Klartext, bitte! - Christian Olding - E-Book

Klartext, bitte! E-Book

Christian Olding

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Beschreibung

In diesem Buch erzählt der Kaplan Christian Olding seine Geschichte. Sie zeigt, dass sich das Wagnis Gott zu suchen, lohnt. Es geht um Wunden, Verletzungen und Narben und um das Vertrauen, dass es Heilung und eine Zukunft gibt. Sein Buch spricht Klartext: schonungslos ehrlich, wenn er über den Suizid seines Vaters und den Einfluss auf seinen Glauben spricht, und einfühlsam und leise, wenn es um Hoffnung oder spirituelle Erlebnisse geht. Seine Geschichten motivieren dazu, Vertrauen auf Gott zu setzen. Sie machen deutlich, wie Vertrauen geht: niemals theoretisch. Schwimmen lernt auch keiner beim Zuschauen vom Beckenrand aus. Irgendwann kommt der Moment, an dem man springen muss. Dazu macht Olding Mut, den Sprung zu riskieren. Er bietet dafür seine Narben und wunden Punkte, weil sie glaubwürdig sind. Und er erzählt von dem Potenzial einer Gemeinschaft, die diesen Glauben miteinander teilt. Christian Olding polarisiert und inspiriert. Er gilt den einen als charismatischer Reformer und den anderen als dickköpfiger Rebell. Tatsache ist: Seine Gottesdienste sind voll. Voller Überraschungen und voller Menschen, Menschen jeder Altersgruppe. Sie kommen, weil er die Botschaft Christi verständlich und in einer modernen Weise vermittelt, egal ob mit Lasertechnik, Videosequenzen oder Predigten. Noch wichtiger: Olding setzt nicht auf seichtes Geschwätz oder leere Floskeln, sondern findet Worte, die die Menschen verstehen und berühren. So auch in seinem neuen Buch. Und auch dort schreckt er vor Kritik nicht zurück, zum Beispiel an der falschen Ausbildung von Priestern und am Narzissmus in der Kirche. Olding zeigt, wie Kirche heute noch etwas zu sagen hat, mit überzeugten und überzeugenden Menschen. Olding hat aus eigener Erfahrung gelernt, dass der Glaube anderer einem selbst am Ende wenig nützt. Es gibt Wahrheiten, die man selbst entdecken muss. "Mein Glaube hat mir geholfen, zu erkennen, wer ich wirklich bin. Das war nicht nur schön, sondern auch ziemlich schmerzlich.

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Christian Olding

Klartext,

bitte!

Glauben ohne

Geschwätz

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Coverfoto: © Andrea Faure

Umschlaggestaltung: © Christoph Pittner (Pittner-Design)

E-Book-Konvertierung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand

ISBN Print 978-3-451-37845-4

ISBN E-Book 978-3-451-81139-5

Für alle, die mich haben wachsen lassen.

Inhalt

Einleitung

Der Apfel fällt vom Stamm

Das Erbe der Väter ...

... hinter sich lassen

Die zarteste Versuchung

Das Leben ist schön

Freunde und ihre Folgen

Betest du nicht, lebst du nicht ...

Vom Priesterwerden zum Priestersein

Haben Sie gedient?

Muss das so sein – oder geht das auch anders?

veni! Komm!

Pippi Langstrumpf oder Hiob?

Der Tod ist maigrün

Heiliger Dilettantismus

Anstelle eines Schlusswortes

Über den Autor

Einleitung

In diesem Buch geht es um mich. Aber irgendwie auch nicht. Na ja, es geht schon um mich, aber mehr als Angebot.

Glauben ist niemals etwas Selbstverständliches. Er lässt sich nicht machen. Glauben kann ich nicht herbeibefehlen und er funktioniert auch nicht. Ich kann ihn immer wieder nur wagen und riskieren. Dass das allerdings geht, dass Gott wirklich zu entdecken ist von denen, die ihn suchen, das ist ein Versprechen: »Wenn ihr mich sucht, werdet ihr mich finden. Ja, wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, will ich mich von euch finden lassen. Das verspreche ich, der Herr. Ich werde euer Schicksal zum Guten wenden.« (Jeremia 29.13f.) Jeder soll das erfahren und erleben können. Es gibt einen Gott. Er ist da. Er ist erlebbar. Damit ist kein Mensch von Natur aus resistent gegenüber Gott. Er hat höchstens noch nicht mit der Suche begonnen.

Mit diesem Buch biete ich meine Geschichte an. Es ist keine einzigartige. Es ist eine von so vielen, die davon erzählt, wie jemand seinen Weg mit Gott gesucht hat. Es ist eine weitere Thomas-Episode. Aber es ist eben auch eine, die zeigt, dass sich dieses Wagnis, Gott zu suchen, lohnt.

Es ist eine Thomas-Episode, weil es um Wunden, Verletzungen und Narben geht. Unsere Geschichten sind häufig voller Schmerz, voller Zerbrochenheit. Aber es gibt auch die Narben Jesu. Sie erzählen eine ganz andere Geschichte. Sie sprechen davon, dass Heilung möglich ist, dass es eine Zukunft gibt. Jesus ermöglicht dem zweifelnden Thomas dieses Vertrauen, indem er ihm seine wunden Stellen anbietet. Jesus spielt nicht den starken Helden, er hält gegenüber dem Zweifler keine flammende Predigt. Er bietet ihm etwas viel Intimeres: »Leg deinen Finger auf meine durchbohrten Hände und sieh sie dir an! Gib mir deine Hand und leg sie in die Wunde an meiner Seite! Zweifle nicht länger, sondern glaube!« (Joh 21,27) Er bietet ihm Berührung und Begegnung. Thomas darf seine Finger und Hände in die wunden Punkte legen. Das ist glaubhaft für ihn. »Mein Herr und mein Gott« (Joh 21,28), entfährt es ihm. Daran erkennt Thomas also seinen Herrn: An den Narben, die das überwundene Leid zeigen. Und diese Zeichen bleiben an Jesu Körper für alle Zeit. Es gibt kein Zurück zu einem Zustand davor. Es gibt nur ein darüber hinaus.

Mein Glaube hat mir geholfen, zu erkennen, wer ich wirklich bin. Das war nicht nur schön, sondern auch ziemlich schmerzlich. Aber ich durfte erleben, dass Jesus schon längst in meinen Abgründen sitzt und auf mich wartet. Dumm gelaufen. Er war niemals fort und woanders. Er war schon längst da. Ich bin einfach nur zu ihm zurückgekehrt, indem ich mich getraut habe, meine wunden Stellen in den Blick zu nehmen und dem Versprechen der Narben Jesu zu vertrauen: Es gibt eine Zukunft!

Die biblische Erzählung vom guten Thomas macht eines auch sehr deutlich: Der Glaube anderer nützt mir selbst am Ende wenig. Es gibt Wahrheiten, die muss man selbst entdecken. Da reicht die Erfahrung anderer für mein Leben nicht aus. Die Geschichten anderer können mich höchstens motivieren, mein Vertrauen auf Gott zu setzen. Sie machen deutlich, wie Vertrauen geht: niemals theoretisch. Schwimmen lernt auch keiner beim Zuschauen vom Beckenrand aus. Irgend­wann kommt der Moment, an dem ich springen muss. Dann heißt es learning by doing. Genauso ist es auch mit dem Glauben an Jesus.

Mit diesem Buch möchte ich Mut machen, den Sprung zu riskieren. Ich will meine Narben und wunden Punkte anbieten, weil ich sie für glaubwürdig halte. Und ich will von dem Potenzial einer Gemeinschaft erzählen, die diesen Glauben miteinander teilt.

Der Apfel fällt vom Stamm

In der Schule wie im Leben

sollte man sein Bestes geben,

denn nur wer sein Bestes gibt,

ist bei jedermann beliebt.

Dein Vater

Diese fünf Zeilen stehen auf der ersten Seite meines Poesiealbums aus der 3. Schulklasse. Mein Lebensmotto, geschrieben von meinem Vater. Der Vater, der sich wenig später sein eigenes Leben nimmt. Und damit meines für immer verändert.

Bis zu diesem Mittwoch vor etwas mehr als zwanzig Jahren wachse ich behütet auf in Lastrup. Ein verschlafenes Kaff bei Cloppenburg, tief in der niedersächsischen Provinz. Fünftausend Einwohner auf zwölf Bauernschaften verteilt. Ich bin ein Kind vom Land, vom Dorf: Onkel mit Bauern­höfen, später auch Windkrafträder, das Eau de Toilette Gülle, die Schweinepest, ein Schulbus, der Dorfladen Kramer – mit angeschlossenem Café – und die Futterkrippe. Bei Letzterer handelt es sich um einen Schnellimbiss, den mein Bruder besuchte, meine Eltern aber strikt verteufelten und für den das Adjektiv »rustikal« ein Lob ist. Auf Wikipedia habe ich gelesen: 2011 wählten 88,9% der Bewohner die CDU. Sagt alles, oder?

Die Mitte von Lastrup ist aber nicht das Rathaus oder ein Politikerbüro, sondern die St. Petrus-Kirche. Die Pinöppel unter der Gebetbuchablage sind das Erste, woran ich mich beim Thema Kirche erinnere. Mit denen konnte ich als Kind so herrlich die Predigtzeit und das Hochgebet überbrücken. Eigentlich waren sie für die Hutablage gedacht, aber mit meiner blühenden Kinderfantasie wurde alles daraus, um eine spannende Zeit zu haben. Den Volltreffer hatte ich erwischt, wenn bereits andere tätige Kinderhände diese Holzstücke so weit vorgelockert hatten, dass ich sie ohne Probleme herausziehen konnte. Dann hielt ich wahlweise ein Flugzeug oder ein Raumschiff in den Händen. So lange, bis die elterliche Hand und ein eindringlich-eindrucksvoller elterlicher Blick das Spiel beendete. Leider fehlte mir in diesem Alter noch die Mahnung Jesu: »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder«, als schlagkräftiges Argument.

Ob es genützt hätte, weiß ich nicht. Aber immerhin gehört Lastrup zu einem katholischen Mistbeet inmitten eines evangelischen Landstriches. Das sozialisiert und prägt unweigerlich. Der Gottesdienstbesuch am Sonntagmorgen war obligatorisch und der parallel laufende Tigerentenclub keine diskutable Alternative. Bei schwierigen Situationen wurde in der Kirche vor dem Marienbild eine Opferkerze angezündet, und der Kinderkreuzweg stand ebenso wenig zur Disposition wie die Beichte vor Hochfesten. Auch in diesem Falle war ich zu jung, um meine Eltern zu fragen, warum sie mir etwas zumuteten, was sie für sich selbst nicht in Betracht zogen. Die beichtwürdigen Punkte wurden mir natürlich unaufgefordert mitgegeben: Wann war ich nicht nett zu meinem Bruder, wann habe ich meinen Eltern nicht gehorcht. Heute würde ich sagen: Was eine fiese Sache, die Beichte als elterliche Erziehungsmaßnahme zu missbrauchen. Denn um Gott selbst ging es jedenfalls nie in diesen Ratschlägen.

Egal, ich tat, was wohl fast alle damals taten: Ich hielt mich an die elterlichen Hinweise und trug die klassischen Dinge vor, ohne wirklich ein tiefes Gefühl der Reue zu empfinden. Schlimmer war für mich ohnehin das aufgeregte Warten vor der dunkelbraunen Beichtbox – was sage ich gleich nur? –, die nicht anregende Gewissheit, in diesen dunklen, muffigen Raum zu müssen, und die Überlegung, wie ich das, was ich zu sagen habe, so sage, dass mich der Mann auf der anderen Seite, der mich ja kennt, danach auch noch mag und nicht komisch anschaut.

Messdiener wurde ich allerdings nicht und ich war auch niemals in der Landjugend oder bei Kolping. Bis heute habe ich nie den Drang verspürt, mich einem kirchlichen Verein anzuschließen. Die damit einhergehenden Verpflichtungen, sozialen Verbindlichkeiten und Spielregeln mag ich nicht. Zumal mich im Laufe meiner Jahre immer mehr der Verdacht beschlich, dass die unausgesprochenen Benimmregeln im Miteinander deutlich gewichtiger sind als der Auftrag, den solch eine Gemeinschaft hat. Auch die klassischen Sommerlager fanden wenig Zustimmung bei mir. Die Vorstellung, in Zelten zu übernachten und gar so etwas wie einen Donnerbalken nutzen zu müssen: furchtbar! Vielleicht kommt jetzt bei dem ein oder anderen nun der Gedanke: »Ach herrje, was ist denn das für ein Kind gewesen?« Er hat recht. Ich war schüchtern, naiv und regelkonform in allen Dingen. Beim Spielen auf der Straße habe ich immer auf das Ende der Runde gewartet, bis ich mich einklinkte. Ich war darum bemüht, nicht aufzufallen und stets die an mich gestellten Erwartungen mehr als ausreichend zu erfüllen. Wenn es in der Schule um Extraaufgaben und Vortragsdinge ging, war ich ganz vorne mit dabei. Schließlich hatte mein Vater mir doch gesagt, was zählte: Immer sein Bestes geben.

An einem Mittwoch wird dieses beschauliche Leben mit dem klaren Motto kaputtgeschlagen. Ich bin gerade dreizehn. Anders als sonst werde ich an diesem Tag nicht von meiner Mutter mit nach Hause genommen, sondern unsere Nachbarin holt mich zusammen mit ihrer Tochter ab. Als wir in meine Straße einbiegen, sehe ich nur einen Haufen von Autos auf unserm Hof und entlang der Straße stehen. Auch anders als sonst, werde ich nicht nur einfach vor der Tür abgesetzt und stapfe hintenrum durch die Garage ins Haus. Diesmal steigt die Nachbarin mit mir aus. Sie klingelt an der Haustüre und eine meiner Tanten öffnet mir. Sie trägt Schwarz. Seltsam. Ich gehe mit ihr in die Küche, noch mehr Verwandte. Alle so still, manche heulen. »Was ist denn hier los?«, frage ich. »Hat dir denn noch keiner was gesagt?«, wird zurückgefragt. Was hat man mir nicht gesagt?

Am Tisch ruft jemand rüber zur Kochküche: »Anneliese, din Söhn is da!«, und meine Mutter erscheint im Türrahmen. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht und sie sagt nur: »Papa ist tot.«, und fällt mir in den Arm. Ich bin einfach nur überrascht. Was soll das denn bitte heißen: »Papa ist tot?« Morgens war doch noch alles wie immer. Ich verstehe das alles nicht.

Für weitere Nachfragen bleibt allerdings auch keine Zeit, denn ich werde aus dem Raum der Erwachsenen abgeführt, in mein Zimmer verfrachtet und allein gelassen. Trauer scheint also eher eine Sache der Großen zu sein. So tue ich, was getan werden muss. Ich packe meine Schultasche aus und mache mich an die Lateinvokabeln, die ich heute aufbekommen habe. »Papa ist tot.« »Papa ist tot.« Dieser Gedanke geht mir immer wieder mal durch den Kopf, ohne dass ich mir recht klar machen kann, was das denn nun genau meint. Na ja. Es ist ohnehin nicht die Zeit, in der er normalerweise zu Hause war. Warten wir’s also ab.

Hin und wieder öffnet sich die Tür und einer meiner Verwandten schaut herein. Man findet mich lernend und geht wieder. Irgendwann im Laufe des späten Nachmittages schaut auch mein Heimatpfarrer vorbei, der mir im Unterschied zu vielen anderen seine Hand auf die Schulter legt und nach ein paar Worten über meine Lateinlernerei zu mir sagt: »Es wird eine schwere Zeit. Aber ich bete für dich.« Kinder – und mit meinen zarten dreizehn bin ich definitiv noch ein Kind – spüren, ob so etwas ernst gemeint ist oder nur eine pastorale Floskel der eigenen Hilflosigkeit angesichts dieser Situation. Er meint es definitiv genau so, wie er es sagt. Deswegen tut es gut, das zu hören. Danach lerne ich aber auch wieder weiter.

Wenn ich heute im Gottesdienst für die Verstorbenen bete »Herr, gib ihnen die ewige Ruhe. Und das ewige Licht leuchte Ihnen. Herr, lass sie ausruhen in deinem Frieden. Amen«, dann passiert es mir immer wieder, dass ich das Gesicht meines Vaters vor Augen habe, wie er mit einem leicht zufriedenen Lächeln in seinem Sarg liegt. So friedlich und entspannt habe ich seine Gesichtszüge zu Lebzeiten nicht erlebt. Auch wenn ich bis heute nicht genau weiß, warum mein Vater seinem Leben ein Ende gesetzt hat; so war mir bei diesem Anblick damals klar: Ihm geht es gut. Er hat seine Ruhe – die war ihm immer sehr wichtig gewesen. Ganz offensichtlich hatte er nun das gefunden, was ihm sein Alltag nicht geben konnte.

Ein wenig davon scheint wohl in uns allen zu stecken. Damit meine ich nicht die Sehnsucht nach Suizid, sondern die Sehnsucht nach einem generellen ›Mehr‹, nach etwas, das die Grenzen des erlebten Alltags übersteigt. Diese Welt macht einfach nicht satt. Genug ist nie genug und den Hals können wir einfach nicht voll bekommen. Gut ist es immer nur für einen Moment, den wir aber nicht festhalten können. Er vergeht und verschwindet.

Wenn ich durch die Dünen wandere, meine Füße in den Sand des Nordseestrandes grabe und einen Blick auf die Weiten des Meeres riskiere, dann werden die Sorgen des Alltages ganz klein und lächerlich unbedeutend. Ja, ja, ich weiß: Das klingt unglaublich rührselig. Aber ist wirklich so. Dieser Moment ist ein Garant für tiefes Durchatmen und Loslassen. Herrlich. Und wenn ich nach dem Urlaub wieder einige Wochen im Alltagstrott bin. .. Okay, man soll ja nicht lügen: Wenn mich also nach wenigen Tagen der Alltagstrott wieder im Griff hat, dann scheint dieser Moment Generationen zurückzuliegen. Schrecklich. Aber es gehört wohl eben zum Leben dazu. Das galt schon zu biblischen Zeiten. Als Petrus voller Entzücken beim Anblick Jesu drei Hütten bauen wollte, um die Einzigartigkeit des Augenblicks festzuhalten, da durfte er nicht. Nein, es ging kurz danach zurück in die Niederungen des Alltags. Nicht nur das, anschließend wurde es richtig ungemütlich und die Leidenszeit begann. (Mt 17,1–8)

Auch Paulus kennt die Flüchtigkeit des Augenblicks nur zu gut. Er scheint selten in seinem Leben an einen Punkt gekommen zu sein, an dem alles für einen Augenblick gut ist. Deswegen war er bemüht, das Bruchstückhafte seines Lebens zusammenzuhalten und seiner Lebenssehnsucht ein ziemlich klares Ziel zu geben, das für manchen im ersten Moment lebensmüde klingen mag: »Manchmal würde ich am liebsten schon jetzt sterben, um bei Christus zu sein. Gibt es etwas Besseres?« (Phil 1,23) Erst da wird alles einmal wirklich gut sein. Weil es diesen Gott auf der anderen Seite des Lebens tatsächlich gibt, deswegen lohnt es sich, durchzuhalten, auszuhalten und sich in diesem Leben zu engagieren.

Durchhalten, aushalten, sich in diesem Leben engagieren: Nach dem Tod meines Vaters hätte ich das so klar nicht formulieren können und wohl auch gar nicht wollen. Ich weiß nicht einmal, ob ich es hätte hören wollen. Was ich brauchte, war ein Ort für meine Fragen und Emotionen. Nur wie sollte ich als Dreizehnjähriger jemandem mein inneres Chaos klarmachen? Also tat ich das, was ich mir von meiner Mutter abgeschaut hatte: Wenn du Probleme hast, geh’ in die Kirche und zünde eine Kerze an. Das muss damals das erste Mal gewesen sein, dass ich einfach so am Nachmittag meine Heimatkirche betrat, obwohl kein Gottesdienst anstand.

Ich zündete also meine Kerze an – und empfand nichts. Da war kein Gefühl der Erleichterung, keine neue innere Kraft, kein Aufatmen. Da war einfach nichts anders als zuvor. Enttäuschend. Auch ein gebetetes Vaterunser und Ave Maria änderte nichts daran. Das Ave Maria hatte ich nur deshalb noch gebetet, weil es mir merkwürdig erschien, vor dem Bild der Mutter Gottes ein Vaterunser zu sprechen. Doch es ging mir noch immer so erbärmlich wie zuvor. Ich stand auf. Wenn ich schon einmal da war, konnte ich ja wenigstens eine Runde durch die Kirche drehen. Machte ich auch und stand plötzlich vor dem Kreuz. Wie auch immer es genau passiert sein mag, aber auf einmal blickte ich anders als sonst auf dieses Kreuz. Es war der Anfang. Irgendetwas an diesem Anblick hielt mich gefangen. Ich setzte mich in die Bank und blieb. Ich blieb unter dem Kreuz sitzen und harrte aus. Diese halbnackte Leiche am Kreuz sah so elendig aus, wie ich mich fühlte. Der Gekreuzigte und ich hatten auf einmal etwas gemeinsam. Ihm ging es dreckig und mir ebenso. Geteiltes Leid machte bei Weitem kein halbes Leid. Dennoch war da eine stille Übereinkunft zweier, die beide von ihrem Vater im Stich gelassen worden waren. Als ich schließlich wieder mit dem Fahrrad nach Haus fuhr, ging die leise Ahnung mit, dass an diesem Ort noch mehr war, dass es sich lohnen würde zurückzukommen.

Weil die gemeinsamen Gänge mit meiner Mutter zum Friedhof jedes Mal tief deprimierend waren und nie zu einem Gespräch führten über das, was mein Vater getan hatte, wurde der Platz vor dem Kreuz zu meinem Trauerbewältigungsort. Mehrmals in der Woche erschien ich zu unserem Treffen. Schweigende Sit-ins, tränenreiche Aufenthalte und wütende Tiraden. All das hielt dieser Jesus am Kreuz aus. Er hatte ja auch keine Wahl. Weglaufen konnte er nicht, so angenagelt wie er war. Finden Sie heute mal jemanden, zu dem Sie immer und immer und immer und immer wieder mit derselben Geschichte kommen können, ohne dass er genervt den Telefonhörer auflegt, die Straßenseite wechselt oder den Kontakt zu Ihnen meidet. All mein Unverstehen, all meine Trauer, alles Gefühlschaos schmiss ich diesem Jesus hin.

Dieses Hinschmeißen hat etwas gebracht. Mit jedem Mal in der Kirchbank und mit jedem Blick zum Kreuz wuchs in mir das Gefühl und die Gewissheit, dass da jemand ist, der mir wirklich zuhört, der mich in diesen bitteren Momenten nicht alleine lässt. Dieser Jesus wusste, was sich in meinen Untiefen abspielte, und verstand. Das veränderte nichts an meiner Situation. Die war nach wie vor mehr als bescheiden. Das machte den Schmerz nicht schöner und sinniger, den Tod nicht ungeschehen. Aber ich war nicht mehr einsam in dieser Misere. Ich war mir plötzlich sicher, da ist ein Gott, der mich versteht.

Diese Sicherheit hat sich bis heute nicht verändert. Oder vielleicht doch, sie ist größer geworden: Es gibt Gott, das ist ganz eindeutig klar. Nur weil wir ihn nicht sehen können, ändert sich nichts daran. Die entscheidenden Dinge des Lebens können wir nämlich nicht sehen. Dennoch sind es genau sie, die unser Handeln motivieren, uns zu Höchstleistungen anspornen und jedem Tag Sinn verleihen.

Haben Sie schon einmal den Frieden gesehen? Haben Sie je mit der Gerechtigkeit gefrühstückt oder mit der Liebe zu Mittag gegessen? Trotzdem würde bei diesen Dingen keiner behaupten, dass sie inexistent sind.

Wenn aber doch einer kommt und sagt, die Liebe gibt es nicht, wie wollen Sie ihm dann das Gegenteil beweisen? Liebe, Friede, Gerechtigkeit, das alles sind bloße Worte. Es ist nichts mehr als eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Bei den gerade genannten Begriffen haben Sie eben nur ein paar Buchstaben mehr als beim Wort Gott, ansonsten ist da kein großer Unterschied. Schließlich sind es übergreifende Erfahrungen, kollektive Erlebnisse, die über Generationen hinweg gemacht werden und diese bloßen Worte mit Leben und Existenz füllen.

Da wo Menschen sich nicht mehr gegenseitig das Leben zur Hölle machen und ohne Rücksicht auf Verluste das Leben des anderen zu vernichten versuchen, da erleben wir so etwas wie Friede. Da wo ich angenommen bin, mit all meinen Fehlern und Schwächen, mit all meinen Unzulänglichkeiten, dort wo jemand in meinen schlechtesten Momenten Ja zu mir sagt, da erlebe ich, was Liebe meint. Genau so kann ich Gott erleben. Und genau das erlebte ich in dem Moment, als ich es vielleicht am meisten brauchte.

Die Bibel kennt unzählige Geschichten von der Sehnsucht und der Suche nach dieser Liebe, die Gott ist. Erst später habe ich diese Erfahrung mit biblischen Sätzen wie »Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben« (Mt 11,28) in Verbindung bringen können. Meine Sit-ins in der Kirche und unter dem Kreuz haben mir Ruhe verschafft. Wenigstens für diese Zeit konnte alles raus, fühlte ich mich verstanden und ein wenig aufgehoben. Deshalb habe ich ziemlich intuitiv verstehen können, warum die blutflüssige Frau (Lk 8,43–48) unbedingt Jesus anfassen wollte oder ihm eine Frau weinend zu Füßen fiel (Lk 7,36–49). Immer wieder diese Sehnsuchtsbewegungen, dass von Jesus etwas zu holen ist, was der ganze Alltag mit seinen Möglichkeiten nicht bieten kann.

Falls Sie sich die Frage stellen, ob nicht ein Psychologe oder eine professionelle Trauerbegleitung in diesem Moment ratsam gewesen wäre, so sage ich klar: Vermutlich wäre das angesagt gewesen. War es aber nicht. Und ganz sicher säße ich dann nicht hier, schriebe nicht diese Zeilen und stände nicht an dem Punkt meines Lebens, an dem ich nun angekommen bin. Und an dem es gerade gut ist – zumindest für den Moment.

Damals allerdings war gar nichts gut. Wer mit dreizehn Jahren den Suizid seines Vaters alleine zu meistern sucht und gerade erst anfängt, eine Beziehung zu Gott aufzubauen, der rutscht unweigerlich in Kompensationsmuster. Ich jedenfalls tat es. Unvermeidlich trieben insgeheime Fragen ihr Unwesen in mir: Habe ich etwas getan, das meinen Vater zu diesem Schritt veranlasst hat? Habe ich ihn verärgert, enttäuscht, Erwartungen nicht erfüllt? Hatte ich nicht mein Bestes gegeben und mich daher nicht bei ihm beliebt genug gemacht, obwohl er es doch in mein Poesiealbum geschrieben hatte? Kurz: War ich schuld?

So oder so, setzte sich etwas Verqueres in mir fest. Das Resultat: Neue schulische Höchstleistungen. Vom bemühten Durchschnittschüler zum ambitionierten Musterknaben. Nach einem Jahr emsiger Leistungssteigerung war ich bei 1,3 angelangt und habe es beim Abi noch zur Schnapszahl hochfahren können.

Der Preis: Keine Partys, kein Alkohol – mein erstes Glas habe ich nach der Zeugnisvergabe getrunken – und keine wirklichen Hobbys. Alles wurde der Maxime untergeordnet, wenigstens im Nachhinein den eingebildeten Überansprüchen meines Vaters gerecht zu werden.

Seltsamerweise hat das nie dazu geführt, dass ich gemobbt oder auf andere Art und Weise an der Schule ausgegrenzt wurde. Dafür war ich wohl einfach zu lieb und auch zu freigebig, was die Hausaufgaben anging. Immer wieder gab es sogar vorzugsweise Mitschülerinnen, die den Versuch unternahmen, mich von dem Mehr an Möglichkeiten dieses Lebens zu überzeugen. Es muss eine Sysiphusaufgabe gewesen sein. Aber bis zum Abitur haben sie nicht davon abgelassen. Jetzt weiß ich zumindest, wie sich Gott bei den Israeliten in der Wüste gefühlt haben muss. Immer und immer wieder hat er ihnen seine Hilfe angeboten, ihnen gezeigt, dass es einen Weg heraus gibt und es sich lohnt, ihn zu gehen. Nicht zu vergessen all die Vertrauensbeweise, die sie ihm wert waren, vom Manna in der Wüste über das Wasser aus dem Felsen und den Weg durch die Fluten. Aber hat es was genutzt? Nein. Sie haben es nicht verstehen und glauben können. Genauso wie mir im Laufe der Schulzeit der Glaube abhandengekommen war, dass mich tatsächlich jemand mögen konnte unabhängig von meiner Leistung. Was qualifizierte mich denn für die kostenfreie Zuneigung? Was sollte jemand in mir sehen, der noch keinen Einblick in meine Leistungsfähigkeiten erhalten hatte? Deshalb waren es zum einen faszinierende Erfahrungen, wenn es da jemanden gab, der sich für mich interessierte, obwohl er von meiner Leistungsfähigkeit noch nichts wissen konnte. Zum andern aber verstörten sie, da sie nicht in mein kleines Weltbild passten. Ist diese Zuwendung glaubwürdig? Da hielt ich es schlussendlich lieber mit den Israeliten und goss mir mein goldenes Kalb aus Zeugnisnoten und Respekt. Da wusste ich, was ich hatte. Das war greifbar, messbar, und glänzte so schön golden.

Ich war also nicht nur, was ich leiste. Ich war auch nur so liebenswert, wie ich leiste. Das war meine kleine Welt, in der ich gefangen war.

Nur die Augenblicke in der Kirche waren eine leistungsfreie Zone. Sie erlaubten ein kurzzeitiges Auftauchen daraus. Wie gruselig, denke ich mir heute. Aber der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier und sehr anpassungsfähig. Zumindest ist er das vorübergehend. Denn alles hat seinen Preis. Das ist keine Floskel und das habe ich bitter erfahren müssen. Denn leider gehörte ich nicht zur Fraktion der von Natur aus begnadeten Menschen, die eine gehörige Portion an Intelligenz mitbekommen hatten. Ich musste mir alles erarbeiten, hart erarbeiten. Je zwanghafter man jedoch so eine Sache anpackt, desto schwieriger wird das Vorankommen. Eine Mehrzeit an Lernraum hatte ich mir schon dadurch erwirtschaftet, dass ich am Wochenende nicht auf Tour ging. Mein Wochenendgenuss bestand am Freitagabend in den Abenteuern von Raumschiff Voyager mit Captain Catherine Janeway ... lassen wir das lieber ...

Doch das reichte noch nicht aus. Also schob ich die Schlafenszeit nach hinten: Ich saß bis nachts um eins oder zwei am Schreibtisch und das so an fünf bis sechs oder sieben Tagen die Woche. So hielt übrigens auch der Kaffeekonsum Einzug in mein Leben – bis heute.

Als pubertierender Heranwachsender ist das allerdings nicht wirklich förderlich. Mein Körper gab mir das auch relativ deutlich zu verstehen. Nach dem Tod meines Vaters hatte ich das Schwimmen im Verein eingestellt. Sie wissen warum: Mehr Zeit fürs Wesentliche. Das ließen mich Rücken und Nabelbrüche spüren. Mit den nächtlichen Lernattacken schwand das Immunsystem und ich wurde zur beliebten Herberge aller möglichen Infektionen. Das steigerte sich sogar so weit, dass meine Mutter hin und wieder mal des Nachts einen Arzt zu uns nach Hause bemühen musste, weil das Fieber in die Höhe schoss.

Apropos Mutter. Wenn Sie sich fragen, was denn die anderen Familienmitglieder dazu sagten: Widerspruch gegen meine Lebensweise war zwecklos.

Das krankhafte und krank machende Lernverhalten führte dann auch zur Misere beim Abi. Vollkommen ausgelaugt und angeschlagen bin ich in die Prüfungsphase gegangen und das konnte nur nach hinten losgehen. Deswegen war die 1,1 im Abi auch nur ein begrenzter Anlass zur Freude.

Das Erbe der Väter...

Nach dem Abitur war ich erst einmal planlos. Eigentlich hatte ich ja Chirurg werden wollen. Deswegen arbeitete ich während der Sommerferien ab der elften Klasse in einem Krankenhaus als Praktikant. Mein Lohn: Einblicke in die OP-Welt. Mein erster Genuss war eine Unterschenkelamputation. Ich war begeistert und bin auch heute noch davon fasziniert, wie der menschliche Körper aufgebaut ist und welche Möglichkeiten die Medizin bietet, auf ihn einzuwirken. Andererseits war mir damals eines klar: Wenn ich diesen Weg wählte, dann war dem Ausbau des Leistungswahns Tür und Tor geöffnet. Dass mir das nicht gut bekommen würde, ahnte ich. Dass Leistung definitiv nicht glücklich machte, spürte ich dank meines Körpers. Ich war ratlos. Was nun?

Was durch die Schuljahre hindurch geblieben und sogar gewachsen war, war das Reden mit Jesus, auch Beten genannt. Das ging sogar so weit, dass ich in den Ferien werktags um acht in die Frühmesse ging. Mit meinen vierzehn Jahren senkte ich den Altersdurchschnitt gewaltig. Aber ich fühlte mich wohl. Die Älteren, zumeist Damen, waren herrlich unbedrohlich und lächelten mich durchweg liebenswürdig und freundlich an. Das war super. Dennoch kam es nie vor, dass mich jemand konkret ansprach. Aus meiner heutigen Sicht als Priester würde ich natürlich sagen: Was eine vertane Chance! Außerdem lernte ich durch diese morgendlichen Kirchenbesuche eine gottesdienstliche Grundlektion: Jeder hat seinen festen Traditionsplatz und der steht definitiv nicht zur Disposition. Auch wenn schon in den Neunzigern kein Platzmangel mehr in den Bänken herrschte.

Das Beten und das Wissen, dass dieser Gott da ist, waren die Freiheitszonen meines Alltags. Was, wenn ich alles auf diese Karten setzen würde, wenn ich versuchen würde, damit ein Leben zu bauen? Mir schien das der Rettungsanker zu sein. Was macht man beruflich mit dem Glauben, wenn man also mit Gott leben und professionell beten will? Man wird Priester! Und so zog ich direkt nach dem Abi im Seminar.