Keeping Denver - Bleib bei mir - Crystal Daniels - E-Book
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Keeping Denver - Bleib bei mir E-Book

Crystal Daniels

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Beschreibung

Das Leben hat Denver Hollis hart getroffen. Mit nur dreiundzwanzig Jahren ist sie nichts als ein Schatten ihrer selbst – obdachlos, auf den Straßen New Yorks, in schäbigen Obdachlosenheimen und oft nur einen Schritt von der Verzweiflung entfernt. Doch das Schicksal scheint ihr plötzlich ein Geschenk zu machen: Durch einen unvorhergesehenen Zufall landet Denver als Assistentin beim charismatischen Staranwalt Callan Hawk. Callan ist ein Mann, der alles hat: Macht, Erfolg und eine faszinierende Ausstrahlung, die selbst den stärksten Willen in Frage stellt. Denver kann der Anziehungskraft dieses Mannes nicht entkommen, obwohl sie alles daran setzt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Ihre Welt darf nicht von einer Leidenschaft erschüttert werden, denn sie will sich auf ihre Arbeit konzentrieren und ihr Leben in eine ruhige Bahn lenken. Doch Callan will mehr – er will Denver. Er hat sie entdeckt, ihre dunkelsten Geheimnisse, ihre Ängste, ihre Verletzlichkeit, und er ist entschlossen, sie zu beschützen, sie zu erobern, sie zu seiner Frau zu machen. In ihm wächst ein Verlangen, das Denver nicht nur rettet, sondern auch in einen Strudel der Lust und Sehnsucht reißt. Aber in einer Welt voller Geheimnisse und Verrat ist nichts sicher - denn Versprechen sind dazu da, um gebrochen zu werden. Callan, der alles zu haben scheint, hat Denver enttäuscht und verraten. Die zerbrechliche Liebe, die sie zu ihm empfand, droht in einem Moment der falschen Entscheidung zu zerbrechen. Nun steht Denver vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Soll sie Callan ihr gebrochenes Herz wieder anvertrauen und sich dem Mann hingeben, der sie zerstören könnte, oder wird sie der Versuchung widerstehen und den Schmerz des Verrats für immer in ihrer Seele tragen? Die USA Today-Bestsellerautorinnen Sandy Alvarez und Crystal Daniels (Autorinnen der beliebten "Kings of Retribution MC"-Reihe) nehmen euch in diesem Einzelroman über Liebe und Vertrauen mit in eine Welt voller unerwarteten Wendungen und emotionalen Höhen und Tiefen.

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Seitenzahl: 279

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Crystal Daniels & Sandy Alvarez

Keeping Denver – Bleib bei mir

Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Franziska Dinkelacker

© 2020 by Crystal Daniels & Sandy Alvarez unter dem Originaltitel „Keeping Denver“

© 2025 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, Im Großfeld 18, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg

(www.art-for-your-book.de)

ISBN Print: 978-3-86495-778-9

ISBN eBook: 978-3-86495-779-6

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch oder Ausschnitte davon dürfen ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers nicht vervielfältigt oder in irgendeiner Weise verwendet werden, außer für kurze Zitate in einer Buchbesprechung.

Dieses Werk ist frei erfunden. Die Personen, Orte und Handlungen in diesem Buch sind fiktiv und entspringen der Fantasie des Autors. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Autorinnen

Kapitel 1

Denver

Zitternd stehe ich im beißenden Wind, starre durch das vereiste Fenster des Waschsalons und kämpfe gegen die Tränen an. Mein Leben. Ich habe einen neuen Tiefpunkt erreicht. Solange ich in der Kälte warte, hauche ich in meine eisigen Hände und versuche, sie so etwas zu wärmen. Ich beobachte, wie die Frau drinnen ihre Kleidung von der Waschmaschine in den Trockner lädt und hoffe, dass sie dann hinausgeht und ihre Klamotten eine Weile unbeobachtet lässt, wie schon während der letzten zwei Stunden.

Mittlerweile bin ich seit fast sechs Monaten obdachlos und habe von allen Arbeitgebern, bei denen ich mich beworben habe, eine Absage bekommen. Ein Blick auf mein fadenscheiniges T-Shirt, meine schmutzige Jeans und die löchrigen Sneaker, die von Klebeband zusammengehalten werden, schon haben sie alle verurteilend die Nase gerümpft. Ich wurde so oft davongejagt, dass ich den Überblick verloren habe. Mit einer einzigen Ausnahme: dem Drecksloch von einem Diner, bei dem ich mich vor einem Monat beworben habe. Der Job als Kellnerin sah vielversprechend aus, doch dann ließ der Manager durchblicken, dass ich die Stelle nur bekommen würde, wenn ich bereit wäre, dafür vor ihm auf die Knie zu gehen. Ich mag verzweifelt sein, aber meinen Körper oder meine Selbstachtung würde ich niemals mit den Füßen treten. Egal, wie groß der Hunger und die Kälte sind oder wie kurz ich davorstehe, aufzugeben: Mein Körper ist das Einzige, das ich nie hergeben würde. Wenn man auf der Straße lebt, sieht man Männer und Frauen, die Unaussprechliches tun, um sich über Wasser zu halten. Ich habe mir geschworen, nie eine von ihnen zu werden.

Der Wind peitscht mir die langen roten Haare ins Gesicht, und meine Zähne klappern. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, die ich letzten Monat in einem Müllcontainer gefunden habe, und stelle fest, dass es schon fünf nach neun am Morgen ist. Mein Vorstellungsgespräch ist um halb elf. Verdammt, ich werde zu spät kommen.

Nach der Erfahrung im Diner vor vier Wochen bin ich geradewegs in die Bibliothek gegangen, aus der sie mich aufgrund meines ungepflegten Aussehens bereits mehrmals rausgeworfen hatten. Ich hasse es, wie die Menschen Obdachlose anschauen: angeekelt. Viele behandeln uns wie Abschaum, beschimpfen uns oder geben irgendwelchen Mist von sich, wie: „Warum suchst du dir nicht einen Job und hilfst dir selbst?“ Das hat auch die Bibliothekarin damals getan, als ich einen der öffentlichen Computer benutzen wollte, um nach Stellenangeboten Ausschau zu halten und Bewerbungen zu schreiben. Hat sie denn nicht verstanden, dass ich doch genau das tun wollte? Meine Güte, die Menschen haben keinen blassen Schimmer und sind obendrein noch grausam und gemein.

Glücklicherweise war die Frau am nächsten Tag, als ich mein Glück erneut versucht habe, nicht anwesend. Stattdessen fand ich einen älteren Mann vor, den ich auf Mitte sechzig schätzen würde. Er schenkte meinem Aussehen keine Beachtung, sondern stellte sich einfach als Roland vor und führte mich zu einem der Computer. Er nahm sogar neben mir Platz und half mir dabei, nach einem Job zu suchen. Mindestens ein Dutzend Bewerbungen schickten wir ab. Da ich nur einen Highschool-Abschluss und abgesehen vom Kellnern praktisch keine Berufserfahrung habe, hielten sich meine Möglichkeiten in Grenzen. Während der nächsten Wochen ging ich noch mehrere Male in die Bibliothek, um meine Suche fortzusetzen.

Ich finde es ziemlich verrückt, dass heutzutage alles online gemacht wird. Was ist aus den persönlichen Bewerbungsgesprächen geworden? Andererseits ist es wohl zu meinem Vorteil, denn so verurteilt mich niemand wegen meines Aussehens.

Bei einem meiner Besuche in der Bibliothek erwähnte Roland, dass sein Enkelsohn Lucas für irgendeinen angesehenen Anwalt in der Innenstadt arbeite. Als Lucas und seine Schwester ein paar Tage zuvor bei Roland zum Abendessen gewesen waren, hatte sein Enkel erzählt, dass sein Boss eine persönliche Assistentin suchte. Roland rief sofort bei Lucas an und erkundigte sich, ob die Stelle noch frei sei. Obwohl sein Enkel das bestätigte, lehnte ich höflich ab. Ich kann keinesfalls in irgendeiner schicken Nobelkanzlei arbeiten. Dazu sehe ich viel zu ungepflegt aus, und obendrein gehen meine Computerkenntnisse gegen null.

Doch der nette ältere Mann notierte die Adresse und Telefonnummer trotzdem und gab mir dann den Zettel. Ich werde seine Worte nie vergessen: „Du magst vielleicht glauben, dass du für viele Dinge nicht gut genug bist, aber vertraue mir, das stimmt nicht. Lass dir bloß von niemandem einreden, dass du nichts wert bist.“

Nachdem ich zwei Tage lang erfolglos auf Rückmeldungen auf meine Bewerbungen gewartet hatte, biss ich schließlich in den sauren Apfel und verwendete das Guthaben auf meinem Handy, für das ich einen ganzen Monat gespart hatte, um die von Roland aufgeschriebene Nummer anzurufen. Die nette Frau, mit der ich sprach, erkundigte sich nicht einmal nach meinem Lebenslauf. Sie klang beinahe so, als würde sie händeringend nach einer Bewerberin suchen; das würde jedenfalls ihr Verhalten erklären. Bald wird sie jedoch herausfinden, wie die Dinge wirklich stehen.

Und jetzt bin ich also hier, um die Kleider einer Fremden zu stehlen und damit zu einem Bewerbungsgespräch für einen Job zu gehen, den ich höchstwahrscheinlich nicht bekommen werde. Ich habe keine Ahnung, was man als Assistentin eines Anwalts zu tun hat. Ehrlich gesagt kann ich gar nicht fassen, dass sie mir überhaupt ein Gespräch angeboten haben, aber eine derartige Chance kann ich mir nun mal nicht entgehen lassen.

Als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung registriere, werde ich zurück ins Hier und Jetzt katapultiert. Wie erwartet verlässt die Frau, die ich beobachtet habe, den Waschsalon und geht an mir vorbei in das Café auf der anderen Straßenseite. Ungläubig schüttle ich den Kopf. Wer lässt denn bitte in einer Stadt wie New York seine Sachen unbeaufsichtigt? Vor allem in einem Viertel wie diesem hier, wo Dutzende nur darauf lauern, fremden Besitz an sich zu reißen.

Sobald die Frau im Café verschwunden ist, schlüpfe ich in den Waschsalon und eile zu dem Stapel ordentlich zusammengelegter Kleidungsstücke neben dem Trockner, den ich hastig durchsuche. Ich finde eine schwarze Hose sowie eine blassrosa und eine marineblaue Bluse, die ich blitzschnell unter meine verschlissene Secondhandjacke stopfe. Draußen werfe ich einen bemüht beiläufigen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass niemand meinen Diebstahl beobachtet hat oder mir folgt. Die Luft ist rein.

Als Nächstes husche ich in einen kleinen Eckladen. Die Kassiererin beäugt mich argwöhnisch, doch dann wendet sie ihre Aufmerksamkeit dem Kunden zu, der sie in dem Moment etwas fragt. Ich nutze die Gelegenheit und verschwinde in die Damentoilette im hinteren Bereich des Ladens. Sobald ich die Tür von innen verriegelt habe, nehme ich meinen Rucksack ab und stelle ihn neben dem Waschbecken ab. Schnell schlüpfe ich aus meinen Turnschuhen und ziehe Jeans und T-Shirt aus. Als mein Blick auf mein Spiegelbild fällt, betrachte ich meine halb sauberen roten Haare, die mir beinahe bis zu den Hüften reichen. Dann starre ich den Frauenkörper vor mir an, den ich nicht wiedererkenne. Meine blasse Haut steht in starkem Kontrast zu meinen blauen Augen, deren Ausdruck über die Jahre stumpf geworden ist.

Als Pflegekind kann man nicht wissen, ob die Familie, zu der man geschickt wird, einen ordentlich ernährt, aber so mager wie jetzt war ich noch nie. Ich kann mich gut an eine Zeit erinnern, in der ich es kaum erwarten konnte, endlich volljährig zu sein und dem Pflegesystem zu entkommen. Ich wollte mich immer frei fühlen. Frei davon, von einem Zuhause zum nächsten geschickt zu werden. Frei von den Männern und Frauen, die Kinder eigentlich hassen und sie nur aufnehmen, um einen Scheck zu kassieren, den sie dann für ihren Drogenkonsum oder ihre leiblichen Kinder ausgeben, anstatt mir Essen und Kleidung zu kaufen. Und schließlich wollte ich mich von dem letzten Zuhause befreien, in dem ich gewohnt hatte. Die Marks waren mit Abstand die beste Familie, bei der ich gelebt hatte. Zumindest, bis Mr. Marks sechs Monate nach meinem siebzehnten Geburtstag anfing, sich seltsam zu benehmen und mir Blicke zuzuwerfen, bei denen es mir eiskalt den Rücken hinunterlief. Drei Monate vor meinem achtzehnten Geburtstag packte ich dann meine wenigen Habseligkeiten in einen Rucksack und ließ meine letzte Pflegefamilie hinter mir, ohne je zurückzublicken. Ich kam in einem Wohnheim unter und begann, in einem Fast-Food-Restaurant zu arbeiten, wo ich meine Kollegin Tiffany kennenlernte. Sie hatte eine eigene Wohnung und war seit ein paar Wochen auf der Suche nach einer neuen Mitbewohnerin. Ich nahm ihr Angebot freudig an und zog bei ihr ein.

Fünf Jahre kamen wir gut miteinander aus. Bis sie mit Jeremy zusammenkam. Ich wusste, dass Jeremy drogenabhängig war, und es dauerte nicht lange, dann schlug auch Tiffany diesen selbstzerstörerischen Weg ein. Nachdem sie ihren Job hingeworfen hatte, ging es nur noch abwärts.

Mein Gehalt reichte gerade für meine Hälfte der Miete und Nebenkosten, Tiffanys Teil konnte ich also unmöglich stemmen. Als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, war das Schloss ausgetauscht, und meine Sachen stapelten sich vor der Wohnung. An der Tür hing ein Räumungsbefehl. Offenbar hatten Tiffany und ihr abgefuckter Freund das Geld, das ich ihnen gegeben hatte, nicht für die Miete verwendet.

Außerdem hatte Tiffany anscheinend auch in dem Diner, in dem wir beide arbeiteten, Diebstahl begangen. Der Besitzer, der wusste, dass wir zusammenwohnten, folgerte, dass ich damit zu tun hatte, und feuerte mich. Das fünfjährige Arbeitsverhältnis bedeutete meinem Chef nichts. In all den Jahren habe ich nicht ein einziges Mal gefehlt, nicht einmal krankheitsbedingt. Eine unberechenbare Angestellte beziehungsweise Mitbewohnerin reichte ihm aus, um mich mit anderen Augen wahrzunehmen. Das war vor sechs Monaten. Doch egal, wie düster die Zukunft aussieht, ich weigere mich, aufzugeben. Verzweifelt klammere ich mich an die Worte des älteren Mannes in der Bibliothek und versuche, sie zu glauben.

Seufzend schüttle ich diese Gedanken ab und werfe einen Blick auf meine Uhr. Ich muss mich beeilen. Eilig öffne ich meinen Rucksack und angle das Stück Seife heraus, das ich die letzten Wochen sparsam benutzt habe. Ich drehe den Wasserhahn auf und wasche mir das Gesicht, die Hände und die Arme. Gut, dass ich vorgestern im Obdachlosenheim duschen konnte. Nicht immer habe ich so ein Glück. Manchmal sind bereits alle Betten belegt, und ich bin gezwungen, auf der Straße zu schlafen.

Sobald ich mich gewaschen habe, probiere ich die schwarze Hose und die blassrosa Bluse an. Beide Kleidungsstücke hängen viel zu locker um meinen schmächtigen, gerade einmal eins siebenundfünfzig Meter großen Körper und lassen mich wie ein Kind aussehen, das sich mit den Klamotten seiner Mutter verkleidet. Doch ich zucke nur mit den Schultern und versuche, das Beste daraus zu machen. Ich stecke die Bluse in die Hose und verwende eine Sicherheitsnadel, um sie etwas enger zu fassen. Schließlich hole ich die schwarzen Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen aus dem Rucksack, die ich aus der Spendenkiste im Obdachlosenheim ergattern konnte. Schuhwerk jeglicher Art ist normalerweise innerhalb weniger Minuten vergriffen.

Ich stütze mich mit der Hand an der gefliesten Toilettenwand ab und schlüpfe in die Schuhe. Sie sind eine Nummer zu klein und an der Spitze abgestoßen, aber das macht mir nichts aus. Mit schmerzenden Füßen kann ich leben, sollte ich den Job wie durch ein Wunder tatsächlich bekommen. Jetzt, da ich angezogen bin, wende ich mich meinen Haaren zu. Hastig wühle ich in der Tasche auf der Suche nach dem einzigen Haargummi, das ich besitze. Doch keine Spur davon. „Verdammt! Wo ist es bloß?“

Während ich weitersuche, blicke ich erneut auf meine Uhr. „Mist“, murmle ich genau in dem Moment, in dem ich endlich das Haargummi finde. Mit zügigen Bewegungen kämme ich meine langen, regennassen Haare nach hinten und flechte sie zu einem lockeren Zopf, den ich mir über die Schulter lege. Da ich unmöglich in meiner schäbigen Jacke aufkreuzen kann, stopfe ich sie zusammen mit meinen restlichen Habseligkeiten in meinen Rucksack und stürme aus der Toilette.

Als ich nach einem Sprint sechs Häuserblöcke weit endlich vor dem Bürogebäude stehe, in dem das Bewerbungsgespräch stattfinden soll, brennen meine Füße vor Schmerz und ich bin durchgefroren. Während mein Blick das hohe Gebäude vor mir hinaufwandert, schlucke ich den Kloß im Hals hinunter. Ich nehme einen tiefen Atemzug. „Du hast nichts zu verlieren, Denver. Beweg deinen Arsch da rein und bringe es hinter dich.“

Mit diesem Gedanken durchquere ich die Tür. Ein warmer Luftstrom bläst mir ins Gesicht, was sich unglaublich gut anfühlt. In der Mitte der Eingangshalle entdecke ich einen Schalter, hinter dem mehrere Männer vom Sicherheitsdienst stehen, und gehe auf sie zu.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragt mich einer von ihnen.

„Ich habe ein Bewerbungsgespräch mit Mr. Hawk. Mein Name ist Denver Hollis.“

Der Mann schaut auf seinen Computerbildschirm und tippt etwas ein. „Stimmt, Sie sind angemeldet, Miss Hollis.“ Er überreicht mir einen Besucherausweis, den ich an meinem Oberteil befestige. „Mr. Hawks Büro ist im sechzehnten Stock. Die Aufzüge befinden sich dort hinten rechts“, erklärt er dann und zeigt in die entsprechende Richtung.

„Danke“, erwidere ich und nicke.

Doch als ich losgehen will, hält der Sicherheitsdienstmitarbeiter mich auf. „Zuerst muss ich Ihre Tasche überprüfen.“

Ich erstarre und drehe mich zu dem Mann um, der erwartungsvoll die Hand ausstreckt, schließlich reiche ich ihm meinen Rucksack. Eine Welle der Scham überkommt mich, während er ihn öffnet und den Inhalt durchsieht. Er sieht kurz zu mir auf, macht jedoch keinen Kommentar über meine alten, zerlumpten Klamotten. Endlich schließt der Mann den Reißverschluss wieder und gibt mir den Rucksack zurück. Wortlos nehme ich ihn entgegen, gehe zum Aufzug und fahre in den sechzehnten Stock.

Kapitel 2

Denver

Ich verlasse den Aufzug und versuche, die Falten meiner Bluse zu glätten, während ich den kurzen Flur mit langweiligen Kunstwerken und grauem Interieur an den Wänden hinuntergehe. Als ich um die Ecke biege, erblicke ich einen Empfangstisch und dahinter eine Frau, die Ende zwanzig oder Anfang dreißig ist. Ihre schwarzen Haare sind im Nacken zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Auf einem Schild über ihr steht HAWK LAW, CALLAN HAWK, Rechtsanwalt.

 Als ich den Tresen erreiche, hört sie auf, auf der Tastatur zu tippen, und schaut mich verurteilend an. Missbilligend zieht sie einen Mundwinkel hoch. Ich schlucke meine Angst hinunter und setze ein falsches Lächeln auf. „Hallo.“

„Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigt sich die Empfangsdame und wendet sich dann mit gesenktem Kopf wieder ihrer Arbeit zu, als hätte sie keine Zeit oder keine Geduld für mich.

„Ja. Ich habe einen Gesprächstermin mit Mr. Hawk.“

Bei meinen Worten schießt ihr Kopf hoch, sie schürzt die Lippen und kneift die Augen zusammen. „Den Flur entlang und dann links. Nehmen Sie dort Platz, in wenigen Minuten wird Sie jemand abholen.“

Ich befolge ihre Anweisung und gehe den Flur hinab, bis ich einen zweiten Vorraum erreiche. Hier gibt es einen größeren Empfangstresen und drei Stühle auf der gegenüberliegenden Seite. Ich sehe mich um, kann jedoch niemanden ausmachen. Also nehme ich seufzend Platz, lege die Hände in den Schoß und warte. Eine Minute wird zu zehn Minuten, und zehn Minuten werden zu einer halben Stunde. Irgendwann werfe ich einen Blick auf meine Uhr und stelle fest, dass mein Termin vor beinahe zwei Stunden hätte stattfinden sollen.

Als plötzlich die Bürotür zu meiner Linken aufgestoßen wird, fahre ich zusammen. Beim Anblick des hochgewachsenen, gut aussehenden Mannes, der herauskommt, stockt mir der Atem. Er ist locker einen Meter neunzig groß und hat breite Schultern sowie ein perfekt gemeißeltes Kinn. Seine dunkelbraunen Haare sind elegant gestylt, und die Farbe seiner strahlenden Augen harmoniert mit dem maßgeschneiderten Anzug, der garantiert mehr Geld kostet, als ich in den letzten zwei Jahren gesehen habe.

Der atemberaubende Mann geht mit dem Handy am Ohr und ausdruckslosem Gesicht an mir vorbei, und es überrascht mich nicht im Geringsten, dass er mich keines Blickes würdigt. Das bin ich gewohnt. Mein Leben lang wurde ich übersehen.

Dennoch warte ich eine weitere Stunde. Gerade will ich aufgeben und gehen, aber in dem Moment eilt eine ältere Frau mit grauem Bob, einer Lesebrille und den Armen voller Akten herein. Sie bleibt abrupt stehen, als sie mich bemerkt. Kurz sieht sie sich um, dann schaut sie mich erneut an. „Warten Sie auf jemanden, meine Liebe?“

Ich nicke. „Ja. Ich bin wegen des Bewerbungsgesprächs für die Stelle der persönlichen Assistentin hier.“

Sie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr und kämpft dabei mit dem Stapel Dokumente, den sie trägt. „Der Termin war vor eindreiviertel Stunden. Ich befürchte, Sie haben ihn verpasst.“

Ich schlucke und schüttle den Kopf. „Nein. Ich war sogar fünf Minuten früher da. Die Dame dort vorn“, ich zeige in Richtung Eingang, „hat mich gebeten, hierherzukommen und Platz zu nehmen. Sie meinte, dass mich gleich jemand abholen würde.“

„Ach du meine Güte. Und seitdem warten Sie hier?“

„Ja.“ Ich atme tief ein. „Ich brauche diesen Job. Wenn es irgendwie möglich ist, würde ich das Bewerbungsgespräch gerne nachholen. Bitte.“

Die Frau legt die Papiere auf dem Stuhl neben mir ab und streckt mir die Hand entgegen. „Mein Name ist Mrs. Marshall. Du kannst mich Frances nennen, und wir können uns duzen.“

Ich schüttle ihre Hand. „Hi, Frances, ich bin Denver Hollis.“

„Was für ein schöner Name, Denver. Begleite mich doch in mein Büro, damit wir alles vorbereiten können.“

„Für das Gespräch?“ Ich erhebe mich und nehme Frances mehrere der Akten ab, mit denen sie kämpft.

„Oh, meine Liebe, du hast den Job bereits. Du musst nur noch die Unterlagen ausfüllen.“

Ungläubig starre ich sie an. „Was soll das heißen, ich habe den Job? Du hast mir keine einzige Frage gestellt, und ich dachte, ich hätte zuerst einen Termin mit Mr. Hawk.“

„Mr. Hawk hat gerade einen Gerichtstermin, also erteile ich dir hiermit die Zusage. Jemand, der die Geduld hat, zwei Stunden auf ein Bewerbungsgespräch zu warten, ohne überhaupt zu wissen, ob daraus etwas wird, ist genau richtig für diese Stelle. Wenn du hier arbeitest, wirst du noch viel Geduld mit Mr. Hawk brauchen. Lass uns nur schnell diesen Papierkram zu Kelly bringen, dann können wir uns in meinem Büro in Ruhe unterhalten.“

Meine Vermutung, dass Kelly die Frau ist, mit der ich davor bereits Bekanntschaft gemacht habe, bestätigt sich, als Frances vor ihrem Schreibtisch stehen bleibt und die Unterlagen darauf fallen lässt. Dasselbe tue ich mit den Dokumenten, die ich getragen habe.

Kelly beendet ihr Telefongespräch und blickt mit einem zuckersüßen Lächeln zu Frances auf. Ganz und gar nicht so, wie sie mich begrüßt hat. „Wie geht es dir, Frances?“

„Kümmere dich vor dem Mittagessen bitte noch um diese Akten, Kelly. Mr. Hawk erwartet sie auf seinem Schreibtisch, wenn er zurückkommt.“

Kelly reißt die Augen auf. „Aber meine Mittagspause beginnt in fünfzehn Minuten.“

„Dann würde ich mich an deiner Stelle gleich an die Arbeit machen. Mr. Hawk wird vermutlich innerhalb der nächsten Stunde wieder da sein.“

Kelly schnaubt, doch Frances ignoriert sie und wendet sich ab. Bevor sie sich entfernt, dreht sie sich jedoch erneut zu Kelly um. „Ah, das hätte ich beinahe vergessen. Kelly, das ist Mr. Hawks neue Assistentin, Denver Hollis.“

„Was?“, quietscht Kelly. „Mr. Hawk hat noch nicht alle Bewerbungsgespräche geführt. Es gibt drei weitere Kandidatinnen, und ich bin eine von ihnen. Meine Bewerbung war die erste, die eingereicht wurde, nachdem die letzte Assistentin gekündigt hat.“

„Mag sein, aber Denver ist die am besten Qualifizierte. Ich sehe keinen Grund, die Suche fortzusetzen. Außerdem hat mir Mr. Hawk höchstpersönlich grünes Licht gegeben, um diejenige Person anzustellen, die ich für die Stelle geeignet finde. Ich habe beschlossen, dass Miss Hollis genau die Richtige ist.“

Mit diesen Worten macht Frances auf dem Absatz kehrt und entfernt sich. Ich folge ihr schweigend. Kurz bevor wir um die Ecke gehen, bleibt Frances stehen und dreht sich ein letztes Mal zu Kelly um, die mir einen mörderischen Blick zuwirft. „Eine letzte Sache, Kelly. Wenn du es noch einmal versäumst, einen von Mr. Hawks Besuchern anzukündigen, werde ich ihn darüber informieren.“

Ich folge Frances in ihr Büro. Während sie die Tür schließt, nehme ich auf dem Stuhl ihrem Schreibtisch gegenüber Platz.

„Ich vermute, dass Kelly diese Stelle unbedingt wollte“, beginne ich das Gespräch.

„Das Letzte, was Mr. Hawk braucht, ist eine Assistentin, die ihn sich krallen will. Und genau darauf hat Kelly es abgesehen.“

Ein mattes „Hm“ ist alles, was ich herausbringe.

Frances durchforstet einen Moment lang die Unterlagen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapeln, dann wird sie fündig. „Hier sind die Formulare, die alle Angestellten ausfüllen müssen. Das kannst du in Ruhe zu Hause erledigen. Wir brauchen alle wichtigen Informationen: Name, Adresse, Sozialversicherungsnummer … Du weißt schon.“ Sie reicht mir die Dokumente, und ich nehme sie entgegen.

„Wann kannst du anfangen, Denver?“

„Morgen.“

„Gibt es denn keine Kündigungsfrist, die du einhalten musst?“

„Ich bin aktuell nirgends angestellt.“

„Was war deine letzte Arbeitsstelle? Hast du Erfahrung als persönliche Assistentin?“, will Frances wissen.

Das Herz rutscht mir in die Hose. „Nein, die habe ich nicht. Zuletzt habe ich gekellnert. Aber während der fünf Jahre in meinem letzten Job habe ich nicht einen Tag gefehlt. Ich arbeite hart, Frances, und bin bereit, alles zu geben.“

Frances lächelt mich warmherzig an. „Daran habe ich keine Zweifel, Sweetheart. Ich habe ein gutes Gefühl bei dir.“

Ihre Worte beruhigen mich auf der Stelle, und die Anspannung weicht aus meinen Schultern. „Danke. Ich verspreche, dass ich mich anstrengen werde.“

Während Frances mit den Dokumenten beschäftigt ist, knurrt plötzlich mein Magen deutlich hörbar, und ich werde rot vor Scham.

„Ach du meine Güte. Es ist spät geworden! Es scheint, als hätten wir beide die Mittagspause verpasst. Bist du damit einverstanden, dass wir dieses Gespräch unten im Deli fortsetzen?“ Frances steht auf und sieht mich fragend an. Ich besitze genau drei Dollar, die ich gespart habe, um meine Kleidung im Waschsalon zu reinigen.

„Ich habe keinen Hunger, begleite dich aber gerne.“ Mein Gesicht wird brennend heiß, als ich ihr diese Lüge auftische. Es entgeht mir nicht, dass Frances mich aufmerksam betrachtet.

Ihre Augen blitzen kurz auf. „So ein Unfug. Außerdem geht das auf die Firma. Das ist das Mindeste, was wir tun können, nachdem wir dich so lange haben warten lassen.“

Ich nicke, hebe meinen Rucksack vom Boden auf und stehe auf. Wie peinlich mir die Situation auch sein mag, es wäre dumm, eine kostenlose Mahlzeit abzulehnen. „Danke, Frances. Mittagessen klingt gut.“

Im Erdgeschoss angekommen, führt mich Frances in das Restaurant.

„Es muss praktisch sein, im selben Gebäude essen zu können“, bemerke ich. „Vor allem an so nasskalten Tagen wie heute.“

„Trotz seines Rufs und seiner Launen ist Mr. Hawk ein guter Mensch. Er hat das Deli vor ein paar Jahren einrichten lassen.“

Frances tritt an den Tresen und bestellt ein Clubsandwich mit Hühnchen und einen Salat. Ich nehme dasselbe. Nachdem wir unser Essen bekommen haben, folge ich Frances zu einem Ecktisch, an den wir uns setzen.

„Was für ein Ruf denn?“, hake ich nach.

Frances sieht mich fragend an. „Hast du noch nie von Callan Hawk gehört?“

Ich schüttle den Kopf. Für Tratsch über Promis oder die New Yorker High Society interessiere ich mich nicht im Geringsten, außerdem habe ich dafür überhaupt keinen Kopf. Ich kämpfe tagtäglich ums Überleben. So wie Frances mich gerade anschaut, scheint sie zugleich schockiert und angenehm überrascht zu sein.

„Je besser ich dich kennenlerne, desto sympathischer bist du mir.“

„Danke …?“

Die nächsten Minuten essen wir schweigend. Ich bin so hungrig, dass ich mir größte Mühe geben muss, nicht alles gierig hinunterzuschlingen und mich vor ihr zum Affen zu machen. Ihr beobachtender Blick ist mir nur allzu bewusst, weshalb ich mich zu kleinen Bissen zwinge.

Nachdem ich ein halbes Sandwich gegessen habe, packe ich den Rest für später ein. Wenn man auf der Straße und in einem Obdachlosenheim lebt, lernt man, Nahrungsmittel aller Art zu horten. Man weiß nie, wann es die nächste Mahlzeit geben wird. Meine Gedanken wandern zu den Momenten, in denen ich so hungrig war, dass ich Essensreste aus einer Mülltonne verschlungen habe. Das waren die absoluten Tiefpunkte meines Lebens. Ich werfe Frances einen Blick zu, doch sie verzieht keine Miene, als ich das eingewickelte Sandwich in meiner Tasche verstaue.

Da ich einen Moment für mich allein brauche, stehe ich auf. „Ich gehe kurz auf die Toilette, ja?“

„Natürlich, meine Liebe.“ Frances lächelt mich warm an.

Als ich meine Tasche nehmen will, hält sie mich jedoch zurück. „Lass sie ruhig hier, ich passe darauf auf, bis du zurückkommst.“

Normalerweise lasse ich meinen Rucksack nicht aus den Augen, denn darin ist mein ganzer Besitz. Es mag zwar nicht viel sein, aber es ist alles, was ich habe. Wenn man auf der Straße lebt, lernt man, seine Dinge mit Händen und Füßen zu verteidigen. Einen Moment lang betrachte ich sie eingehend, dann beschließe ich, dass ich ihr vertrauen kann, und lasse meine Tasche los. „Danke. Ich bin gleich zurück.“

Sobald ich auf der Toilette fertig bin, trete ich ans Waschbecken und beginne, mir die Hände zu waschen. Erschrocken fahre ich zusammen, als ich Kellys spöttisches Lächeln im Spiegel erblicke. „Ich weiß nicht, was du getan hast, um diesen Job zu bekommen, aber eines kann ich dir verraten: Du wirst keine Woche durchhalten.“

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und zucke mit den Schultern. Gehässigkeit liegt mir fern.

„Schau dich doch einmal an.“ Kichernd wirft sie ihr Papierhandtuch in den Mülleimer, dann lehnt sie sich mit der Hüfte an die Ablagefläche und lässt den Blick von oben bis unten über meinen Körper wandern. „Wo hast du überhaupt dieses Outfit aufgetrieben? Auf dem Wühltisch im Secondhandladen?“

Die Demütigung lässt meinen Magen verkrampfen.

„Mr. Hawk ist ein sehr bekannter Mann. Er braucht eine Person mit Stil und Klasse, die ihn vertritt. Er wird auf den ersten Blick wissen, dass du nicht die Richtige für diesen Job bist. Und wenn er dich erst einmal gefeuert hat, werde ich diese Stelle bekommen. Genau so, wie es von Anfang an sein sollte.“ Mit diesen Worten stolziert Kelly auf ihren zwölf Zentimeter hohen High Heels mit roter Sohle aus der Damentoilette.

Es ist wahr, was sie gesagt hat, aber das wird mich nicht davon abhalten, mein Bestes zu geben. Außerdem rede ich mir ein, dass an ihrer Prophezeiung über meinen neuen Boss nichts dran ist. Ich hoffe, dass Mr. Hawk mich nicht auf der Stelle feuert, wenn er mich das erste Mal zu Gesicht bekommt.

 Als ich an den Tisch zurückkehre, ist Frances mit ihrem Sandwich fertig und hat ein Tablet herausgeholt. „Jetzt, wo wir gegessen haben, können wir uns wieder an die Arbeit machen, meinst du nicht?“

„Gerne“, erwidere ich lächelnd und schiebe die Gedanken an den Zwischenfall mit Kelly beiseite. Sie ist es nicht wert, meine Kraft oder Zeit an sie zu verschwenden.

„Würde es für dich in Ordnung gehen, morgen etwas früher zu kommen? Sagen wir, gegen sieben Uhr? So kann ich dir Mr. Hawks Zeitplan erklären und dich in das Computersystem einweisen. Seit er seine letzte Assistentin rausgeworfen hat, habe ich diese Aufgaben übernommen. Ich möchte dich im Voraus warnen: Mr. Hawk kann sehr anspruchsvoll sein, und die Arbeit wird dir anfangs sicher hektisch vorkommen, aber ich werde dir Zeit geben, um dich einzugewöhnen. Sobald du verstanden hast, wie hier der Hase läuft, werde ich dir mehr Verantwortung übertragen. Was hältst du davon?“

„Hervorragend.“

„Genau, was ich hören wollte.“

Ich lächle. In der kurzen Zeit, die ich mit Frances verbracht habe, hat sie sich als liebenswürdige und geduldige Frau erwiesen. Ich habe mir immer vorgestellt, dass eine Großmutter sich so verhalten würde.

„Okay, Denver. Sprechen wir über dein Gehalt. Als neue Angestellte hast du erst einmal neunzig Tage Probezeit. In dieser Phase liegt dein Einkommen bei fünfzigtausend pro Jahr. Danach wird es auf fünfundsiebzigtausend erhöht. Das beinhaltet eine jährliche Prämie, zwei Wochen Krankschreibung und zwei Wochen Urlaub. Wenn du länger als ein Jahr bei uns bleibst, werden wir uns mit Mr. Hawk zusammensetzen und diese Bedingungen neu aushandeln. Bist du damit einverstanden?“

Ich falle fast vom Hocker, als sie die fünfzigtausend Dollar erwähnt. Im Diner habe ich nicht einmal halb so viel verdient. Es dauert einen Moment, bis mir bewusst wird, dass Frances mich erwartungsvoll anblickt, weil ich ihre Frage noch nicht beantwortet habe. „Ja!“, platzt es aus mir heraus.

***

Eine Stunde später, als Frances und ich alle Details besprochen haben, verlasse ich das Gebäude und gehe die zehn Blocks bis zum Obdachlosenheim, wo sich bereits eine Schlange gebildet hat. Es gibt nur eine beschränkte Anzahl freier Betten pro Nacht, und wenn man einen Platz bekommen will, muss man spätestens um fünf Uhr nachmittags da sein und sich anstellen. Ich war erleichtert, als Frances mir erklärt hat, dass ich immer um vier Uhr Feierabend haben werde. Damit habe ich eine Stunde Zeit, um die Strecke von der Arbeit bis zum Obdachlosenheim zurückzulegen. Außerdem habe ich ausgerechnet, dass ich nach einem Monat genug Geld angespart haben müsste, um mir eine eigene kleine Wohnung leisten zu können. Ich stelle mich in der Schlange an und warte. Nur noch dreißig Tage. Das schaffe ich.

Bis spät in der Nacht liege ich wach in meinem Bett, zu aufgeregt, um zu schlafen. Noch dazu habe ich Hunger. Da kommt mir das halbe Sandwich in den Sinn, ich setze mich hin und hebe den Rucksack vom Boden auf. Als ich ihn geöffnet habe, schnappe ich überrascht nach Luft. Schnell lege ich die Hand auf den Mund und sehe mich um, um sicherzugehen, dass ich niemanden geweckt habe, dann schaue ich erneut in meine Tasche. Darin ist nicht nur der Rest von meinem Mittagessen, sondern auch eine Papiertüte mit zwei Blaubeermuffins, eine Tüte Chips und zwei Flaschen Wasser.

Das muss Frances gewesen sein.

Kapitel 3

Denver

Auf dem Weg zu meinem ersten Arbeitstag verfluche ich am nächsten Morgen das New Yorker Wetter. Es ist Mitte November, und gerade zeigt das Thermometer Temperaturen knapp unter null. Es könnte schlimmer sein – immerhin schneit es nicht. Aber die dünne Bluse, die ich trage, hält mich nicht im Geringsten warm.

Hoffentlich gewährt mir Mutter Natur ein wenig Aufschub, bis ich mein erstes Gehalt bekomme und mir einen Wintermantel kaufen kann. Es widerstrebt mir, auch nur einen Cent für Extras ausgeben zu müssen, schließlich ist es mein Hauptziel, mir eine kleine Wohnung zu mieten, aber um einen Mantel komme ich wohl nicht herum.

Sobald ich um die Ecke biege, bläst mir der eiskalte Wind die Haare aus dem Gesicht, und meine Nase fängt an, zu laufen. Schützend schlinge ich mir die Arme um den Körper und nähere mich so dem Eingang zu meiner neuen Arbeitsstelle. In dem Moment fährt eine elegante schwarze Limousine vor und hält am Straßenrand. Der Fahrer steigt aus und umrundet den Wagen, um die hintere Tür zu öffnen.

Zum Vorschein kommt derselbe Mann wie der, den ich bereits gestern gesehen habe: dunkle Haare, gemeißeltes Kinn und ein makelloser marineblauer Anzug, der zweifelsohne teuer ist. Ich halte inne und starre ihn an. Er ist wirklich atemberaubend. Alles an ihm strahlt Macht, Geld und Sex aus. Auch dieses Mal läuft er mit dem Handy am Ohr an mir vorbei. Fasziniert beobachte ich die Reaktion der Menschen in der Nähe. Die Frauen gaffen ihn unverwandt an, die Männer grüßen ihn mit einem knappen Nicken. Erst als er im Gebäude verschwunden ist, komme ich zu Sinnen und gehe ebenfalls hinein.

Der Sicherheitsbeamte von gestern erkennt mich gleich wieder. „Miss Hollis“, grüßt er mich.

Ich lächle und winke ihm zu, während ich die Eingangshalle durchquere. Beinahe rechne ich damit, dass ich als Erstes Kelly begegne, doch als ich aus dem Fahrstuhl trete, ist keine Spur von ihr und ihrem missbilligenden Blick zu sehen. Ehrlich gesagt bin ich froh, wenn ich sie überhaupt nicht zu Gesicht bekomme.

Frances sitzt bereits hinter meinem Schreibtisch und wartet auf mich. „Guten Morgen, Denver. Wie geht es dir?“

„Guten Morgen, Frances. Gut, danke.“

Frances winkt mich zu sich. „Nimm doch Platz, dann können wir gleich loslegen.“ Sie weist auf den Aktenschrank zu unserer Rechten. „Deine Tasche kannst du hier ablegen, wenn du möchtest.“

Ich nicke, stelle meinen Rucksack dort ab und setze mich auf den freien Stuhl neben ihr vor dem Computer. Während der nächsten Stunde zeigt sie mir das System und erklärt mir, wie ich mich in Mr. Hawks Terminkalender zurechtfinde. „Auf diesem Notizzettel stehen die Namen der Personen, die du sofort zu Mr. Hawk durchstellen musst. Von allen anderen nimmst du eine Nachricht an, egal, wie sehr sie drängen, mit ihm zu sprechen. Verstanden?“

„Ja. Immer eine Nachricht annehmen, außer eine der hier aufgelisteten Personen ist am Telefon.“ Ich deute auf den Zettel.