, während ich mich über das Ende des Krankenhausbettes in den Rollstuhl hieve.

„Sie sollten bald mit einer intensiveren Form der Physiotherapie beginnen. Und keine Sorge, bevor Sie sich versehen, sind Sie wieder fit“, versichert sie mir.

Eine Stunde lang wiederholen wir das Ganze immer wieder, bis meine Muskeln von dem Training, das ich gerade absolviere, brennen. Ich habe nur einmal Hilfe gebraucht. Vanessa hilft mir zurück ins Bett, bevor sie sich verabschiedet. „Ich glaube fest daran, dass Sie in ein paar Monaten wieder laufen können. Denken Sie positiv!“, sagt sie und verlässt das Zimmer.

Ich schließe mein Laptop, nachdem ich den Lieferstatus der Ausstattung geprüft habe, die ich vor einer Woche bestellt habe. Dann höre ich jemanden an der Tür und Prez spaziert herein.

„Hey Prez, was führt dich denn heute Morgen hierher?“, frage ich. „Ich dachte, du und die Jungs hätten ein Treffen mit dem Stadtrat wegen des neuen Gebäudes in der Innenstadt.“

„Haben wir auch. Aber ich wollte vorher kurz vorbeischauen und sehen, ob deine Brüder und ich irgendwas für dich tun können, bevor du nach Hause kommst“, antwortet er, geht zu dem Stuhl in der anderen Ecke des Zimmers und setzt sich.

Ich fühle mich furchtbar, weil er so viel zu tun hat. Jake hat zusammen mit Nikolai die Leitung der Baufirma übernommen, während ich krankgeschrieben bin. Unsere Firma ist brandneu und es läuft gut. Ich weiß, dass Jake mehr als qualifiziert dafür ist, die Dinge am Laufen zu halten, aber ich hoffe, dass sich das alles bald ändert, sobald ich mich zu Hause in meine neue Routine eingelebt habe.

„Ja, heute kommt irgendwann ein Typ vorbei, der einiges an Ausstattung liefert. Vielleicht kann einer von den Jungs eine Weile bei mir zu Hause bleiben, nur für den Fall, dass ich nicht rechtzeitig von hier wegkomme.“

„Sicher. Bauen sie das Zeug auch auf?“, fragt er.

„Ja“, antworte ich. „Und es tut mir leid, dass du dich um alles kümmern musst, Prez.“

„Nichts, was ich nicht schaffen würde. Logan kümmert sich um den täglichen Betrieb des Ladens und Quinn hat einen neuen Mechaniker eingestellt, um uns zu unterstützen. Wir haben alles unter Kontrolle, mein Junge.“

„Heute Mittag kommt ein Handwerker bei mir vorbei, um den alten Lastenaufzug zu reparieren, um den ich mich nie gekümmert habe. Ich muss dafür sorgen, dass er funktioniert, bevor ich nach Hause komme oder ich muss auf der Couch in meinem Büro schlafen“, erzähle ich ihm.

Prez lehnt sich nach vorn und sieht mich an. „Hör mal, ich weiß, der Arzt hat dir das vermutlich schon gesagt, aber hast du dir mal überlegt, eine Pflegekraft für zu Hause anzustellen, solange du dich noch erholen musst? Mach den ganzen Scheiß nicht allein. Ich kenne dich, Reid.“

Natürlich hat der Arzt davon gesprochen. Ich war dagegen, und bin es heute noch. Der Gedanke daran, die Hilfe einer fremden Person in Anspruch zu nehmen, passt mir gar nicht. Immerhin bin ich ein erwachsener Mann. Es ist nicht einfach für mich zu akzeptieren, dass ich Hilfe brauche beim Duschen, Anziehen oder um auf die Toilette zu gehen. Das Letzte, was ich brauche, ist ein Vortrag. Ich weiß, er ist gut gemeint, aber im Moment will ich ihn nicht hören.

Prez räuspert sich und steht von seinem Stuhl auf. „Wenn der Arzt denkt, dass du Hilfe brauchst, dann solltest du sie auch annehmen. Stolz kann einem Mann zum Verhängnis werden. Tu alles, was nötig ist, um gesund zu werden“, sagt er mit fester, väterlicher Stimme.

Ich muss an meinen alten Herrn denken. Wenn er noch leben würde, würde er mir den Hintern versohlen für so viel Wut und Selbstmitleid. „Ich denke darüber nach“, antworte ich.

„Ich muss los. Ich schicke Quinn später zu dir nach Hause und gebe Nikolai Bescheid, dass er dir die Verträge heute Abend per E-Mail zur Abnahme schicken soll. Denk über das nach, was ich gesagt habe“, merkt er noch an, bevor er aus dem Zimmer marschiert und die Tür hinter sich schließt.

Ich weiß nicht, wie ich mit dem Gefühl umgehen soll, nutzlos zu sein, nicht zu wissen, wo heute noch Platz für mich in meinem Club ist. Der Club ist mein Leben. Zum Teufel, ich wusste immer, sobald ich achtzehn war, wollte ich ein Prospect des MC werden. Die Tatsache, dass mein Vater eines der Gründungsmitglieder war, machte keinen Unterschied. Die Mitglieder des Clubs behandelten mich wie jeden anderen Prospect. Es hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin und jetzt fühle ich mich wie ein Außenseiter. Was, wenn ich nie wieder auf ein Motorrad steigen kann? All diese Was-wäre-wenn-Fragen ermüden mich.

Und was wird aus meinem Privatleben? Und damit meine ich noch nicht einmal die Befriedigung meiner Bedürfnisse. Was, wenn ich nie wieder gehen kann? Es war schwer genug, mit der Angst vor Ablehnung oder Verurteilung umzugehen, als ich mein rechtes Bein verlor. Jetzt kann ich keines meiner Beine benutzen.

Es klopft an der Tür und Dr. Brown, mein Neurologe, kommt herein. „Mr. Carter, sind Sie bereit, uns heute zu verlassen?“, fragt er.

„Ja, Doc. Ich bin verdammt bereit. Wann lassen Sie mich endlich raus?“

„Die Schwester macht gerade Ihre Entlassungspapiere fertig.“ Er blickt kurz auf seine Uhr und sieht mich dann wieder an. „Ich würde sagen, es dauert noch ungefähr dreißig Minuten. Holt Sie jemand ab?“

„Ja“, antworte ich.

„Zuerst müssen wir noch einige Dinge besprechen. Sie beginnen übermorgen mit der Physiotherapie in unserer Einrichtung auf der anderen Straßenseite und das machen Sie mindestens zwei- bis dreimal die Woche. Außerdem werden wir beide uns einmal pro Woche sehen. Ich bin nicht zu hundert Prozent überzeugt, dass Sie allein klarkommen. Sie werden vielleicht professionelle Hilfe brauchen. Deshalb habe ich Ihre Daten an InCare Healthcare geschickt. Die finden jemanden für Sie, der täglich zu Ihnen kommt und Sie zu unseren Terminen fährt. Außerdem bekommen Sie Hilfe bei allen anderen körperlichen Tätigkeiten, bei denen Sie Unterstützung brauchen werden. Zumindest, bis Sie in vier Wochen den Gips abbekommen“, beendet er seinen Vortrag.

Was zum Teufel hat er sich dabei gedacht, so eine Entscheidung für mich zu treffen? Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge und versuche, mich zu beruhigen. „Ich will keine Krankenschwester, die zu mir nach Hause kommt“, sage ich und blicke ihn finster an.

Das Klingeln meines Handys hält mich davon ab, weiterzusprechen. Ich greife nach dem Telefon, das auf dem Ablagetisch auf der linken Seite des Bettes liegt und wische über den Bildschirm, um das Gespräch anzunehmen. „Was?“, belle ich ins Telefon.

„Wie geht’s, Bruder?“, fragt mich Quinn auf der anderen Seite.

„Gut, dass du anrufst, Mann. Was machst du gerade? Kannst du mich abholen? Sie lassen mich hier in ungefähr fünfundzwanzig Minuten raus.“

„Prez hat mir gesagt, ich soll zu dir nach Hause fahren, also war ich gerade dabei, auf mein Bike zu steigen und rüber zu fahren.“

Der Arzt sieht mich an und blickt ärgerlich auf seine Uhr. Der kann mich mal. Ich habe hier den ganzen Morgen gesessen und darauf gewartet, dass er seinen Arsch hierher bewegt. Es wird ihn nicht umbringen, wenn er jetzt ein paar Minuten warten muss.

„Wenn du jetzt von der Werkstatt losfährst, kannst du dir von Logan meine Schlüssel geben lassen, zu mir fahren und meinen Truck holen“, sage ich ihm.

„Mach ich. Bis gleich.“

Ich lege auf und werfe mein Handy auf das Bett. Jetzt bin ich bereit, das Gespräch mit dem Arzt fortzusetzen. Ich entschuldige mich nicht für die Unterbrechung, verschränke meine Arme vor meiner Brust, sehe ihn an und warte darauf, dass er fortfährt. Er hätte sich nicht die Freiheit herausnehmen dürfen, meine Patientenakte an InCare zu senden, ohne mich vorher zu fragen. Ich habe deutlich gemacht, dass ich mehr als bereit bin, nach Hause zu gehen. Die Tatsache, dass ich nicht gehen kann, macht mich nicht zu einem Invaliden.

„Mr. Carter, mir ist bewusst, dass Sie ein Problem damit haben, Hilfe anzunehmen, aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Sie dafür dankbar sein werden. Schon allein die Physiotherapie wird Sie körperlich und mental sehr beanspruchen. Sie werden jemanden brauchen, der sich um Sie kümmert.“

„Diese Entscheidung treffe ich selbst“, erwidere ich schroff.

Er seufzt und blättert durch die Papiere auf seinem Clipboard. Dann händigt er sie mir aus. „Hier ist ein Rezept für die Muskelrelaxanzien, die Sie nehmen müssen und eines für leichte Schmerzmittel. Das zweite Blatt ist für Ihren Termin am Ende der Woche und enthält die Nummer von InCare. Wenn Sie keine Hilfe annehmen möchten, rufen Sie sie an und stornieren Sie alles. Gehen Sie nach Hause und denken Sie vorher darüber nach. Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch anders, Mr. Carter.“ Er schüttelt mir die Hand. „Ich sehe Sie dann in einer Woche“, fügt er hinzu und geht aus dem Zimmer.

Es dauert nicht lang, bis Quinn kommt. Er hat einen Seesack dabei. „Ich wusste nicht, was du hier zum Anziehen hast, also habe ich dir ein paar Sportklamotten aus deinem Schrank mitgebracht.“

Es scheint, als sei ich nicht der Einzige mit schlechter Laune. „Danke Bruder. Was ist denn los?“, frage ich.

Er fährt mit der Hand durch sein struppiges, blondes Haar und seufzt laut. „Bin gerade Dr. Evans begegnet. Diese Frau. Ich versuche nur nett zu sein, aber sie reißt mir jedes Mal beinahe die Eier ab, wenn ich mit ihr rede. Ich verstehe es nicht. Ich bin ein netter Typ.“ Er wirft seine Hände in die Höhe.

Ja klar. Quinns Vorstellung von nett sein, beinhaltet nicht nur eine Begrüßung, vor allem nicht, wenn es um Frauen geht. „Hast du mal darüber nachgedacht, dass sie nicht auf deine endlose Flirterei steht und die Kosenamen, die du ständig verwendest? Versuch doch mal, eine ganz normale Unterhaltung mit ihr zu führen und lass deinen Mund nicht immer von deinem Schwanz steuern.“ Ich muss lachen.

Dann nehme ich den Seesack und ziehe die Sachen heraus, die er mitgebracht hat. Als ich mir das T-Shirt überstreife, antwortet er. „Mein Kopf ist total leer, wenn ich sie sehe, Mann. Flirten fällt mir leicht. Normalerweise funktioniert das.“

„Ja, wenn die Frau nur auf der Suche nach ein bisschen Spaß ist. Emerson fällt mir nicht gerade als Erste ein, wenn ich an eine Frau denke, die nur Spaß haben will“, sage ich ihm. Das weiß ich, weil ich genauso bin. Ein Getriebener. Nachdem ich ein Paar Socken angezogen habe, beginne ich damit, meine Jogginghose anzuziehen. Quinn sieht dabei zu, wie ich mich abmühe.

„Brauchst du Hilfe, Mann?“, fragt er.

„Nein, geht schon.“ Es dauert ein paar Minuten, bis ich sie hoch zu meinen Hüften gezogen habe. Dann sehe ich zu Quinn, der mich immer noch anstarrt.

„Musst du mich so anglotzen, Bruder?“

„Sorry.“ Er dreht mir den Rücken zu. „Ich kann dir helfen. Ich meine, solange du mir nicht mit deinem Schwanz im Gesicht rumwedelst, kann ich dir beim Anziehen helfen.“ Er steckt seine Hände in die Hosentaschen und wippt auf den Fersen vor und zurück.

Ich weiß, dass Quinn mir helfen will, aber das hier ist etwas anderes. Ich bin ein erwachsener Mann. Nach ein paar weiteren Versuchen habe ich es geschafft, sie ganz nach oben zu ziehen und schlüpfe in meine Schuhe. „Ich will kein Arsch sein. Ich versuche nur, das allein hinzukriegen. Außer die Schuhe.“ Ich deute auf meine Füße. „Ich kann die Scheißdinger nicht mit einer Hand zubinden.“

Er kommt zu mir und kniet sich hin. „Ich finde das nicht schlimm, Reid. Wenn du Hilfe brauchst, dann frag einfach. Das bleibt zwischen dir und mir. Ich werde niemandem was erzählen.“

„Danke. Gib mir eine Minute, um meinen Arsch in diesen Rollstuhl zu schieben und dann können wir los.“

Ein paar Minuten später habe ich mein Zeug gepackt und rolle aus der Tür. Eine Schwester begleitet mich nach unten zum Truck, den Quinn eben geholt hat. Das ist der Moment, in dem mir klar wird, dass ich es auf keinen Fall schaffe, mich in das Fahrerhaus des Trucks zu hieven.

„Ich muss dich in den Truck heben, Bruder. Ist das okay für dich?“, fragt Quinn.

Zeit, sich zusammenzureißen. Das würde mein alter Herr jetzt sagen. Plötzlich wird mir klar, wie schwer meine Genesung werden wird. „Tu, was du tun musst, Mann. Sieht aus, als müsste ich für eine Weile auf andere Transportmittel umsteigen. Auf etwas, in dem ich tief genug sitze, um selbst rein und raus zu kommen“, sage ich ihm. Nachdem ich meinen Rollstuhl so nah wie möglich an die offene Trucktür geschoben habe, lasse ich zu, dass Quinn mich in das Fahrerhaus hebt. Er sagt kein Wort, und ich bin dankbar dafür.

Ich seufze und schnalle mich an. Vermutlich werde ich die Pflegekraft wohl doch in Anspruch nehmen müssen.

***

Endlich biegen wir in die Einfahrt zu meinem Haus ein. Vor ein paar Jahren habe ich eine alte, historische Feuerwache in ein Loft-Apartment mit zwei Schlafzimmern umgebaut. Quinn blieb so lange, bis sichergestellt war, dass die Typen, die die medizinischen Geräte geliefert hatten, auch alles aufgebaut haben. Da der Handwerker den Lift repariert hat, schiebe ich mich selbst hinein und drücke den Knopf, um nach oben zu fahren, und selbst alles zu inspizieren.

„Hey Mann, wenn alles okay ist, dann geh ich mal. Logan braucht mich, um später den Laden zu schließen und ich muss noch den Ölwechsel und das Tuning an einem Bike fertig machen“, sagt Quinn, während er mit einem Sandwich in der Hand aus der Küche kommt.

„Ja, es ist alles okay“, antworte ich ihm und rolle aus dem Fahrstuhl. Er knarzt ein wenig, wenn er in Gang kommt, aber das ist in Ordnung, wenn man bedenkt, dass er noch ein Teil des ursprünglichen Hauses ist.

Auf der Fahrt nach Hause habe ich nachgegeben und bei InCare angerufen. Ich wollte meine Optionen besprechen und darüber reden, was ich selbst zu meiner Genesung beitragen muss. Dabei wurde mir gesagt, dass für mich eine 24-Stunden-Betreuung am besten wäre. Das bedeutet, dass die Person, die mir helfen soll, ein Zimmer bräuchte, und zwar mindestens für die nächsten vier Wochen, bis ich diesen verdammten Gips loswerde.

Das letzte Mal, als ich mit jemandem zusammen gewohnt habe, war mit meinem Bruder und damals waren wir Kinder. Ich habe Probleme damit, Menschen zu vertrauen und noch größere Probleme bei Frauen. Ich bin lieber allein. Dann ist alles genau so, wie ich es mag.

Quinn beißt in das Sandwich, das er in seiner Hand hält. Sofort dreht er sich um und spuckt es in das Spülbecken. „Was zum Teufel? Das schmeckt wie Scheiße.“

„Ja, klar tut es das. Das Zeug liegt seit einem Monat hier rum. Du hättest es vorher probieren sollen, du Idiot.“ Ich lache und sehe ihm dabei zu, wie er zum Mülleimer geht und das vergammelte Essen hineinwirft.

„Du brauchst Lebensmittel, Mann. Warum rufst du nicht Bella an und bittest sie, dir was vorbeizubringen?“, sagt er.

„Ich komm schon klar“, antworte ich.

„Na gut. Ruf mich an, wenn du etwas brauchst, Bruder, und sag mir morgen Bescheid, wie es läuft. Ernsthaft, ich bin froh, dass du dem Pflegedienst in den nächsten Wochen eine Chance gibst.“

„Na ja, ich verspreche nichts. Ich schau mal, wie es läuft. Bis morgen, Quinn“, sage ich als er winkt und aus der Tür verschwindet.

Die Tatsache, dass niemand mehr da ist, der mir vorschreibt, was ich zu tun habe, ist wohltuend. Mich in meiner eigenen Wohnung zu bewegen, ist viel einfacher. Mein Obergeschoss hat ein offenes Konzept. Auf der einen Seite sind die Küche und das Esszimmer. Auf der anderen befindet sich ein relativ großes Wohnzimmer mit dem ursprünglichen, offenen Kamin.

Ich begebe mich nach hinten den Flur hinunter. Früher war alles hier in einzelne, kleinere Zimmer unterteilt, um genug Stockbetten unterzubringen. Während des Umbaus habe ich so viele der alten Backsteine beibehalten wie möglich. Den industriellen Look der alten Feuerwache zu erhalten, war mir sehr wichtig. Ich ließ die Wände einreißen und habe zwei der Schlafzimmer in ein Gästezimmer verwandelt. Die anderen Zimmer am Ende des Flurs wurden zu meinem Schlafzimmer. Es ist nicht riesig oder extravagant, aber für mich reicht es. Ich fahre mit dem Rollstuhl zu meinem großen Doppelbett. Es sieht so aus, als sei der Trapezlift, den ich bestellt habe, um in das Bett und wieder herauszukommen, richtig installiert worden. Eigentlich hätte ich nicht an so etwas gedacht, aber da ich nur einen Arm benutzen kann, kam es mir praktisch vor. Ich drehe mich um und fahre in das Badezimmer. Dort sehe ich, dass die Handwerker bei der Montage der zusätzlichen Handläufe in der Dusche ausgezeichnete Arbeit geleistet haben. Eine eingebaute Sitzbank ist bereits vorhanden und ich hoffe, ich werde keine Probleme dabei bekommen, mich hinzusetzen und wieder aufzustehen.

Als ich wieder in der Küche bin, stöbere ich durch die Küchenschränke und finde mehrere Schachteln Käsemakkaroni. Also hole ich einen Topf aus dem unteren Schrank und befülle ihn mit Wasser, bevor ich es auf dem Herd zum Kochen bringe. Ich bin nicht der beste Koch. Normalerweise esse ich im Clubhaus oder hole mir etwas bei einem Imbiss. Nachdem ich mein Abendessen zubereitet habe, beschließe ich, es mit hinunter in mein Büro zu nehmen. Die untere Etage ist noch nicht ganz fertig. Das Einzige, was ich bisher gemacht habe, ist ein paar Wände für mein Büro hochzuziehen. Ich bin noch nicht sicher, was ich mit dem Rest des Raums machen soll.

Ich öffne die Tür und mache das Licht an. Wenn ich mein Büro beschreiben müsste, würde ich sagen, es sieht ein bisschen so aus wie in der Fernsehserie CSI. Mehrere Flachbildschirme hängen an der Wand vor meinem Schreibtisch, auf dem zwei Desktop-Rechner stehen. Zugegeben, ich bin ein Computer-Freak. War ich immer schon. Natürlich liebe ich den Club, mein Bike, meine Brüder und die Arbeit auf dem Bau, die ich nebenbei erledige. Aber das hier ist meine Leidenschaft. Seit ich denken kann, war ich von Technik und Kriminologie fasziniert, neben der Tatsache, dass ich immer ein Mitglied im Club sein wollte. Ich habe alles gelesen, was mit diesen beiden Themen zu tun hat. Ich habe zwar keinen Universitätsabschluss, aber mein Wissen war für den Club schon oft von Vorteil. Mann, selbst die örtliche Strafverfolgungsbehörde bittet mich ab und zu um Hilfe. Auf freiberuflicher Basis. Sagen wir einfach, aufgrund meiner Kenntnisse konnte ich über die Jahre hinweg Geld verdienen.

Kapitel 2

Mila

„Guten Morgen, Mila.“ Brittany, eine andere Krankenschwester und Kollegin, begrüßt mich, als sie auf die Schwesternstation kommt.

„Morgen, Brit“, antworte ich mit einem Lächeln und lege meine Tasche auf den Tresen. Ich sehe auf die Uhr an der Wand und merke, dass ich zehn Minuten habe, bevor meine Schicht beginnt. „Ich hole mir einen Kaffee aus der Cafeteria. Soll ich dir etwas mitbringen?“

„Nein, danke, ich habe alles.“ Brittany nimmt ihr Clipboard, dreht sich um und geht los. Plötzlich bleibt sie stehen, wirbelt herum und schnippt mit den Fingern. „Mist, das hätte ich fast vergessen. Kate möchte dich sprechen. Sie hat gesagt, du sollst in ihr Büro kommen, bevor du mit deiner Schicht beginnst.“

Kate ist unsere Vorgesetzte. Sie ist 56 Jahre alt und Mutter von fünf Kindern. Ich könnte mir keine bessere Chefin wünschen. Sie versteht die Herausforderungen, die Kinder mit sich bringen. Sie ist immer verständnisvoll, wenn eine von uns früher gehen muss oder einen Tag frei braucht, um für die Familie da zu sein.

Ich wollte schon immer Krankenschwester werden. Meine Großmutter war auch eine. Ich erinnere mich daran, welche Freude sie empfand, wenn sie sich um andere kümmerte. Von klein auf wusste ich, dass das, was meine Großmutter tat, wichtig war. Ihre Arbeit veränderte das Leben anderer Menschen.

Und das wollte ich auch – etwas verändern. Meine Eltern waren allerdings überhaupt nicht begeistert. In ihren Augen ist das, was ich tue, minderwertig. Zu sagen, dass ich eine Enttäuschung für sie bin, wäre untertrieben. Ich sollte nach Harvard gehen und in die Fußstapfen meiner Eltern treten oder zumindest einen reichen Kerl heiraten. Aber für einen Ehemann stets parat zu stehen und zu Botox-Lunch-Dates mit den Ehefrauen der Firmenpartner zu gehen, ist nicht meine Vorstellung vom Leben.

Meine Eltern schickten mich jeden Sommer zu meiner Großmutter. Sobald die Schule aus war, setzten sie mich in ein Flugzeug nach Montana. Sie wollten ihr Kind nicht um sich haben. Gott bewahre, dass sie Zeit mit ihrer Tochter verbringen mussten. Seit ich mich erinnern kann, verbrachte ich jeden Sommer bei meiner Großmutter. Und dann waren meine Eltern geschockt, dass ich wie sie wurde. Ohne meine Großmutter hätte ich niemals erfahren, was es heißt, geliebt zu werden. Meine Eltern glaubten, dass Kinder gesehen, aber nicht gehört werden sollten. Meine Großmutter hingegen glaubte, dass Kinder Gottesgeschenke sind und man dankbar für sie sein sollte. Die Art, wie meine Großmutter mich liebte, als ich ein Kind war, hat aus mir die Mutter gemacht, die ich heute bin. Meine Tochter Ava bedeutet mir alles und ich zeige ihr immer, wie sehr ich sie liebe. Ich hätte nie gedacht, dass ein One-Night-Stand mein Leben für immer verändern würde.

Als ich mit neunzehn Jahren herausfand, dass ich schwanger war, boten mir meine Eltern zwei Optionen an: Abtreibung oder Adoption. Ich wählte die Adoption. Nur, dass ich sie am Ende nicht durchziehen konnte. Meine Eltern gaben sich große Mühe, mich und meine Schwangerschaft zu verbergen. Ich sollte mein Baby bekommen, sie den Adoptiveltern übergeben und dann einfach mit dem Leben weitermachen, das sie für mich geplant hatten. So, als sei nichts geschehen. Ich war im Krankenhaus und es dauerte noch Stunden, bis meine Tochter geboren werden würde, als sie mir die Adoptionspapiere unter die Nase hielten. Ich habe diese Dokumente eine Stunde lang angestarrt. Meine zitternde Hand hielt den Stift über der Zeile mit der Unterschrift. Ich wusste, dass ich die Entscheidung, meine Tochter wegzugeben, für den Rest meines Lebens bereuen würde. Sie war ein Teil von mir und ich liebte sie bereits. Meine Mutter bemerkte mein Zögern und sagte mir, ich solle die Papiere unterzeichnen. Wenn ich es nicht täte, wäre ich auf mich allein gestellt. „Dein Vater und ich wollen dann nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Zwei Tage später saßen Ava und ich in einem Bus nach Montana, wo meine Großmutter uns mit offenen Armen empfing. Ich war nie glücklicher als in diesem Moment. Das war vor vier Jahren und ich habe seitdem nicht mehr mit meinen Eltern gesprochen.

Meine Mutter meldet sich noch nicht einmal bei ihrer Mutter. Großmutter hat seit einigen Jahren Alzheimer und vor sechs Monaten musste ich die schwere Entscheidung treffen, sie in ein Heim zu bringen. Der Tag, an dem ich feststellte, dass ich mich nicht länger selbst um sie kümmern konnte, war der schlimmste in meinem Leben. Als Großmutter die Diagnose erhielt, nahm sie mir das Versprechen ab, mich nicht mit ihrer Pflege zu belasten. Ich sagte ihr, dass ich ihr das niemals versprechen würde. Als es soweit war, dass ich ein Pflegeheim für sie aussuchen musste, habe ich die beste Einrichtung gewählt, die wir in der Gegend hatten. Die Versicherung zahlt einen gewissen Anteil, aber ich muss immer noch jeden Monat eine heftige Summe beisteuern. Deshalb mache ich Überstunden, wann immer es geht. Für Großmutter ist das Beste gerade gut genug, egal, was es kostet.

Mit dem Gedanken, vor meiner Schicht noch einen Kaffee zu trinken, gehe ich in die Richtung von Kates Büro. Ich klopfe und warte auf das Zeichen, dass ich eintreten soll. „Komm rein!“, ruft sie. Ich öffne die Tür. Meine Chefin sitzt am Computer und tippt irgendetwas.

„Du wolltest mich sehen?“, frage ich.

Kate blickt vom Bildschirm auf, nimmt ihre Brille ab und legt sie vor sich auf den Tisch. „Das wollte ich. Bitte komm rein und setz dich, Mila.“

Ich gehe hinein und schließe die Tür hinter mir. „Ist alles okay?“, frage ich und setze mich auf den Stuhl vor ihrem Tisch.

Sie seufzt. „Leider nein. Ich hasse es, dass ich das tun muss, aber das Krankenhaus nimmt Kürzungen vor und bedauerlicherweise fangen sie bei den Krankenschwestern an. Ich bin leider gezwungen, zwei Schwestern zu entlassen. Du warst eine der letzten, die eingestellt wurden und bist damit eine der ersten, die ich entlassen muss. Es tut mir leid, Mila. Ich hoffe, das weißt du.“

Scheiße!

Was soll ich denn jetzt tun? Das habe ich nicht erwartet, als ich heute Morgen zur Arbeit kam. Ich reibe meine schwitzigen Hände an meinen Beinen ab und nicke. „Ich verstehe, Kate. Ich weiß, dass du nichts dafür kannst. Sagst du mir Bescheid, wenn ich zurückkommen kann? Ich arbeite gern hier.“

„Ich denke, ich habe da etwas, das dich interessieren könnte“, sagt sie und wühlt in den Papieren auf ihrem Schreibtisch herum. Als sie gefunden hat, was sie sucht, gibt Kate mir die Papiere. Ich beuge mich über ihren Tisch und nehme verwundert die Akte entgegen.

„Als mir dieser Fall heute Morgen übergeben wurde, habe ich sofort an dich gedacht. Ich weiß, dass du einen Kurs in häuslicher Pflege belegt hast, als deine Großmutter ihre Diagnose bekam, also bist du perfekt für diesen Job qualifiziert. Der Patient muss zu Hause betreut werden. Er hatte vor etwa einem Monat einen Unfall, bei dem er von einem Auto angefahren wurde.“

Mein Kopf schnellt in die Höhe, als sie „von einem Auto angefahren wurde“ sagt. Ist er es?

Ich blicke auf den Ordner auf meinem Schoß und schlage ihn auf.

Name des Patienten: Reid Carter.

Mein Mund wird trocken, als ich seinen Namen lese. Ich habe Reid nur ein paar Mal getroffen. Alle Mitglieder des Clubs machen mich ein wenig nervös. Sie sind so raubeinig wie warmherzig und nicht zu vergessen: wahnsinnig attraktiv. Vor allem der, um den es hier geht. Reid ist mindestens eins achtzig groß und breitschultrig. Einer seiner Arme ist mit farbigen Tattoos bedeckt und einige davon ragen aus dem Kragen seiner Shirts an seinem Hals hervor. Außerdem hat er honigfarbenes Haar und grüne Augen, die mein Herz höherschlagen lassen, wenn er mich ansieht. Jedes Mal, wenn ich ihn traf, war er sehr still. Ein kurzer Gruß, mehr nicht. Kein wirkliches Gespräch. Ich nehme es ihm aber nicht übel. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er eher ein Beobachter ist. Er mag es, Leuten zuzusehen.

Ich lese Reids Akte und höre Kate zu, als sie von den Verletzungen spricht. Schwellungen an der Wirbelsäule und ein gebrochener Arm. „Der Patient hat seine Mobilität in einem Bein teilweise verloren, weil die Schwellung auf die Nerven in der Wirbelsäule drückt. Er wird anfangs zwei- bis dreimal zur Physiotherapie gehen. Du müsstest ihn zu den Terminen fahren. Er kann noch nicht selbst hinters Steuer.“

„Was ist mit seinem rechten Bein? Du hast gesagt, er hat seine Mobilität im linken Bein eingebüßt. Kann er denn das rechte Bein bewegen?“, frage ich Kate.

Sie schüttelt den Kopf und antwortet: „Dem Patienten wurde nach einem früheren Unfall das rechte Bein unterhalb des Knies amputiert. Sein Arzt sagt, Mr. Carter hat wohl ein Kribbeln auf dieser Seite gespürt, aber er kann es nicht bewegen. Mit seiner Prothese wird seine Therapie etwas komplizierter.“

Ich bin geschockt. Ich wusste nicht, dass Reid eine Prothese trägt. Bella und Alba hatten es nie erwähnt. Aber warum sollten sie auch? Sie hatten keinen Grund dazu. Als ich Kate meinen Namen sagen höre, wende ich mich wieder ihr zu. „Da ist noch etwas, das du wissen solltest, bevor du den Job annimmst.“

Sie hat meine volle Aufmerksamkeit. „Was denn?“

„Mila, der Job muss in Vollzeit ausgeführt werden. Das heißt, du musst dort wohnen. Mr. Carter braucht eine 24-Stunden-Betreuung.“ Ich will gerade protestieren, aber Kate ist schneller. „Ich weiß, du hast deine Tochter, aber triff Mr. Carter wenigstens. Vielleicht findet ihr eine Lösung, die für euch beide passt.“

„Kate, es gibt nur Ava und mich. Ich habe niemanden, der mir mit meiner Tochter helfen könnte. Sie ist tagsüber im Kindergarten, aber ich bin sicher, dass sich niemand eine Pflegekraft mit einem Kind ins Haus holt. Ich würde das auch gar nicht erwarten.“

„Wärst du bereit, Mr. Carter zu treffen, um herauszufinden, ob ihr beide zusammenpasst? Wenn alle Stricke reißen, versuche ich eine andere Pflegerin zu finden, die über Nacht bleibt. Aber es kann ein paar Wochen dauern, bis ich jemanden gefunden habe. Ist das okay?“

Etwas atemlos stimme ich zu. „Okay, ich versuche es.“ Zu diesem Zeitpunkt habe ich keine Wahl. Ich brauche den Job.

„Großartig. Mr. Carters Adresse ist in der Akte. Sei morgen in aller Frühe da.“

Ich nicke und stehe auf, um zur Tür zu gehen. Als ich zum Türknauf greife, drehe ich mich noch einmal zu Kate um. „Hat Reid, ich meine, Mr. Carter, eine Ahnung davon, wer seine Pflegerin sein wird?“

„Nein. Ich habe seinen Fall ja erst heute Morgen bekommen und noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu reden. Aber er erwartet dich morgen früh.“

„Okay. Danke, Kate. Ich melde mich morgen bei dir, nachdem ich bei ihm war.“ Sie lächelt und ich verlasse ihr Büro.

Nachdem ich die Tür geschlossen habe, mache ich drei Schritte, dann lehne ich mich gegen die Wand und presse Reids Akte an meine Brust, während ich einmal tief Luft hole. „Das ist keine große Sache, Mila. Du schaffst das. Er ist nur ein Patient“, sage ich zu mir selbst. Ein verdammt heißer Patient, der noch dazu ein Mitglied der Kings ist. Ich habe das Gefühl, dass mir diese Sache über den Kopf wachsen wird.

Nachdem ich in der Schwesternstation meine Handtasche geholt und Brittany kurz erzählt habe, was passiert ist, beschließe ich, den Tag mit Großmutter zu verbringen.

Als ich in ihr Zimmer komme, schenkt mir Joni, ihre Tagespflegerin, ein warmes Lächeln.

„Was für eine schöne Überraschung! Normalerweise sehen wir dich hier nicht so früh. Wie geht es dir, Liebes?“, fragt sie und umarmt mich. Ich verehre Joni. Sie ist Ende fünfzig und ein warmherziger Mensch. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, begrüßt sie mich mit einem Lächeln und einer Umarmung.

„Ich arbeite heute nicht, also dachte ich, ich schaue bei Großmutter vorbei und bleibe eine Weile bei ihr. Wie geht es ihr denn heute?“

Sie tätschelt meinen Arm. „Sie ist okay. Sie schläft schon fast den ganzen Morgen. Die Nacht war ein bisschen schwierig, sie wird vermutlich noch etwas länger brauchen.“ Ich muss nicht fragen. Ich weiß, was Joni mit „ein bisschen schwierig“ meint. Großmutter wacht dann mitten in der Nacht auf, schreit und sucht verzweifelt nach ihrem Mann. Ihr dann sagen zu müssen, dass mein Großvater nicht mehr da ist, ist herzzerreißend. Er starb vor zehn Jahren an einem Herzinfarkt. Und jetzt fühlt es sich jedes Mal so an, als würden wir ihn erneut verlieren, wenn Großmutter so einen Anfall hat.

Ich seufze und sehe hinüber zu ihrem zerbrechlichen Körper. Sie liegt in ihrem Bett und schläft tief und fest. Ich hasse es, dass die Frau, die wie eine Mutter für mich war und mich zu der Mutter gemacht hat, die ich heute bin, diese furchtbare Krankheit erleiden muss. Und ich kann rein gar nichts dagegen unternehmen.

„Ich setze mich einfach eine Weile zu ihr, wenn das okay ist“, sage ich zu Joni.

„Natürlich, Liebes. Ich komme gleich wieder, um nach ihr zu sehen“, antwortet sie, als sie aus dem Zimmer schlüpft.

Ich gehe zu dem Stuhl neben dem Bett meiner Großmutter und ziehe ihn etwas näher heran, bevor ich mich setze. Ich lege meine Hand auf die ihre und beobachte, wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt. „Ich vermisse dich so sehr, Großmutter“, sage ich und lege meinen Kopf neben sie.

***

Am nächsten Morgen renne ich durch das Haus und versuche gleichzeitig, mich fertig zu machen und Ava aus der Tür zu bekommen. Ich habe verschlafen. Das passiert mir nie. Ich möchte am ersten Tag meines neuen Jobs nicht unprofessionell wirken. Ich möchte nicht, dass Reid einen schlechten Eindruck von mir bekommt. Ich nehme meine Arbeit sehr ernst.

„Ava!“ Ich brülle über den Flur. „Wir müssen los, Liebling.“ Ich muss lächeln, als ich sehe, wie mein kleines Mädchen kichernd durch den Flur rennt und ihre blonden Locken dabei auf und ab hüpfen.

„Ich bin fertig, Mama“, verkündet sie und sieht mich mit ihren großen, blauen Augen an. Mein Baby sieht mir überhaupt nicht ähnlich. Ich habe sehr helle Haut, lange, glatte, schwarze Haare und helle, mandelförmige Augen, die die Farbe von Bernstein haben. Die Leute sagen mir ständig, dass meine Augen sie an die einer Katze erinnern. Avas Haut ist immer wie von der Sonne geküsst, sie hat wunderschöne, blonde Locken und große, blaue Augen. Genau wie ihr Vater.

Meine Tochter hat einen offenen Charakter und sagt für gewöhnlich immer genau, was sie denkt. Ich dagegen behalte meine Gedanken eher für mich. Vermutlich habe ich das bereits als Kind gelernt. Meine Eltern interessierten sich nicht für meine Meinung. Was ich dachte oder was ich wollte, war unwichtig. Deshalb liebe ich Avas Mut. Ich möchte, dass sie sagt, was sie denkt und was sie fühlt.

Ich erinnere mich an den ersten Sommer, den ich bei meiner Großmutter verbrachte. Ich habe kaum gesprochen. Sie versuchte, mit mir zu reden, doch ich antwortete ihr nur mit einzelnen Wörtern. Als ich sechs war, erklärte mir meine Großmutter, dass ich bei ihr frei sprechen dürfe und dass sie alles an mir interessiere. Was ich am liebsten im Fernsehen sah, was für Sachen mir Spaß machten und wie mir die Schule gefiel. Sie wollte einfach alles wissen.

Als ich älter wurde, vertraute sie mir an, wie weh es ihr getan hatte, mitansehen zu müssen, dass sich meine Mutter veränderte, nachdem sie meinen Vater getroffen hatte. Es dauerte nicht lange, bis meine Mutter begann, sich für ihre Familie zu schämen und so tat, als wäre sie etwas Besseres. Großmutter sagte, dass sie nur meinetwegen versuche, den Frieden mit meiner Mutter zu wahren. Sie wusste, dass sie mich nie wieder sehen würde, wenn sie sich nicht mit meinen Eltern arrangierte. Ich allerdings denke, dass es andersherum war. Ich glaube, dass meine Eltern die Beziehung zu meiner Großmutter nur aufrecht hielten, damit sie einen Ort hatten, wo sie mich abladen konnten, wenn sie mich nicht bei sich haben wollten. Ich wollte mir nie anmerken lassen, wie sehr ich es liebte, nach Montana zu kommen. Ich hatte immer Angst, dass sie merken würden, wie glücklich ich hier war und es mir dann wegnehmen würden.

Etwas zieht an meinem Ärmel und ich schüttle die Gedanken ab. „Mama, dein Gesicht sieht komisch aus.“

Ich sehe zu Ava hinunter und strecke ihr die Zunge raus. „Dein Gesicht sieht komisch aus.“ Ich wuschle ihr durch die Haare und nicke mit dem Kopf in Richtung der Tür. „Komm, du albernes Mädchen, lass uns gehen, bevor wir zu spät kommen.“

Dreißig Minuten, nachdem ich Ava beim Kindergarten abgesetzt habe, stehe ich vor Reids Haus. Verwirrt sehe ich aus dem Auto auf das Gebäude vor mir und dann auf die Adresse in der Akte. Ja, ich bin richtig. Doch das hier ist kein Haus oder Apartment. Ich stehe vor einer alten Feuerwache mit zwei großen Rolltoren, die typisch für so ein Gebäude sind. Auf der Seite des Gebäudes sind Treppen, die zu einer metallenen Tür führen. Ich denke, ich probiere es damit.

Nachdem ich aus dem Auto gestiegen bin, hänge ich mir meine Tasche über die Schulter und mache die Tür zu. Ich halte mich nicht damit auf, abzuschließen. Mein Auto ist eine verrostete, alte Kiste, in ihren letzten Zügen. Auch wenn dieser Teil der Stadt ein wenig heruntergekommen aussieht, mache ich mir keine Sorgen, dass es jemand stehlen könnte. Außerdem wäre wohl niemand so bescheuert, irgendein krummes Ding vor dem Haus eines MC-Mitglieds abzuziehen.

Als ich ganz oben auf der Treppe ankomme, sehe ich nach rechts und bemerke eine Kamera, die direkt auf mich gerichtet ist. Ich habe gehört, wie Bella einmal sagte, dass Reid ein Technik-Freak sei, also bin ich mir ziemlich sicher, dass ich hier richtig bin. Er hat vermutlich überall Kameras installiert. Ich drücke auf den Knopf neben der Tür und warte. Ich klingle noch weitere fünf Mal, bis die Tür endlich aufgeht und ich einem sehr gutaussehenden und sehr angepisst wirkenden Reid gegenüberstehe.

Kapitel 3

Reid