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In London lebt William Dorrit, der als Schuldner inhaftiert ist, seit über zwanzig Jahren im Schuldnergefängnis Marshalsea. Er hat drei Kinder: Edward (bekannt als Tip), Fanny und Amy. Die jüngste Tochter, Amy, wurde im Gefängnis geboren und wird liebevoll Klein-Dorrit genannt. Ihre Mutter starb, als Amy acht Jahre alt war. Tip wurde vor kurzem wegen seiner eigenen Spielschulden inhaftiert, und die ehrgeizige Fanny lebt außerhalb des Gefängnisses bei Williams älterem Bruder Frederick. Sie arbeitet als Tänzerin in der Musikhalle, in der Frederick Klarinette spielt, und hat die Aufmerksamkeit des wohlhabenden, aber faden Edmund Sparkler auf sich gezogen. Die kleine Dorrit, die ihrem Vater treu ergeben ist, unterstützt die beiden durch ihre Näharbeiten und kann frei im Gefängnis ein- und ausgehen. Zur Ehre ihres Vaters, dem es peinlich ist, seine finanzielle Lage anzuerkennen, vermeidet Klein-Dorrit es, ihre Arbeit außerhalb des Gefängnisses oder seine Unfähigkeit, es zu verlassen, zu erwähnen. Mr. Dorrit übernimmt die Rolle des Vaters des Marshalsea und wird von den Bewohnern mit großem Respekt behandelt, als hätte er es sich ausgesucht, dort zu leben. Dies ist der zweite von vier illustrierten Bänden.
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Seitenzahl: 458
CHARLES DICKENS
KLEIN DORRIT
ROMAN
IN VIER BÄNDEN
BAND ZWEI
KLEIN DORRIT wurde zuerst im englischen Original als Fortsetzungsroman veröffentlicht von Bradbury & Evans, London 1855-57.
Diese Ausgabe in vier Bänden wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2022
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
Band Zwei
ISBN 978-3-96130-532-2
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Charles Dickens
KLEIN DORRIT
BAND EINS | BAND ZWEI | BAND DREI | BAND VIER
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Inhaltsverzeichnis
KLEIN DORRIT. Band Zwei
Impressum
ZWEITER BAND
Erstes Kapitel.
Der Vater des Marschallgefängnisses in zwei bis drei Beziehungen.
Zweites Kapitel.
Die Gesellschaft.
Drittes Kapitel.
Mr. Merdles Übel.
Viertes Kapitel.
Eine Verlegenheit.
Fünftes Kapitel.
Die Maschinerie in Bewegung.
Sechstes Kapitel.
Wahrsagerei.
Siebentes Kapitel.
Verschworene und andere Leute.
Achtes Kapitel.
Niemandes Gemütszustand.
Neuntes Kapitel.
Fünfundzwanzig.
Zehntes Kapitel.
Niemands Verschwinden.
Elftes Kapitel.
Mrs. Flintwinch fährt fort zu träumen.
Zwölftes Kapitel.
Das Wort eines Gentleman.
Dreizehntes Kapitel.
Hochsinn.
Vierzehntes Kapitel.
Mehr Wahrsagerei.
Fünfzehntes Kapitel.
Mrs. Merdles Übel.
Sechzehntes Kapitel.
Eine ganze Sandbank voll Barnacles.
Siebzehntes Kapitel.
Was Mr. Pancks in Klein-Dorrits Hand gelesen hatte.
Achtzehntes Kapitel.
Das Marschallgefängnis wird verwaist.
Eine kleine Bitte
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Zu guter Letzt
Die Brüder William und Frederick Dorrit boten, wenn sie im Gefängnishofe auf und ab gingen – natürlich auf der aristokratischen oder Brunnenseite, denn der Vater machte es zu einer Standesache, die Sonntagmorgen, Christfeiertage und andere festliche Anlässe ausgenommen, mit seinen Spaziergängen unter seinen Kindern auf der Armenseite sparsam zu sein, eine Observanz, in der er sehr pünktlich war, und bei welchen Gelegenheiten er seine Hände auf die Häupter seiner Kinder legte und diese jungen Zahlungsunfähigen mit einem Wohlwollen segnete, das höchst erbaulich war, – die Brüder, wenn sie so miteinander im Gefängnishofe auf und ab gingen, boten einen interessanten Anblick: Frederick, der Freie, war so demütig, gebeugt, zusammengeschrumpft und schlaff, William, der Gefangene, so vornehm, herablassend und wohlwollend selbstbewußt, daß die Brüder, wenn auch in keiner andern Hinsicht, in dieser allein schon ein merkwürdiges Schauspiel boten.
Sie gingen an dem Abend jener sonntäglichen Begegnung Klein-Dorrits mit ihrem Liebhaber auf der Iron Bridge auf dem Hofe miteinander auf und nieder. Die Staatsgeschäfte waren für diesen Tag erledigt, dem Empfangzimmer war vielfache Ehre zuteil geworden, mehrere Vorstellungen hatten stattgefunden; die drei Schillinge und sechs Pence, die zufällig auf dem Tische liegengeblieben, waren zufällig auf zwölf Schillinge angewachsen, und der Vater des Marschallgefängnisses erquickte sich an einer Zigarre. Wie er so auf und nieder ging, seinen Schritt nachgiebig zu dem Schlürfen seines Bruders verlangsamend, nicht stolz auf sein Übergewicht, sondern billig gegen dieses arme Geschöpf, nachsichtig gegen ihn und Geduld mit seinen Schwächen in jedem Paff Rauch ausatmend, der aus seinen Lippen ging und über die mit Eisenspitzen versehene Mauer emporzusteigen suchte – war er eine merkwürdige Erscheinung.
Sein Bruder Frederick mit dem matten Auge, der gelähmten Hand, der gebeugten Gestalt und dem tappenden Geiste schlürfte unterwürfig neben ihm her und nahm seine Gönnerschaft hin wie jedes andere Ereignis der labyrinthischen Welt, in der er verlorengegangen war. Er hielt wie gewöhnlich ein zerknittertes Stück bräunliches Papier in der Hand, aus dem er ab und zu eine kleine Prise Schnupftabak nahm. Hatte er diese mit Mühe herausgebracht, so sah er seinen Bruder nicht ohne Bewunderung an, legte die Hände auf den Rücken und schlürfte neben ihm her, bis er wieder eine Prise nahm oder stillestand, um sich umzusehen, – da er vielleicht plötzlich seine Klarinette vermißte.
Die Besucher des Gefängnisses verloren sich, als die Schatten der Nacht herabsanken, aber der Hof war noch immer hübsch voll, da die Gefangenen zumeist ihre Freunde bis zu dem Pförtnerstübchen begleiteten. Während die Brüder auf dem Hofe spazierten, 22? sah Wilhelm der Gefangene nach rechts und links, um Grüße zu empfangen, erwiderte sie, indem er freundlich seine Mütze lüftete, mit verbindlicher Miene seinen Bruder anhielt, daß er nicht auf die Leute hinaufhumpelte oder gegen die Wand gestoßen würde. Die Gefangenen, im ganzen genommen, waren nicht leicht für Eindrücke empfänglich, aber auch sie schienen je nach ihrer verschiedenen Art sich zu verwundern, die beiden Brüder so eigenartig verschieden zu sehen.
»Du bist heute abend etwas still, Frederick«, sagte der Vater des Marschallgefängnisses. »Hast du etwas?«
»Ob ich etwas habe?« Er sah ihn einen Augenblick an, dann ließ er wieder Kopf und Augen sinken. »Nein, William, nein, ich habe nichts.«
»Wenn man nur imstande wäre, dich etwas aufzurütteln, Frederick –«
»Ach, ach!« sagte der alte Mann rasch. »Ich kann mal nicht anders sein. Ich kann's nicht. Sprich nicht so. Das ist alles vorbei.«
Der Vater des Marschallgefängnisses sah einen vorübergehenden Kollegen, mit dem er auf freundschaftlichem Fuße stand, an, als wollte er sagen: »Ein schwacher, alter Mann, das; aber er ist mein Bruder, Herr, mein Bruder, und die Stimme der Natur ist mächtig!« und zog seinen Bruder an dem fadenscheinigen Ärmel von dem Schwengel der Pumpe, an den er zu stoßen im Begriff war, weg. Nichts hätte zur Vollendung seines Charakters als brüderlicher Führer, Philosoph und Freund gefehlt, wenn er nur seinen Bruder vom Ruin weggesteuert hätte, statt daß er ihn hineinführte.
»Ich denke, William«, sagte der Gegenstand seiner liebevollen Teilnahme, »ich bin müde und will nach Hause und zu Bett gehen.«
»Mein lieber Frederick«, versetzte der Bruder. »Ich will dich nicht zurückhalten; opfere deine Neigungen nicht mir.«
»Späte Stunden und heiße Luft und vermutlich die Jahre«, sagte Frederick, »machen mich schwach.«
»Mein lieber Frederick«, versetzte der Vater des Marschallgefängnisses, »glaubst du auch vorsichtig genug zu sein? Hältst du deine Gewohnheiten für so präzis und methodisch wie – soll ich sagen – wie die meinen? Ohne wieder auf die kleine Sonderbarkeit zurückzukommen, die ich eben erwähnte, zweifle ich doch, daß du dir genug Bewegung in der freien Luft machst, Frederick. Dieser Platz steht dir ja immer zur Verfügung. Warum machst du nicht regelmäßig Gebrauch davon?«
»Ha!« seufzte der andere. »Ja, ja, ja, ja!»
»Das nützt nichts, ja, ja zu sagen, mein lieber Frederick», fuhr der Vater des Marschallgefängnisses in seiner milden Weisheit fort, »wenn du nicht in Übereinstimmung damit handelst. Betrachte mich, Frederick. Ich bin eine Art von Beispiel. Zeit und Not haben mich gelehrt, was zu tun. Zu bestimmten Stunden des Tages wirst du mich auf dem Spaziergang, in meinem Zimmer, im Pförtnerstübchen, bei der Zeitung, Gesellschaft empfangen, essen und trinken sehen. Ich habe Amy während vieler Jahre eingeprägt, daß ich mein Essen (zum Beispiel) pünktlich haben muß. Amy ist in dem Gefühl der Wichtigkeit dieser Anordnungen aufgewachsen, und du weißt, was für ein gutes Mädchen sie ist.«
Der Bruder seufzte bloß wieder, während er träumend und langsam fortschlotterte: »Ha! Ja, ja, ja ja!«
»Mein lieber Junge«, sagte der Vater des Marschallgefängnisses, indem er die Hand auf seine Schulter legte und ihn sanft mitzog – sanft, wegen seiner Schwäche, die arme, gute Seele; »du sagtest das vorhin schon, und es will nicht viel heißen, Frederick, selbst wenn es viel ausdrücken soll. Ich möchte dich aufrütteln können, mein guter Frederick; du solltest aufgerüttelt werden.«
»Ja, William, ja. Ohne Zweifel«, versetzte der andere, indem er seine matten Augen erhob. »Aber ich bin nicht wie du.«
Der Vater des Marschallgefängnisses sagte mit einem Achselzucken bescheidener Selbstherabsetzung: »O, du könntest wie ich sein, Frederick; du könntest es sein, wenn du wolltest!« und unterließ es in der Großmut, die ihm seine Stärke einflößte, seinen gefallenen Bruder weiter zu drängen.«
Es war an den Ecken und Enden, wie gewöhnlich an den Sonntagabenden, ein fortwährendes Abschiednehmen; hier und dort in der Dunkelheit weinte eine arme Mutter, Frau oder ein Mädchen mit einem neuen Kollegen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo der Vater selbst in dem Schatten dieses Hofes geweint, als sein eigenes, armes Weib weinte. Aber es waren viele Jahre indes verflossen: und nun war er wie ein Passagier an Bord eines Schiffes auf weiter Fahrt, der sich von der Seekrankheit erholt und sich über die Schwäche der jüngeren Reisenden ärgert, die im letzten Hafen an Bord genommen wurden. Er hatte Lust gehabt, diesen Leuten Vorstellungen zu machen und ihnen seine Meinung zu sagen, daß Leute, die es nicht ohne Weinen tun können, hier nichts zu schaffen hätten. In seinem Benehmen, wenn auch nicht in Worten, gab er stets sein Mißfallen an diesen Unterbrechungen der allgemeinen Harmonie zu erkennen. Und man verstand ihn so gut, daß die Delinquenten sich immer davonmachten, wenn sie seiner gewahr wurden.
An diesem Sonntagabend begleitete er seinen Bruder mit dem Ausdruck der Duldung und Milde bis an das Tor; er war in sanfter Stimmung und gütig genug aufgelegt, um über die Tränen hinwegzusehen. In dem flackernden Gaslicht des Pförtnerstübchens sonnten sich mehrere Gefangene: einige von Besuchen Abschied nehmend, andere, die keine Besuche hatten, dem häufigen Umdrehen des Schlüssels zusehend und unter sich oder mit Mr. Chivery plaudernd. Das Eintreten des Vaters machte natürlich Aufsehen: und Mr. Chivery, mit seinem Schlüssel an den Hut greifend (wenn auch sehr kurz), sprach die Hoffnung aus, daß er sich erträglich wohl befinde. »Danke, Chivery, ganz wohl. Und Sie?« Mr. Chivery sagte leise murmelnd: »Oh! ihm gehe es ganz gut!« Was seine gewöhnliche Art war, wie er auf Fragen nach seinem Befinden antwortete, wenn er etwas mürrisch war.
»Ich hatte heute einen Besuch vom jungen John, Chivery. Er sah sehr geschniegelt aus, ich versichere Sie.«
Das hatte Mr. Chivery auch gehört. Mr. Chivery mußte jedoch gestehen, daß es sein Wunsch wäre, der Junge gäbe nicht so viel Geld dafür aus. Denn was brächte es ihm ein? Es bringe ihn nur in Kummer und Sorgen. Und das könne er überall umsonst haben.
»Was meinen Sie damit, Chivery?« fragte der wohlwollende Vater.
»Nichts Schlimmes«, versetzte Mr. Chivery. »Schon gut. Will Mr. Frederick schon fort?«
»Ja, Chivery, mein Bruder will nach Hause und zu Bett gehen. Er ist müde und nicht ganz wohl, nimm dich in acht, Frederick, nimm dich in acht. Gute Nacht, mein lieber Frederick!«
Seinem Bruder die Hand schüttelnd und seinen fetten Hut vor der Gesellschaft im Pförtnerstübchen leicht rückend, schob Frederick langsam zur Tür hinaus, die Mr. Chivery ihm öffnete. Der Vater des Marschallgefängnisses zeigte die liebenswürdige Besorgtheit eines höheren Wesens, daß ihm doch ja kein Unfall zustoßen möchte. »Haben Sie die Güte, die Tür einen Augenblick offen zu lassen, Chivery, damit ich ihn durch den Gang und die Treppe hinabgehen sehen kann. Nimm dich in acht, Frederick! (Er ist sehr schwach.) Vergiß die Stufen nicht. (Er ist so zerstreut.) Gib acht, wie du hinüberkommst, Frederick. (Ich möchte wirklich nicht wissen, welch weiten Weg er zu machen hat, er kann so leicht überrannt werden).«
Mit diesen Worten und mit einem Gesicht, in dem sich eine Menge banger Zweifel und ängstlicher Besorgnisse aussprachen, wandte er den Blick auf die im Pförtnerstübchen versammelte Gesellschaft, indem er so offen zu verstehen gab, daß sein Bruder zu bemitleiden, weil er nicht hinter Schloß und Riegel sei, daß die versammelten Kollegen im Kreise sich eine Bemerkung in dieser Richtung nicht verschweigen konnten.
Aber er stimmte ihnen nicht unbedingt bei, im Gegenteil, er sagte: Nein, Gentlemen, nein; sie sollten ihn nicht mißverstehen. Sein Bruder sei allerdings sehr gebrochen, und es würde für ihn (den Vater des Marschallgefängnisses) weit angenehmer sein, zu wissen, daß er innerhalb der Mauern in Sicherheit wäre. Aber man dürfe nicht vergessen, daß, wenn jemand es viele Jahre hier aushalten können soll, eine gewisse Verbindung von Eigenschaften – er sage nicht hohe Eigenschaften, aber Eigenschaften – moralische Eigenschaften nötig seien. Und habe sein Bruder diese eigentümliche Verbindung von Eigenschaften? »Gentlemen, er ist ein ausgezeichneter Mann, ein edler, feinfühlender und achtungswerter Mann mit der Einfachheit eines Kindes; aber würde er, obgleich für die meisten andern Orte untauglich, für diesen Ort passen? Nein«; er sage ihnen im Vertrauen, nein! Und er sagte: »Der Himmel verhüte, daß Frederick je in einem andern Charakter als in seinem jetzigen freiwilligen hier wäre! Gentlemen, wer in dieses Kollegium kommt, um hier lange zu bleiben, müßte einen starken Charakter haben, um sich in so vieles zu finden und aus so vielem wieder herauszufinden.« Sei sein geliebter Bruder dieser Mann? Nein. Sie sähen ihn, wie dem nun auch sei, gebeugt. Das Unglück habe ihn gebeugt, er habe nicht Schnellkraft genug, nicht Elastizität genug, um lange Zeit an einem solchen Orte zu sein und seine Selbstachtung zu bewahren und sich bewußt zu bleiben, daß er ein Gentleman sei. Frederick habe (wenn er den Ausdruck gebrauchen dürfe) nicht Kraft genug, in jeder zarten kleinen Aufmerksamkeit und – und – jedem Ehrengeschenk, das er unter solchen Umständen empfinge, die Güte der menschlichen Natur, den feinen Geist, der die Kollegen als eine Körperschaft belebe, und zu gleicher Zeit keine Herabwürdigung für sich und keine Herabsetzung seiner Ansprüche als Gentleman zu sehen. »Gentleman, Gott mit Euch!«
So lautete die Homilie, mit der er die Gesellschaft im Pförtnerstübchen erbaute und ihr die Sache deutete, ehe er in den schmutzigen Hof zurückging, um in seiner eigenen schäbigen Würde an dem Kollegen in dem Schlafrock, der keinen Rock hatte, und dem Kollegen in den Matrosenpantoffeln, der keine Schuhe hatte, und dem stolzen Obsthändler-Kollegen mit den kurzen baumwollenen Hosen, der keine Sorgen hatte, und dem mageren Schreiber von Kollegen in seinem knopflosen, schwarzen Rock, der keine Hoffnung hatte, vorüber sich nach seiner eigenen, armen, schäbigen Treppe, in sein eigenes, armes, schäbiges Zimmer zu begeben.
Dort war der Tisch für sein Nachtessen gedeckt, und sein alter, grauer Schlafrock lag auf der Stuhllehne am Feuer. Seine Tochter steckte ihr kleines Gebetbuch in ihre Tasche – hatte sie doch um Gnade für alle Gefangenen gebetet! – und stand auf, um ihn zu begrüßen.
Ob der Oheim schon heimgegangen? fragte sie ihn, als sie seinen Rock wechselte und ihm seine schwarze Samtmütze gab. Ja, der Oheim sei heimgegangen. Ob dem Vater der Spaziergang gut bekommen? – »Nein, nicht besonders, Amy: nicht besonders.« – Nein? Ob er sich nicht ganz wohl fühle?
Während sie so hinter ihm stand, liebevoll über den Stuhl herabgebeugt, sah er mit niedergeschlagenen Blicken in das Feuer. Eine Unbehaglichkeit beschlich ihn, wie ein Anflug von Scham; und als er sprach, wie es später der Fall war, geschah es in unzusammen hängender und verlegener Weise.
»Etwas, ich – hm! – ich weiß nicht was, ist dem Chivery begegnet. Er ist heute abend nicht – hm! – nicht ganz so höflich und aufmerksam wie sonst. Es ist – hm! – eine Kleinigkeit, aber es macht mich irre, mein liebes Kind. Es ist unmöglich zu vergessen«, fügte er hinzu, indem er die Hände beständig umeinander drehte und sie starr ansah, »daß – hm! – ich bei einem Leben, wie das meine, unglücklicherweise von Menschen wie diese den ganzen Tag wegen einer Kleinigkeit abhängig bin.«
Ihr Arm ruhte auf seiner Schulter, aber sie sah ihm nicht ins Gesicht, während er sprach. Sie beugte ihren Kopf und sah anderswohin.
»Ich – hm! – ich kann mir nicht denken, Amy, was Chivery beleidigt hat. Er ist im allgemeinen so – so ungemein aufmerksam und respektvoll. Und heute abend war er sehr – sehr kurz angebunden mit mir. Waren noch andere Leute da! Bei Gott im Himmel, wenn ich die Unterstützung und Achtung Chiverys und seiner Mitangestellten verlieren sollte, so möchte ich lieber sterben.«
Während er sprach, öffnete und schloß er seine Hände wie Klappen und war sich die ganze Zeit des Anflugs von Schamgefühl so bewußt, daß er vor seiner eigenen Kenntnis dessen, worauf er hindeutete, zurückbebte.
»Ich – hm! – ich kann mir nicht denken, was schuld daran. Ich weiß wirklich nicht, was die Ursache ist. Da war einmal ein gewisser Jackson hier, ein Schließer namens Jackson (ich glaube nicht, daß du dich seiner erinnern kannst, meine Liebe, du warst noch sehr jung), und – hm! – der hatte einen – Bruder, und dieser – jüngere Bruder machte der – nicht der Tochter – der Schwester eines von uns, eines ziemlich angesehenen Mitgefangenen, den Hof – das heißt – er betete sie an, betete sie aus ganzer Seele an; ich darf das wohl sagen. Sein Name war Kapitän Martin; er befragte mich über die Sache, ob etwa seine Tochter – Schwester – den Bruder des Schließers beleidigen würde, wenn sie gegen den andern Bruder zu – hm! – zu offen wäre. Kapitän Martin war ein Gentleman und ein Mann von Ehre, und ich bat ihn, mir zuerst seine – seine eigene Ansicht zu sagen. Kapitän Martin (der große Achtung in der Armee genoß) sagte ohne Zögern, es scheine ihm, daß seine – hm! – Schwester nicht verpflichtet sei, den jungen Mann zu deutlich zu verstehen, und daß sie ihn – ich weiß nicht mehr genau, wie Kapitän Martins Ausdruck lautete – ich glaube, er sagte, um ihres Vaters – wollte sagen Bruders – willen Hinhalten dürfe. Ich weiß nicht mehr recht, wie ich auf diese Geschichte gekommen bin. Ich glaube, es geschah, weil ich nicht weiß, wie ich mir Chiverys Benehmen erklären soll; aber wie die beiden Sachen zusammenhängen, sehe ich nicht ein.«
Seine Stimme erstarb, als ob sie die Pein, ihn zu hören, nicht ertragen könnte, und Amys Hand war nach und nach bis an seine Lippen gekommen. Für einen Augenblick trat Totenstille und tiefes Schweigen ein; er saß zusammengesunken in seinem Stuhl, und sie hielt den Arm um seinen Hals geschlungen und den Kopf auf seine Schulter herabgebeugt.
Sein Nachtessen kochte in einem Pfännchen über dem Feuer, und als Amy sich bewegte, geschah es, um es für ihn auf den Tisch zu setzen. Er nahm seinen gewöhnlichen Sitz, sie den ihren ein, und er begann sein Mahl. Sie sahen einander noch nicht an. Nach und nach wurde er ungeduldig, indem er Messer und Gabel geräuschvoll niederlegte, die Sachen laut aufnahm, auf sein Brot biß, als ob er beleidigt wäre, und auf ähnliche Weise andeutete, daß er verdrießlich sei. Endlich stieß er seinen Teller von sich und sprach laut und mit der seltsamsten Ungereimtheit:
»Was liegt daran, ob ich esse oder sterbe? Was liegt daran, ob ein vergeudetes Leben, wie das meine, jetzt oder die nächste Woche oder das nächste Jahr ein Ende nimmt? Was bin ich irgend jemand wert? Ein armer Gefangener, genährt von Almosen und Abhub; ein garstiger, widerwärtiger Tropf!«
»Vater, Vater!« Sie stand auf, rutschte auf den Knien zu ihm hin und streckte die Hände empor.
»Amy«, fuhr er mit gepreßter Stimme im heftigsten Zittern und sie so wild anblickend, als wäre er wahnsinnig geworden, fort: »Ich sage dir, wenn du mich sehen könntest, wie deine Mutter mich sah, du würdest nicht glauben, daß das der Mensch sei, den du nur durch das Gitter dieses Gefängnisses gesehen. Ich war jung, ich war feingebildet, ich war hübsch, ich war unabhängig – bei Gott, Kind, ich war es –, und die Leute suchten mich und beneideten mich. Beneideten mich!«
»Lieber Vater!« Sie suchte den zitternden Arm, der die Luft durchkreuzte, herabzuziehen, aber er widerstand und stieß ihre Hand zurück.
»Wenn ich nur ein Bild von mir aus jenen Tagen hätte, und wäre es auch noch so schlecht geraten, du würdest stolz darauf sein. Aber ich habe nichts dergleichen. Ich sollte eine Warnung sein. Kein Mann«, rief er und sah ganz verstört um sich, »sollte versäumen, wenigstens diese Kleinigkeit aus den Zeiten seines Glückes und der Achtung zu bewahren. Seine Kinder sollten diesen Schlüssel zu dem, was er war, haben. Wenn mein Gesicht nach meinem Tode nicht jenes lang verschwundene Aussehen wiedererhält – man sagt, ich weiß es nicht, das soll vorkommen –, so werden mich meine Kinder nie gesehen haben.«
»Vater, Vater!«
»O verachte mich, verachte mich! Sieh weg von mir, höre nicht auf mich, tue mir Einhalt, erröte um mich, weine um mich. Selbst du, Amy! Tue es, tue es! Ich tue es gegen mich selbst. Ich bin unempfindlich, ich bin zu tief gesunken, um mich sehr darob zu grämen.«
»Lieber Vater, geliebter Vater, Liebling meines Herzens!« Sie hing sich mit ihren Armen an ihn und vermochte ihn, daß er sich in seinen Stuhl setzte; dann ergriff sie den erhobenen Arm und suchte ihn um ihren Hals zu legen.
»Laß ihn hier liegen, Vater. Sieh mich an, Vater, küsse mich, Vater! Denke nur einen kleinen Augenblick an mich!«
Er fuhr aber in derselben wirren Weise fort, obgleich sein Ton nach und nach in ein trauriges Weinen überging.
»Und doch genieße ich einigen Respekt hier. Ich habe mich einigermaßen aufrechterhalten. Ich bin nicht ganz niedergebeugt. Geh hinaus und frage: wer ist die Hauptperson an diesem Ort? Und sie werden dir antworten, es ist dein Vater. Geh hinaus und frage: mit wem hat man nie seinen Spaß getrieben, und wer ist immer mit einer gewissen Zartheit behandelt worden? Sie werden sagen: dein Vater. Geh hinaus und frage: welches Leichenbegängnis (es wird hier stattfinden, ich weiß, es kann nirgend anderswo sein) mehr von sich sprechen machen und vielleicht größern Schmerz hervorrufen wird als irgendeines, das je zu jenem Tor hinausging? Sie werden sagen: das von deinem Vater. Gut denn. Amy! Amy! Ist dein Vater so allgemein verachtet? Kann ihn nichts retten? Wirst du ihn an nichts als seinen Ruin und sein Elend zu erinnern haben? Wirst du imstande sein, keine Liebe für ihn zu bewahren, wenn er, der arme Verstoßene, dahingegangen?«
Er brach in Tränen halb nebelhaften Mitleids mit sich selbst aus, und indem er zuletzt gestattete, daß sie ihn umarmte und sich um ihn mühte, ließ er sein weißes Haupt an ihrer Wange ruhen und weinte über sein Elend. Plötzlich änderte er den Gegenstand seiner Klagen, schlang seine Hände um sie, als sie ihn umarmte, und rief: Oh, Amy, mein mutterloses, verlorenes Kind! Oh, die schönen Tage, da er sie noch für ihn arbeiten und sich mühen gesehen! Dann kehrte er wieder zu sich zurück und sagte ihr in weichem Tone, wie weit mehr sie ihn geliebt, wenn sie ihn in seiner früheren Stellung gekannt, und wie er sie an einen Gentleman verheiratet hätte, der auf sie als seine Tochter stolz gewesen, und wie (wobei er wieder weinte) sie an seiner väterlichen Seite zum ersten Male mit ihrem eigenen Pferde ausgeritten wäre, und wie die Menge (wobei er im Grunde die Leute meinte, die ihm die zwölf Schillinge gegeben, die er in der Tasche hatte) ehrfurchtsvoll auf den staubigen Wegen nebenher gegangen sein würde.
So, bald prahlend, halb verzweifelnd, stets jedoch ein Gefangener, mit dem Gefängnismoder an sich und dem Gefängnisschmutz in sich, enthüllte er seinen herabgekommenen Zustand seinem liebevollen Kinde. Niemand sonst sah ihn so in allen Einzelheiten seiner Erniedrigung. Wenig kümmerte es die Kollegen, die in ihren Zimmern über seine letzte Anrede im Pförtnerstübchen lachten, was für ein ernstes Gemälde sie in ihrer dunklen Marschallgefängnisgalerie an jenem Sonntagabend hatten. Im klassischen Altertum lebte vielleicht einst eine Tochter, die ihrem Vater in seinem Gefängnisse reichte, was ihre Mutter ihr gereicht. Klein-Dorrit, obgleich von dem unheroischen modernen Stamm und eine bloße Engländerin, tat weit mehr, indem sie ihres Vaters zerstörtes Herz an ihrer unschuldigen Brust ausruhen ließ und eine Quelle der Liebe und Treue ihm zuführte, die niemals vertrocknete oder abnahm während all dieser Hungerjahre.
Sie beruhigte ihn; bat ihn um Verzeihung, wenn sie ungehorsam gewesen oder geschienen; sagte ihm, der Himmel weiß es, daß sie ihn nicht mehr ehren könnte, wenn er der Liebling des Glückes wäre und die ganze Welt ihm ihre Achtung zollte. Als seine Tränen getrocknet waren und er in seiner Gerührtheit nicht mehr weinte und von jenem Anfall von Scham befreit war und seine gewöhnliche Haltung wiedergewonnen, wärmte sie den Rest seines Abendessens noch einmal und freute sich, während sie neben ihm saß, daß er aß und trank. Denn jetzt saß er in seiner schwarzen Samtmütze und seinem alten, grauen Schlafrock wieder erhaben da und würde sich gegen jeden Kollegen, der hereingekommen, um sich seinen Rat zu erbitten, wie ein großer moralischer Lord Chesterfield oder Sittenzeremonienmeister des Marschallgefängnisses benommen haben.
Um seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen, sprach sie mit ihm von seiner Garderobe; und er geruhte zu sagen, ja, diese Hemden, die sie ihm vorschlage, seien ganz annehmbar, denn die, die er habe, seien abgetragen und hätten, als fertig gekauft, nie getaugt. Da er gesprächig wurde und in gute Laune kam, richtete er ihre Aufmerksamkeit auf seinen Rock, der hinter der Tür hing, indem er bemerkte, daß der Vater des Ortes seinen Kindern, die ohnedies nachlässig gekleidet zu gehen geneigt seien, ein schlimmes Beispiel geben würde, wenn er mit offenen Ellbogen unter ihnen umherginge. Er scherzte sogar über die Absätze seiner Schuhe; wurde jedoch bezüglich seiner Krawatte ernst und bat sie, wenn sie es ermöglichen könnte, ihm eine neue zu kaufen.
Während er seine Zigarre im Frieden rauchte, machte sie sein Bett und brachte das kleine Zimmer für seine Nachtruhe in Ordnung. Da er bei der vorgerückten Stunde und infolge seiner Aufregung sehr müde war, erhob er sich aus seinem Stuhl, um sie zu segnen und ihr gute Nacht zu wünschen. Er hatte die ganze Zeit nicht einmal an ihr Kleid und ihre Schuhe oder irgend etwas, dessen sie sonst bedurfte, gedacht. Niemand auf Erden, außer sie selbst, konnte so gleichgültig gegen ihre Bedürfnisse sein.
Er küßte sie mehrmals mit den Worten: »Gott segne dich, mein liebes Kind. Gute Nacht, meine Liebe!«
Aber ihr edles Herz war so tief verwundet durch das, was sie von ihm gesehen, daß sie ihn nicht allein lassen wollte, damit er nicht wieder jammere und verzweifle. »Lieber Vater, ich bin nicht müde; ich will wiederkommen, wenn du im Bett bist, und mich zu dir setzen.«
Er fragte sie mit einem gewissen Ausdruck des Schutzes, ob sie sich einsam fühle?
»Ja, Vater.«
»Dann komme jedenfalls wieder, mein liebes Kind.«
»Ich werde sehr ruhig sein, Vater.«
»Denke nicht an mich, mein liebes Kind«, sagte er, indem er ihr seine freundliche Erlaubnis aus vollem Herzen gab. »Komme jedenfalls wieder.«
Er schien zu schlummern, als sie zurückkam, und sie schürte das herabgebrannte Feuer leise zusammen, damit sie ihn nicht aufwecke. Aber er hörte sie und fragte, wer es sei.
»Nur Amy, Vater.«
»Amy, mein Kind, komm hierher. Ich muß dir ein Wort sagen.«
Er erhob sich etwas in seinem niederen Bett, während sie neben ihm kniete, um ihr Gesicht in seine Nähe zu bringen, und legte seine Hand zwischen die ihren. Oh! Beide, der Privatvater und der Vater des Marschallgefängnisses, waren in diesem Augenblick lebendig in ihm.
»Mein liebes Kind, du hattest hier ein Leben voll Mühseligkeit. Keine Spielgenossen, keine Erholungen, manche Entbehrungen, fürchte ich.«
»Denke nicht daran, Vater. Ich tu' es auch nicht.«
»Du kennst meine Lage, Amy. Ich war nicht imstande, viel für dich zu tun; aber was ich zu tun imstande war, habe ich getan.«
»Ja, mein lieber Vater«, bestätigte sie, ihn küssend. »Ich weiß, ich weiß.«
»Ich bin im dreiundzwanzigsten Jahre hier«, sagte er, mit einem Ausdruck in seinem Ton, der nicht so sehr ein Seufzer als vielmehr ein ununterdrückbares Gefühl des Eigenlobes, der augenblickliche Ausbruch edlen Selbstbewußtseins war. »Alles, was ich für meine Kinder tun konnte, habe ich getan. Amy, meine Liebe, du bist bei weitem die, die ich von allen drei am meisten liebe; ich trug dich vor allen in meinem Herzen, und was ich für dich getan, mein liebes Kind, habe ich gern und ohne Murren getan.«
Nur die Weisheit, die den Schlüssel zu allen Herzen und Geheimnissen hat, kann genau wissen, wie weit ein Mann, und besonders ein Mann, der so herabgekommen wie dieser, sich selbst belügen kann. Genug für den Augenblick, daß er mit nassen Wimpern, heiter, in majestätischer Weise sich niederlegte, nachdem er sein herabgekommenes Leben als eine Art Erbteil auf das liebevolle Kind übertragen, auf das sein Elend so schwer gefallen und dessen Liebe ihn allein so weit gerettet, daß er war, was er war.
Das Kind hatte keine Zweifel, richtete keine Fragen an sich selbst, denn es war nur zu zufrieden, ihn mit einem Glanz um sein Haupt zu sehen. »Armer, lieber, guter Vater, bester, teuerster Vater«, waren die einzigen Worte, die sie für ihn hatte, als sie ihn in den Schlaf bringen wollte.
Sie verließ ihn die ganze Rächt nicht mehr. Als ob sie ihm ein Unrecht getan, das ihre Zärtlichkeit kaum wieder gutmachen könnte, saß sie bei ihm, während er schlief, und küßte ihn bisweilen mit zurückgehaltenem Atem und flüsterte einen liebkosenden Namen. Bisweilen ging sie zur Seite, um nicht das herabgebrannte Feuer aufzufangen, und hätte gern gewußt, wenn sie ihn beobachtete und das Licht auf sein schlafendes Gesicht fiel, ob er wohl so ausgesehen, als er glücklich und in guten Umständen gewesen; da er sie so sehr gerührt, als er sich einbildete, daß er noch einmal in jener schrecklichen Zeit so aussehen würde. Bei dem Gedanken an jene Zeit kniete sie wieder neben seinem Bett nieder und betete: »Oh, erhalte sein Leben! Oh, erhalte ihn mir! Oh, sieh herab auf meinen teuren, lang duldenden, unglücklichen, viel veränderten, teuren, teuren Vater!«
Erst als der Morgen kam, ihn zu schützen und zu ermutigen, gab sie ihm einen letzten Kuß und verließ das kleine Zimmer. Als sie sich die Treppen und über den leeren Hof hinabgestohlen und nach ihrer eigenen hohen Dachstube hinaufgekrochen, konnte man die rauchlosen Häusergiebel und die fernen Landhügel über der Mauer in dem klaren Morgenlicht unterscheiden. Als sie sanft das Fenster öffnete und nach Osten über den Gefängnishof hinblickte, waren die Spitzen auf den Mauern rot gefärbt und bildeten plötzlich ein purpurnes Muster auf der Sonne, als sie am Himmel emporflammte. Die Eisenspitzen hatten nie so scharf und grausam ausgesehen, noch die Riegel so schwer, noch der Gefängnisraum so düster und eng. Sie dachte an den Sonnenaufgang über rauschenden Strömen, an den Sonnenaufgang über großen Wäldern, wo die Vögel erwachten und die Bäume flüsterten; und sie sah hinab in das lebendige Grab, über dem die Sonne aufgegangen, das Grab, in dem ihr Vater seit dreiundzwanzig Jahren lebte, und sagte mit einem Ausbruch von Kummer und Mitleid: »Nein, nein, ich habe ihn nie in meinem Leben gesehen!«
Wenn der junge John Chivery die Neigung und das Talent besessen, eine Satire mit Familienstolz zu schreiben, er hätte, um ein treffendes Beispiel zu finden, nicht nötig gehabt, aus der Familie seiner Geliebten hinauszugehen. Er hätte solche reichlich in dem hochfahrenden Bruder und der feinen Schwester gefunden, die so tiefgetaucht in gemeine Erfahrungen und so hochmütig auf ihren Familiennamen waren; so bereit, von dem Ärmsten zu betteln und zu borgen, von jedermanns Brot zu essen, jedermanns Geld zu vergeuden, aus jedermanns Glas zu trinken und es nachher zu zerbrechen. Wenn er die schmutzigen Tatsachen ihres Lebens geschildert und sie gezeichnet, wie sie beständig die Erscheinung des Gespenstes ihres Familienadels beschworen, um ihre Wohltäter zu schrecken, – der junge John wäre ein Satiriker vom reinsten Wasser geworden.
Tip hatte seiner Freiheit eine hoffnungsvolle Richtung gegeben, indem er Billardmarkör wurde. Er hatte sich so wenig darum gekümmert, wie und durch wen er befreit worden, daß Clennam kaum nötig gehabt, sich die Mühe zu geben, das Gedächtnis von Mr. Plornish in dieser Richtung zu beschweren. Wer auch immer ihm das Geschenk gemacht, er nahm es bereitwilligst an, ließ ihm dafür sein Kompliment machen, und damit war die Sache abgetan. So leichten Kaufs aus dem Gefängnis befreit, wurde er Billardmarkör und zog nun zuweilen in einem grünen Newmarketrock (aus zweiter Hand), mit einem glänzenden Kragen und blanken Knöpfen (neu), in die kleine Kegelbahn und trank das Bier der Kollegen.
Ein fester, stabiler Punkt in dem lockern Wesen dieses Charakters war, daß er seine Schwester Amy achtete und bewunderte. Dieses Gefühl hatte ihn zwar nie veranlaßt, ihr auch nur einen verdrießlichen Moment zu ersparen oder sich irgendeinen Zwang anzutun und sich irgendeine Mühe aufzuerlegen; aber mit diesem Marschallgefängnisfleck auf seiner Liebe, liebte er sie. Derselbe starke Marschallgefängnisgeruch ließ sich in der Art erkennen, wie er deutlich sah, daß sie ihr Leben für ihren Vater opferte und dabei gar nicht daran dachte, daß sie irgend etwas für ihn getan.
Wann dieser lebhafte junge Mann und seine Schwester begonnen, das Familienehrenskelett systematisch zusammenzusetzen, um die Kollegen zu schrecken, kann diese Erzählung nicht genau angeben. Wahrscheinlich ungefähr zu der Zeit, als sie auf Kosten der Wohltätigkeit des Kollegiums zu Mittag zu essen begannen. Soviel ist sicher, daß, je reduzierter und bedürftiger sie waren, desto pomphafter das Skelett aus seinem Grabe stieg und daß, wenn irgend etwas besonders Schäbiges im Anzug war, das Skelett immer mit dem geisterhaftesten Glanz zum Vorschein kam.
Es war für Klein-Dorrit an jenem Montagmorgen spät geworden, denn ihr Vater schlief lange, und dann war sein Frühstück zu bereiten und sein Zimmer herzurichten. Sie war jedoch heute nicht zum Nähen bestellt und blieb deshalb bei ihm, bis sie mit Maggys Hilfe alles in Ordnung gebracht und ihn seinen Morgenspaziergang (von ungefähr zwanzig Schritt) nach dem Kaffeehaus hatte antreten sehen, wo er die Zeitungen las. Dann nahm sie ihren Hut und ging aus; sie wäre gern viel früher ausgegangen. Es trat wie gewöhnlich eine Unterbrechung in dem Geplauder des Pförtnerstübchens ein, als sie durch dasselbe ging, und ein Gefangener, der am Samstagabend hereingekommen war, wurde von dem Ellbogen eines schon länger Sitzenden angestoßen: »Sehen Sie! Das ist sie!«
Sie wollte ihre Schwester besuchen; als sie jedoch nach Mr. Cripples' Haus kam, hörte sie, daß ihre Schwester und ihr Onkel in das Theater gegangen waren, wo sie engagiert waren. Nachdem sie einen Augenblick über diese Wahrscheinlichkeit nachgesonnen und sich entschlossen, ihnen in diesem Falle zu folgen, begab sie sich raschen Schrittes nach dem Theater, das diesseits des Flusses und nicht weit entfernt war.
Klein-Dorrit war der Theaterwege so unkundig wie der Goldminenwege, und als sie nach einer Art geheimer Tür gewiesen wurde, die so seltsam aussah, als stünde sie die ganze Nacht offen, und sich vor sich selbst zu schämen und sich in einem Gang zu verbergen schien, zögerte sie, sich zu nähern, da sie überdies noch weiter durch den Anblick von einem halben Dutzend kahl rasierter Herren zurückgeschreckt wurde, die die Hüte seltsam aufhatten und, wie sie so um die Tür her lungerten, den Gefangenen des Marshalsea gar nicht unähnlich waren. Als sie sich, durch diese Ähnlichkeit ermutigt, um Auskunft wegen Miß Dorrit an sie wandte, machten sie ihr Platz, und sie trat in einen dunklen Gang – der einer großen mürrischen Lampe glich, die ausgegangen zu sein schien –, wo sie in der Entfernung Musik und das Geräusch von tanzenden Füßen hören konnte. Ein Mann, der so sehr der frischen Luft entbehrte, daß er mit einem blauen Moder überlaufen war, bewachte diesen dunklen Ort von einem Loch in einer Ecke aus wie eine Spinne; und er sagte ihr, daß er die erste Dame oder den ersten Herrn, die hier vorüberkämen, zu Miß Dorrit schicken wolle. Die erste Dame, die hier vorüberkam, trug eine Musikrolle, die halb in ihrem Muff versteckt war, halb heraussah und in so gänzlich zerknittertem Zustande war, daß man ihr ohne Zweifel eine Freundlichkeit erwiesen, wenn man sie ausgebügelt hätte. Da die Dame jedoch sehr gutmütig war, sagte sie: »Kommen Sie mit mir: ich werde Miß Dorrit gleich für Sie gefunden haben«, und so ging Miß Dorrits Schwester mit ihr, und sie kamen mit jedem Schritt in der Dunkelheit dem Klang der Musik und dem Geräusch der tanzenden Füße immer näher.
Endlich kamen sie in einen Nebel von Staub, wo eine Menge Menschen sich durcheinander tummelten und ein solcher Wirrwarr sonderbarer Gestalten von Balken, Bretterverschlägen, Backsteinmauern, Stricken und Walzen war und solch eine Mischung von Gaslicht und Tageslicht herrschte, daß sie auf die verkehrte Seite des Weltmusters gekommen zu sein schienen. Klein-Dorrit, die sich wieder allein sah und jeden Augenblick von jemandem gestoßen wurde, war ganz verwirrt, als sie die Stimme ihrer Schwester hörte.
»Ei du mein Gott, Amy, was führt dich hierher?«
»Ich wollte dich sprechen, liebe Fanny; und da ich morgen den ganzen Tag aus bin und wußte, daß du heute den ganzen Tag beschäftigt sein würdest, so dacht' ich –«
»Aber die Idee, Amy, daß du hierherkommst! Ich hätte mir's nicht einfallen lassen!« Während ihre Schwester dies in keinem sehr herzlichen Willkommenston sagte, führte sie sie nach einem freieren Platze, wo verschiedene vergoldete Stühle und Tische durcheinander gehäuft waren und wo eine Anzahl junger Damen plaudernd auf allem saßen, was sie gerade finden konnten. All diese Damen hätten das Ausbügeln brauchen können, und alle hatten eine eigentümliche Art, überall herumzusehen, während sie plauderten.
Gerade als die Schwestern an diesen Platz kamen, bog ein Junge in einer schottischen Mütze seinen Kopf um einen Balken zur Linken und sagte: »Weniger laut, meine Damen!« und verschwand. Gleich darauf sah ein lustiger Herr mit einer Masse langer, schwarzer Haare um einen Balken zur Rechten und sagte: »Weniger laut, liebe Kinder!« und verschwand gleichfalls.
»Dich unter meinen Kollegen hier zu sehen, Amy, ist wahrhaftig, was ich mir zuletzt hätte einfallen lassen«, sagte ihre Schwester. »Wie kamst du denn nur hierher?«
»Ich weiß nicht. Die Dame, die dir sagte, daß ich hier sei, war so gut, mich hereinzuführen.«
»Ja, ihr kleinen, stillen Geschöpfe, ihr könnt überall durchkommen, glaube ich. Mir wär's nicht gelungen, Amy, obgleich ich weit mehr von der Welt weiß.«
Es war die Gewohnheit der Familie, es als ein Familiengesetz zu betrachten, daß Amy ein einfaches, häusliches Geschöpf, aber ohne die großen und klugen Erfahrungen der übrigen sei. Diese Familienfiktion bestimmte die Ansicht der Familie von ihren Diensten. Nicht zuviel aus ihnen zu machen, war die Taktik.
»Nun, und was ist dir eingefallen, Amy? Natürlich ist dir etwas durch den Kopf gegangen, was mich betrifft?« sagte Fanny. Sie sprach, als ob ihre Schwester, die zwei bis drei Jahre jünger war als sie, ihre in Vorurteilen befangene Großmutter wäre.
»Es ist nicht viel; aber seit du mir von der Dame gesagt, die dir das Armband gab, Fanny –«
Der Junge steckte seinen Kopf um eine Kulisse zur Linken und sagte: »Passen Sie auf, meine Damen!« und verschwand. Der lustige Herr mit dem schwarzen Haar steckte alsbald auch den Kopf hinter die Kulisse zur Rechten und sagte: »Passen Sie auf, meine Kinder!« und verschwand gleichfalls.
Alle die jungen Damen standen auf und begannen ihre Röcke hinten auszuschütteln.
»Nun, Amy«, sagte Fanny, indem sie dem Beispiel der übrigen folgte, »was wolltest du sagen?«
»Seit du mir erzählt, eine Dame habe dir das Armband gegeben, das du mir gezeigt, Fanny, bin ich nicht mehr ganz ruhig deinetwegen und möchte wirklich etwas mehr wissen, wenn du mir mehr anvertrauen willst.«
»Jetzt, meine Damen!« sagte der Junge mit der schottischen Mütze. »Jetzt, meine Kinder!« sagte der Herr mit dem schwarzen Haar. In einem Augenblick waren sie alle verschwunden, und man hörte wieder die Musik und die tanzenden Füße.
Durch diese Unterbrechungen ganz schwindlig gemacht, setzte sich Klein-Dorrit auf einen goldenen Stuhl. Ihre Schwester und die übrigen blieben lange fort; und während ihrer Abwesenheit rief eine Stimme (es schien die des Herrn mit dem schwarzen Haar zu sein) beständig durch die Musik: »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – vorwärts! – Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – vorwärts! – Takt halten, Kinder! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – vorwärts!« Zuletzt schwieg die Stimme, und sie kamen alle wieder, mehr oder weniger außer Atem, sich in ihre Schals hüllend und sich für die Straße zurechtmachend. »Warte ein wenig, Amy, und lasse sie vorher weggehen«, flüsterte Fanny. Sie waren bald allein; es geschah in der Zwischenzeit nichts Wichtiges, als daß der Junge um seine alte Kulisse sah und sagte: »Alle pünktlich morgen um elf Uhr, meine Damen!« und daß der Herr mit dem schwarzen Haar um seine alte Kulisse sah und sagte: »Alle pünktlich morgen um elf Uhr, meine Kinder!« – Jeder tat es nach seiner gewöhnlichen Art.
Als sie allein waren, wurde etwas weggewälzt oder auf andere Weise aus dem Weg geschafft, und es war ein großer, leerer Brunnen vor ihnen, in dessen Tiefen Fanny hinabsah und rief: »Nun, Onkel!« Als Klein-Dorrits Augen an die Dunkelheit gewöhnt waren, gewahrte sie die Umrisse desselben in der Tiefe des Loches in einer dunklen Ecke. Er hielt sein Instrument in der zerrissenen Kapsel unter dem Arm.
Der alte Mann sah aus, als ob die entfernten, hohen Galeriefenster mit ihrem kleinen Streifen Himmel die Höhe seiner bessern Tage gewesen, von der er herabgestiegen, bis er zuletzt in diesen Abgrund gesunken. Er war seit vielen Jahren wöchentlich sechs Abende an diesem Ort; man hatte jedoch nie beobachtet, daß er seine Blicke über die Noten erhoben, und man war der festen Überzeugung, daß er nie ein Stück gesehen. Es ging sogar die Sage an diesem Ort, daß er die populärsten Helden und Heldinnen nicht mal von Ansehen kenne, und daß der Komiker um einer Wette willen ihn fünfzig Abende lang auf das beste persifliert, ohne daß er auch nur das geringste davon gemerkt. Die Zimmerleute behaupteten im Scherze, er sei tot, ohne daß er es wisse, und die Besucher des Parterres glaubten, er bringe sein ganzes Leben, Tag und Nacht und Sonntag und alle Zeit, im Orchester zu. Sie hatten ihm mehrmals Prisen über die Brustlehne hinüber angeboten, und er hatte diese Aufmerksamkeit immer mit einem momentanen Erwachen erwidert, in dem das blasse Phantom des Gentlemans zur Erscheinung kam; über dies hinaus hatte er niemals irgendwelchen Anteil an dem, was vorging, soweit es nicht in der für die Klarinette ausgeschriebenen Stimme stand; im Privatleben, wo es keine Klarinettstimme gab, nahm er überhaupt keinen Anteil an etwas. Einige sagten, er sei arm, andere, er sei ein reicher Geizhals, er aber sagte nichts, hob niemals seinen gebückten Kopf und änderte auch seinen schlürfenden Gang nicht, indem er seinen unelastischen Fuß vom Boden etwa aufgehoben. Obgleich er in diesem Augenblick erwartete, daß ihn seine Nichte rufen werde, hörte er doch nicht, bis sie drei- oder viermal gesprochen; auch war er nicht im geringsten überrascht, als er zwei Nichten statt einer fand, sondern sagte nur mit seinem tremulierenden Tone: »Ich komme, ich komme!« und kroch durch einen unterirdischen Gang, der einen Kellergeruch verbreitete, herauf.
»So, Amy«, sagte ihre Schwester, als die drei zusammen fortgingen, an der Tür, die ein so verschämtes Bewußtsein ihrer Verschiedenheit von andern Türen hatte, während der Onkel unwillkürlich Amys Arm als denjenigen nahm, auf den man sich stützen konnte; »so, Amy, du möchtest also mehr von mir wissen?«
Sie war hübsch und selbstbewußt und ziemlich aufgeblasen; und die Herablassung, mit der sie das Übergewicht ihrer Reize und ihrer Welterfahrung beiseite setzte und sich mit ihrer Schwester beinahe auf eine Stufe stellte, hatte viel von dem Wesen der Familie an sich.
»Fanny, ich interessiere mich für alles, was dich betrifft, und bin auch dabei beteiligt.«
»Allerdings, allerdings, und du bist die beste Amy. Wenn ich je etwas hoch hinaus will, so wirst du sicher einsehen, was es heißt, meine Stellung einzunehmen und das Bewußtsein zu besitzen, über sie erhaben zu sein. Ich würde mich nicht darum kümmern«, sagte die Tochter des Vaters des Marschallgefängnisses, »wenn die andern nicht so gemein wären. Keine von ihnen ist wie wir in der Welt heruntergekommen. Sie stehen alle auf ihrer Höhe. Gemeines Volk.«
Klein-Dorrit sah die Sprecherin freundlich an, unterbrach sie jedoch nicht. Fanny nahm ihr Taschentuch heraus und wischte sich ziemlich ärgerlich die Augen. »Du weißt, ich bin nicht geboren worden, Amy, wo du geboren wurdest, und vielleicht macht das einen Unterschied. Mein liebes Kind, wenn wir den Onkel los sind, werde ich dir alles sagen. Wir wollen ihn bei der Garküche absetzen, wo er zu Mittag speist.«
Sie gingen mit ihm weiter, bis sie an ein schmutziges Ladenfenster in einer schmutzigen Straße kamen, das durch den Dampf der heißen Fleischspeisen, Gemüse und Puddings beinahe undurchsichtig geworden. Aber man sah doch noch einen Schein von gebratenem Schweinsschlegel, der in einer metallenen Schüssel voll Fettbrühe vor lauter Salbei und Zwiebel Tränen weinte, einen Schein von einem fetten Roastbeef und blasigem Yorkshirepudding, der heiß in einem ähnlichen Gefäße glänzte, einen Schein von einem gefüllten Kalbsfilet, das hastig angeschnitten worden, von einem Schinken, der durch den Schritt, in dem er dem Garwerden entgegenging, transpirierte, von einem flachen Gefäß mit gebratenen Kartoffeln, die durch ihre eigene Üppigkeit zusammenhielten, von einem oder zwei Bündeln gekochter Küchenkräuter und andern substanziellen Delikatessen. Drinnen waren einige hölzerne Abteilungen, hinter denen solche Kunden, die es bequemer fanden, ihr Essen im Magen, statt in den Händen mitzunehmen, ihre Einkäufe in der Stille einpackten. Fanny öffnete, während sie die Sachen übersah, ihren Ridikül, brachte aus diesem Behälter einen Schilling hervor und gab ihn dem Onkel. Der Onkel, der sich das Erhaltene einen Augenblick ansah, ahnte, was es sei, und verschwand langsam mit den Worten: »Mittagessen? Hm? Ja, ja, ja!« in dem Nebel.
»Jetzt, Amy«, sagte ihre Schwester, »komm' mit mir, wenn du nicht zu müde bist, um nach Harley Street, Cavendish Square zu gehen.«
Die Miene, mit der sie diese vornehme Adresse nannte, und die Art, wie sie ihren neuen Hut zurückwarf, der mehr durchsichtig als nützlich war, ließ ihre Schwester staunen; sie sprach jedoch ihre Bereitwilligkeit aus, nach Harley Street zu gehen, und sie richteten ihre Schritte dahin. Als sie an diesen großartigen Bestimmungsort gekommen waren, bezeichnete Fanny das schönste Haus und fragte, nachdem sie an die Tür gepocht, nach Mrs. Merdle. Der Bediente, der die Tür öffnete, obwohl er Puder auf dem Kopfe hatte und zwei andere gleichfalls gepuderte Bediente ihm den Rücken deckten, bestätigte nicht nur, daß Mrs. Merdle zu Hause sei, sondern bat Fanny, einzutreten. Fanny trat ein und nahm ihre Schwester mit sich; sie gingen die Treppe hinauf, Puder vorn und Puder hinten, und wurden in ein halbrundes, geräumiges Empfangszimmer, eins von den vielen Empfangszimmern geführt, wo sich ein Papagei außen an einem goldenen Käfig befand, der sich mit seinem Schnabel, die schaligen Füße in der Luft, daran festhielt und sich in allerlei seltsame Stellungen brachte, bei denen immer der Rücken unten war. Diese Eigentümlichkeit hat man auch bei Vögeln von ganz anderem Gefieder bemerkt, die an goldenen Drahtstäben hinaufklettern.
Das Zimmer war prachtvoller als alles, was Klein-Dorrit sich je vorgestellt hatte, und würde jedem glänzend und kostbar erschienen sein. Sie sah ihre Schwester erstaunt an und würde eine Frage an sie gerichtet haben, wenn Fanny nicht mit warnender Stirn nach einer Portiere gedeutet, die in ein anderes Zimmer führte. Der Vorhang bewegte sich im nächsten Augenblick, und eine Dame, die ihn mit reich beringter Hand auseinanderhob, ließ ihn wieder hinter sich fallen, als sie eingetreten war. Die Dame war nicht jung und frisch von der Hand der Natur, aber war jung und frisch von der Hand ihrer Kammerjungfer. Sie hatte große, gefühllose, schöne Augen und dunkles, gefühlloses, schönes Haar und einen breiten, gefühllosen, schönen Busen und war in allen diesen Einzelheiten aufs effektvollste herausstaffiert. Sei es nun, daß sie sich erkältet oder weil es ihr gut stand, sie trug eine reiche, weiße Binde über ihren Kopf und unter ihrem Kinn zusammengebunden. Und wenn es je ein gefühlloses, schönes Kinn gab, das aussah, als ob es gewiß nie in vertraulichem Umgang von der Hand eines Mannes geliebkost worden, war es das Kinn, das durch diesen Spitzenzaum so fest und scharf aufgezäunt war.
»Mrs. Merdle«, sagte Fanny. »Meine Schwester, Ma'am.«
»Ich freue mich, Ihre Schwester zu sehen, Miß Dorrit. Ich erinnere mich nicht, daß Sie eine Schwester haben.«
»Ich habe es Ihnen noch nicht gesagt«, erwiderte Fanny.
»Ah!« Mrs. Merdle krümmte den kleinen Finger ihrer linken Hand, als wollte sie damit sagen: »Ich habe sie ertappt. Ich wußte es wohl, daß Sie's nicht sagten!« All ihre Gesten verrichtete gewöhnlich ihre linke Hand, weil ihre Hände kein Paar waren; die linke war weit die weißere und vollere von den beiden. Dann fügte sie hinzu: »Setzen Sie sich« und ließ sich selbst mit einer gewissen Üppigkeit in einem Nest von scharlachroten und goldenen Kissen auf einer Ottomane in der Nähe des Papageis nieder.
»Gleichfalls beim Theater« sagte Mrs. Merdle und betrachtete Klein-Dorrit durch das Augenglas.
Fanny antwortete: »Nein.«
»Nein«, sagte Mrs. Merdle, ihr Augenglas fallen lassend, »hat kein theatralisches Aussehen. Sehr angenehm, aber nicht theatralisch.«
»Meine Schwester, Ma'am«, sagte Fanny, in deren Ton eine eigentümliche Mischung von Ehrerbietung und Kühnheit war, »hat mich gebeten, ihr zu sagen, wie sich's unter Schwestern geziemt, auf welche Art ich zu der Ehre Ihrer Bekanntschaft kam. Und da ich mich verpflichtet hatte, Sie wieder zu besuchen, so glaubte ich mir die Freiheit nehmen zu dürfen, sie mitzubringen, damit Sie's ihr vielleicht selbst sagen. Ich wünsche, daß sie es weiß, und vielleicht sagen Sie es ihr.«
»Denken Sie, in Ihrer Schwester Alter –-« warnte Mrs. Merdle.
»Sie ist weit älter, als sie aussieht«, sagte Fanny, »beinahe so alt wie ich.«
»Die Gesellschaft«, sagte Mrs. Merdle mit einer zweiten Krümmung des kleinen Fingers, »ist so schwierig, jungen Leuten zu erklären (sie ist wirklich den meisten Menschen schwer zu erklären), daß ich froh bin, das zu hören. Ich wünschte, die Gesellschaft wäre nicht so willkürlich, so anspruchsvoll, – Vogel, sei ruhig!«
Der Papagei hatte einen sehr grellen Schrei ausgestoßen, als wenn er Gesellschaft hieße und sein Recht zu den Ansprüchen behauptete.
»Aber«, fuhr Mrs. Merdle fort, »wir müssen sie nehmen, wie wir sie finden. Wir wissen wohl, sie ist hohl und konventionell, weltlich und sehr anstößig, aber wenn wir nicht Wilde an den tropischen Meeren sind (ich wäre mit Vergnügen eine solche Wilde – ein entzückendes Leben und herrliches Klima, wie man mir sagt –), so müssen wir sie berücksichtigen. Es ist das allgemeine Los. Mr. Merdle ist ein Kaufmann mit großen Verbindungen, seine Geschäfte werden im großartigsten Maßstab betrieben, sein Reichtum und sein Einfluß sind sehr bedeutend, aber selbst er – Vogel, sei still!«
Der Papagei hatte wieder geschrien, und er vollendete die Phrase so ausdrucksvoll, daß Mrs. Merdle nicht nötig hatte, sie zu beendigen.
»Da Ihre Schwester bittet, ich möchte unsere persönliche Bekanntschaft näher erklären«, begann sie wieder und wandte sich an Klein-Dorrit, »indem ich die Umstände erzähle, die sehr zu Ihrem Vorteil sprechen, so kann ich allerdings nicht umhin, ihrem Wunsche zu entsprechen. Ich habe einen Sohn (ich wurde das erstemal außerordentlich früh verheiratet) von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren.«
Fanny biß die Lippen aufeinander, und ihre Augen sahen halb triumphierend auf ihre Schwester.
»Einen Sohn von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren. Er ist ein wenig lustig, etwas, woran die Gesellschaft bei jungen Männern gewöhnt ist, und gefühlvoll. Vielleicht hat er dieses Unglück geerbt. Ich bin selbst sehr gefühlvoller Natur. Ein außerordentlich weiches Geschöpf. Ich bin gleich gerührt.«
Sie sagte dies und alles andere so kalt wie eine Frau von Schnee; auch schien sie die Anwesenheit der Schwestern, wenige Augenblicke ausgenommen, ganz zu vergessen und ihre Worte an eine Abstraktion von Gesellschaft zu richten. Um dieser Abstraktion willen ordnete sie zuweilen ihr Kleid oder gab sich eine andre Stellung auf der Ottomane.
»Wie gesagt, er ist sehr gefühlvoll. Im Naturzustande wäre das, glaube ich, kein Unglück, aber wir sind nicht mehr im Naturzustande. Es ist das ohne Zweifel sehr zu bedauern, namentlich meinerseits, da ich ein Naturkind bin, wenn ich es nur zeigen könnte, aber so ist es nun einmal. Die Gesellschaft unterdrückt und beherrscht uns – Vogel, sei ruhig!«
Der Vogel war in ein heftiges Gelächter ausgebrochen, nachdem er mehrere Stäbe seines Käfigs mit seinem krummen Schnabel verdreht und mit seiner schwarzen Zunge beleckt hatte.
»Es ist völlig unnötig, einer Person von Ihrer Einsicht, Ihrer Erfahrung und Feinfühligkeit«, sagte Mrs. Merdle, aus ihrem Neste aus Scharlach und Gold – und setzte dabei ihr Glas wieder an die Augen, um ihr Gedächtnis aufzufrischen, mit wem sie spräche – »es ist unnötig, Ihnen zu sagen, daß das Theater bisweilen einen zaubrischen Reiz für junge Leute von solchem Charakter hat. Wenn ich Theater sage, so meine ich die Personen weiblichen Geschlechts dabei. Als ich deshalb hörte, mein Sohn sei von einer Tänzerin bezaubert, so wußte ich, was das in der Gesellschaft gewöhnlich zu bedeuten habe, und verließ mich darauf, daß es eine Tänzerin bei der Oper sei, wo junge Leute, die sich in der Gesellschaft bewegen, sich gewöhnlich bezaubern lassen.«
Sie ließ die weißen Hände übereinander laufen und beobachtete nun die Schwestern; und die Ringe an ihren Fingern knarrten mit einem scharfen Ton aneinander.
»Wie Ihre Schwester Ihnen sagen kann, als ich fand, welches Theater es sei, war ich sehr erstaunt und unangenehm berührt. Als ich jedoch fand, daß Ihre Schwester die Avancen meines Sohnes (ich muß hinzufügen, in höchst unerwarteter Weise) zurückwies und ihn dadurch soweit trieb, ihr die Heirat anzutragen, war ich aufs tiefste bestürzt und in Sorgen.«
Sie streifte an der Außenlinie ihrer linken Augenbraue hin und brachte sie in Ordnung.
»In einem zerstörten Zustand, den nur eine Mutter – die sich in der Gesellschaft bewegt – begreifen kann, beschloß ich, selbst nach dem Theater zu gehen und der Tänzerin meine Gemütsverfassung auseinanderzusetzen. Ich stellte mich selbst Ihrer Schwester vor. Ich fand sie zu meinem Erstaunen in vielen Beziehungen von meinen Erwartungen verschieden, und gewiß in keiner mehr, als darin, daß ich – wie soll ich's nur ausdrücken? – auf ihrer Seite gleichfalls Familienprätensionen fand.« Mrs. Merdle lächelte.
»Ich sagte Ihnen, Ma'am«, warf Fanny mit erhöhter Röte ein, »daß, obgleich Sie mich in dieser Lage fanden, ich so hoch über den übrigen stehe, daß ich meine Familie für so gut wie die Ihrige ansähe; und daß ich einen Bruder hätte, der, wenn er die Umstände kennte, derselben Ansicht sein und in einer solchen Verbindung keine besondere Ehre sehen würde.«