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Sam McGregor widersetzte sich den Erwartungen seines Vaters und verließ seine Heimat Texas, um ein neues Leben zu beginnen. Seine Freundschaft zu Alba führte ihn nach Polson, Montana, wo er sich dem Kings of Retribution MC anschloss. Sam fand hier alles, wonach er suchte, bis Sofia Torres in sein Leben trat. Sofias Schicksal war besiegelt, als ihr Vater ein Verbrechen gegen einen kriminellen Outlaw Motorradclub beging. Durch Stärke und Entschlossenheit überlebte sie alle Höllenqualen, die ihr die skrupellosen Los Demonios zufügten, bis sie zu den Kings of Retribution kam und eine neue Familie fand. Sie baute ihr Leben in Polson neu auf, aber Sofia hätte nie erwartet, dass sie sich in einen Biker verlieben könnte. Doch dann werden Sofia und der Club bedroht und alle Menschen, die Sam so wichtig geworden sind, schweben in Gefahr. An der Seite seiner auserwählten Familie schwört er, die Frau, die er liebt, und seinen Club zu beschützen, koste es, was es wolle ... Willkommen in der aufregenden Welt des Kings of Retribution Motorcycle Clubs! Die USA-Today-Bestsellerautorinnen Sandy Alvarez und Crystal Daniels entführen euch zum siebten Mal in eine Welt, in der die Regeln der Straße herrschen und die Loyalität der Bruderschaft über allem steht.
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Seitenzahl: 309
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Sandy Alvarez & Crystal Daniels
Kings of Retribution MC Teil 7: Prospect
Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Svenja Ohlsen
© 2018 by Sandy Alvarez & Crystal Daniels unter dem Originaltitel „Prospect (Kings of Retribution MC Book 7)“
© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels
www.plaisirdamour.de
© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg
(www.art-for-your-book.de)
ISBN Print: 978-3-86495-658-4
ISBN eBook: 978-3-86495-659-1
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch oder Ausschnitte davon dürfen ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers nicht vervielfältigt oder in irgendeiner Weise verwendet werden, außer für kurze Zitate in einer Buchbesprechung.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog
Autorinnen
Sam
Wenn mir jemand vor ein paar Jahren gesagt hätte, dass ich heute dort stehen würde, wo ich jetzt bin, hätte ich ihm ins Gesicht gelacht. Das ist das Merkwürdige am Leben: Es läuft nie nach Plan. Ich habe vor verdammt langer Zeit gelernt, dass man die Zukunft nicht vorausplanen kann, denn in dem Moment, in dem man glaubt, alles im Griff zu haben, wird man mit voller Wucht aus der Bahn geworfen. Diese Entgleisung hinterlässt in den meisten Fällen eine Spur der Zerstörung.
Allerdings habe ich auch gelernt, dass am Ende der Zerstörung immer eine Belohnung wartet. Wir müssen ab und zu durch die Hölle auf Erden gehen, um die Erlösung zu finden, die unser Schöpfer für uns vorgesehen hat. Meine Belohnung? Der Kings of Retribution MC. Der Club ist für mich meine Familie, mehr noch als die, mit der ich mein Blut teile. Die Kings sind mein Zuhause geworden. Ich verließ Texas, sobald ich die Highschool abgeschlossen hatte. Solange ich mich erinnern kann, wollte ich nie die gleichen Dinge im Leben wie mein Vater. Ich wusste auch, dass er sich einen Dreck darum scherte, was ich mir für mich wünschte, und dass er meine Zukunft seit dem Tag meiner Geburt durchgeplant hatte.
Eine Sache, mit der mein Vater nicht rechnete, war, dass sein einziger Sohn keinerlei Ambitionen hatte, seine Marionette zu spielen. Ich habe mir in der Highschool den Arsch aufgerissen beim Football, einem Sport, den ich nicht besonders mochte, bei dem ich jedoch schnell merkte, dass ich Talent hatte. Ich nutzte meine Fähigkeiten, um mir ein Vollstipendium für drei verschiedene Colleges meiner Wahl zu sichern. Ich entschied mich für die Universität, die am weitesten von zu Hause entfernt war: die Montana State University. Es wäre noch untertrieben zu sagen, dass mein Vater völlig durchgedreht sei. Er interessierte sich wenig für meine Football-Karriere und hatte keine Ahnung, wie gut ich war. Er ging immer davon aus, dass ich das tun würde, was von mir erwartet wurde, nämlich auf seine Alma Mater, die Texas State University, gehen würde. Als er von meinem Stipendium erfuhr und dass ich ihn sowie sein Geld nicht mehr bräuchte, schlug er einen ganz anderen Ton an. Mein Vater schob vor, ich müsse mich erst einmal austoben, bevor ich nach Texas zurückkehren und meinen Platz im Familienunternehmen neben ihm einnehmen würde. Ich verließ das Haus, in dem ich aufgewachsen war, kletterte in den Transporter, den meine Mutter ein Jahr vor ihrem Tod für mich gekauft hatte und machte mich auf die zweitägige Fahrt nach Bozeman, Montana. Seitdem habe ich nicht mehr zurückgeblickt.
Wenn ich jetzt zurückdenke, kann ich nicht glauben, dass ich mein letztes Jahr an der Highschool und mein erstes Jahr am College überlebt habe. Die Art und Weise, in der mein Leben in den zwei Jahren nach dem Tod meiner Mutter außer Kontrolle geriet, erfüllt mich mit Bedauern. Im Sommer vor meinem zweiten Jahr an der Bozeman University änderten sich die Dinge für mich. Mein Alkoholkonsum lief völlig aus dem Ruder. Ich erschien jeden Tag verkatert zur Vorlesung und zum Footballtraining. Zur Hölle, manchmal war ich sogar noch betrunken. Bei meinem Trainer war ich auf dünnem Eis und meine Professoren hatten mich längst aufgegeben. Aber das war mir egal. Ich wollte vergessen. Ich versuchte, den Schmerz über den Verlust meiner Mutter zu verdrängen. Meine Mutter war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie war eine Konstante – die einzige Person, auf die ich mich immer verlassen konnte. Die Wahrheit war, dass ich nicht wusste, wie ich mit ihrem Tod umgehen sollte und Verdrängung schien mir zu diesem Zeitpunkt die beste Lösung zu sein. Der Wendepunkt meiner Abwärtsspirale war die Nacht, in der ich beschloss, meinen Schnaps mit Koks zu mischen. Die ganze Nacht war nur noch verschwommen. Am nächsten Morgen wachte ich nackt im Bett eines Fremden auf, genauer gesagt von zwei Fremden: einem Typen und seiner Freundin.
Da wusste ich, dass mein Alkoholkonsum zu weit gegangen war. Sicher, ich hatte mit mehr Frauen geschlafen, als ich zählen kann; Frauen, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnern konnte. Aber mit einem anderen Mann aufzuwachen? Sagen wir einfach, das war ein gewaltiger Weckruf für mich. Der Typ und seine Freundin versicherten mir, dass wir zwar seine Freundin geteilt hätten, aber dass zwischen ihm und mir nichts passiert sei, und ich glaubte ihnen. Es geht nicht nur darum, dass ich nackt neben einem Mann aufgewacht bin, sondern auch darum, dass ich Sex hatte, ohne mich daran zu erinnern und nicht wusste, ob ich verhütet hatte oder nicht. Nachdem ich wieder nüchtern geworden war, ließ ich mich als Erstes in der Klinik durchchecken. Die folgende Woche, in der ich auf meine Ergebnisse wartete, war die längste meines Lebens. Glücklicherweise waren meine Tests sauber. Von diesem Moment an hörten das exzessive Trinken und der wahllose Sex auf. Ich musste die Kontrolle über mich zurückgewinnen.
Als das neue Semester begann, lernte ich Alba kennen. Ich weiß nicht, was mich dazu veranlasste, sie an diesem Tag im Unterricht anzusprechen und ein Gespräch zu beginnen. Ich wusste nur, dass da ein schüchternes Mädchen war, das aussah, als sei es hier irgendwie fehl am Platz, so ähnlich wie ich. Deshalb fühlte ich mich wohl auch zu ihr hingezogen. Aber nicht in dem Sinne, dass es zwischen uns funkte, sondern, dass sie genau die Art von Freundin war, die ich brauchte. Ich merkte vom ersten Moment an, dass sie nicht so wie die anderen Mädchen in der Schule war, die um uns Sportler herumschawänzelten, um zu punkten. Nein, dieses Mädchen brauchte einen Freund, genau wie ich. Und so begann unsere Freundschaft, obwohl ich sagen würde, dass Alba eher wie eine Schwester für mich ist. Ich glaube, es war Schicksal, dass wir uns gefunden haben. Dank ihr bin ich heute dort, wo ich stehe.
Einige Umstände in Albas Leben führten dazu, dass sie das College abbrach und nach Polson zurückkehrte. Nicht lange, nachdem sie Bozeman verlassen hatte, brach ich die Uni ab und folgte ihr. Genau wie für meine beste Freundin war die Hochschule nichts für mich. Alba machte mich mit ihrer Familie bekannt, die zufälligerweise Biker waren. Sie ist jetzt mit einem von ihnen verheiratet, Gabriel Martinez. Gabriel ist der Enforcer des Kings of Retribution MC. Dann gibt es noch den Präsidenten der Kings, Jake, den Vizepräsidenten, Logan, den Sergeant-at-Arms, Quinn, und den Road Captain, Reid. Außerdem gehören noch Bennett und seine Frau Lisa dazu. Bella ist Albas Schwester und sie ist zudem die Frau von Logan. Reid ist mit Mila verheiratet, Quinn mit Emerson und Jake mit Grace. Ein paar der anderen Jungs wie Blake, Grey und Austin sind immer noch Single. Nimmt man all ihre Kinder dazu, hat man die gesamte Kings-Familie. Und dann ist da noch das wichtigste Mitglied der Kings. Das Mädchen, von dem ich regelrecht verzaubert bin.
Sofia Torres. Mein Glühwürmchen.
Das erste Mal, als ich Sofia sah, war ein paar Wochen nach meinem Umzug nach Polson. Bella, Albas Schwester, veranstaltete ein Familienessen in ihrem und Logans Haus. Die Sonne war gerade untergegangen und alle saßen im Garten zusammen, tranken Bier und unterhielten sich. Ich saß auf der Terrasse neben Alba, als eine einsame Gestalt, die allein am Ufer des Sees stand, meine Aufmerksamkeit erregte. Das Mädchen, das mir den Rücken zuwandte, war ein Meter siebzig groß und hatte langes dunkles Haar, das ihr fast bis zur Taille hing. Irgendetwas an dieser Frau sprach mich an. Wie auf Autopilot erhob ich mich von meinem Platz und ging über den Hof in ihre Richtung. Ich erinnere mich schwach daran, dass Alba mir ihren Namen gesagt hatte: Sofia. In diesem Moment hörten alle Geräusche um mich herum auf zu existieren. Der einzige Klang, der zu hören war, war das Klopfen meines eigenen Herzens. Als ich etwa drei Meter von Sofia entfernt war, blieb ich stehen und betrachtete sie.
Da sie mir immer noch den Rücken zuwandte, konnte ich nur ihren Umriss sehen. Ich beobachtete, wie sie staunend die Glühwürmchen betrachtete, die über dem See tanzten. Als sie eine Minute später meine Anwesenheit spürte und mit einem strahlenden Lächeln zu mir herüberschaute, fühlte ich mich, als hätte ich einen Schlag in den Magen bekommen. Es war nicht nur Sofias Schönheit, die mich sprachlos machte; es war die Art, wie sie bei etwas so Schlichtem wie dem Beobachten von Glühwürmchen erstrahlte.
Ich gehe vom Gas, fahre vor Graces Bäckerei vor, parke und steige ab. Was soll ich sagen, der Club hat abgefärbt. Ich habe mir letztes Jahr eine Harley gekauft und die Maschine ist ein Teil von mir geworden. In der Highschool hatte ich eine Kawasaki Ninja 300. Meine Freunde und ich sind damit an den Wochenenden Rennen gefahren. Damals war das eher ein Hobby. Ich bin jahrelang kein Motorrad mehr gefahren, aber als ich mit den Jungs zusammen war, merkte ich, wie sehr ich es vermisste. Die Jungs von Kings Custom hatten das Motorrad gekauft, als es nur noch ein metallener Schrotthaufen war. Sie lieben es, alte Schätze zu finden, sie zu reparieren und zu verkaufen. Als das Bike fertig war, wusste ich auf Anhieb, dass es mir gehören sollte. Jake und die anderen Männer haben mich nicht zurückgewiesen, als ich sie darauf ansprach. Ich dachte mir, dass sie das tun würden, da ich wusste, wie die meisten Leute in der Stadt mich sahen. Ich war ein College-Schnösel, irgendein Kerl, der mit einer ihrer Old Ladys befreundet war. Aber zu meiner Überraschung klopfte mir Jake auf die Schulter und sagte: „Geht klar, Junge.“
In dem Moment wurde mir bewusst, dass die Jungs keine Vorurteile gegen mich hegten. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von meiner besten Freundin sagen. Nicht, dass ich sauer wäre. Es ist schon verdammt lustig. Es war Jake, der eines Tages auf einer Familienfeier zu mir kam und mir erzählte, dass Alba und unsere Freundin Leah den anderen erzählt hatten, ich sei schwul. Ich habe mich fast an meinem verdammten Bier verschluckt, als diese Worte aus seinem Mund kamen. Aber der Präsident der Kings of Retribution war nicht gekommen, um meine sexuelle Präferenz herauszufinden, sondern um mir damit zu drohen, mir die Eier abzureißen, sollte ich Sofia verletzen. Anscheinend war mein Interesse an meinem Glühwürmchen nicht unbemerkt geblieben. Ich sagte Jake und den anderen Männern, dass sie nichts zu befürchten hätten. Ich würde eher sterben, als dass ich zulassen würde, dass irgendetwas oder irgendjemand Sofia etwas antut.
Als ich die Bäckerei betrete, macht die Klingel über der Tür Grace auf meine Ankunft aufmerksam. „Guten Morgen, Sam.“
„Guten Morgen, Grace.“
„Das Übliche?“, fragt sie.
„Ja, Ma’am.“ Grace schenkt mir ein warmes Lächeln, während sie zwei Schokocroissants in eine kleine Tüte packt und sie mir überreicht. Nachdem ich meinen Einkauf bezahlt habe, nicke ich ihr zu. „Wir sehen uns dann morgen.“
„Tschüss, Sam.“
Ich steige auf mein Motorrad, starte es und mache mich auf den Weg zum New Hope House. Sofia hat mit der Stiftung Erstaunliches geleistet. Sie lässt sogar zusätzliche Räumlichkeiten an das Haus anbauen. Kings Construction ist für das Projekt verantwortlich. Ich wurde dort eingestellt, als ich nach Polson zog. Nachdem ich die Uni abgebrochen hatte, arbeitete ich ein paar Monate lang für ein Bauunternehmen in Bozeman. Da Reid von Anfang an von meiner Arbeit beeindruckt war, beschloss er, mich mit dem Projekt im New Hope House zu betrauen.
Wie immer bin ich der Erste, der zu Sofia kommt. Als ich mich gerade in Richtung Hinterseite des Hauses bewege, klingelt mein Handy. Ich ziehe es aus meiner Tasche und gehe ran. „Ja?“
„Ich brauche dich im Büro“, lautet Reids knappe Antwort.
„Bin auf dem Weg.“
Ich lege den Hörer auf, gehe die Treppe zur hinteren Veranda hinauf und lege die Tüte mit den Schokocroissants auf das Geländer.
Fünfzehn Minuten später spaziere ich in die Büroräume der Kings Construction, als mich meine Freundin und Mitbewohnerin Leah begrüßt.
„Reid wartet in seinem Büro auf dich“, sagt sie in leisem Ton. Alba und ich haben Leah an der Universität kennengelernt. Sie ist der Hauptgrund, warum ich nach Polson gezogen bin. Lange Rede, kurzer Sinn: Leah versteckt sich vor ihrem Vater. Ihre Geschichte muss sie selbst erzählen, aber sie lebt hier in Polson unter dem Schutz des Clubs und meiner Wenigkeit.
Ich klopfe an Reids Bürotür. „Du wolltest mich sehen?“
„Ja, komm rein“, nickt er und ich setze mich auf den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch.
„Wir haben gestern einen neuen Vertrag unterzeichnet. Erinnerst du dich an den Typen, für dessen Ferienanlage wir gearbeitet haben?“, fragt Reid und ich bejahe. „Nun, er hat beschlossen, dass er ein Haus bauen will. Es hat sich herausgestellt, dass er ein Stück Land am See gekauft hat und möchte, dass wir das Projekt leiten.“
„Das ist großartig. Was brauchst du von mir?“
„Ich weiß, dass du im New Hope House viel zu tun hast, aber ich möchte, dass du mit Nikolai zur Baustelle fährst und dich mit dem Architekten triffst. Du hast bewiesen, dass du ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Firma bist, und ich würde dich gerne in andere Aspekte der Arbeit einbeziehen. Ich möchte, dass du das nächste Projekt zusammen mit Nikolai leitest. Die Bauarbeiten werden erst in ein paar Monaten beginnen, sodass du Zeit haben wirst, bei Sofia fertig zu werden. In der Zwischenzeit möchte ich, dass du alle Vorgänge rund um das O’Connell-Projekt mitverfolgst“, sagt Reid abschließend.
Ich verberge meine überraschte Miene so gut es geht, stehe auf und reiche Reid meine Hand. „Danke für diese Möglichkeit. Ich werde dich nicht enttäuschen.“
Als ich Reids Büro verlasse und nach vorne gehe, treffe ich auf den sehr konzentriert wirkenden Nikolai. Er scheint mich gar nicht wahrzunehmen. Nikolais ganze Aufmerksamkeit gilt im Augenblick meiner Freundin. Er steht vor ihrem Schreibtisch und macht sich keine Mühe, die Tatsache zu verbergen, dass er Leah anstarrt, die sich unbehaglich zu fühlen scheint. Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen, denn ihr Gesicht ist knallrot und sie weigert sich, den Blick von ihrem Schoß zu heben. „Arbeiten wir heute zusammen?“, fragt Nikolai, der meine Anwesenheit endlich zur Kenntnis nimmt.
„Ja. Bist du bereit?“ Nikolai nickt, dreht sich um und geht zur Tür hinaus, ich folge ihm.
Es ist fast achtzehn Uhr, als ich das Clubhaus erreiche. Die Jungs kommen hier nach der Arbeit auf ein oder zwei Bier vorbei, bevor sie zu ihren Frauen nach Hause gehen. Seit ich vor etwa sechs Monaten in die Runde aufgenommen wurde, habe ich nicht einen Abend verpasst. Ich steige von meinem Motorrad, als Lisa nach draußen tritt.
„Hi, Sam.“ Sie lächelt. Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, dass Lisa die Mutter des Clubs ist. Ihr mütterliches Lächeln erinnert mich sehr an meine Mom.
„Ma’am.“ Ich erwidere das Lächeln und neige meinen Kopf.
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, junger Mann, dass du mich Lisa nennen sollst?“
„Öfter als ich zählen kann, Madame Lisa, aber meine Mutter hat mich gut erzogen. Außerdem sind diese alten Gewohnheiten aus dem Süden schwer zu brechen.“
„Da hast du wohl recht. Manieren sind heutzutage kaum noch zu finden.“
„Ja, Ma’am, das ist wahr.“ Ich grinse und Lisa tätschelt meinen Arm. „Bleib bloß so, wie du bist, Sam.“
„Das werde ich. Ich wünsche eine gute Nacht, Madame Lisa.“
„Dir auch, Schatz.“
Als ich das Clubhaus betrete, ist Jake der Erste, der mich begrüßt. Er nickt mir zu. „Hallo mein Sohn.“
„Sir“, sage ich und reiche ihm die Hand, so wie ich es immer tue, wenn ich in seiner Gegenwart bin. „Setz dich“, erwidert er, klopft mir auf den Rücken und deutet auf den Hocker neben sich. Ember, eines der Clubmädchen, reicht mir ein Bier. Ich hebe meine Flasche und grüße Logan, Gabriel, Reid, Blake, Austin und Bennett, die alle an der Bar sitzen. Nachdem ich einen Schluck von meinem Getränk genommen habe, wende ich mich an Gabriel. „Wie geht’s Alba? Ich habe schon ein paar Tage nicht mehr mit ihr telefoniert.“
„Ihr geht es gut“, grunzt er. „Sie sagte, sie würde dich diese Woche anrufen und zum Essen einladen. Nur so als Vorwarnung.“
Eine Sekunde später schwingt die Tür des Clubhauses auf und Quinn kommt herein. „Hey, ihr Mistkerle, ihr habt doch nicht etwa ohne mich mit ihm gesprochen, oder?“, fragt er mit einem breiten Grinsen.
„Du bist gerade rechtzeitig gekommen“, antwortet Jake. „Ich wollte ihn gerade danach fragen.“
Ich schaue mich zu den Jungs um und sehe, wie sie mich anstarren. „Was ist denn los?“ Die Männer stehen nacheinander von ihren Hockern auf und bilden eine Reihe vor mir. Ich bemerke auch, dass Ember sich leise aus dem Zimmer zurückzieht.
Jake ergreift als erster das Wort. „Ich hatte neulich eine Besprechung mit meinen Brüdern. Weißt du, im Laufe des letzten Jahres habe ich beobachtet, wie du zu einem wichtigen Bestandteil dieser Familie geworden bist. Du hast immer wieder bewiesen, dass du dich um die Menschen in diesem Club und in unserer Gemeinschaft kümmerst. Als du das erste Mal in meinem Clubhaus aufgetaucht bist und deinen Arsch für deine Freundin und Gabriels Old Lady riskiert hast, wusste ich, dass du ein solider Typ bist. Daher sind meine Männer und ich zu einem einstimmigen Urteil gekommen.“
Ich lasse meinen Blick durch die Reihe schweifen und schaue mir jeden der Jungs an, die alle ihr bestes Pokerface aufgesetzt haben. Alle außer Quinn, der immer noch ein breites Grinsen zeigt. „Welches Urteil?“, frage ich mit einem, wie ich glaube, verwirrten Gesichtsausdruck.
„Dass du genau der Richtige für diesen Club bist und dass wir dich gerne als einen von uns aufnehmen würden. Wir möchten, dass du ein Prospect für die Kings wirst“, antwortet Jake in einem Ton, der mir zeigt, dass er keine Scherze macht. „Wir geben dir vierundzwanzig Stunden, um uns deine Antwort zu geben.“
„Ich brauche keine vierundzwanzig Stunden. Meine Antwort ist Ja.“ Ich versuche nicht einmal, mein Lächeln oder den Stolz zu verbergen, den ich empfinde. Der Club bietet mir die Möglichkeit, einer von ihnen zu werden. Meine Antwort ist glasklar. Die Anwesenden beginnen zu applaudieren.
„Wenn du uns zeigst, dass du das Zeug zum Prospect hast und bereit bist, den Club über alles zu stellen, wären wir verdammt stolz darauf, dich eines Tages unseren Bruder nennen zu dürfen.“
„Ich bin bereit, mich zu beweisen, Jake. Ihr könnt euch auf mich verlassen“, erkläre ich.
„Ich weiß, dass du das bist, mein Sohn. Du sollst nur wissen, dass es keine Sonderbehandlung geben wird. Du wirst wie jeder andere Prospect behandelt werden. Du wirst deinen Beitrag leisten, genau wie der Rest der Brüder. Egal, ob einer meiner Männer dich bittet, sein Motorrad splitterfasernackt zu polieren. Du wirst es ohne Murren und mit einem Lächeln im Gesicht tun. Hast du mich verstanden?“, stellt Jake klar.
„Ja, Sir. Ich habe verstanden.“
Sofia
Ich strecke mich und rolle mich auf den Rücken. Das warme Licht des Sonnenaufgangs beginnt gerade durch die gelben Vorhänge in meinem Schlafzimmer zu scheinen. Eingekuschelt in die weiche weiße Daunendecke liege ich da, lausche dem leisen Surren des Ventilators und beobachte, wie mein Zimmer durch den Sonnenfänger mit Glühwürmchen darauf, der vor dem Fenster hängt, zum Leben erwacht und ein buntes Farbenspiel über meine hellgrauen Wände tanzt. Ich schließe meine Augen und atme tief ein und aus. Jeden Tag versuche ich, mit Dankbarkeit zu beginnen, froh über einen weiteren Tag in einem Leben, für das ich so hart gekämpft habe.
Ich schlüpfe unter der Bettdecke hervor, schwinge meine Beine über die Kante und grabe meine Zehen in den weichen Teppich unter meinen Füßen, während ich aufstehe. Bevor ich den Tag richtig beginne, drehe ich mich um und mache mein Bett. Als ich das letzte Kissen aufgeplustert und makellos auf die Decken gelegt habe, schlüpfe ich in meine Hausschuhe und schlurfe zur Tür, um sie aufzuschließen. Ich weiß, dass ich hier sicher bin, aber meine Schlafzimmertür abzuriegeln, gibt mir ein zusätzliches Gefühl der Geborgenheit.
Ich lasse die Tür offen und gehe den Flur entlang. Nachdem ich kurz im Bad angehalten habe, um mir das Gesicht zu waschen, die Zähne zu putzen und andere Dinge zu erledigen, setze ich meinen Weg in die Küche fort. Ich wohne nun schon seit ein paar Monaten im New Hope House. Ich habe in meiner Zeit in Polson schon viel erreicht, denn ich habe meinen Highschool-Abschluss geschafft und mit meiner Therapie langsam Fortschritte gemacht, weshalb Dr. Kendrick, meine Therapeutin, vorschlug, dass ich einen weiteren wichtigen Schritt auf meinem Weg in die Unabhängigkeit gehen sollte. Da ich ohnehin schon so viel Zeit hier verbrachte, zog ich mit der Unterstützung meiner Freunde und Familie aus dem Haus von Logan und Bella aus und ins New Hope House.
So beängstigend das am Anfang auch war, es war der kleine Anstoß, den ich brauchte, um viele weitere Ziele zu verwirklichen. Ein weiterer Vorteil des Wohnens hier ist, dass ich Dr. Kendrick täglich sehe. Nicht, dass ich immer mit ihr sprechen müsste, aber es ist gut zu wissen, dass ich den Flur entlang und durch das Wohnzimmer direkt in ihr Büro gehen kann.
Außerdem habe ich mich kürzlich für Online-Kurse angemeldet, um selbst Beraterin zu werden. Ich weiß, dass es Zeit und harte Arbeit erfordert, aber ich bin bereit, das durchzuziehen. Andere zu unterstützen und der Gemeinschaft, die mir geholfen hat, etwas zurückzugeben, ist das, was ich in meinem Leben anstrebe. Ich habe gesehen, wie die Kings und die Mitarbeiter des New Hope House diese kleine Stadt verändert haben und ich möchte meinen Teil dazu beitragen.
Ich beginne mit meiner Morgenroutine, koche Kaffee, gehe den Kühlschrank und die Speisekammer durch, um zu sehen, was wir heute noch einkaufen müssen, bevor ich zur Arbeit aufbreche. Ich habe einen Teilzeitjob im The Pier, einem kleinen Familienrestaurant an der Polson Bay. Ich jobbe dort vier Tage die Woche und es macht mir Spaß. Eigentlich ist immer viel los, aber in den Sommermonaten ist es besonders voll. Das Beste an meinem Job ist die Aussicht, mit dem weiten Himmel und dem Blick auf das offene Wasser sowie die Sonne und die frische Luft von Montana. Es gibt nichts Besseres. Manchmal sitze ich nach meiner Schicht am Ende des Stegs, beobachte, wie die Sonne die Wasseroberfläche küsst und warte, dass die Glühwürmchen zum Vorschein kommen.
Ich fülle den Teekessel, stelle ihn auf die Herdplatte und zünde das Feuer darunter an. Während die meisten Menschen in meinem Leben Kaffeetrinker sind, bevorzuge ich morgens eine warme Tasse Chai-Tee, gesüßt mit Honig. Als ich gerade meine Lieblingstasse in der Spülmaschine suche, höre ich das unverwechselbare Brummen von Sams Motorrad, das in die Einfahrt fährt. Kings Construction baut einen neuen Anbau an das Haus, Sam ist zufällig der Leiter des Projekts und beschäftigt sein eigenes Team. Ich schaue aus dem Fenster über dem Waschbecken und beobachte, wie er um die Ecke der Terrasse im Hinterhof fährt. Diese Gefühle, die ich für ihn entwickelt habe, sind seltsam. Ich bin daran nicht gewöhnt. Nicht, dass ich nicht wüsste, was sie bedeuten; das weiß ich, ganz bestimmt. Aber um ehrlich zu sein, hätte ich nie gedacht, dass ich einmal solche Gefühle für einen Mann haben würde. Bei Sam fühle ich mich sicher und wohl in meiner eigenen Haut. Er behandelt mich nicht, als wäre ich verbrannte Erde.
Zudem ist Sam ein äußerst attraktiver Mann. Er ist groß, hat dunkles Haar, ein markantes Kinn, eine athletische Figur und blaue Augen, die wie Saphire schimmern. Ich beobachte, wie er eine kleine weiße Papiertüte auf das Geländer der hinteren Terrasse stellt. Dabei lächelt er verhalten, wobei sich seine Mundwinkel leicht heben. Mir stockt der Atem, weil ich denke, dass er mich dieses Mal am Fenster entdecken wird, aber er geht weiter in Richtung der Baustelle am anderen Ende des Hauses und ich kann wieder aufatmen. Mit einem Lächeln im Gesicht und Schmetterlingen im Bauch gehe ich zu den Flügeltüren neben dem Küchentisch, die auf die Veranda führen. Ich schließe den Riegel auf und trete hinaus in die frische Morgenluft, halte einen Moment inne, als die Wärme der Sonne meine Haut berührt. Da ich weiß, dass Sam mich beobachtet, gehe ich über die Terrasse, vorbei an den Stühlen und bleibe am Geländer stehen. Ich hebe die weiße Tüte auf, öffne sie und werfe einen Blick hinein. Der Geruch der warmen Schokocroissants lässt mir sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen. Seit ich in Polson wohne, sind diese Croissants aus Graces Bäckerei The Cookie Jar zu meinem heimlichen Favoriten geworden. Und seit Sam mit dem Bau des Hauses begonnen hat, hat er mir jeden Morgen meine Lieblingsnascherei mitgebracht.
Ich drehe mich um, halte mein Frühstück in der Hand, drücke es mir an die Brust, hebe meinen Kopf in Sams Richtung und nehme kurz Augenkontakt mit ihm auf. In Momenten wie diesen fühle ich mich ein wenig unbeholfen, schüchtern und unsicher. Ich schenke ihm ein kleines Lächeln, gehe zurück ins Haus und schließe die Tür hinter mir.
Der Teekessel pfeift. Ich stelle die Tüte auf den Tisch, durchquere die Küche und schalte die Herdplatte aus. Ich gieße das heiße Wasser in meine Tasse und trage meinen dampfenden Tee zum Tisch. Während die Geräusche von Sams Arbeitstruppe erklingen und sie ihren Arbeitstag beginnt, nippe ich an meinem Getränk und hole dann ein Stück Gebäck aus der Tüte.
„Guten Morgen, Sofia“, sagt Emma sanft, eine Frau, die hier im New Hope House lebt, als sie die Küche betritt. Sie greift in den Schrank über der Kaffeemaschine und holt eine Tasse heraus, in die sie sich einen Kaffee einschenkt, bevor sie sich zu mir an den Küchentisch setzt.
„Wie geht es dir heute Morgen?“, frage ich, da ich weiß, dass sie heute ein Vorstellungsgespräch in der örtlichen Bibliothek hat.
„Nervös.“ Mit ihren Händen umklammert sie fest die Tasse, führt den Rand an ihre Lippen und nimmt einen kleinen Schluck.
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, versichere ich ihr.
„Endlich etwas nur für mich selbst zu tun, ohne Angst haben zu müssen, ohne ständig über die Schulter zu blicken, ist völlig neu für mich, ich muss mich erst daran gewöhnen“, gesteht sie.
Emma wurde mehrere Jahre lang von ihrem jetzigen Ex-Mann misshandelt. Die letzte Prügelattacke führte dazu, dass sie mit schweren Verletzungen im Krankenhaus landete, von denen sie sich erst nach Wochen erholte. Jetzt, da er endlich hinter Gittern ist und die Stiftung ihr hilft und sie unterstützt, kann sie ihr Leben neu beginnen.
Als ich mit meinem Frühstück fertig bin, stehe ich auf und werfe meinen Müll in den Abfallbehälter. „Ich möchte später alles über deinen neuen Job hören.“ Ich lächle herzlich in Emmas Richtung.
Sie lacht. „Noch habe ich die Stelle nicht.“
„Ich habe Vertrauen in dich. Du bist perfekt für die Position als Bibliotheksassistentin und ich mache mir keine Sorgen, dass sie dich auf Anhieb einstellen werden.“
„Deine Zuversicht bedeutet mir sehr viel, Sofia. Danke“, sagt Emma und schenkt mir ein kleines Lächeln.
Ich nehme meinen Tee mit und mache mich auf den Weg zurück in mein Zimmer. Nachdem ich meine Schlafshorts und das übergroße Shirt abgestreift habe, ziehe ich ein lilafarbenes Sommerkleid im Boho-Stil an und dazu ein Paar beige Riemchensandalen. Vor meinem Ganzkörperspiegel stehend, bürste ich mein langes Haar, bevor ich es zu einem niedrigen Pferdeschwanz binde. Da ich nicht oft Make-up trage, verwende ich lediglich eine Feuchtigkeitscreme, tusche meine Wimpern leicht und trage einen dezent getönten Lipgloss auf.
Zufrieden öffne ich meine Tür und gehe durch den Flur in ein leeres Zimmer. Am späten Nachmittag soll eine neue Bewohnerin ankommen, also muss ich es vorbereiten und lege frische Wäsche auf das Bett. Ich gehe zum Schrank und krame die neuen, ungeöffneten Bettlaken heraus, zusammen mit einer Steppdecke, die Mila hinterlassen hat und die einst ihrer Großmutter gehörte, nach der diese Stiftung benannt wurde. Ich mache mich an die Arbeit und ziehe die Bettwäsche aus ihrer Verpackung. Ich schlage das Spannbetttuch in der Luft auf und breite es über die große Matratze aus, wobei ich die Ecken straffziehe, bevor ich mich dem Oberlaken und schließlich der Steppdecke widme.
Luna ist der Name der jungen Frau, die Dr. Kendrick heute hierherbringen wird. Man hat mir nicht viel über sie erzählt. Nur, dass sie nicht aus Polson stammt, dass sie taub ist und dass sie sich vor ihrem Ex-Freund versteckt, der zurzeit im Gefängnis sitzt. Luna ist die einzige Zeugin des Verbrechens, das ihn dorthin befördert hat. Angesichts der Beziehungen, die ihr Ex hat, fühlte sie sich in ihrer Wohnung nicht mehr sicher. Eine der Ermittlerinnen, die den Fall ihres Ex bearbeitet, ist eine alte Freundin von Dr. Kendrick. Sie war es, die das New Hope House vorgeschlagen hat. Die Anwesenheit der Kings hier in der Stadt und die erstklassigen Sicherheitsvorkehrungen, die wir hier im Haus haben, bestärken mich darin, dass dies ein sicherer Ort für sie ist.
Meine Gedanken wandern zurück in mein eigenes Leben und zu der Angst, mit der ich zwei Jahre lang gelebt habe. Ohne Vorwarnung überrollen mich unerwünschte Erinnerungen aus meiner Vergangenheit wie eine Flutwelle.
Langsam sinke ich auf das Bett und kämpfe darum, die Flashbacks unter Kontrolle zu bringen, die mich manchmal immer noch plagen. Ganz plötzlich brechen manchmal Furcht und Panik über mich herein und bringen mich in den Zustand, in dem ich mich jetzt befinde. Ich schließe die Augen, atme tief durch die Nase ein und stoße einen noch längeren Atemzug durch den Mund aus. Das mache ich mehrere Male und versuche, das schnelle Schlagen in meiner Brust zu verlangsamen. Das Schwierigste daran, eine Panikattacke zu überstehen, ist der Versuch, mich zu sammeln. Bei so vielen Gedanken und Gefühlen, die gleichzeitig auf mich einprasseln, ist es immer ein Kampf, sich auf Gedanken zu konzentrieren, die nicht negativ sind. Hinzu kommt, dass ich in der Regel durch die Art und Weise, wie mein Körper reagiert, in Panik gerate und oft das Gefühl bekomme, dass noch etwas anderes mit mir nicht stimmt. So entsteht eine Endlosschleife, die es mir erschwert, mich aus den lähmenden Fängen meiner Angst und meines Geistes zu befreien. Diese verletzlichen Momente sind meine Schwäche, die ich nur schwer akzeptieren kann und ich werde wahrscheinlich für den Rest meines Lebens damit zurechtkommen müssen. Es handelt sich um eine posttraumatische Belastungsstörung, die mit meiner Kindheit und meiner Zeit bei den Los Demonios zusammenhängt.
Los Demonios. Der Name meiner Dämonen, die mich heimsuchen. Sie sind diejenigen, die selbst jetzt, da sie tot sind, immer noch einen Teil meines Daseins kontrollieren. Sie haben mich aus meiner Familie gerissen, aus dem Leben, das ich kannte. Sie nahmen mich als Bezahlung für das, was mein Vater getan hat. Mein Leben war nie perfekt. Meine Familie war arm und ich wusste, wie sehr meine Eltern tagtäglich darum kämpften, ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch zu haben. In der Stadt, in der meine Familie in Mexiko wohnte, hatten die Los Demonios das Sagen. Sie waren gefürchtet und rücksichtslos in ihren Machenschaften. Was meine Mutter nicht wusste, war, dass mein Vater eines Tages aus Verzweiflung zu ihnen gegangen war und um einen Job gebettelt hatte. Also gaben sie ihm einen. Ich bin mir bis heute nicht sicher, was er für sie getan hat, aber ich weiß, dass es nichts Gutes war. Die Verbindung zu den Los Demonios brachte ihm nur Unheil.
Eines Nachts, kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag, wurde ich von meinem Vater und meiner Mutter geweckt und durfte nicht fragen, warum wir in der Dunkelheit unser Haus verlassen mussten. Erst als wir uns auf den Weg zur Grenze machten, wurde mir klar, was wir im Begriff waren zu tun. Nicht jeder überquert die Zone unbemerkt, aber wir hatten Glück. Ohne zu zögern, ließen wir unser Heimatland zurück und ich habe nie gefragt, warum.
Fast ein Jahr später, nachdem wir einen Asylantrag gestellt hatten, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewilligt war, liefen die Dinge gut. Mein Vater arbeitete in einer kleinen Landschaftsbaufirma und meine Mutter hatte Arbeit in einem Restaurant gefunden, wo sie kellnerte. Was mich betrifft, so hatten mich meine Eltern in der Schule angemeldet. Wir kamen bei einer anderen Familie unter und mein Leben war, auch wenn wir nicht viel hatten, besser als in Mexiko.
Ich ahnte nicht, was mein Vater getan hatte – bis zu dem Tag, an dem eines Abends beim Essen Männer auftauchten, von denen ich dachte, wir hätten sie hinter uns gelassen.
Ein Gesicht stach besonders hervor. Damals kannte ich seinen Namen nicht, aber in Mexiko hatte ich bemerkt, dass er mich zu beschatten schien. Er war ein Mitglied der Los Demonios.
Sie drangen in unser Haus ein und zwangen meine Mutter und mich, dabei zuzusehen, wie sie meinen Vater schlugen. Der Präsident hielt sich die ganze Zeit zurück und wollte wissen, wo sein Geld war. Erst als das Blut meines Vaters den gefliesten Boden bedeckte, gestand er, dass er das Geld mitgenommen hatte und dass es nun weg war. Meine Mutter und ich waren schockiert über sein Geständnis. Mein Vater hatte ein Verbrechen begangen – er hatte Geld von den berüchtigten Los Demonios gestohlen.
Diese Nacht hat alles verändert.
Mit einem Nicken seines Anführers wurde ich von dem Mann, der mich beobachtet hatte und von dem ich heute weiß, dass er Antonio heißt, aus den Armen meiner Mutter gerissen. Ich erinnere mich daran, wie ich kämpfte und versuchte, zu ihr zurückzugelangen.
Jetzt wirst du mit deinem Leben und dem deiner Tochter dafür bezahlen, was du getan hast.
Die Schreie meiner Mutter klingen immer noch so deutlich in meinen Ohren wie an dem Tag, an dem es geschah. Antonio stand über meinem Vater, der auf den Knien lag und mehr um mein Leben als um sein eigenes flehte, aber es war vergeblich.
Antonio führte mich gewaltsam aus dem Haus und in die kalte Nacht hinaus. Ein einzelner Schuss durchschlug die Nachtluft wie ein Donnerschlag.
Ich fühle mich in die Vergangenheit zurückversetzt, als all diese Szenen in meinem Kopf auftauchen. Es ist einer von mehreren Flashbacks, die ich immer wieder habe.
Eine kleine Stimme sagt mir eindringlich, dass ich atmen soll. Erst als sich mein Herzschlag verlangsamt, erkenne ich sie als meine eigene.
Wenn jemand meine Geschichte nicht kennt, wird er nie verstehen, was ich alles durchgemacht und welchen Höllentrip ich hinter mir habe. Ich gewinne jeden Tag kleine Kämpfe gegen diese Erinnerungen und gegen mich selbst. Der Verstand, der um Bewältigung und Überleben ringt, überdeckt eine Menge hässlicher Gedanken, um einen zu schützen. Manchmal gaukelt er einem sogar vor, dass es einem gut geht, aber ehrlich gesagt, ist das an manchen Tagen ganz und gar nicht der Fall. Doch ich bin fest entschlossen zu heilen und das ist es, was zählt.
Sam
An diesem Samstagmorgen wache ich durch das Klingeln meines Handys auf. Ich greife es vom Nachttisch, sehe, dass der Name meines Vaters auf dem Display aufleuchtet und schicke den Anruf sofort auf die Mailbox. Ich vermeide seine Kontaktversuche schon seit Monaten. Ich weiß, was er will. Er möchte, dass ich nach Hause komme, und aus welchem Grund auch immer, ist er in letzter Zeit hartnäckiger geworden. Deshalb vermute ich, dass hinter seinen jüngsten Anrufen noch etwas anderes steckt. Einen Moment später klingelt das Telefon erneut. Diesmal gehe ich ran. „Dad.“ Meine Stimme ist kalt und distanziert.
„Du weißt, dass ich deine Spielchen satthabe, Sam. Wenn ich anrufe, hast du abzunehmen.“
„Ich reagiere nicht auf deine Anrufe. Schon lange nicht mehr“, sage ich und unterbreche ihn.
„Hör auf, dich wie ein verwöhnter, kleiner Hosenscheißer aufzuführen. Ich habe keine Zeit für so etwas.“
„Dann hör verdammt noch mal auf, mich anzurufen“, schimpfe ich.
„Du hast eine Verpflichtung gegenüber dieser Familie, Sam. Es ist Zeit, dass du nach Hause kommst.“
„Ich bin zufrieden, da wo ich jetzt bin. Deshalb bleibe ich lieber hier.“
„Verdammt noch mal, Sam!“, brüllt mein Vater am anderen Ende der Leitung. Da ich nicht in der Stimmung für seine Tiraden bin, lege ich auf.