Klima im Kopf - Katharina van Bronswijk - E-Book

Klima im Kopf E-Book

Katharina van Bronswijk

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Beschreibung

Angst vor Überflutungen, Schuldgefühle wegen des letzten Urlaubs- fluges, Wut über die Untätigkeit der Regierungen: Wir begegnen der ökologischen Krise mit einem ganzen Bündel an Emotionen – und das ist gut so, sagt die Psychotherapeutin Katharina van Bronswijk. Angst, Trauer und Wut sind gesunde Reaktionen auf essenzielle Bedrohungen wie Klimawandel und Massenaussterben. Wir brauchen sie, um Motivation für Veränderung zu entwickeln und gesellschaftliche Normen zu hinterfragen. Empathisch und faktenreich führt van Bronswijk durch Phänomene wie Klimaangst, eco depression, Verdrän- gungsmechanismen und verhärtete Fronten in öffentlichen Debatten und beleuchtet die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft. Ein Buch, das Klimaaktivist*innen ebenso zuhört und hilft wie Braunkohlekumpeln und dafür plädiert, Emotionen nicht aus der Debatte um Umweltkrisen herauszuhalten, sondern ihre Kraft für Transformation zu nutzen.

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Katharina van Bronswijk
Klima im Kopf
Angst, Wut, Hoffnung:Was die ökologische Krisemit uns macht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Deutsche Erstausgabe© 2022 oekom verlag, Münchenoekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Laura Kohlrausch, oekom verlagKorrektorat: Petra KienleTypografie & Satz: Tobias WantzenUmschlaggestaltung: Büro Jorge SchmidtUmschlagabbildung: Thomas Duffé
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-937-6
Für die LiebeSie ist unsere größte Superkraft

Inhalt

Vorwort von Carla Reemtsma
EinleitungDie Klimakrise ist eine psychologische Krise
Kapitel 1Achselzuckend in die Apokalypse
Kapitel 2Klimagefühle
Kapitel 3Wohin mit all den Gefühlen?
Kapitel 4Wer macht hier wen krank?
Kapitel 5Kampf gegen Windmühlen
Kapitel 6Klimaresilienz
Kapitel 7»I have a dream« statt »I have a nightmare«
Dank
Anmerkungen
Über die Autorin

Vorwort

Dieses Jahr ist der sechste Sachstandsbericht des Weltklimarats erschienen. Der Goldstandard der Klimaforschung. Obwohl der diesjährige Bericht bereits der sechste seit Erscheinen des ersten Weltklimaberichtes im Jahre 1990 ist, haben sich die grundlegenden Erkenntnisse nicht verändert: Die Klimakrise ist eine Bedrohung für die Menschheit und ihre Lebensgrundlagen, sie ist menschengemacht und kann dementsprechend durch den Stopp des Verbrennens fossiler Rohstoffe gestoppt werden.
Während sich die Klimaforschung lange Zeit vor allem auf die physikalischen Ursachen der Klimaerhitzung sowie ihre physikalischen, meteorologischen und biologischen Folgen konzentriert hat, gibt es im neuen IPCC-Bericht zum ersten Mal einen Teil, der sich den psychologischen und psychosozialen Folgen der Klimakrise widmet. Das hat einen guten Grund: Die Krise in ihrer Gesamtheit ist nicht nur eine physikalische Herausforderung. So wie Klimapolitik nie für sich alleine steht, sondern immer Teil verschiedenster Politikfelder von Energie- über Verkehrs- und Landwirtschafts- bis hin zur Finanzpolitik ist, so steht die Klimakrise nie allein für sich als physikalisches Phänomen, welches es durch immer genauere Modelle zu beschreiben und durch technische Maßnahmen einzudämmen gilt.
Die Klimakrise und unser gesellschaftlicher Umgang damit ist zutiefst geprägt von unserer Wahrnehmung, Gefühlen und gefühlten Wahrheiten. Nachdem ich mich die letzten Jahre täglich mit der Klimakrise auseinandergesetzt und mich als Aktivistin für bessere Klimapolitik eingesetzt habe, kann ich aus erster Hand bezeugen, dass vom Idealbild des rational denkenden und handelnden Menschen recht wenig übrigbleibt, wenn es an die Auseinandersetzung mit der Klimakrise geht.
Würde der Mensch rational handeln, hätte ich nicht die letzten Jahre meines Lebens mit und bei Klimaprotesten verbracht. Würden Gefühle keine Rolle spielen, müssten meine Cousinen und ich nicht bei jedem Familienessen eine größere, nicht von uns angestoßene Debatte über Fleischkonsum führen. Und wäre unser Gesellschaftsbild nicht zutiefst individualistisch, würde ich nicht nach mehreren Jahren Klimaaktivismus immer noch regelmäßig von Journalist*innen gefragt, was ich denn eigentlich »persönlich« fürs Klima tue.
In den letzten Jahren habe ich erlebt, wie Menschen um mich herum wegen der Klimakrise weinen; aus Wut auf Entscheidungsträger*innen in Politik und Wirtschaft, aus Angst vor den Folgen der Klimakrise, aus Zweifel an der Wirksamkeit der eigenen politischen Aktivität, aus Trauer um die Opfer von Extremwetterereignissen. Ich habe erlebt, wie kognitive Dissonanz uns daran hindert, die Klimakrise in ihrer Dringlichkeit und Bedrohlichkeit zu erfassen. Ich habe erlebt, wie die Ich-Erzählung des Neoliberalismus uns als Gesellschaft davon überzeugt, dass wir ganz alleine mit jeder unserer Entscheidungen für die Lösung der Klimakrise verantwortlich sind – obwohl in Wahrheit 100 Konzerne verantwortlich sind für 71 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Und ich habe erlebt, dass die Reaktionen auf die Klimakrise vor allem zwei Richtungen kennen: Verdrängung oder Klimaangst.
Viel zu lange haben sich vor allem Physiker*innen mit der Klimakrise beschäftigt. Lasst uns darüber reden, was sie mit uns als Gesellschaft und mit jedem Einzelnen von uns macht.
Juni 2022
Carla Reemtsma
Einleitung
Die Klimakrise ist eine psychologische Krise
Der renommierte Psychologe Gerd Gigerenzer hat mal ein ziemlich erfolgreiches Buch darüber geschrieben, dass Bauchentscheidungen oft die besseren Entscheidungen sind.1 Seine zentrale Message: Unsere unbewusste, intuitive Informationsverarbeitung ist manchmal einfach einen Ticken schlauer als nur das, was unser Verstand uns sagt.
Man könnte behaupten, dass mein Leben sehr bauchgesteuert ist – zumindest die großen Entscheidungen, die mich an den Punkt geführt haben, an dem ich gerade stehe. Das war allerdings gar nicht geplant: Am Anfang meines Weges ins Berufsleben stand ein Jurastudium, das war eine sehr rationale Entscheidung. Ein wichtiger Job mit gutem Gehalt, sagte mein Kopf. Und es war eine wirklich blöde Idee. Versteht mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Rechtwissenschaften – es war nur einfach nichts für mich. Das hat mir mein Bauchgefühl auch von Anfang an gesagt, ich habe nur nicht darauf gehört.
Eines Tages, ich steckte gerade mitten in der Lernphase für eine Klausur in allgemeinem Verwaltungsrecht (das ist für mich noch langweiliger, als es klingt), erzählte mir meine jüngere Schwester von ihrer eigenen Suche nach einem Studiengang. Sie interessierte sich für allerlei Fächer, unter anderem für Psychologie. Als ich das hörte, heulte mein Verwaltungsrecht-gequälter Bauch innerlich auf und bevor ich Zeit hatte, groß nachzudenken, hörte ich mich sagen: »Ich will auch!« Meine Schwester erwiderte: »Na, dann bewirb dich doch.« Mein Bauch jubelte und ich habe die Entscheidung nie bereut.
Genauso habe ich meinen Weg in die Klimabewegung gefunden. Ich bin seit 2009 Klimaaktivistin. Kurz vor der Klimakonferenz in Kopenhagen bin ich spontan aktiv geworden. Sicherlich gab es so einige Puzzleteile, die vorher schon gepasst haben: Meine Eltern sind umweltbewusste Menschen, ich bezog ein paar Newsletter von umweltbewegten Organisationen und wusste daher, dass so einiges in unserem Umgang mit der Natur schiefläuft, ernährte mich damals bereits vegetarisch und achtete auf meinen ökologischen Fußabdruck. In den Wochen vor der Klimakonferenz feierte der Film The Age of Stupid über die Klimakrise globale Premiere. Ich bin ins Kino gegangen, habe mir die volle Dröhnung Klimakrise gegeben und bin recht emotionalisiert, aber auch selbstzufrieden aus dem Kinosaal gegangen – ich mache ja schon alles richtig. Fahre Bahn, esse kein Fleisch, habe Ökostrom. Passt.
Dachte ich zumindest. Im Rausgehen kam ich an einer Greenpeace-Aktivistin an einem Infostand vorbei, die gerade zu jemand anderem sagte: »Es reicht ja nicht, das eigene Leben zu verändern, man muss auch andere davon überzeugen.« Ich blieb wie angewurzelt stehen, mein Bauch schlug Alarm. Ich drehte mich um und fragte: »Was kann ich tun?« Das war keine lang überlegte Sache, sondern ein Impuls – der eine Satz, der meinen innerlichen Tipping Point darstellt und mich zu Greenpeace brachte.
Zehn Jahre später, als ich mein fertiges Psychologiestudium gerade durch eine Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin ergänzte, bekam ich eine E-Mail meiner Kollegin Lea Dohm, die die psychologischen und psychotherapeutischen Berufsverbände angeschrieben hatte mit der Frage, ob jemand an einer Stellungnahme zur psychologischen Dimension der Klimakrise mitschreiben würde. Es dauerte nicht lange, bis ich antwortete. Mein Bauch sagte damals, als ich diese Antwort-E-Mail verfasste: Das ist das, worauf du gewartet hast. Psychologie und Klimakrise, das bist du. Das ist megawichtig. Mein Verstand war etwas zurückhaltender: Petitionen gibt es wie Sand am Meer und Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen sind eher nicht dafür bekannt, politische Wellen zu schlagen. Wahrscheinlich läuft das Ding zwei Monate und gerät dann wieder in Vergessenheit.
Wie habe ich mich doch getäuscht. Inzwischen sind fast drei Jahre vergangen, mittlerweile haben wir Psychologists for Future zu einem gemeinnützigen Verein mit ungefähr 1000 ehrenamtlich Aktiven aufgebaut. 1000 Menschen, die neben ihrem Beruf in der Freizeit noch auf Demos und Tagungen fahren, Fachartikel schreiben, ehrenamtlich Gesprächskreise führen, mit interessierten Menschen sprechen und Interviews zum Thema geben. 1000 Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen, das ist eine ganze Menge.
Warum tun die das alle? Zweifelsohne, weil sie erkannt haben, dass sich diese Arbeit lohnt – für sie selbst, aber auch für die Gesellschaft und den Kampf gegen die Klimakrise. Denn wir Menschen sind nun mal keine rein rationalen Wesen – auch wenn uns das von der sehr rationalen, technisierten Gesellschaft, in der wir leben, suggeriert wird. Gefühle erscheinen da manchmal als lästiges Überbleibsel der Evolution, das man bei wichtigen Entscheidungen möglichst ausblenden sollte. Aber der Bauch hat so einiges zu sagen und Gefühle sind unsere heimliche Superpower!
Klar, wenn es um die Klimakrise geht, ist die erste Anlaufstation die Naturwissenschaft. Klimatologie, Meteorologie, Geographie, Geologie, Ozeanographie, Physik und Biologie sagen uns, wie es um die Erde bestellt ist, dass da was schiefläuft, was das für Auswirkungen hat und wer dafür verantwortlich ist. Ihre Forschung und ihre Vorhersagen sind essenziell, um die Klimakrise zu verstehen und Ideen zu sammeln, wie wir ihr begegnen können.
Da wir Menschen Teil der Natur sind, um die es dabei geht, sind wir zwangsweise in die Klimakrise involviert – an allen Ecken und Enden. Weil unser zu hoher Ausstoß an Klimagasen die Klimakrise auslöst, sind wir auch die einzigen, die das Problem lösen können. Die Naturwissenschaften haben uns gesagt, dass das Problem echt ernst ist. Wir wissen das. Und trotzdem passiert nicht viel. Und selbst wenn sich einzelne motiviert haben, etwas zu tun, stehen sie oft wie der Ochs vorm Berg – und wissen nicht, wo sie anpacken sollen. Die Situation ist in ihrer Komplexität extrem überfordernd, deswegen braucht es mehr als nur das physikalische Wissen über Klimaveränderungen, und es braucht auch mehr als nur das Wissen über Lösungstechnologien. Diese existenzielle Krise bewegt uns emotional – manchmal so sehr, dass es wieder lähmend ist.
Eigentlich ist es gar nicht überraschend, dass mein Fachgebiet dazu Entscheidendes beizutragen hat. Der Psychologe Bruce Poulsen hat es 2018 so zusammengefasst: »Climate change is a psychological crisis, whatever else it is« – die Klimakrise ist eine psychologische Krise, was auch immer sie sonst noch ist.2
Die Psychologie ist die Wissenschaft über das menschliche Verhalten und Erleben, unser Denken und unsere Gefühle. Die Klimakrise ist menschengemacht, es steckt also zwangsläufig ziemlich viel Psychologie in der Klimakrise – ein Blick auf unsere Emotionen zeigt ganz gut, wie es überhaupt so weit kommen konnte, aber auch, wie und warum wir jetzt darauf reagieren. Da wir Menschen die einzigen sind, die die ganze Misere wieder beheben können, ist es höchste Zeit, zu verstehen, wie wir ticken, damit wir mit der Weltrettung endlich durchstarten können.
Die Psychologie kann aber nicht nur Antworten darauf liefern, warum wir nicht vom Sofa hochkommen. Sie liefert auch Antworten darauf, wie die Umwelt unsere psychische Gesundheit beeinflusst. Denn als Wesen auf dieser Erde existieren wir nicht losgelöst von den Dingen um uns herum. Die Klimakrise macht etwas mit uns, physisch und psychisch. Die Weltgesundheitsorganisation, Mediziner*innen und Psychotherapeut*innen weltweit schlagen zurecht Alarm: Die Klimakrise ist die größte Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts.3 In der Medizin werden diese Zusammenhänge unter dem Schlagwort planetary health beleuchtet. Mir ist wichtig, dass dieser Zusammenhang noch bekannter wird. Ich will nicht immer nur Dinge wieder in Ordnung bringen müssen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Es ist genauso Teil unserer beruflichen Aufgabe, zu erforschen, wie psychische Gesundheit präventiv gefördert werden kann, und uns dafür einzusetzen, dass unser Lebenskontext entsprechend gestaltet wird.
Wenn man über Klima und Gesundheit spricht, lohnt es sich, Menschen nicht nur als Ansammlung aus Organen zu betrachten. In der Medizin und der Psychologie erklärt man sich die Entstehung von Gesundheit und Krankheit mit dem sogenannten biopsychosozialen Modell. Wie der Name schon recht wörtlich sagt, gibt es bei jedem Menschen biologische, psychische und soziale Einflüsse, die sowohl auf die körperliche als auch auf die geistige Gesundheit einwirken. Dieses Modell kann man wie eine Schablone neben die Auswirkungen der Klimakrise legen und sich fragen, welche Auswirkungen die Klimakrise auf unseren Körper und biologische Einflüsse hat, welche Auswirkungen auf unsere Gedanken und Gefühle und welche auf unsere soziale Umwelt. Und da kommt einiges zusammen.
Biologische Einflüsse können zum Beispiel genetische Veranlagungen für Krankheiten sein – ein erhöhtes Risiko für bestimmte Krebserkrankungen oder für eine bipolare Störung. Zu biologischen Einflüssen zählen aber natürlich auch Viren und Bakterien, Unfälle oder Hirnschädigungen. Weil das Gehirn ein Organ ist wie jedes andere, kann es genauso eine Erkrankung haben wie die Lunge oder der Magen. Man hat dann eben nicht Kotzeritis, sondern Halluzinationen. Oft entwickeln körperliche Erkrankungen, besonders wenn sie chronisch sind, auch irgendwann Auswirkungen auf die Psyche. Deswegen gibt es teils begleitende Psychotherapie für bestimmte körperliche Erkrankungen, um bei deren psychischer Bewältigung zu helfen, zum Beispiel bei Krebserkrankungen oder Asthma.
Zu den psychischen Faktoren zählen unsere Gedanken und Einstellungen zum Leben. Sie beeinflussen stärker, als man vielleicht vermuten möchte, direkt unseren Körper – etwa, weil von ihnen abhängt, wie gesund wir essen oder wie oft wir Sport machen. Die psychischen Faktoren beeinflussen aber natürlich auch unsere psychische Gesundheit, weil von ihnen zum Beispiel abhängt, ob wir anderen Menschen vertrauen oder lieber als Eigenbrötler*in leben. Psychische Faktoren sind auch unsere Gefühle – also eigentlich nicht die Gefühle an sich, sondern unser Umgang mit Gefühlen. Es macht langfristig eben einen riesigen Unterschied für die körperliche und psychische Gesundheit, ob man eine Freundin vorschickt, wenn man sich nicht traut, jemanden anzusprechen, oder ob man sich erstmal mit einem Liter Wodka Mut antrinkt. Auch unser Verhalten kann also ein psychischer Gesundheitsfaktor sein – Rauchen zum Beispiel erhöht wie jede*r weiß das Krebsrisiko, macht aber auch psychisch abhängig und ist mit Angsterkrankungen verbunden.
Soziale Faktoren umfassen sowas wie den »sozioökonomischen Status« – also wie wir finanziell aufgestellt sind oder welchen Bildungsgrad wir haben, Lebensverhältnisse und Arbeitsverhältnisse, unsere sozialen Beziehungen und die ethnische Zugehörigkeit. Wie stark der Einfluss der Lebensumwelt auf unsere Gesundheit ist, wird immer noch massiv unterschätzt. Schwere körperliche Arbeit oder Arbeit mit schädlichen Substanzen macht krank, da sind sich die meisten einig. Aber genauso ist es wichtig für die Gesundheit, welche Qualität unsere Freundschaften und familiären Beziehungen haben. Menschen in einer Partnerschaft haben zum Beispiel eine höhere Lebenserwartung (zumindest, wenn sie nicht mit Psychopath*innen zusammen sind). Es ist statistisch auch recht deutlich, dass Armut einfach krank macht – nicht nur, weil man sich gesunde Ernährung, Sportangebote und das alles nicht leisten kann, sondern auch, weil sie große Sorgen mit sich bringt. Und wenn man dann wegen des sozialen Milieus, in das man geboren ist, schlechtere Bildungschancen hat und aus dieser Armutsfalle niemals rauskommt, ist das hochgradig deprimierend und birgt einiges an gesellschaftlichem Konfliktpotenzial.
Alle diese Faktoren können unsere Gesundheit stärken oder schwächen. Das Biopsychosoziale Modell versteht den Menschen also als eine Körper-Seele-Einheit, die in einen ökologischen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist. Das zu verstehen ist essenziell, wenn man begreifen will, wie stark die Klimakrise sich auf Körper und Psyche schlägt, selbst wenn sie im Alltag wenig sichtbar wird. Denn auch die ganz große Ebene, der Zustand der Ökosysteme, hat eben einen Einfluss auf unsere Gesundheit. Luftverschmutzung kostet jedes Jahr Hunderttausende Tote weltweit, Corona als sogenannte Zoonose (ein Virus, dass von Tieren auf Menschen übergegangen ist) hält uns jahrelang in Schach, Hitzewellen töten Menschen weltweit, auch in Deutschland schon.
Ich könnte diese Liste beliebig weiterführen, auftauchen würden dann schnell auch psychische Auswirkungen. Denn unsere Psyche ist eng mit dem Zustand der Umwelt verbunden, das zeigen wissenschaftliche Studien.
Es gibt beeindruckende Erkenntnisse dazu, wie Naturerfahrungen die psychische Gesundheit von Menschen stärken.4 Die Rate psychischer Erkrankungen ist in der Stadt größer als auf dem Land und schon nur der Blick auf Baumwipfel führt bei Patient*innen im Krankenhaus dazu, dass sie schneller wieder gesund werden. Wenn wir Pflanzen angucken, dann fährt unser Stresssystem runter, das Herz schlägt langsamer, wir atmen ruhiger. Wenn Menschen sich in Entspannungsübungen einen »inneren Wohlfühlort« vorstellen, dann liegt der eigentlich immer in der Natur. Ich kenne niemanden, der sich als entspannten Ort eine Autobahnbrücke vorstellt oder eine Großbaustelle. Der innere Wohlfühlort ist meist ein Strand oder ein Wald oder eine Berglandschaft. Eigentlich wissen wir in unserem Kern, dass wir Natur sind und dass wir Natur brauchen. Da überrascht es nicht, dass die Zerstörung der Natur uns auf verschiedenen Wegen schon heute psychisch zu schaffen macht.
Das fängt an bei der offensichtlichsten Folge des Klimawandels: steigende Temperaturen und mit ihnen immer öfter auftretende Hitzesommer. Ab einer gewissen Temperatur macht unser Körper die einfach nicht mehr mit – und die Hitze kocht auch unser Gehirn. Es gibt Studienergebnisse, die stärkere Hitze mit höheren Suizidraten, mehr psychischen Krisen und Aggression in Verbindung bringen. Auch psychische Erkrankungen, die durch die Gehirnbiologie beeinflusst werden – wie Demenz, bipolare Störungen oder Schizophrenie – könnten vermehrt auftreten.5
Die Klimakrise wird auch dazu führen, dass Umwelteinflüsse zunehmen, die uns körperlich krank machen: Krankheiten, die wir bisher nur aus tropischen Regionen kennen, breiten sich immer weiter auch in den globalen Norden aus. Das Zika-Virus oder das Westnilfieber und Malaria zum Beispiel. Das ist einerseits körperlich gefährlich (Zika zum Beispiel kann die Gehirnentwicklung bei Kindern beeinträchtigen)6, andererseits auch psychisch belastend. So wie wir ein Asthma oder eine Krebserkrankung bewältigen müssen, kommen diese Krankheiten noch zu dem normalen Berg an Alltagssorgen hinzu. Apropos Asthma: Es wird auch vorhergesagt, dass Allergien schlimmer werden – einerseits, weil die warmen Tage mehr werden, aber auch weil Luftschadstoffe zunehmen, an die sich die allergieauslösenden Partikel heften und so in unsere Lunge gelangen.
Veränderte Wettermuster und zunehmende Hitze führen auch zu Ernteausfällen und Wasserknappheit, was wiederum zu körperlicher Mangelversorgung führen kann – das trifft unfairer Weise die Menschen im globalen Süden am härtesten. Es betrifft aber auch uns in Deutschland schon heute: Im Hitzesommer 2018 beliefen sich die Ernteausfälle in Deutschland auf rund 2 Milliarden Euro Schaden und haben in einigen Bundesländern die Ernte bestimmter Pflanzensorten um bis zu 50 Prozent dezimiert.7 Solche Engpässe erzeugen enormen psychischen Druck bei denjenigen, die von der Landwirtschaft abhängen oder einfach nicht wissen, wie sie sich und ihre Familie noch ernähren sollen.
Je häufiger Extremwetterereignisse auftreten, die durch die Klimakrise begünstigt werden – etwa Überflutungen, Brände und Hurrikane –, desto mehr wird auch psychische Traumatisierung ein Thema. Menschen können unterschiedlich gut mit traumatischen Erfahrungen umgehen – das hängt von ihrer psychischen Widerstandskraft ab, von der Unterstützung etwa durch Freund*innen und Familie und natürlich auch davon, wie stark sie oder ihre Liebsten direkt betroffen sind.
Das Welt- und Selbstbild brechen bei einer direkten Betroffenheit oft wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Man merkt plötzlich, dass die Klimakrise kein weit entferntes Zukunftsereignis ist, nicht nur andere betrifft, nicht nur auf weit entfernten Kontinenten wütet. Zuhause ist plötzlich kein sicherer Ort mehr und man hat zugleich keinen Einfluss auf die Klimaveränderungen, die sich vollziehen. Betroffene hinterfragen ihre Einstellungen zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst: Vielleicht ist die Welt doch nicht so ungefährlich, wie man dachte, vielleicht sind andere Menschen doch nicht so verlässlich, wie man dachte, vielleicht ist man doch nicht so stark, wie man dachte. Durch ein Trauma wird das Sicherheitsgefühl erschüttert. Das Haus ist weggeschwemmt oder verbrannt, alle Fotoalben, alle persönlichen Gegenstände sind weg. Das eigene Leben bis hierhin scheint wie ausgelöscht, als wäre es nie gewesen. Die Gespräche und der Umgang miteinander sind durch das Thema belastet, die Familie ist dauergestresst. Vielleicht kommt es zu häuslicher Gewalt, die dann wieder psychische und körperliche Folgen für die Betroffenen hat. Wenn man psychisch belastet ist, dann fällt es auch schwer, konzentriert und gut zu arbeiten. Dann kommt Stress mit den Kolleg*innen und den Chef*innen dazu. Nirgendwo kommt man zur Ruhe. Der Stress macht anfälliger für körperliche Infekte, weil chronischer Stress das Immunsystem unterdrückt. Betroffene haben häufig viele Krankheitstage, die wiederum die Firma und langfristig auch unser Gesundheits- und Wirtschaftssystem belasten. Katastrophen belasten noch lange weiter, obwohl Feuer oder Wasser längst weg sind.
Die bekannteste Folge von Traumatisierungen ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), bei der Betroffene ihr traumatisches Erlebnis nicht gut verarbeiten konnten und dann unter Dauerstrom stehen, Alpträume haben und durch Trigger Gefühle und Bilder wieder hochkommen und sie das Trauma immer und immer wiedererleben.
Es gibt neben der PTBS aber noch viele weitere Arten, wie die Psyche versucht, die Hilflosigkeit und Ohnmacht eines Traumas zu verarbeiten. Das können Angststörungen jeglicher Art sein oder Depressionen. Manchmal drückt sich ein Trauma auch in körperlichen Symptomen aus – ständige Schmerzen, Lähmungserscheinungen oder Ohrgeräusche, die Seele und der Körper sind da manchmal recht kreativ. Wenn Menschen versuchen, unangenehme Bilder und Gefühle mit Alkohol, Drogen, Rauchen oder durch Essen »wegzumachen«, können Suchterkrankungen und Essstörungen die Folge sein. Alle diese psychischen Erkrankungen ziehen einen riesigen Rattenschwanz nach sich – Beziehungen leiden darunter, Angehörige und besonders Kinder werden belastet. Nach Hurrikan Katrina hatte fast jeder sechste eine PTBS, fast die Hälfte der Betroffenen depressive oder ängstliche Symptome, die Suizidalität verdoppelte sich.8
Es muss uns aber gar keine Katastrophe ereilen, damit das Klima sich in unserem Kopf breit macht. Auch, wenn wir die Auswirkungen noch nicht ständig am eigenen Leib zu spüren bekommen, löst die Klimakrise schon ziemlich viele Gefühle in uns aus, denn wir haben ja ein Hirn und verstehen, was die Klimatologen uns da ankündigen, auch auf einem abstrakten Level. Es lässt sich gar nicht verhindern, dass wir auf all die Hiobsbotschaften und nötigen Änderungen unseres Lebensstils emotional reagieren – und das ist auch gut so. Der Clou ist, sie nicht zu verdrängen (was auf lange Sicht eh nicht geht, glaubt mir, ich bin da Expertin), sondern ihre Nachrichten ernst zu nehmen und sie zu verarbeiten. Emotionen sind evolutionär dazu da, uns zum Handeln zu bewegen. Daher ist es schade und schädlich, sie aus der Debatte um die Klimakrise künstlich heraushalten zu wollen.
Seit Beginn unserer Arbeit bei Psychologists for Future hat sich hier schon einiges bewegt. Begriffe wie »Klimaangst«, »eco depression« oder »Solastalgie« tauchen immer öfter in den Medien auf, die Diskussion um Emotionen in der Klimakrise hat ordentlich Fahrt aufgenommen. Menschen gehen wegen ihrer Zukunftsängste in Gebärstreik; enttäuschte, besorgte und wütende Menschen machen Straßenblockaden und andere wütende Menschen beschimpfen diese Blockaden; sogar von »Klimahysterie« ist die Rede.
Gerade weil diese Diskussionen langsam anlaufen, sind da aber auch einige Missverständnisse entstanden, zum Beispiel über die Beurteilung dieser Klimagefühle und den Umgang damit. Ich persönlich bin ein Fan von Angst, Wut, Trauer, Schuld und Scham – genauso wie von Freude, Liebe, Stolz und Hoffnung. Vielleicht kann ich euch mit meiner Begeisterung für Gefühle in diesem Buch ein bisschen anstecken.
Namensgeber des Buchs ist übrigens der großartige Podcast »Klima im Kopf« von Psychologists for Future.9 Ich kann euch nur empfehlen, da mal reinzuhören, wenn ihr nach dem Buch Lust habt, noch tiefer und mit mehr Facetten in die psychologischen Hintergründe zur Klimakrise einzusteigen!
Kapitel 1
Achselzuckend in die Apokalypse
Die Erkenntnisse der Wissenschaftler*innen sind eindeutig. Schon lange warnen sie uns. Das Klima verändert sich – für seine Verhältnisse – rapide, Tierarten sterben so schnell aus wie seit Millionen von Jahren nicht mehr und die Böden der Erde sind dermaßen ausgelaugt, dass Expert*innen davon ausgehen, dass sie nur noch etwa 60 Ernten tragen können, wenn es so weitergeht wie bisher.10 Genauso eindeutig ist leider die Antwort auf die Frage, warum der Planet in einem derart desolaten Zustand ist: Wir Menschen sind dafür verantwortlich. Mit unserer industrialisierten Wirtschaftsweise, ausgerichtet auf immer schnellere und höhere Gewinne, ziehen wir so viele Rohstoffe, Flächen und Energie aus der Natur und geben ihr zugleich so viel Müll zurück, dass die Erde einfach nicht mehr hinterherkommt. Planetare Grenzen nennt man das: Die Wohlfühlgrenzen des Planeten, innerhalb derer die Natur sich regenerieren kann. Oder eben nicht, wenn sie überschritten werden.
Was passiert, wenn wir dieses Spiel so weitertreiben, davon gibt die Wissenschaft uns eine düstere Zukunftsvision: 500.000 Arten werden bereits jetzt als »dead species walking« bezeichnet; Ernten fallen aus, weil es zu trocken ist; Nahrungsmittel und Wasser werden knapp; immer mehr Wälder brennen ab; Trockenheit wird abgelöst von Starkregen mit Überflutungen; das Meer reicht bis nach Hamburg; wir leiden in den Hitzewellen des Sommers und alte Menschen sterben daran; Nationen führen Ressourcenkriege um Nahrung, Wasser und Rohstoffe; Menschen müssen weltweit aus nicht mehr bewohnbaren Gegenden fliehen; Pandemien nehmen zu, weil Wildtiere, von denen Erreger übertragen werden, sich kaum noch vom Menschen fern halten können.11 Es übersteigt unsere Vorstellungskraft!
Diese Probleme sind nicht unbekannt oder erst kürzlich entdeckt worden. Seit Jahrzehnten diskutieren Politiker*innen auf Klimakonferenzen über die Eindämmung der Klimakrise. Es gibt Beschlüsse, Absprachen, Selbstverpflichtungen der Länder – in Paris wurde 2015 beschlossen, dass der Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur unter 1,5 Grad Celsius oder mindestens 2 Grad gegenüber vorindustriellen Werten gehalten werden soll. Um unter 1,5 Grad zu bleiben, hätten wir heute, im Jahr 2022, weniger als sieben Jahre, um die globale Wirtschaft und unsere Lebensweise umzustellen und die Emissionen auf null zu senken – das ist gelinde gesagt unwahrscheinlich.12 Wollen wir zumindest die 2 Grad nicht reißen und die Arbeit zugleich gerecht aufteilen (wer mehr CO2 ausgestoßen hat, muss auch schneller zur Lösung beitragen), muss Deutschland bis 2035 klimaneutral sein, der globale Süden bis etwa 2050. Das klingt vielleicht nach einer langen Zeitspanne, aber bis 2035 sind es noch 13 Jahre. Die reichen vielleicht, um einen Schulabschluss zu bekommen, aber in der Zeit ein ganzes Land umzustricken ist schon echt ambitioniert.
All diese Bedrohungen sind so glasklar – und trotzdem scheint keiner so richtig eine Handlungsnotwendigkeit zu verspüren. Klimakonferenzen kommen und gehen, nach Jahrzehnten haben wir Abkommen, aus denen man scheinbar nach Lust und Laune aus- und wieder eintreten kann (so wie die USA), die weltweiten Emissionen steigen derweil immer weiter. In so einer Lage kann man sich schon mal fragen, warum Menschen nicht ins Handeln kommen. Warum fällt es uns so schwer, die Fakten ernst zu nehmen und die daraus folgenden Konsequenzen umzusetzen? Warum schlendern wir achselzuckend in die Apokalypse?

Warum tut denn keiner was?

Die meisten von uns gehen vermutlich davon aus, dass Menschen rationale Wesen sind und dass wir als logisch denkende Spezies einen wissenschaftlichen Konsens niemals einfach ignorieren würden. Ein Großteil der Bevölkerung leugnet die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Überschreitung der planetaren Grenzen auch gar nicht.13 Das Umweltbewusstsein in der Gesellschaft ist hoch und trotzdem passiert zu wenig. Es liegt also nicht an den Fakten. Aber woran dann? Willkommen im Reich der Psychologie.
Erklärungen dafür, warum wir uns so schwer damit tun, unsere Lebensgrundlagen und Mitlebewesen ausreichend zu schützen, liefert die Umweltpsychologie – ein Forschungsbereich, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, die Wechselwirkungen zwischen menschlicher Psyche und Umwelt (neben der Natur auch städtische Lebensräume, Arbeit und so weiter) zu analysieren.
2011 hat der kanadische Umweltpsychologe Robert Gifford die Hürden zusammengetragen, die in unseren eigenen Köpfen entstehen und uns davon abhalten, in die Hände zu spucken und loszulegen. Gifford nennt diese psychischen Hürden die »Drachen der Untätigkeit«. Seit der Publikation seiner Beobachtungen ist einige Zeit ins Land gegangen, in der diese Drachen es sich zwischen den Held*innen (das sind wir!) und dem glitzernden Schatz (einem klimaneutralen Leben) so richtig gemütlich gemacht haben. Es sind sogar welche dazugekommen: 2011 zählte Gifford noch 29 Drachen in 7 Gattungen, inzwischen listet er schon 36 auf seiner Website auf.14 Es lohnt sich, diese (un)bequemen Gesellen genauer kennenzulernen. Wie alle guten Fabeltiere kann man sie nämlich viel einfacher zähmen, wenn man erstmal ihre geheimen Kräfte kennt.

Drachengattung 1: Begrenztes Denkvermögen

Ja, wirklich: Begrenztes Denkvermögen des Menschen! Diese Drachengattung hat es in sich, weil wir einfach nicht wahrhaben wollen, dass es sie gibt. Wer gibt schon gerne zu, dass sein Gehirn den Krisen unserer Zeit nicht voll und ganz gewachsen ist? Die Drachen des begrenzten Denkvermögens können sich gut unsichtbar machen, solange wir sie nicht sehen wollen, aber eigentlich ist ihre Anwesenheit ziemlich offensichtlich.
Der Zahn, dass es für Menschen die eine objektive Wahrheit gibt, der wird einem schon im ersten Semester des Psychologiestudiums gezogen. Selbst in der Wissenschaft kann man sich der Welt da draußen immer nur über Modelle und Messinstrumente annähern, die ihre jeweils eigenen Limitationen, blinden Flecken und Vorannahmen mitbringen. Im menschlichen Gehirn ist das noch viel extremer: Jede Information, die an unseren Sinnesorganen ankommt, wird im Gehirn gefiltert und nach bestimmten Regeln einsortiert. Im Endeffekt ist jegliche Art von Erkenntnis, die unser Gehirn erlangt, immer eine Konstruktion – eine Interpretation dessen, was unsere Sinnesorgane »wahrnehmen«.
Kleines Experiment gefällig, um zu illustrieren, was ich meine? Schaut euch mal diese beiden Striche an. Welcher von denen ist länger?
Euch ist jetzt natürlich bewusst, dass das eine Fangfrage ist und die Striche vermutlich gleich lang sind. Aber ganz ehrlich: Der untere sieht länger aus, oder?
Wenn das nächste Mal der Vollmond riesig am Horizont über den Baumwipfeln steht, macht mal ein Foto davon. Ihr werdet feststellen, dass er in Wirklichkeit (durch die physikalische Linse der Kamera) viel kleiner ist, als ihr ihn seht. Das ist die sogenannte Mondillusion – unser Gehirn rechnet ihn künstlich größer, weil er praktisch in den Baumwipfeln am Horizont hängt und demnach genauso nah sein müsste wie die Bäume – zumindest in der Logik unseres Gehirns.
Unser Denkorgan ist außerdem darauf ausgelegt, sehr selektiv zu sein – jede Sekunde filtert es Tausende Reize aus, die wir im Moment nicht brauchen. Während ihr dieses Buch lest, verarbeitet ihr die Buchstaben auf dem weißen Hintergrund und blendet dabei aus, dass es draußen vielleicht windig ist und die Äste eines Baums an eurer Fensterscheibe klappern oder dass eure Schultern verspannt sind und ihr vielleicht auch schon ein bisschen Hunger verspürt. Manche Menschen haben bessere Filterfunktionen, andere schlechtere – die sind dann leichter ablenkbar. Diese Selektivität ist eine großartige Leistung, ohne die wir uns kaum konzentrieren könnten, aber sie führt dazu, dass unser Bild der Welt alles ist, nur keine allumfassende Wahrheit.
Unsere Wahrnehmung ist also subjektiv und selektiv und die Welt nicht immer, was sie scheint. Daneben hat unser Gehirn noch so einige weitere Mechanismen, die eigentlich sehr praktisch sind, weil sie uns bei der schnellen, alltagstauglichen Informationsverarbeitung helfen. Bei Kleinigkeiten wie »Wie binde ich mir die Schuhe zu?« ist es sinnvoll, dass wir automatische Bewegungsabläufe gespeichert haben und nicht jedes Mal überlegen müssen, wann das linke über das rechte Band gelegt wird. Diese Alltagshilfen gibt es nicht nur für Bewegungsabläufe, sondern auch für Vorgänge im Denken, etwa wenn wir schnell Entscheidungen treffen: Lieber den Stau aussitzen oder einen Umweg nehmen? Lottoschein kaufen oder Geld in die Spardose stecken? Zur schnellen Entscheidungsfindung greifen Menschen zum Beispiel auf sogenannte Heuristiken zurück – das sind Faustregeln –, anstatt alles bis ins kleinste Detail durchzuanalysieren. Das spart Zeit und Energie, hat aber einen Haken: Wir unterliegen dabei immer mal wieder sogenannten Biases – kognitiven Verzerrungen, bei denen unsere eigenen Faustregeln uns irreführen. Habe ich beispielsweise gestern einen Zeitungsbericht über einen Lottogewinner gelesen oder hat meine Nachbarin gerade eine kleine Summe gewonnen, schätze ich die Wahrscheinlichkeit, selbst Glück zu haben, höher ein und greife eher zum Lottoschein.
Heuristiken nutzen wir auch gerne, wenn es zwar nicht schnell gehen muss, aber eine Menge Unsicherheit mit im Spiel ist, etwa durch zu wenige Daten oder eine zu komplexe Datenlage. Der Klimawandel bringt einige solcher Unsicherheiten mit sich (nein, ob es ihn gibt, ist keine davon): Der richtig gefährliche Teil der Erdüberhitzung liegt in der Zukunft und wird von der Wissenschaft in unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsfenstern für verschiedene Szenarien dargestellt. Das ist wissenschaftlich korrekt, hilft unserem Gehirn aber überhaupt nicht bei der Verarbeitung. Wir hätten die Welt gerne schwarz-weiß, eindeutig. Das ist sie leider nicht.
Deswegen färbt uns unser Gehirn die Welt manchmal einfach selbst etwas mehr schwarz-weiß, zum Beispiel, indem wir dem sogenannten Confirmation Bias unterliegen, dem Bestätigungsfehler. Dabei pickt unser Gehirn, wenn wir zum Beispiel fernsehen oder uns unterhalten, genau die Informationen heraus, die unser vorheriges Welt- und Selbstbild bestätigen. Wir versuchen also, so lange Informationen in unsere bestehende Interpretation der Welt einzubauen, wie es nur geht (das nennt der Kognitionspsychologe Jean Piaget Assimilation). Grautöne werden ausgeblendet. Wenn das irgendwann nicht mehr funktioniert, müssen wir unser Welt- oder Selbstbild anpassen; das ist Arbeit (Piaget nennt sie Akkomodation), deswegen vermeiden wir das möglichst lange.
Es gibt über einhundert verschiedene Biases. Eine Bias-Gruppe etwa ist nur dazu da, Informationsmengen zu reduzieren, wenn wir zu viele Informationen zu verarbeiten haben. Wenn wir zum Beispiel etwas das erste Mal bewusst erleben, dann haben wir den Eindruck, dass es danach viel häufiger passiert (Frequency Illusion). Wenn wir ein neues Auto kaufen, dann fallen uns plötzlich viele Autos dieses Modells auf den Straßen auf – wir bekommen den Eindruck, dass deutlich mehr davon herumfahren als vorher. Das liegt daran, dass wir dem Modell mehr Aufmerksamkeit widmen als vorher, aber ziemlich sicher nicht daran, dass Hunderte Menschen über Nacht dieses Auto erworben haben.
Unser Gehirn versucht auch immer einen tieferen Sinn in Dingen zu sehen. Es liebt Geschichten und will allem eine Bedeutung geben. Einen Anteil daran hat die Verzerrung durch »anekdotische Evidenz« (Anecdotal Fallacy). Die verzerrt beispielsweise die Debatte über Coronaimpfungen: Es gibt internationale Studien mit Tausenden untersuchten Menschen, die zeigen, dass die Impfungen sicher sind und in den allermeisten Fällen keine schwerwiegenden Nebenwirkungen haben. Wenn uns jetzt aber eine Bekannte erzählt, dass ein Nachbar ihres Bruders diese und jene schlimme Nebenwirkung gehabt haben soll, dann wiegt das in unserem Kopf viel schwerer als die »kalten« Zahlen aus einer Studie, zu denen wir keine Gesichter und keine soziale Beziehung haben.
Gerade, wenn es um Statistiken und gesundheitliche Fragen geht, führt uns noch ein anderer Bias schwer hinters Licht: Menschen sind unrealistisch optimistisch, was sie selbst betrifft. Wir gehen nicht davon aus, dass wir einen Herzinfarkt bekommen, selbst wenn wir vielleicht als übergewichtige Raucher*innen statistisch ein durchaus erhöhtes Risiko haben. »Bei anderen vielleicht, aber mir geht’s ja gut« – uns selbst sehen wir in Bezug auf potenzielle negative Folgen gerne als die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Das nennen Psycholog*innen den Optimism Bias, die Optimismusverzerrung. Es wird schon gut gehen. Das ist nicht nur in Bezug auf Gesundheit, sondern auch mit Blick auf die Klimakrise eine fatale Einstellung. Entgegen wissenschaftlicher Einschätzungen vertrauen wir oft darauf, dass die Maßnahmen, die in Wirtschaft und Politik – oder auch von einem selbst – ergriffen werden, ausreichen werden, um das Schlimmste zu verhindern, zumindest für die eigene Lebenszeit und die der eigenen Kinder und Enkel.