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Cain LeBlanc, der von seinen Brüdern Nova genannt wird, ist der Enforcer des Kings of Retribution MC, Louisiana. Er engagiert sich für den Club, aber Novas ganze Welt dreht sich um seine Tochter Piper. Ein alleinerziehender Vater zu sein, ist nicht ohne Herausforderungen. Eine davon ist, aufzupassen, dass sich sein Biker-Lebensstil nicht auf sein Privatleben auswirkt. "Bring niemals eine Frau mit nach Hause." An diese Regel hält Nova sich seit Jahren. Bis ein One-Night-Stand mit einer Frau, deren Augen die Farbe des Ozeans haben, ihn nach mehr verlangen lässt. Nach einer Auseinandersetzung mit einem anderen Biker gerät Nova in Schwierigkeiten mit dem Gesetz. Und als ob die drohende Haftstrafe nicht schon genug wäre, taucht ein Geist aus seiner Vergangenheit auf und stiftet Unruhe. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte Promise Bailey damit, sich danach zu sehnen, von der einzigen Familie, die sie je kannte, akzeptiert zu werden. Also arbeitet sie weiter hart und beweist sich als Anwältin in der Kanzlei ihres Stiefvaters. Nachdem ihr Verlobter sie betrügt, ändert sich ihre Sicht auf ihr Leben. Es ist Zeit für eine Veränderung. Mit der Unterstützung ihrer Freundinnen - und ein ein paar Gläsern Whiskey - lässt Promise es krachen und feiert ihren neuen Single-Status. Eine Nacht. Keine Hemmungen. Keine Namen. Das ist alles, was sie von dem hinreißenden, bärtigen Mann an der Bar will, und der Fremde ist bereit, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Promise weiß nicht, dass sie mit dem Mitglied eines gefürchteten Motorradclubs nach Hause geht und dass eine leidenschaftliche Nacht ihr Leben für immer verändern wird. In Teil 13 ihrer fesselnden Serie rund um den Kings of Retribution MC entführen die beiden USA Today-Bestsellerautorinnen ihre Fans erneut in eine Welt voller unerwarteter Wendungen, in der die Protagonisten alles riskieren müssen, um die Liebe zu finden, die sie nie für möglich gehalten hätten.
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Seitenzahl: 375
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Crystal Daniels & Sandy Alvarez
Kings of Retribution MC Teil 13: Nova (Louisiana Chapter)
Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Oda Janz
© 2020 by Crystal Daniels & Sandy Alvarez unter dem Originaltitel „Nova (Kings of Retribution Louisiana Book 3)“
© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels
www.plaisirdamour.de
© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg
(www.art-for-your-book.de)
ISBN Print: 978-3-86495-716-1
ISBN eBook: 978-3-86495-717-8
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch oder Ausschnitte davon dürfen ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers nicht vervielfältigt oder in irgendeiner Weise verwendet werden, außer für kurze Zitate in einer Buchbesprechung.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog
Autorinnen
Nova
Ich reiße die Augen auf, als mein Handy auf dem Nachttisch vibriert. Mit meinem Gesicht auf dem Kissen greife ich danach, drehe es um und starre auf das schwach beleuchtete Display. „Scheiße.“ Etwas oder jemand hat den Alarm im Clubhaus ausgelöst. Ich werfe die Bettdecke zur Seite und stehe auf. Auf dem Weg durch das Schlafzimmer greife ich mir die Jeans, die ich erst vor ein paar Stunden ausgezogen habe, streife sie mir über und nehme ein T-Shirt aus dem Korb mit der gefalteten Wäsche, den Piper auf einen Stuhl gestellt hat. Mein Handy klingelt. Ich wische über das Display. „Was gibt‘s?“, frage ich meinen Bruder Riggs, während ich mir meine Kutte über die Schultern lege und in die lose geschnürten Lederstiefel steige, die ich draußen vor dem Schlafzimmer ausgezogen habe.
„Du musst rausfahren und die Lage checken. Mein Mädchen und der Zwerg haben beide leichtes Fieber. Ich würde ja selbst fahren, aber ich war nicht im Bett, seit wir die Bar geschlossen haben und ich muss bei ihnen bleiben.“
Ich erinnere mich an diese Zeit. Abgesehen von dem Teil mit der Ehefrau. „Bin schon unterwegs“, antworte ich und gehe den Flur hinunter. Ich bleibe gerade lange genug stehen, um Pipers Schlafzimmertür zu öffnen und nach ihr zu sehen, bevor ich mich auf den Weg mache.
„Hast du von Everest gehört?“, frage ich Riggs, wohl wissend, dass er neben Payton und Josie allein im Clubhaus ist. Normalerweise wäre Fender auch da, und ich müsste mir keine Sorgen wegen eines Rundgangs machen, aber er ist nicht in der Stadt. Um genau zu sein, ist er in Nashville und kümmert sich um irgendeinen privaten Kram, der mit seiner Familie zu tun hat.
„Ja. Er hat alles verbarrikadiert, bis du da bist. Nur für den Fall.“
Ich nicke. Sicherheit geht vor. Da Everest mit den Frauen allein ist, ist es klug, auf Verstärkung zu warten. Bei dem Scheiß, den der Club im letzten Jahr erlebt hat, wäre es zu riskant, das Grundstück allein zu kontrollieren. Zwischen den Gangs in New Orleans gab es in den vergangenen Monaten immer wieder Konflikte. Die Verbrechensrate ist so hoch wie nie. Die Bandenkriminalität ist außer Kontrolle geraten, die Gangs fluten die Straßen mit Drogen und es kommt immer wieder zu tödlichen Auseinandersetzungen.
„Pass auf deine Familie auf, Bruder. Ich schicke dir eine Nachricht, wenn ich da bin.“
„Pass du auch auf.“
„Immer doch“, antworte ich, bevor ich auflege und das Handy in meine Tasche stecke. Unten angekommen, gehe ich in die Küche und schreibe meiner Tochter eine Nachricht auf die Tafel, die am Kühlschrank hängt. Sie soll wissen, dass ich ins Clubhaus gefahren bin und bald wieder da sein werde. Ich muss lächeln, als ich Ich liebe dich, Bean hinzufüge. Manchmal kann ich nicht glauben, wie schnell die Zeit vergangen ist. Aus Piper oder besser gesagt Bean – meiner kleinen Bohne, wie ich sie liebevoll nenne – ist eine junge Frau geworden. Ich deaktiviere den Alarm, öffne die Tür zur Garage und schließe sie hinter mir. Dann gebe ich den Code ein, um mein Haus zu verriegeln und meine wundervolle Tochter zu schützen, die oben in ihrem Bett schläft. Das Garagentor öffnet sich und ich steige auf mein Bike. Es ist ein speziell angefertigter schwarzer Chopper. Blaue, mit Airbrush aufgetragene Flammen flackern auf dem Tank. Neben diesem habe ich noch zwei weitere Bikes. Die Pferdestärken des Motors dröhnen, als ich ihn starte und die Einfahrt hinunterfahre. Ich halte an und warte, bis das Garagentor geschlossen ist, bevor ich weiterfahre und mein Haus im Rückspiegel verschwinden sehe.
Dort draußen, wo ich lebe, ist es stockdunkel. So laut der Motor meines Bikes auch dröhnt, ich kann immer noch die friedlichen Geräusche des Bayous hören. Ich komme am Haus meines Großvaters vorbei, wo mein Bruder und ich aufgewachsen sind. Als Piper in mein Leben kam, wusste ich, dass es das Beste wäre, sie hier großzuziehen, wo meine Seele immer Frieden gefunden hat. Die schwüle Luft peitscht mir ins Gesicht, während ich die Straße hinunterfahre, und Erinnerungen an die vergangenen Jahre drängen sich in meinen Kopf.
Mein Bruder war stets ein Getriebener. Er wusste schon sehr früh, was er wollte und war in allem, was er tat, hervorragend. Auch darin, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und zum Militär zu gehen. Für mich waren die Dinge nicht immer so eindeutig. Ich war ruhelos und ein wenig chaotisch. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anstellen sollte, war nie zufrieden und wollte nie sesshaft werden. Bis Piper in mein Leben kam und ich der Enforcer des Kings of Retribution MC wurde. Meine Großmutter hat mir einst gesagt, ich hätte etwas von meiner Mutter in mir. Die Seele des fahrenden Volkes. Sie hat gesagt, ich sei ein Freigeist. Ich könnte behaupten, dass es mir nichts ausmacht, keine Mutter zu haben, aber das wäre gelogen. Etwas in mir ist zerbrochen, als sie meinen Bruder und mich verlassen hat. Das soll nicht heißen, dass ich meinen Großeltern nicht dankbar bin. Sie haben ihr Bestes gegeben und bis heute bewundere ich sie für ihre Stärke und die Liebe und Hingabe, die sie uns zuteilwerden ließen. Sie haben aus mir den Mann gemacht, der ich heute bin.
Ich beschleunige und spüre die Luft des frühen Morgens noch mehr auf meiner Haut. Ich atme sie tief in meine Lungen ein und tanke Energie. Nach einer kurzen Fahrt nehme ich die Ausfahrt Richtung Stadtzentrum und rolle durch die schlafende Stadt. Als ich auf die Straße vor dem Clubhaus einbiege, werde ich langsamer. In der Ferne sehe ich zwei schwache Lichter in der Nähe des Zauns, der dicht am Fluss auf der anderen Seite unseres Geländes steht. Ich halte an und hole mein Handy aus meiner Kutte. Dann wähle ich Everests Nummer.
„Hey, Bruder.“
„Wir haben hier ein paar Eindringlinge beim Schuppen am Fluss.“
„Wo bist du jetzt?“
Ich schalte den Motor aus und trete den Ständer herunter. „Die Straße runter. Ich will nicht, dass diese Arschlöcher damit davonkommen.“
Ich steige von meinem Bike ab und schaue mich um, bevor ich in die Hocke gehe, ein geheimes Fach öffne und eine geladene Glock heraushole. „Du gehst vorne herum und ich komme von hinten. Wir schneiden ihnen den Weg ab, sodass sie nur hinunter zum Mississippi laufen können.“
Als ich den Anruf beendet habe, stehe ich auf, stecke mein Handy weg und schiebe meine Waffe hinten in den Bund meiner Jeans. Es dauert nur einen Augenblick, bis ich die Grenze unseres Grundstücks erreicht habe; dann folge ich dem Zaun, bis ich auf die Stelle stoße, an der unsere Besucher sich Zutritt verschafft haben. Dort liegen Zaunschneider auf dem Boden. Anstatt weiterzugehen, schlängele ich mich mit meinem bulligen Körper durch die kaum ausreichende Öffnung, versaue mir den Hintern mit Schlamm und reiße ein Loch in meine Jeans. „Verdammt!“ Ich stehe auf, greife nach hinten, schnappe mir meine Waffe und schleiche mich an die Idioten heran, die es für eine gute Idee hielten, das Gelände der Kings zu betreten. Es dauert nicht lange, bis ich Everests massige Gestalt sehe, die sich an der Seite des Clubhauses entlang in den Schatten bewegt. Als ich um die Ecke des Schuppens schaue, sehe ich zwei Typen, die dabei sind, sich Zutritt zu verschaffen. Der eine steht auf den Schultern des anderen und versucht, durch das hohe, schmale Fenster zu klettern. Immer noch im Schatten und nur mit dem Mondlicht auf meinem Gesicht, hebe ich meinen Arm.
„Ihr seid doch echt zwei schwachsinnige Motherfucker!“ Der Klang meiner Stimme erschreckt den Kerl, der seinen Freund festhält, und er flüchtet, sodass sein Komplize mit seinem Hintern und den Beinen in der Luft hängt. Zu seinem Unglück rennt der andere direkt in Everest hinein und taumelt zurück.
„Was zum Teufel, Alter?“, flüstert der Typ, der aus dem Fenster baumelt, wütend. Ich gehe ein paar Schritte vor, strecke meinen Arm nach oben, packe den dürren Kerl am Hosenboden und zerre ihn aus dem Fenster. Der bemitleidenswerte Idiot fällt auf den matschigen Boden wie ein Sack Kartoffeln. Als er den Kopf hebt und mich über ihm stehen sieht, mit dem Lauf meiner Waffe auf sein Gesicht gerichtet, weiten sich seine Augen vor Angst.
„Steh auf, verdammt noch mal!“, befehle ich und er kommt zitternd auf die Beine. Ich schaue zu Everest hinüber, der den anderen Typ am Genick festhält und den Lauf seiner Waffe fest gegen dessen Brustkorb drückt.
„Was meinst du? Sollen wir den beiden mal zeigen, wonach sie gesucht haben?“
Ich kann mein Grinsen nicht verbergen. Nickend geht Everest voran, mit dem Kerl vor ihm fest im Griff, während ich meine Handfläche zwischen die Schulterblätter seines Kumpels drücke und ihn vorwärts schubse. „Los, beweg dich!“
Die rostigen Scharniere der schweren Metalltür quietschen, als sie aufschwingt. Als ich den Schalter an der Wand umlege, flackern die Leuchtstoffröhren über mir auf und erhellen das Innere des Schuppens. Die beiden Idioten sehen sich um. Everest und ich schieben sie in die Mitte des Raums und sehen zum ersten Mal ihre Gesichter.
„Verdammte Scheiße!“ Sie sind praktisch noch Kinder. „Ihr zwei seht aus, als würden eure Mamas noch eure Ärsche abwischen.“
„Fick dich“, zischt der älter aussehende Junge und seine Stimme überschlägt sich dabei.
„Habt ihr zwei überhaupt eine Ahnung, bei wem ihr eingebrochen seid?“, frage ich sie.
„Wir wissen, wer ihr seid und es ist uns scheißegal.“ Das kleine Arschloch reckt sein Kinn vor und ballt die Fäuste. Ich betrachte seine Kleidung, die in den Farben der Gang gehalten ist, zu der er anscheinend gehört. Sein Freund, der stumm neben ihm steht, trägt das Gleiche.
„Strapazier nicht meine Geduld, Junge. Du hast noch nicht genügend Haare am Sack, um mir so zu kommen.“ Ich gehe um sie herum. Ihre Blicke folgen jeder meiner Bewegungen. Es bricht mir das verdammte Herz, wenn ich sehe, dass sogar Kinder in die Fänge der Gangs geraten, den falschen Leuten folgen und die brutalen Schläger anhimmeln, als wären sie Götter. Die beiden wollen sich als echte Männer auf der Straße behaupten, bevor sie überhaupt Eier haben.
„Sieh dich um.“ Ich breite meine Arme aus. „Da ihr beiden ja unbedingt harte Kerle sein wollt, sollten wir euch vielleicht zeigen, was wir mit Männern machen, die unser Eigentum betreten und versuchen, die Kings zu bestehlen.“
Ich wähle meine Worte mit Bedacht und versuche, ihnen genug Angst einzujagen, um damit etwas zu erreichen. Der Jüngere der beiden findet schließlich seine Stimme wieder.
„Trent, Mann, ich will nicht sterben.“ Seine Stimme zittert. Sie wissen es nicht, aber ich habe nicht vor, ihnen auch nur ein Haar zu krümmen. Es sind Kinder, um Himmels willen.
„Wir kommen nie wieder hierher. Ich schwöre es“, fügt Trents Kumpel hinzu und sieht mich flehend an.
„Wo wohnt ihr?“, frage ich sie und verschränke meine Arme vor der Brust. Sie sehen sich einen Moment lang an, dann beginnt Trent zu sprechen.
„Bellview Apartments, drüben an der vierunddreißigsten Straße.“
„Ist er dein Bruder?“, will ich wissen. Ich sehe eine gewisse Ähnlichkeit. Die Jungs nicken.
„Ich gehe davon aus, dass eure Eltern nicht wissen, wo ihr gerade seid?“ Ich ziehe eine Augenbraue nach oben und Trent blickt zu Boden. Damit ist alles gesagt. „Wissen sie, dass ihr in Gang-Farben herumlauft?“
„Nein“, antwortet Trent.
„Ich würde mal schätzen, dass ihr beiden noch gar nicht wirklich zu einer Gang gehört, oder?“ Erneut sehe ich in ihren Gesichtern, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen habe. „Das ist nicht klug, Jungs. Mit diesen Farben werdet ihr nicht nur von rivalisierenden Gangs erschossen, sondern auch von der, deren Farben ihr zu Unrecht tragt.“ Ich atme langsam durch die Nase ein. „Everest.“
„Ja?“
„Sieh zu, dass die beiden nach Hause kommen.“
„Mach ich.“
Ich beobachte, wie Everest sie aus dem Schuppen führt und folge ihnen über das Grundstück. Die beiden Jungen klettern in Everests Truck und ich wende mich noch einmal an ihn.
„Hör dich um. Finde heraus, ob ihre Familien vielleicht Unterstützung brauchen. Verbrechensbekämpfung beginnt zu Hause.“ Ich klopfe ihm auf die Schulter. Everest engagiert sich als Freiwilliger bei der Jugendhilfe in der Stadt. Wenn die Familie zustimmt, kann er ihnen dabei helfen, Unterstützung zu beantragen und die beiden Kids hoffentlich von der Straße holen, bevor etwas passiert und sich ihr Leben für immer verändert. „Ich bleibe hier, bis du zurück bist.“
Vierzig Minuten später ist er wieder da und wir haben Riggs ins Bild gesetzt. Ich verlasse das Clubhaus zu Fuß und gehe zurück zu meinem Bike, das ich an der Straße geparkt habe. Ich habe nur zwei Stunden geschlafen und zwei Tassen Kaffee getrunken, die Josie für mich aufgebrüht hat, während ich im Clubhaus gewartet habe. Ich schwinge mein Bein über das Bike und lasse den Motor an. Mit der aufgehenden Sonne im Rücken fahre ich nach Hause.
Als ich ankomme, bin ich hundemüde. Der Duft von frischem Kaffee und gebratenem Speck weckt meine Lebensgeister, als ich die Küche betrete. Piper steht am Herd und macht Frühstück. Dabei wackelt sie mit dem Kopf zur Musik aus ihrem Handy, das auf der Arbeitsplatte liegt. Wann ist es dazu gekommen, dass meine Tochter sich um mich kümmert, anstatt ich mich um sie? Ich streife meine Stiefel ab, stelle sie auf den Teppich neben der Terrassentür und höre ihr dabei zu, wie sie zur Musik summt. Mir fällt auf, wie glücklich sie heute Morgen scheint und ich habe beinahe Angst, zu blinzeln. Bestimmt ist sie schon erwachsen, wenn ich meine Augen wieder öffne. Ich glaube nicht, dass mein Herz schon dafür bereit ist. Piper sieht mich an.
„Hi, Daddy.“
Ich schenke ihr ein Lächeln. „Morgen, Bean!“
Piper sieht ihrer Mutter so ähnlich. Groß und schlank, mit langen, dunklen Haaren. Doch damit hört die Ähnlichkeit auch schon auf. Das Blut gefriert mir in den Adern, wenn ich nur an Madison denke. Sie war die Frau, mit der ich tatsächlich versucht habe, eine Beziehung zu führen. Sie schien mein Leben in Ordnung zu finden und hatte kein Problem damit, dass ich wochenlang auf den Bohrinseln gearbeitet habe. Ich habe Zwei-Wochen-Schichten geschoben. Zwei Wochen war ich weg und zwei Wochen daheim. In meinen Zwanzigern fand ich das gut. Ich hatte keine Bindungen und keine Verantwortung, außer für mich selbst und meine Großeltern. Als wir drei Monate zusammen waren, kam ich nach Hause und sah, wie sie irgendeinen Vollidioten in meinem Bett vögelte. Ich wollte mit einer Frau sesshaft werden und sie vögelte das Arschloch aus dem Apartment nebenan. Innerhalb einer Woche war sie weg. Ich hörte, dass sie die Stadt mit einem Fremden verlassen hatte, der auf der Durchreise war. Beinahe hatte ich sie schon vergessen, als sie Monate später wieder auftauchte, mit einem weinenden Baby in einer Autoschale. An diesem Tag hat sich mein Leben verändert. Natürlich habe ich ihr erlaubt, bei mir zu bleiben, doch als ich zwei Tage später aufgewacht bin, war sie weg. Meine Tochter hat sie da gelassen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte keine Ahnung von Babys. Es ist schon lustig, wie sich die Dinge fügen. Meine Tochter ist das Beste, das mir je in meinem Leben passiert ist. Sie hat meinem Leben einen Sinn und eine Richtung gegeben. Piper hält mich am Boden.
Ich gehe an ihr vorbei, bleibe stehen und küsse sie auf ihren Kopf.
„Ich hoffe, du hast Hunger.“ Sie wendet den Speck und schlägt ein Ei in dieselbe Pfanne. „Alles okay?“
„Bin am Verhungern“, gebe ich zu. „Es geht mir gut, Kleine. Bin nur müde. Der Morgen war lang.“ Ich durchquere die Küche, nehme die Tasse, die neben der Kaffeemaschine steht, und fülle sie bis zum Rand. „Also.“ Ich setze mich an den Küchentisch und atme durch. „Die Prüfungen beginnen heute, richtig?“ Ich lümmle mich in den Stuhl und strecke meine Beine vor mir aus. Piper holt zwei Teller aus dem Schrank.
„Ja. Ich bin von allen Prüfungen befreit, außer von Biologie.“ Sie rollt mit den Augen und lädt das Essen auf die Teller. „Ein einziger Punkt. Das ist alles, was mir gefehlt hat, um auch dort direkt bestanden zu haben.“ Sie geht durch die Küche, stellt das Frühstück auf den Tisch und setzt sich mir gegenüber. Wir schweigen für einen Moment. Ich nehme einen Bissen und sehe sie an. Ich weiß genau, dass sie etwas fragen will, weil sie auf eine bestimmte Art und Weise in ihrem Essen herumstochert und auf der Unterlippe herumkaut. „Spuck es schon aus, Bean.“ Lächelnd stecke ich mir ein Stück Speck in den Mund.
„Einige meiner Freunde fahren am Wochenende nach Grand Isle und ich habe mich gefragt, ob ich mit kann?“
„Piper, wir haben doch darüber gesprochen.“
„Es ist nur für einen Tag. Komm schon, Daddy. Bitte.“
Scheiße. Ich weiß nicht, wie andere Väter das machen, aber mir fällt es verdammt schwer, loszulassen, damit mein kleines Mädchen, das gar nicht mehr so klein ist, ihre Flügel ausbreiten kann. Ich fasse mir mit Daumen und Zeigefinger an die Nase und lehne mich in meinem Stuhl zurück. Ich bin mir nicht sicher, ob es am Schlafmangel liegt oder an der Tatsache, dass ich ihren Tatendrang nicht ausbremsen möchte, aber irgendetwas bringt mich dazu, ihre Bitte in Betracht zu ziehen. Piper ist ein gutes Kind. Sie schreibt nur Einsen und hält sich von Ärger fern. „Was sind das für Freunde?“, frage ich sie und ihre Augen beginnen zu leuchten, in der Hoffnung, dass meine Frage zu der Antwort führt, die sie hören will.
„Sara, Heather, Dylan und Troy.“ Sie macht eine Pause. Ich weiß, dass sie gleich seinen Namen sagen wird. Mein Magen zieht sich zusammen. „Und Colton.“
Er ist seit fast einem Jahr ihr Freund. Ich hasse Jungs. Ich verabscheue sie. Ich weiß genau, was sie für Fantasien haben und ich weiß, er denkt bei diesen Dingen an meine wunderschöne Tochter. Ginge es nach mir, hätte sie keinen Freund und kein Date vor ihrem dreißigsten Geburtstag.
„Wenn ich zu diesem kleinen Abenteuer Ja sage, musst du mir versprechen, dass du dich meldest, und zwar jede volle Stunde. Keine Nachrichten. Du rufst mich an. Verstanden?“
Piper hüpft von ihrem Stuhl und schlingt ihre Arme um meinen Hals.
„O mein Gott! Danke!“ Sie drückt mich noch fester und ich drücke sie zurück. Als sie mich loslässt, sehe ich, wie glücklich sie ist, aber sie hat Tränen in den Augen.
„Was ist los?“
Ihr Lächeln lässt ihr Gesicht erstrahlen. „Ich bin einfach nur glücklich, Dad. Du traust mir zu, allein irgendwo hinzufahren, ohne dich oder einen der Jungs als Anstandsdame. Das ist ein großer Schritt.“ Sie umarmt mich erneut. „Ich bin so stolz auf dich.“
Ich weiß, dass sie mich neckt und ich pikse sie in die Seite und bringe sie zum Lachen.
„Wer ist hier der Erziehungsberechtigte, du Klugscheißerin?“ Ich grinse und sehe zu ihr hoch.
Piper zuckt mit den Schultern. „Das ist manchmal nicht ganz klar“, antwortet sie und lacht erneut.
„Ich muss mich für die Schule fertig machen. Iss auf und dann leg dich hin“, ruft sie mir über die Schulter zu, als sie sich umdreht und geht.
„Pass auf, dass ich meine Meinung nicht ändere, Bean. Ach, und noch eine Sache: Kein Sex!“ Den letzten Teil rufe ich ihr zu, als sie gerade ihren Fuß auf die erste Treppenstufe stellt.
„Dad, wir haben darüber bestimmt schon eine Million Mal gesprochen.“
„Und was habe ich dir immer gesagt?“, frage ich mit vollem Mund.
„Ach, komm schon“, fleht Piper.
„Piper“, sage ich streng und sie verschränkt die Arme vor der Brust und schnaubt.
Promise
Im Gerichtssaal wird es still, als der einzige Augenzeuge im Fall Velasco in den Zeugenstand tritt. Mein Mandant, Leon Velasco, ist angeklagt wegen Mordes an Eddie Melba, einem dreiundsechzigjährigen Besitzer einer Tankstelle, an der er während der Nachtschicht erschossen wurde. Seitdem ein Mann namens Kostas vor Monaten aus New Orleans verschwunden ist, hat Leon Velasco das Drogengeschäft in der Stadt übernommen. Es scheint, als ob jedes Mal, wenn ein Dealer verschwindet, ein anderer sofort seinen Platz einnimmt. Aber es gibt Gerüchte, dass Velasco der oberste Boss ist, was auch immer das heißt. Ich weiß nur, dass es niemals aufhört, und das führt uns zum heutigen Tag. Mr. Melba war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, als eine verirrte Kugel das Fenster seines Ladens durchschlug und ihn in die Brust traf. Eddie Melba war tot, bevor er im Krankenhaus ankam. Er hinterlässt eine fünfunddreißigjährige Frau und einen Sohn. Beide sind heute im Gerichtssaal. Ich schaffe es nicht, zu ihnen hinüberzusehen, denn die Wahrheit ist, dass ich nicht besser bin als der Mann zu meiner Linken, der dem jungen Mann im Zeugenstand gerade tödliche Blicke zuwirft. Robby Hunter ist zweiundzwanzig Jahre alt und lebt auf der Straße. Er verbrachte seine Teenagerjahre in der Jugendstrafanstalt und wurde in den letzten zwei Jahren ein halbes Dutzend Mal verhaftet, immer im Zusammenhang mit Drogen. Das alles werde ich heute gegen ihn verwenden. Ich werde seine Vergangenheit und sein Strafregister ausgraben, um ihn im Zeugenstand schlechtzumachen. Auch wenn ich es noch so hasse, es ist mein Job. Ich bin Strafverteidigerin. Ich verbringe unzählige Stunden damit, Männern wie Leon Velasco zu helfen. Dem Abschaum der Gesellschaft, dem Bodensatz der Verbrecher. Mit jedem Fall, den ich gewinne, frage ich mich, ob es richtig ist, was ich tue.
„Miss Bailey.“ Der Richter ruft meinen Namen und holt mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität. „Möchten Sie den Zeugen ins Kreuzverhör nehmen?“
Ich stehe auf, glätte meinen Rock und setze mein übliches, kaltes Pokerface auf. Das habe ich mir angewöhnt, als ich Anwältin wurde. „Ja, Euer Ehren.“ Mein Gesicht bleibt ausdruckslos, als ich mich dem Zeugenstand nähere, wo Robby Hunters Blick vom Richter zu mir und dann über meine linke Schulter zu meinem Mandanten wandert. Ich sehe, wie seine Pupillen sich verengen. Seine Augen sind blutunterlaufen. Mr. Hunter hat eine Vorgeschichte von Heroinmissbrauch, und es ist klar, dass er auch jetzt irgendetwas intus hat. „Wie geht es Ihnen heute, Mr. Hunter?“
„Gut.“ Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her.
„Geht es Ihnen wirklich gut? Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser, bevor wir anfangen?“
„Nein.“
„Also schön. Dann würde ich gerne von Ihnen wissen, wo Sie am sechsten Juni gegen ein Uhr nachts waren.“
„Ähm, ist das die Nacht, in der der alte Typ erschossen worden ist?“, fragt Mr. Hunter und seine Stimme zittert.
„Ja, Mr. Hunter. Das ist die Nacht, in der Mr. Melba erschossen wurde.“
„Ähm, ich … ich war unter der Brücke gegenüber von Mr. Melbas Tankstelle.“
„Was haben Sie denn um ein Uhr nachts unter der Brücke gemacht, Mr. Hunter?“
„Einspruch, Euer Ehren. Nicht relevant.“ Das war die Staatsanwältin.
„Ich ziehe die Frage zurück, Euer Ehren.“
Erneut konzentriere ich mich auf den Zeugen. „Können Sie dem Gericht schildern, was Sie in dieser Nacht gesehen haben, Mr. Hunter?“
„Ich habe den Mann da drüben gesehen.“ Er deutet auf Leon Velasco. „Er ist auf den leeren Parkplatz neben der Tankstelle gefahren und hat dort geparkt. Dann kam ein anderes Auto und zwei Männer sind ausgestiegen. Dann ist Velasco aus seinem Auto gesprungen.“
„Und was ist dann passiert?“
„Sie haben miteinander geredet und sind ein paar Minuten geblieben. Dann habe ich Schüsse gehört.“
„Was haben Sie getan, als Sie die Schüsse gehört haben, Mr. Hunter?“
„Ich bin weggelaufen und habe mich hinter dem Brückenpfeiler versteckt.“
„Wenn Sie sich versteckt haben, wie konnten Sie dann sehen, dass mein Klient angeblich eine Waffe abgefeuert hat?“
„Als ich das Quietschen von Reifen gehört habe, habe ich um die Ecke gesehen und da war Leon Velasco und hat mit einem Gewehr auf das Auto geschossen, das weggefahren ist.“
„Und Sie sind sicher, dass es Mr. Velasco war, den Sie in dieser Nacht auf dem Parkplatz gesehen haben? Wie viele Meter, würden Sie sagen, ist die Brücke vom Parkplatz entfernt?“
„Das weiß ich nicht.“
„Nun, ich werde es Ihnen sagen, Mr. Hunter. Es sind zwanzig Meter. Sie waren also nicht nur zwanzig Meter entfernt, es war auch noch mitten in der Nacht. Und Sie sind sicher, es war mein Klient, den Sie in dieser Nacht gesehen haben, als sie sich zwanzig Meter entfernt in der Dunkelheit hinter einem Pfeiler versteckt haben?“
„Hören Sie, ich weiß, was ich gesehen habe, Lady.“
Ich ignoriere Robby Hunters frustrierte Bemerkung und fahre fort. „Stimmt es auch, dass Sie in dieser Nacht unter der Brücke waren, um Drogen zu kaufen? Und waren Sie, um genau zu sein, zum Zeitpunkt des Überfalls high, Mr. Hunter?“
„Einspruch, Euer Ehren!“ Die Staatsanwältin springt von ihrem Platz auf.
„Abgelehnt. Bitte fahren Sie fort, Ms. Bailey.“
Mit der Erlaubnis des Richters fahre ich fort.
„Waren Sie high in der Nacht des Überfalls, Mr. Hunter?“
Der Zeuge windet sich auf seinem Stuhl, sein Blick wandert im Gerichtssaal umher. Er zuckt mit den Schultern. „Ich habe vielleicht eine Kleinigkeit eingeworfen. Ich weiß nicht.“
„Also wollen Sie uns sagen, dass Sie in der Dunkelheit und ungefähr zwanzig Meter vom Tatort entfernt, mit irgendwelchen Substanzen im Blut, hundertprozentig sicher sind, dass es sich bei dem Schützen um Mr. Velasco handelte?“
„Ich … ich“, stammelt Robby Hunter. „Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht war er es nicht.“
„Sie haben sich geirrt? Es war vielleicht gar nicht Mr. Velasco, den Sie in dieser Nacht gesehen haben? Ist es das, was Sie dem Gericht sagen wollen?“
„Ja. Ich denke schon.“
„Sie denken?“ Ich mache einen weiteren Schritt auf den Zeugenstand zu. „Sind Sie momentan auch high, Mr. Hunter?“
„Ich habe vorhin vielleicht eine Kleinigkeit genommen“, murmelt Robby Hunter und ein Raunen geht durch den Gerichtssaal.
Ich wende mich an den Richter.
„Euer Ehren. Es ist deutlich zu erkennen, dass der einzige Zeuge der Staatsanwaltschaft keinerlei Glaubwürdigkeit besitzt. Nicht nur, dass er in diesem Moment unter Drogeneinfluss steht, er gibt auch zu, dass er in der Nacht, in der er angeblich meinen Klienten gesehen hat, ebenfalls Drogen zu sich nahm.“
Der Richter wendet sich an die Staatsanwältin. „Ms. Williams, möchten Sie etwas anmerken?“
„Nein, Euer Ehren. Wir haben keine weiteren Zeugen.“ Der Richter schlägt den Hammer nieder.
„Das Gericht vertagt sich, bis die Geschworenen ein Urteil gefällt haben.“
„Bitte erheben Sie sich“, ordnet der Gerichtsdiener an, als der Richter von seiner Bank steigt und den Gerichtssaal verlässt.
Eine Stunde später sitze ich in einem Café auf der anderen Seite des Gerichtsgebäudes und nehme ein schnelles Mittagessen zu mir, als ich die Nachricht erhalte, dass die Jury zu einem Urteil gekommen ist. Zurück im Gericht spüre ich förmlich die Anspannung im Saal. Die Familie des Opfers ist sichtlich nervös, während mein Klient selbstsicher und beinahe gelangweilt aussieht.
„Würde der Vorsitzende der Geschworenen bitte aufstehen?“, bittet der Richter.
Ein Mann mittleren Alters steht in der hinteren Reihe des Geschworenenblocks auf. Der Richter spricht erneut: „Sind die Geschworenen zu einem einstimmigen Urteil gekommen?“
„Ja, Euer Ehren, das sind sie.“
„Geben Sie es bitte dem Gerichtsdiener.“
Der Vorsitzende der Geschworenen übergibt dem Gerichtsdiener ein Stück Papier, der es an den Richter weitergibt. Ich versuche, etwas in seinem Gesicht zu erkennen, während er das Schriftstück öffnet, aber es bleibt ausdruckslos. Der gesamte Gerichtssaal wartet nervös, aber geduldig darauf, dass das Urteil verlesen wird.
„Die Geschworenen befinden den Angeklagten, Leon Velasco, des Mordes für nicht schuldig. Mr. Velasco, Sie können gehen.“ Der Richter schlägt den Hammer nieder.
Beim Urteilsspruch bricht die Frau des Opfers in Tränen aus und ihr Sohn versucht, sie zu trösten. Ich werfe einen kurzen Blick in ihre Richtung. Die beiden sind verzweifelt. Dann sehe ich meinen Klienten an, der vor sich hin grinst. Ich folge seinem Blick. Er sieht ebenfalls hinüber zur Familie des Opfers. Sein Sohn sieht mich an, und in seinen Augen sehe ich Trauer und Niederlage. Es ist schrecklich und mein Magen krampft sich zusammen. Nichts will ich mehr, als aus diesem Gerichtssaal zu fliehen. Stattdessen setze ich mein übliches Pokerface auf und wende mich an Leon Velasco. „Herzlichen Glückwunsch, Mr. Velasco!“ Ich packe meine Unterlagen zusammen und stopfe sie in meine Brieftasche.
„Danke, Ms. Bailey.“
Mr. Velasco steht auf und knöpft seine Anzugjacke zu. Ich will mich nicht mit diesem Mann unterhalten. In den drei Monaten, in denen ich an diesem Fall gearbeitet habe, habe ich unzählige unangebrachte Annäherungsversuche zurückgewiesen. Ich erhalte sogar wöchentliche Blumenlieferungen ins Büro. Alle von Leon Velasco. Die Aufmerksamkeit, die er mir zuteilwerden lässt, ist beinahe gruselig. Ich fühle mich unwohl dabei und will nur weg von ihm. Mit meinen Sachen im Arm drehe ich mich um und verlasse den Gerichtssaal. Als ich nach draußen gehe, lasse ich die Luft aus meinen Lungen strömen und lege meinen Kopf in den Nacken, um die warme Sonne auf meinem Gesicht zu spüren. Dann nehme ich ein paar wohltuende, reinigende Atemzüge.
Plötzlich höre ich, wie die Türen des Gerichtsgebäudes hinter mir geöffnet werden und ich nehme eine Bewegung wahr. Ich blicke mich um und sehe Mr. Velasco zusammen mit mehreren seiner Männer aus dem Gebäude kommen. Er sieht mir in die Augen und grinst. Er ist ein schleimiger Typ und weiß genau, dass er schuldig ist. Männer wie ihn kümmert es nicht, was falsch oder richtig ist. Sie haben kein Gewissen. Mich dagegen frisst es innerlich auf. Es sind Fälle wie diese, die mich nachts nicht schlafen lassen. Äußerlich mag ich genauso kaltblütig und gewissenlos erscheinen, wie die Verbrecher, die ich verteidige, aber innerlich hasse ich meinen Job. Ich mache ihn nur, um meinem Stiefvater zu gefallen. Aber in letzter Zeit frage ich mich, ob meine Familie es wert ist, dass ich mein Gewissen und meine Seele opfere.
Ich habe mehr als die Hälfte meines Lebens damit zugebracht, Thomas Collins zu gefallen und habe alles dafür getan, um von ihm akzeptiert zu werden. Seit meine Mutter Thomas geheiratet hat, als ich noch klein war, habe ich um seine väterliche Liebe gebuhlt. Meinen biologischen Vater habe ich im Krieg verloren, als meine Mutter mit mir schwanger war. Seitdem habe ich eine Vaterfigur vermisst und mich danach gesehnt. An dem Tag, an dem ich einen neuen Dad, eine Schwester und einen Bruder bekommen habe, war ich euphorisch. Leider habe ich erfahren müssen, dass meine Gefühle nicht auf Gegenseitigkeit beruhten. Dabei war Thomas nicht immer kalt und distanziert zu mir. Damals, als meine Mutter noch lebte, hat er meine Existenz zumindest toleriert. Aber etwas in ihm hat sich verändert, als wir sie verloren. Für Thomas Collins werde ich für immer die Stieftochter sein, die wie ein Klotz an seinem Bein hängt, seit meine Mutter starb.
Mein Handy klingelt und holt mich zurück in die Gegenwart. Ich wende meinen Blick von Velasco ab. Während ich in meiner Tasche nach dem Handy krame, sehe ich den Namen meiner besten Freundin, London, auf dem Display.
„Hallo?“
„Hey. Wie war es im Gericht?“
Ich seufze laut und meine beste Freundin, die mich besser kennt als irgendjemand sonst, muss nicht weiter fragen.
„Möchtest du zu mir kommen? Ich habe eine Flasche Wein hier, die nur auf dich wartet.“
Ich lächle. „Habe ich dir in der letzten Zeit gesagt, wie sehr ich dich liebe?“
„Ich liebe dich auch. Also, wann kommst du? Ich verlasse gerade das Büro. Bin in zwanzig Minuten zu Hause.“
Ich sehe auf die Uhr. „In einer Stunde vielleicht. Ich muss noch kurz in der Kanzlei vorbei.“
„Alles klar, Liebes. Bis später.“
Ich beende das Gespräch mit London und gehe zu meinem Auto, öffne die Tür und werfe meine Tasche und meinen Aktenkoffer auf den Beifahrersitz. Doch bevor ich einsteigen kann, hält mich eine Hand am Arm fest. Mir stockt der Atem, als ich in Leon Velascos Gesicht blicke.
„Ms. Bailey, Sie sind gegangen, bevor ich Sie zum Abendessen einladen konnte. Wir haben etwas zu feiern.“
Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter. „Es tut mir leid, Mr. Velasco, aber ich muss Ihre Einladung leider ablehnen. Ich muss zurück ins Büro.“
Leon Velasco mustert mich mit ernstem Gesicht. Ich kann spüren, dass er meine Zurückweisung nicht gutheißt. Genauso wie er es nicht mochte, dass ich ihn immer wieder auf die Blumen angesprochen habe.
Kurz verstärkt er den Griff um meinen Arm. „Vielleicht ein anderes Mal, Ms. Bailey.“ Er lässt los und ich atme erleichtert aus. Mr. Velasco geht über den Parkplatz zu seinen Männern, die neben einem schwarzen SUV auf ihn warten. Plötzlich bleibt er stehen und dreht sich um. „Wir sehen uns, Ms. Bailey.“
Fünf Minuten später bin ich unterwegs und mein Handy klingelt erneut. Dieses Mal ist es Thomas.
„Wo bist du?“ Typisch Thomas: Keine Begrüßung.
„Bin gerade losgefahren und auf dem Weg zurück zum Büro.“
„Wie lief es denn?“, fragt er.
„Mr. Velasco ist ein freier Mann.“
Er brummt nur. Auch das überrascht mich nicht.
„Wenn du da bist, bin ich schon weg. Ich esse mit Avery zu Abend.“
Ich rolle mit den Augen und bevor ich noch etwas sagen kann, ist die Leitung tot. Avery ist meine Stiefschwester. Sie ist neunundzwanzig und damit drei Jahre jünger als ich. Außerdem ist Avery unglaublich verwöhnt und das größte Biest, das ich kenne, und, was es noch schlimmer macht: Sie ist Daddys kleiner Liebling. Sie hat Thomas um ihren kleinen Finger gewickelt. Sie ist faul und hat kein Ziel im Leben. Ihr größtes Problem ist es, sich für eine Nagellackfarbe entscheiden zu müssen. Sie ist nur daran interessiert, das Geld ihres Vaters auszugeben, bis sie einen reichen, rückgratlosen Loser findet, der sie heiratet. Dann macht sie das Gleiche mit seinem Geld. Als wir zusammen aufwuchsen, war es Averys Ziel, mir mein Leben zur Hölle zu machen. Ich war die Waise, die ihrem Vater am Bein klebte und das ließ sie mich nie vergessen. Dann gibt es da noch Jackson, meinen Stiefbruder. Er ist großartig und überhaupt nicht wie seine Schwester. Jackson ist einige Jahre älter als ich und auch Anwalt. Er weiß, wie schwer mein Leben mit Thomas und Avery war und ist immer auf meiner Seite. Jackson hasst es, wie sein Vater seine Schwester behandelt. Wir beide haben uns den Hintern beim Jurastudium aufgerissen, um Thomas stolz zu machen, während Avery sich als Schmarotzerin durchschlägt. Jackson hat seine Meinung oft dazu geäußert und seinem Vater gesagt, Avery müsse endlich erwachsen werden, aber Thomas kann nichts Falsches an seiner wunderbaren Tochter erkennen. Ich bin noch nicht einmal seine richtige Tochter, verdammt, und bin trotzdem zusammen mit Jackson in Thomas‘ Fußstapfen getreten. Doch ich werde immer noch wie eine Fremde behandelt. Manchmal frage ich mich, warum Thomas mir überhaupt einen Job in seiner Firma angeboten hat, als ich das Examen bestand. Ich glaube, er denkt immer noch, dass er es meiner Mutter schuldig ist. Sie ist schon lange tot und das einzig Gute, was ich über meinen Stiefvater sagen kann, ist, dass er sie angehimmelt hat. Kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag starb sie nach einem Skiunfall. Meine Mutter, Thomas, Jackson, Avery und ich waren im Urlaub in den Bergen. An unserem zweiten Tag beschloss ich, das Skifahren auszuprobieren und flehte meine Mutter an, mich mitzunehmen. Als wir auf der Piste waren, fiel mir auf, dass ich meinen Helm vergessen hatte. Mom gab mir ihren. Keine von uns beiden glaubte, dass es wirklich gefährlich war, ohne Helm zu fahren. Wir lagen falsch. Zwanzig Minuten später verlor sie den Halt und fiel nach hinten. Sie schlug mit dem Kopf auf dem schneebedeckten Boden auf. Sie sagte, dass es ihr gut gehe und war nach einigen Minuten wieder auf den Beinen. Sie lachte sogar noch darüber, wie dumm sie sich angestellt hatte. Wir fuhren noch eine Stunde weiter und hatten Spaß. Dann bekam sie Kopfschmerzen und wir kehrten zur Hütte zurück, zu den anderen, die sich vor dem Kamin einen Film ansahen. Mom schien es gutzugehen, als ich ins Bett ging. Sie sagte sogar, dass ihre Kopfschmerzen besser wurden. Am nächsten Morgen fanden wir heraus, dass es ihr überhaupt nicht gut gegangen war. Sie war im Schlaf gestorben. Die Ärzte sagten, die Ursache für ihren Tod war ein Hämatom, das von einem Schlag auf den Kopf herrührte. Es war ein seltsamer Unfall und dieser Tag wird für immer der schlimmste Tag meines Lebens sein. Auch wenn Thomas es nie gesagt hat, weiß ich doch, dass er mich für den Tod meiner Mutter verantwortlich macht. Hätte ich meinen Helm nicht vergessen, hätte Mom mir nicht ihren geliehen und würde immer noch leben. Aber weder Thomas noch irgendjemand anderes muss mir das sagen. Ich gebe mir sowieso schon selbst die Schuld.
Als ich am Büro ankomme, merke ich, dass ich die ganze Zeit über wie in Trance gefahren bin. Ich sehe Averys BMW auf dem Parkplatz, aber Thomas‘ Auto fehlt. Allerdings steht Brads Jaguar da. Brad ist mein Verlobter. Er arbeitet ebenfalls für Thomas und wurde vor ungefähr fünf Jahren eingestellt. Kurz darauf gingen wir miteinander aus. Brad hat mir vor zwei Jahren einen Antrag gemacht und ich habe angenommen. Das ist der Stand unserer Beziehung: Wir sind verlobt und wohnen zusammen. Er nervt mich damit, dass wir endlich unsere Hochzeit planen und ein Datum festlegen sollten. Aber ich zögere noch. Irgendetwas hält mich zurück. Ich mag Brad, aber ich kann nicht sagen, dass ich ihn liebe. Ich liebe die Idee von ihm, die Idee davon, dass jemandem etwas an mir liegt. Außerdem ist Brad für Thomas wie ein zweiter Sohn. Das allein ist ein Grund, warum ich so lange bei ihm geblieben bin. Bei jeder Entscheidung, die ich treffe, frage ich mich, ob Thomas sie gutheißen würde oder nicht. Mit mir stimmt definitiv etwas nicht.
Als ich hinter meinem Schreibtisch stehe und ein paar Akten verstaue, bin ich immer noch in Gedanken. Brads Stimme schreckt mich auf. „Hey.“
Ich blicke auf und er kommt einen Schritt auf mich zu. Brad ist einen Meter achtzig groß, schlank und hat hellblonde Haare. Sein Aussehen ist nicht wirklich spektakulär und ich spüre keine Schmetterlinge im Bauch, wenn ich ihn sehe. Er ist ein bisschen langweilig, aber ein anständiger Kerl. „Hi“, antworte ich.
„Wie lief es im Gericht? Ich habe gehört, du hast gewonnen.“
Ich schenke ihm ein schwaches Lächeln. „Im Gericht lief es gut. Und bei dir? Wie war dein Tag?“
„Gut. Ich habe gerade ein Meeting mit einem neuen Klienten beendet und wollte dir nur sagen, dass ich in einer Stunde noch eines habe. Es wird wahrscheinlich spät heute.“
Ich winke ab. „Das ist okay. Ich fahre später sowieso auf einen Drink zu London.“
Brad rollt mit den Augen. Er mag London nicht, aber sie kann ihn genauso wenig leiden. Die beiden tolerieren sich nur meinetwillen.
„Ihr verbringt neuerdings viel Zeit miteinander. Du bist öfter bei ihr als zu Hause“, mault Brad. „Wir beide sehen uns überhaupt nicht mehr. Außerdem ist es ein Wunder, dass du noch nicht ausgeraubt wurdest in diesem Stadtteil.“
Ich ignoriere seinen Kommentar und gehe auf seine erste Anschuldigung ein. „Wirklich? Sagt der Mann, der in den letzten Monaten ständig Meetings am späten Abend hatte. Hör zu, Brad. Du hast viel zu tun, das verstehe ich, aber gib nicht mir die Schuld dafür, dass wir uns so selten sehen. Zu einer Beziehung gehören immer zwei. Wenn du in einem Meeting sitzt, gibt es für mich keinen Grund, tödlich gelangweilt zu Hause zu sitzen, wenn ich genauso gut mit einer Freundin etwas trinken kann.“
Brad und ich haben uns in den vergangenen Monaten auseinander gelebt. Großer Gott, es ist Wochen her, seit wir das letzte Mal Sex hatten. Und im vergangenen Jahr hat er sich auch nicht mehr richtig bemüht. Immer öfter gehe ich ins Bad, wenn er fertig ist, und befriedige mich mit dem Vibrator. Sex mit Brad war noch nie überirdisch, aber wenigstens hat er sich früher um meine Bedürfnisse gekümmert.
Brad seufzt.
„Du hast recht, Liebling. Ich bin gestresst und lasse es an dir aus.“ Er küsst mich auf die Wange. „Sehen wir uns später zu Hause?“
Ich schaue ihn einen Moment lang an und nicke. „Ja. Bis später.“
Dreißig Minuten später klopfe ich an die Tür von Londons Apartment. Es dauert keine Sekunde, bis sie öffnet und mir ein Glas Wein in die Hand drückt.
„Dafür sind beste Freundinnen wirklich gut.“
„So ist es. Jetzt komm schon rein, bevor der gruselige Typ von gegenüber uns sieht.“
London lebt in einem miesen Stadtviertel und einem noch mieseren Apartmentkomplex. Und sie hat recht. Ihr Nachbar ist gruselig. Wir haben uns beim Jurastudium kennengelernt und sind seitdem unzertrennlich. Sie ist meine Seelenverwandte und wir würden alles füreinander tun. London arbeitet momentan für den Staat und verdient wenig Geld. Aber sie liebt, was sie tut. Ich bewundere meine beste Freundin dafür. Aber ich mache mir Sorgen um sie. Sie ist eine wunderschöne, alleinstehende Frau. Das und die Tatsache, dass sie hier wohnt, bereiten mir Bauchschmerzen. Ich nehme einen großen Schluck von meinem Wein und schlendere durch das Wohnzimmer. „Ich ziehe mir etwas Bequemeres an.“
„Bedien’ dich“, antwortet London trällernd und lässt sich auf das Sofa fallen. Ich gehe in ihr Schlafzimmer, stelle das Glas auf die Kommode und betrete ihre Ankleide, wo einige meiner Kleider hängen. Ich bin genauso oft bei London wie ich in unserer Wohnung bin, also haben sich einige meiner Sachen hier angesammelt. Nachdem ich meine Pumps abgestreift und meinen Bleistiftrock und die Bluse ausgezogen habe, ziehe ich ein Paar schwarze Leggings und ein T-Shirt an. Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, legt London gerade das Handy weg.
„Die Pizza kommt in zwanzig Minuten.“
„Großartig! Ich verhungere.“ Ich setze mich ihr gegenüber in den Sessel.
„Also, was macht Brad? Ihr beiden hattet keine Pläne heute Abend?“
„Nein. Er trifft sich mit einem Klienten zum Abendessen.“ Ich winke ab. „Oder was auch immer.“
„Immer noch Wolken über dem Paradies, verstehe“, sagt London trocken.
„Ja. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie es mit mir und Brad weitergehen soll. In letzter Zeit sehen wir uns nie. Wir bemühen uns nicht mehr umeinander. Außerdem haben wir uns seit Wochen nicht mehr angefasst.“
„Habt ihr darüber gesprochen?“
„Nicht wirklich. Ehrlich London, ich glaube, unsere Beziehung ist am Ende. Ich mag ihn, aber, …“
„Du liebst ihn nicht“, beendet sie den Satz für mich.
Ich antworte nicht, aber mein Schweigen spricht für sich.
Zwei Flaschen Wein und ein paar Stunden später habe ich ihr alles von meinem Tag und meinen Sorgen wegen Brad erzählt.
„Also ehrlich, manchmal verstehe ich dich nicht, Promise. Ich kapiere ja, wieso du so handelst, wirklich, aber du machst dich selbst unglücklich, und wozu?“
„Ich weiß, Lon“, seufze ich.
„Diese Leute verdienen dich nicht, Promise. Du denkst, du bist nicht gut genug für sie, aber in Wahrheit ist es andersherum.“
Mit „diese Leute“ meint London Thomas und Avery. Sie kann sie nicht ausstehen. Besonders Avery.
„Sie sind die einzige Familie, die ich habe, Lon.“
„Thomas und Avery Collins sind nicht deine Familie, Promise. Ich bin deine Familie. Sadie und Ruby sind deine Familie“, sagt sie mit Nachdruck. „Eine Familie sind Menschen, denen du wichtig bist und die wollen, dass du das tust, was dich glücklich macht. Nicht das, was sie glücklich macht. Eine Familie behandelt dich nicht, als wärst du minderwertig. Eine richtige Familie, das sind Menschen, die alles daran setzen, damit du dich besonders fühlst, die dafür sorgen, dass du dich geliebt fühlst.“
London stellt ihr Glas ab und rutscht an den Rand des Sofas, um sicherzustellen, dass sie meine volle Aufmerksamkeit hat.
Nova