Kluftinger - Volker Klüpfel - E-Book
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Kluftinger E-Book

Volker Klüpfel

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Beschreibung

Kommissar Kluftinger in Lebensgefahr Endlich Opa! Kommissar Kluftinger ist immer noch ganz hin und weg, dass ihn Sohn Markus und Schwiegertochter Yumiko zum Großvater gemacht haben. Die Freude über das neue Leben wird jedoch schnell getrübt: Beim Kirchgang mit der Familie entdeckt Kluftinger auf dem Friedhof eine Menschentraube, die ein frisch aufgehäuftes Grab umringt. Darauf ein Holzkreuz - mit seinem Namen. Nach außen hin bleibt er gelassen. Als jedoch eine Todesanzeige für Kluftinger in der Regionalzeitung auftaucht, sind auch die Kollegen alarmiert. Um dem Täter zuvorzukommen, muss Kluftinger tief in seine eigene Vergangenheit eintauchen. Je mehr er herausfindet, desto klarer wird ihm, dass ein Maulwurf in den eigenen Reihen seine Ermittlungen erschwert. Und die Zeit ist knapp, denn alles deutet darauf hin, dass Kluftingers angekündigter Tod unmittelbar bevorsteht ... Deutschlands erfolgreichstes Autorenduo ist zurück - mit einem neuen großen Bestseller!

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Seitenzahl: 598

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Das Buch

Kluftinger ist immer noch hin und weg, dass ihn Sohn Markus und Schwiegertochter Yumiko zum Großvater gemacht haben. Das kleine »Butzele« ist sein ganzer Stolz, und Kluftinger will es am liebsten ganz Altusried präsentieren. Beim Friedhofsgang an Allerheiligen bietet sich endlich die Gelegenheit, doch Doktor Langhammer, frischgebackener Hundebesitzer, zeigt keinerlei Interesse am Zuwachs im Hause Kluftinger. Dafür umso mehr an einer Menschenmenge, die ein frisch aufgehäuftes Grab umringt. Auch der Kommissar will sich das genauer ansehen – und ist entsetzt: Auf dem Grabkreuz steht sein Name. Als kurz darauf eine Todesanzeige für Kluftinger in der Zeitung auftaucht, wird klar, dass es jemand auf ihn abgesehen hat. Der Kommissar und seine Kollegen suchen fieberhaft nach dem potentiellen Mörder und seinem Motiv. Will ein von ihm überführter Verbrecher Rache üben? Schnell stellt sich heraus, dass Kluftingers eigene Vergangenheit der Schlüssel zur Lösung des Falls sein muss. Aber je mehr er herausfindet, desto klarer wird, dass ein Maulwurf in den eigenen Reihen seine Ermittlungen erschwert. Wem kann er jetzt noch trauen? Und wie viel Zeit bleibt ihm noch?

Die Autoren

Michael Kobr und Volker Klüpfel kennen sich schon länger, als sie sich nicht kennen: seit ihrer gemeinsamen Schulzeit im Allgäu-Gymnasium in Kempten. Zwar waren sie nie gemeinsam in einer Klasse (Kobr ist Jahrgang 73, Klüpfel 71), aber sie verband ein gemeinsamer Freundeskreis – und der Spaß am Fabulieren. Klüpfel studierte Politik in Bamberg und wurde Journalist, Kobr studierte Germanistik in Erlangen und arbeitete zunächst als Realschullehrer. Inzwischen sind sie beide Vollzeit-Autoren – vor allem durch die Krimis mit Kommissar Kluftinger bekannt. Doch die beiden haben auch ohne den grantigen Allgäuer reüssiert: mit dem Urlaubsroman In der ersten Reihe sieht man Meer. Meer beziehungsweise mehr Bücher, in denen ihr Allgäuer Kommissar nicht auftaucht, werden demnächst folgen. Auf ausgedehnten Lesetouren sind die beiden in ganz Europa unterwegs – überall da, wo man sie versteht oder wo ihre Bücher als Übersetzungen zu haben sind. Besuchen Sie die Autoren unter:www.kluepfel-kobr.dewww.facebook.com/kluepfelkobr

Volker Klüpfel / Michael Kobr

Kluftinger

Kriminalroman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1712-0

© 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: ZERO Media, München Umschlagmotiv: mauritius images / FRINA; FinePic®, München

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für das Allgäu und seine Bewohner. Vergelt’s Gott und nix für ungut!

Meiner Frau und meinen zwei tollen Jungs. Die drei besten Gründe für einfach alles.Volker Für meine großartige Familie.Michi

ALLERHEILIGEN

1

»Oh Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, duziduzi. Und das ewige Licht leuchte ihnen, duziduzidu.«

Kluftinger wurde unsanft an der Schulter gepackt und herumgerissen. Seine Frau blickte ihn finster an: »Du kannst doch dem Baby nicht das Scheidegebet aufsagen!«

»Ach, und warum nicht, Erika?« Er drehte sich wieder zum Kinderwagen im Hausgang, in dem ihr sechs Monate altes Enkelkind lag – allerdings mit Mütze, Kapuze und Fellsack so dick eingepackt, dass nur noch die Augen herausschauten. »Hm, das wollen wir schon wissen von der Oma, gell? Warum sollst du denn das nicht hören? Das leiern sie auf dem Friedhof eh gleich die ganze Zeit runter, dann bist du schon vorbereitet. Und verstehen tust du davon ja sowieso noch nix, mein kleines Butzel, duziduzi.«

»Bitte, Vatter, dann lieber so eine Todesbeschwörung als dieses Rumgeduzel«, mischte sich Markus ein. Kluftingers Sohn war mitsamt Frau und Kind gekommen, um den Totenmarathon zu absolvieren, wie er den alljährlichen gemeinschaftlichen Friedhofsbesuch nannte. Der Kommissar verstand nicht, warum Erika darauf bestand, dass sie selbst mit Baby noch dieser Allerheiligen-Tradition folgen mussten, und hatte insgeheim gehofft, dass ihn sein Enkelkind diesmal davor bewahren würde. Doch seine Frau war hart geblieben.

So stand er nun also da, in seinem zu engen Beerdigungsanzug, den er in der letzten Zeit recht häufig gebraucht hatte, weil seine Großonkel und -tanten und noch weiter verzweigte Verwandtschaftskreise sich in einem Alter befanden, in dem sich die entsprechenden Anlässe eben häuften.

»Du hast dir ja deine Krawatte immer noch nicht gebunden«, tadelte ihn Erika.

»Ich weiß auch nicht, immer ist sie zu lang oder zu kurz oder der Schnipfel hängt nach vorne raus, irgendwas stimmt mit der nicht …«

»Ich helf dir, Papa.« Yumiko stellte sich vor ihn und band die Krawatte mit geschickten Fingern zu einem ansehnlichen Knoten.

Kluftinger lächelte seine japanische Schwiegertochter liebevoll an. Spätestens seit sie ihm ein Enkelkind geboren hatte, hatte er das Gefühl, dass ein unsichtbares Band zwischen ihnen bestand.

»Fertig!«, erklärte sie.

»Danke«, krächzte er zurück. »Ist bloß ein bissle … eng vielleicht.«

»Ach was, sitzt doch gut«, sagte Erika im Vorbeigehen.

»Ich weiß eh nicht, warum ich nicht mit der Cordhose gehen kann bei der Kälte. Die, die wir besuchen, sind alle tot, denen ist bestimmt wurscht, wie ich ausschau.« Da er keine Antwort erhielt, beugte er sich wieder über den Kinderwagen: »Du hast es gut, du kannst im Schlafanzug hingehen, du kleines duzi-«

»Jetzt fang nicht wieder an«, unterbrach ihn sein Sohn und schob den Wagen in Richtung Tür. »Ich geh schon mal raus, hier ist es zu heiß fürs Kind und zu duzelig für mich.«

»Warte, ich geh mit«, rief Yumiko und hakte sich bei ihrem Mann unter.

Als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, wandte sich Kluftinger wieder an Erika. »Ich versteh dich nicht: Wenn ich ein Gebet aufsag, schimpfst du, aber die vielen Gräber schaden dem Kleinen nicht, oder wie?«

»Glaub nicht, dass du dich auf die Tour jetzt noch rauswinden kannst«, erwiderte sie amüsiert. »Außerdem sind die Toten ja unter der Erde, die werden dem Kind nichts tun.«

»Ach, Erika, das liegt doch in der Luft. Diese ganze Friedhofsstimmung, das drückt aufs Gemüt. Kinder spüren so was, die haben ganz feine Sensoren …«

Doch seine Frau war schon im Bad verschwunden. Mürrisch schnappte er sich seine Stiefel und steckte die Hosenbeine hinein, was in der gebückten Haltung und mit dem engen Anzug einige Anstrengung erforderte. Nach einer Weile kam Erika zurück und schaute ihm zu. »Und was wird das, wenn’s fertig ist?«, fragte sie schließlich.

»Bei dem Wetter nehm ich Stiefel, schau doch mal raus …«

»So gehst du mir nicht mit.«

Er grinste. »Gut, bleib ich halt schweren Herzens da.«

Nun musste auch seine Frau lachen. »Hast eigentlich recht. Wenn die Hosenbeine geschont werden, muss ich schon nicht so viel waschen.«

»Gib mir doch den Kinderwagen«, bot Kluftinger seiner Schwiegertochter auf dem Weg zur Kirche an und drängte Yumiko zur Seite.

»Oh, das ist aber … unerwartet«, entgegnete die und machte Platz.

»Der Opa will halt ein bissle sein Enkele herzeigen, gell, duzuzidu«, säuselte Markus und kniff seinem Vater in die Wange.

Eigentlich genoss es der Kommissar, dass Markus und Yumiko mittlerweile im Allgäu wohnten, in Kaufbeuren, wo Markus an der Klinik für forensische Psychiatrie arbeitete. So sahen sie sich und er sein Enkelkind viel häufiger. Aber es bedeutete eben auch, dass ihn sein Sohn öfter wegen seiner Kinderliebe aufziehen konnte. Da aber niemand wusste, wie es bei Markus und Yumiko beruflich weiterging und wie lange sie im Allgäu bleiben würden, erwiderte er nichts. Er wollte ihnen die Entscheidung, wieder von hier wegzuziehen, so schwer wie möglich machen.

Nach ein paar Minuten kamen sie auf dem Vorplatz der Kirche an, der direkt an den Friedhof grenzte. Wie jedes Jahr hatte sich hier schon eine beträchtliche Menge an Menschen in dunkler Kleidung versammelt, die alle auf das Ende des Gottesdienstes warteten, um sich dem Zug der Kirchgänger anzuschließen und die Gräber zu besuchen. Einer seiner Musikkollegen grüßte den Kommissar und schaute dann demonstrativ auf die Uhr. »Heut macht der Pfaffe wieder extra lang«, seufzte er.

Kluftinger zuckte mit den Schultern: »Mei, so volles Haus hat er halt selten.«

Dann standen sie wortlos da, bis endlich die Kirchenglocken anschlugen und sich das Portal öffnete, wobei es einen Schwall Weihrauch nach draußen entließ. Die Menschen gingen instinktiv einen Schritt zurück. Kluftinger wusste, warum. Es war das gleiche Spiel wie jedes Jahr: Zunächst trat der über achtzigjährige Pfarrer mit weihevollem Blick nach draußen, blieb dann kurz stehen, um die Menge vor der Kirche mit strafender Miene zu mustern, als wolle er sagen: Glaubt nur nicht, dass der Herrgott am Tag des Jüngsten Gerichts vergessen wird, dass ihr heute den Gottesdienst geschwänzt habt. Der Kommissar konnte dies deshalb so genau deuten, weil sie als Kinder im Ministrantenunterricht vom Geistlichen immer wieder angehalten worden waren, ihm die Blaumacher zu verraten, die ihm entgangen waren. Doch als der Pfarrer seinen ehemaligen Messdiener in den Blick nahm, zuckte dieser nur mit den Schultern und deutete mit dem Kopf entschuldigend auf den Kinderwagen vor ihm.

Nachdem das Strafgericht vorübergezogen war, schritt der Geistliche in einer Wolke aus Weihrauch in Richtung Friedhof davon, gefolgt von den Kirchgängern und schließlich den Menschen vor der Kirche, die sich mit gesenktem Haupt am Ende des Zuges einreihten.

Dann stand plötzlich die Mutter des Kommissars vor ihnen, und auch in ihrem Gesichtsausdruck lag ein unausgesprochener Vorwurf.

»Mutter, ich wär ja gern mitgegangen«, beeilte sich Kluftinger zu sagen, »aber das Kind!« Was für eine hervorragende Ausrede für fast alles, dachte er und freute sich schon darauf, dass er die Abende der nächsten drei bis vier Jahre gemütlich würde zu Hause verbringen können, ganz ohne Musikprobe oder sonstige gesellschaftliche Verpflichtungen. »Dauert halt auch alles viel länger, bis das erst mal angezogen ist.«

»Ich hab schon gehofft, dass ihr noch in die Kirche kommt. Hab euch extra Plätze freigehalten«, gab sich Hedwig Maria Kluftinger verschnupft. »Unser Herrgott freut sich schließlich über jedes Kindlein, das …« Sie brach ab und musterte ihn mit großen Augen. »Was hast du denn da für ein dünnes Jäckle an, ist doch viel zu kalt heut. Du holst dir wieder einen Husten. Weißt doch, wie empfindlich deine Bronchien sind.«

Markus beugte sich zu seiner Frau und zischte ihr zu: »Jetzt macht meine Großmutter gleich duziduzi mit ihrem Kind.«

»Was meinst du, Markus?«

»Nix, Oma, wir gehen schon mal vor, gell?« Mit diesem Satz verzogen sich die beiden.

»Das mit dem Jäckle hat sie zu mir auch gesagt«, seufzte Kluftinger senior, der sich nun zu ihnen gesellte. Er war separat aus der Kirche gekommen, weil das Ehepaar immer auf getrennten Seiten saß: sie – wie früher üblich – links bei den Frauen, er rechts bei den Männern. In manchen Institutionen brauchte die Gleichstellung eben etwas länger. »Aber jetzt ist mir viel zu warm«, schimpfte Kluftingers Vater und öffnete den gefütterten Wintermantel. »Wie dem Butzel, vermute ich.« Er deutete auf den Kinderwagen.

»Ach was, Kinder haben ein ganz anderes … was ist denn das, zefix?« Kluftinger spürte, wie jemand an seinem Hinterteil herumnestelte.

»Du sollst doch nicht fluchen, schon gar nicht hier«, zischte seine Mutter, während Kluftingers Hand unwillkürlich nach hinten fuhr und in etwas Kaltes, Glitschiges griff.

»Pfuideifl, was …?« Er fuhr herum, schaute nach unten und blickte in die braunen Augen eines großen, muskulösen Hundes, der nun die Schnauze in seinen Schritt bohrte und auf dem Anzug eine weißliche Schleimspur hinterließ. »Kruzifix, aus!«, schrie Kluftinger, worauf sich zahlreiche Menschen nach ihm umdrehten – unter anderem auch der Pfarrer, dessen Augen sich zu bedrohlichen Schlitzen verengten.

»Ja, der schnuppert eben am liebsten da, wo die meisten Pheromone lauern«, gluckste da eine dem Kommissar vertraute Stimme.

Erst jetzt hob Kluftinger den Kopf und blickte in die ebenfalls braunen Augen des Hundeherrchens, die hinter einer riesigen Brille hervorlugten. »Herr Doktor Langhammer«, seufzte der Kommissar und verkniff sich ein »Hätt ich mir ja denken können«.

»Tag, mein Lieber. Na, führen wir heute beide unseren Nachwuchs aus?«

Kluftinger verzog das Gesicht. Während er sich mit seinem Stofftaschentuch die Hand abwischte, blaffte er: »Verdienen Sie sich was nebenher als Hundeausführer, oder sind Sie doch endlich Tierarzt geworden? Wahrscheinlich, weil Sie da weniger Schaden anrichten können, oder?«

»Ich hab dir doch erzählt, dass die Annegret jetzt einen Hund hat«, erklärte Erika und tätschelte dem Tier den Kopf, was dieses mit einem zufriedenen Jaulen quittierte.

»Hab halt gedacht, du meinst ihn«, erwiderte der Kommissar und zeigte auf den Doktor.

»Ha, wunderbar, mein Lieber. Nur gut, dass Wittgenstein und ich humorbegabt sind.«

»Wer?«

»Wittgenstein. Unser Hund.«

»So heißt der? Wie der Metzger?«

»Nein, wie der Philosoph.«

»Ach, ja dann …« Peinlich berührt streichelte Kluftinger dem Hund nun ebenfalls über das braun glänzende Fell, auch wenn er für Vierbeiner eigentlich nichts übrighatte. »Bist aber ein großer Dackel«, sagte er.

»Dackel?« Langhammer bekam Schnappatmung. »Das ist doch kein Dackel.«

»Sieht eher aus wie ein Boxer«, fand Kluftingers Mutter.

»Also, ich muss doch sehr bitten. Es handelt sich um einen Ungarischen Wischler.«

Kluftinger nickte. »Ah, jetzt wo Sie’s sagen …«

Es entstand eine unangenehme Stille, die Kluftinger senior unterbrach: »Haben Sie den aus dem Tierheim?«

»Nein, Gott bewahre. Ist aus einem zertifizierten Zuchtbetrieb. Reinrassige Abstammung. Eigentlich heißt er Arkadi von Buronia, aber ich dachte, Wittgenstein passt viel besser zu ihm.«

Hedwig Kluftinger wiegte den Kopf hin und her. »Also, ich weiß nicht, schaut gar nicht aus wie ein Metzger.«

»Aber wie der Philosoph. Sehen Sie sich nur mal diese wachen Augen an. Diesen intelligenten Ausdruck!«

Kluftinger musterte das Tier, das mit treudoofem Blick zurückschaute und sich dabei über die Schnauze leckte. »Ja, mei, intelligent ist jetzt vielleicht …«

»Dann passen Sie mal auf, was er schon gelernt hat. Wittgenstein?« Der Doktor streckte die Hand nach dem Hund aus und deutete dabei mit zwei Fingern die Form einer Pistole an. »Peng!« Sofort ließ sich der Hund mit einem Winseln auf den Rücken fallen und streckte die Beine von sich.

Entsetzt starrten die vier Kluftingers auf das Tier, das sich hier vor dem Friedhof tot stellte.

»Ich dachte, dieses Kunststück passt besonders gut zu Allerheiligen«, gab sich Langhammer unbeirrt.

Wieder schwiegen alle.

»Wo ist denn die Annegret?«, fragte Erika in die Stille.

»Zu Hause. Sie kann mit dieser Tradition wenig anfangen. Ihr wisst ja, wir sind nicht konfessionell gebunden, und ich würde mich auch eher als Agnostiker bezeichnen.«

Der Kommissar zog die Brauen hoch. »Was wollen Sie denn dann auf dem Friedhof? Sie haben hier ja nicht mal Tote liegen. Also außer denen, die Sie selber unter die Erde gebracht haben.«

»Na, ich kann doch bei so einem Event nicht fehlen.«

»Event?« Kluftinger fand das Wort reichlich deplatziert im Zusammenhang mit Allerheiligen.

»Ja, da drückt sich die archaische Allgäuer Volksseele aus. Hier trifft man heute ganz Altusried. Und außerdem muss Wittgenstein unter Leute.«

»Wer?«

»Der Hund«, sagte Kluftinger senior.

»Ach ja, freilich.« Der Kommissar zog den Kinderwagen etwas näher heran, weil er fand, dass es nun an der Zeit war, dass sein Enkelkind angemessen gewürdigt wurde. Doch Langhammer machte keinerlei Anstalten. Also schob Kluftinger den Wagen mit einem mürrischen »Pack mer’s« auf den Friedhof.

»Au weh, die Tante Fanny.« Der Kommissar zupfte seine Frau am Ärmel, als er die alte Frau mit ihrem Rollator am Grab eines entfernten Familienzweigs stehen sah. »Geh mer doch lieber zum Grab vom Riedberger, und wenn wir von da kommen, sind die dann …«

»Ja, wer ist denn da?«, schallte es in diesem Moment zu ihnen herüber.

Zu spät, dachte Kluftinger und wunderte sich gleichzeitig, über was für eine laute Stimme seine alte Patentante noch verfügte. Er biss also die Zähne zusammen und schob den Kinderwagen in Richtung der Menschentraube vor dem Grab seines Onkels Josef, der im letzten Jahr im biblischen Alter von 98 verschieden war – völlig unerwartet und viel zu früh, wie Tante Fanny nicht müde wurde zu betonen. Es war ein großes Hallo, als sie sich mit ihrem Enkelkind zu ihnen gesellten, und Kluftinger verlor irgendwann den Überblick, wie viele zittrige, faltige Hände versuchten, das Baby in die Wange zu kneifen. Die meisten konnte er abwehren, doch einige schafften es, seinen Verteidigungswall zu durchbrechen. Am Ende war das Kind wach und seine Wange gerötet.

»Was ist es denn?«, wollte ein alter Mann mit Gehstock wissen, von dem Kluftinger ziemlich sicher war, dass er ebenfalls zur Verwandtschaft gehörte, auch wenn er nicht mehr sagen konnte, wie genau. Fragen konnte er natürlich schlecht.

»Was es ist? Also das sieht man doch wohl, dass es ein …«

»Pscht!« Tante Fanny, die eben noch so entzückt vom kleinen »Schneckebutzel« gewesen war, legte mit strengem Blick einen knochigen Finger auf die Lippen und heftete ihren Blick auf den Pfarrer, der eben den Segen erteilte, worauf sich alle bekreuzigten. Kluftinger nutzte den Moment und bedeutete Erika, sich schnell von hier zu verdrücken.

Nun durchschritt der Geistliche den Friedhof und segnete die Grabstätten mit Weihwasser, was der Startschuss zum alljährlichen »Gräberlauf« war – für den Kommissar letztlich eine Art Familienzusammenkunft an einem ungewöhnlichen Ort. Irgendwann würden sich hier sowieso alle wiedertreffen.

Mit einem »Wo sind eigentlich Markus und Yumiko?« versuchte Kluftinger, diesen dunklen Gedanken zu vertreiben.

Erika zuckte mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht, die haben wir da hinten irgendwo … sag mal, warum gucken die eigentlich alle so komisch?«

Der Kommissar schaute sich um. Tatsächlich warfen ihnen vereinzelte Friedhofsbesucher im Vorbeigehen seltsame Blicke zu, blieben stehen oder tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Dann hellte sich seine Miene auf: »Die meinen bestimmt, dass wir noch mal Nachwuchs gekriegt haben. Hätten sie uns wohl nicht zugetraut.«

»Ja, meinst du?«, erwiderte Erika zweifelnd.

Dann hatten sie das Grab von Kluftingers Großvater erreicht, wo seine Eltern schon auf sie warteten, ebenso wie Tante Josefa, die Kluftinger seit Markus’ Hochzeit nicht mehr gesehen hatte.

»Ja so was, Bärle, jetzt sag bloß, ihr habt’s …«

»Siehst du?«, zischte der Kommissar seiner Frau zu, dann rief er: »Nein, Tante, das ist doch unser Enkele. Und nenn mich nicht immer Bärle, du weißt, dass ich das nicht mag.«

»Hab dir doch erzählt vom Markus und der Miki, Josefa. Warst doch auch auf der Hochzeit!«, erklärte Kluftingers Mutter der alten Dame.

Lächelnd sagte die: »Soso, kann schon sein. Was ist es denn?«

»Ein Ungarischer Wischler«, tönte es da hinter ihnen. »Reinrassig.«

Kluftinger fuhr herum. »Himmel, sind Sie immer noch da, Herr Doktor? Gibt’s keinen Notfall, der Ihre Anwesenheit erfordert?«

»Im Moment nicht, und ich muss sagen … Moment, was ist denn da los?« Langhammer zeigte in eine entlegene Ecke des Friedhofs, in der normalerweise wenig Publikumsverkehr herrschte. Nun aber drängten sich dort die Menschen zusammen. Und es wurden immer mehr. Hin und wieder schauten sie in ihre Richtung. Einige deuteten sogar ganz ungeniert auf sie.

»Komisch«, kommentierte der Kommissar. »Vielleicht sollten wir mal nachschauen?«

Erika nickte langsam. Ihr schien die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteilwurde, gar nicht zu gefallen.

Also gingen sie schnurstracks auf die Leute zu und machten nur einmal einen Bogen, damit sie nicht am Grab von Philipp Wachter vorbeimussten, ein Ort, mit dem der Kommissar unangenehme Erinnerungen verband. Je näher sie der Menschentraube kamen, desto schwerer wurde es, mit dem Kinderwagen voranzukommen. »Schieb du doch mal, Erika«, sagte Kluftinger deswegen und ging alleine weiter, begleitet von Langhammer und dem hechelnden Hund, den die vielen aufgeregten Menschen nervös zu machen schienen.

Eine Frau löste sich aus der Menge und wandte sich zum Gehen. Als sie sich umdrehte, stand sie direkt vor dem Kommissar und stieß einen spitzen Schrei aus, was auch die Aufmerksamkeit der übrigen Menschen auf ihn lenkte. Schlagartig wurde es still. So still, wie er es allenfalls von Beerdigungen kannte. Kluftinger schluckte. Irgendetwas stimmte hier nicht – und es hatte mit ihm zu tun. Also drängte er sich durch die Menge und schob die Leute, die wie angewurzelt dastanden, unsanft beiseite. Er kam sich vor wie in einem dieser Träume, in denen man lief, aber kaum von der Stelle kam. Als er es endlich geschafft hatte und vor dem Grab stand, war er völlig ratlos. Da war nichts. Jedenfalls nichts Ungewöhnliches. Nur frisch aufgehäufte Erde, Blumen, ein Holzkreuz und … Kluftinger spürte, wie sich alles um ihn herum zu drehen begann. Scharf sog er die Luft ein und blickte ungläubig auf das Kreuz. Mit schwarzen, altertümlichen Lettern waren dort zwei Jahreszahlen eingeprägt. 1959 und das aktuelle Jahr.

Darüber stand ein Name.

Sein Name.

Adalbert Ignatius Kluftinger.

»Ich hätt gar nicht gedacht, dass Zombies auch so einen Ranzen ­haben können. Die kommen im Fernsehen immer so dürr und abgemagert rüber!« Jürgen Ebler, der das Flügelhorn in der Musik­kapelle blies – obwohl ihm der Dirigent immer nahelegte, doch besser zur Freiwilligen Feuerwehr zu wechseln – und der sich außerdem als Zweigstellenleiter der Altusrieder Sparkassenfiliale zu den Dorfhonoratioren zählte, grinste breit. Er sprach laut, offenbar wollte er, dass jeder in der Dorfwirtschaft seinen Witz mitbekam. Nun stand er tief über den Tisch gebeugt, an dem Kluftingers samt Eltern bei Kaffee und Kuchen saßen. Außerdem das Ehepaar Langhammer mit Hund. Niemand der Anwesenden verzog eine Miene. Nur der Doktor bleckte seine viel zu weißen Zähne.

»Mei, Jürgen, Banker werden in Filmen ja auch meistens als gutaussehend und gescheit dargestellt«, gab Kluftinger kampfeslustig zurück. »Kann man mal wieder sehen, wie weit hergeholt das alles ist.«

Der Mann stand mit gefrorenem Lächeln da. Dann schien er auf einmal um Ernsthaftigkeit bemüht. »Spaß beiseite. Gott sei Dank, dass es dir gut geht«, versetzte er in getragenem Ton. »Nicht auszudenken, wenn du, ich mein … du weißt schon. Ihr beiden habt schließlich in finanzieller Hinsicht nichts geregelt, wenn ich das mal anmerken darf.«

»Für die Beerdigung wird’s schon noch reichen.«

Mit einem Seitenblick zum Doktor flüsterte Ebler dem Kommissar zu: »Nein, ich mein nur, die Erika braucht eine Generalvollmacht von dir, sonst kann sie im Falle des … ich mein, wenn mit dir mal was ist, überhaupt nichts ausrichten. Kommt die Tage mal vorbei. Lieber bald, ja?«

»Noch geht’s mir ganz gut, Jürgen.«

»Ich mein ja bloß, kann immer was sein«, raunte der Filialleiter, dann klopfte er beschwingt auf den Tisch und verabschiedete sich mit einem »Pfiagott mit’nand«.

»So ein Granatenseckl«, brummte der Kommissar, als Ebler außer Hörweite war. »Immer muss sich der mit irgendwas wichtig­machen.«

»Na ja, mein lieber Kluftinger«, meldete sich nun Langhammer zu Wort, dem es offensichtlich schwergefallen war, sich nicht einzumischen – was er nun nachholte, »ganz unrecht hat er mit seinem Einwand nicht.«

»Was denn für ein Einwand?«

»Man muss immer alle Eventualitäten bedenken. Aus ärztlicher Sicht ist eine Patientenverfügung unerlässlich. Stellen Sie sich vor, Sie fallen ins Koma und Ihre Familie kann noch nicht mal entscheiden, wann sie den Stecker ziehen soll.«

»Das kann ich Ihnen schon sagen: Gar nicht und niemals soll niemand den Stecker bei mir ziehen. Ich will alle lebenserhaltenden und -verlängernden Maßnahmen ausgeschöpft haben, ist das klar? Bis zum bitteren Ende. Da braucht es keine Patientendings.«

»Bub, da muss ich dem Herrn Doktor recht geben«, schaltete sich nun die Mutter des Kommissars ein. »Das ist ein Thema, das man nicht früh genug angehen kann. Dein Vater und ich haben das schon lang.«

Kluftinger war das Thema äußerst unangenehm. Auch wenn sein Verstand ihm sagte, dass seine Eltern nicht ewig da sein würden, verdrängte er diesen Gedanken so gut es ging. »Im Moment ist ja nix, Mutter, und ihr erfreut euch zum Glück einer sehr stabilen Gesundheit. Also, könnten wir jetzt mal endlich das Thema wechseln und über was Schöneres reden?«

Sein Vater winkte ab. »Nur weil es uns heute gut geht, heißt das nicht, dass es immer so sein muss. Oft ist ja schnell …«

»Himmelkruzifixnochmal, jetzt ist Schluss mit dem blöden Geschwätz, ich will nix mehr hören vom … von solchen Sachen!« Mit gerötetem Kopf ließ der Kommissar seine Faust auf den Tisch donnern, dass die Tassen klirrten. Alle sahen ihn entgeistert an.

»Oho, unser Großtrommler scheint von den Toten auferstanden, oder habt’s ihr schon mal eine Leich so einen Krach machen hören?«, rief Paul, der Posaunist der Altusrieder Kapelle, am Nachbartisch in die Runde, wo einige von Kluftingers Musikkollegen seit Stunden beim Frühschoppen saßen, der mittlerweile nahtlos in ein Nachmittagsbesäufnis übergegangen war.

»Ist doch wahr«, fuhr der Kommissar in versöhnlichem Ton fort. »Man muss doch nicht irgendwas herbeireden. Und jetzt Themawechsel.«

Doch Hedwig Maria Kluftinger zeigte sich vom Wunsch ihres Sohnes gänzlich unbeeindruckt. »Oft schlummert was in einem, und man weiß es gar nicht.«

»Was soll denn das wieder heißen, Mutter?«

»Lässt er sich denn regelmäßig durchuntersuchen, Herr Doktor?«

»Wer?«, bellte der Kommissar.

»Na ja, also, es ist so mit ihm …«, setzte der Arzt an, doch Kluftinger fiel ihm ins Wort.

»Ich? Geht’s um mich? Dann kein Wort mehr, das fällt unter die ärztliche Schweigepflicht, und wenn du fünfmal meine Mutter bist! Übrigens müsst ihr grad reden, der Vatter und du, ihr geht ja nie zur Vorsorge.«

Doch Hedwig Kluftinger winkte ab. »Mei, wir sind doch auch schon alt. Aber du hast ja dein ganzes Leben noch vor dir. Weißt, Bub, beim Vatter, da wär es ja nicht so …«

»Was denn?«, hakte ihr Mann sofort angriffslustig ein. »Nicht so schlimm?«

Seine Frau schüttelte den Kopf. »Du weißt schon. Was meinen Sie, Herr Doktor, der Bub hat doch so abgenommen in letzter Zeit.«

Langhammer gluckste. »Abgenommen? Das wäre mir neu, ehrlich gesagt. Seit ich ihn kenne, geht die Gewichtskurve nur in eine Richtung.«

»Aber er ist doch ganz schmal.«

Der Kommissar verdrehte entnervt die Augen. Alles wegen diesem vermaledeiten Streich, den ihm irgendein Depp auf dem Friedhof gespielt hatte. »Aua, Kreizkruzifix!« Er hatte sein Bein abrupt zurückgezogen, weil Langhammers Hund an seiner Hose nestelte, und sich dabei das Knie angestoßen.

»Ist was, Butzele? Tut dir was weh?«, wollte Erika wissen.

»Gssst!«, zischte Kluftinger unter den Tisch.

»Gicht?«, fragte seine Mutter besorgt, blickte dabei aber den Arzt an.

»Nein, ein für alle Mal: Mir fehlt nix!«

Der Vierbeiner hechelte ihn mit seinem warmen Atem an, leckte an seinen Schuhen herum und zog dann aufgeregt an einem seiner Socken. Jetzt wurde es dem Kommissar wirklich zu dumm. Er schnappte sich unbemerkt den großen Aschenbecher, der trotz des seit Jahren geltenden Rauchverbots in Gaststätten wie selbstverständlich auf dem Fensterbrett stand, holte ihn neben sich auf die Bank, ließ dann geschickt aus seinem Weizenglas eine ordentliche Portion hineinlaufen und balancierte den improvisierten Napf auf den Boden. In Windeseile schlabberte das Tier die Schale leer. Kluftinger gelang es, heimlich nachzufüllen, dann war Ruhe unterm Tisch. Der Hund legte sich lethargisch auf die Vorderpfoten und schloss seine Augen. Nur ab und zu stieß er ein leises Wimmern aus.

Inzwischen war sein Sohn samt Familie zu ihnen gestoßen. Zufrieden nahm Kluftinger wahr, dass sich dadurch der Fokus von ihm auf sein Enkelkind verlagerte. Doch dieser Effekt war nur von kurzer Dauer, denn der Säugling schlief tief und fest im Kinderwagen, und Erika bestand darauf, dass dies auch so bleiben solle.

»Und, Vatter, wie fühlt man sich so frisch dem Grabe entstiegen? Wie neu geboren, denk ich mal, auch wenn du nicht ganz so ausschaust«, brachte Markus das leidige Thema wieder aufs Tapet und zog sich dafür einen Rempler seiner Frau zu.

»Bub, wenn du jetzt auch noch anfängst, dann geh ich.«

»Ja, bitte hör auf damit«, sagte Yumiko mit besorgtem Gesicht. »In Japan würde niemand über so eine schreckliche Aktion auch noch Scherze machen.«

»So, Markus, da siehst du es mal«, sagte der Kommissar und legte seiner Schwiegertochter eine Hand auf den Unterarm, »die Japaner sind halt sensible Menschen, die nicht jeden Witz totreiten müssen, und wenn er noch so geschmacklos ist.«

»Das mit dem Totreiten hast jetzt aber du gesagt, Vatter.«

Yumiko lächelte verlegen. »Die Sache mit dem Grab würde bei uns als sehr schlechtes Omen gelten, da verbietet sich jeder Spaß. Und wer weiß, ob nicht ein Irrer dahintersteckt, der irgendwann …« Sie stockte, offensichtlich, weil sie nicht aussprechen wollte, was sie dachte.

Erika machte eine betroffene Miene, Kluftingers Mutter entfuhr ein »Jessesmariaundjosef«, und sie bekreuzigte sich.

Der Kommissar wollte nicht, dass das Thema eine solche Relevanz bekam. Es war schließlich nur ein dummer Streich. So hoffte er jedenfalls.

»Mal im Ernst«, mischte sich nun auch Martin Langhammer ein, »vielleicht sollten wir tatsächlich die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass jemand Sie, sagen wir mal«, er schaute zu Erika, »also, dass es jemand nicht gut mit Ihnen meint.«

Kluftingers Frau warf dem Arzt einen erschrockenen Blick zu.

»Haben Sie denn Feinde, Kluftinger?«

»Feinde«, blaffte der Kommissar. »Zu viele Krimis geschaut, hm?«

Erika schüttelte den Kopf. »Nein, Martin, mein Mann ist doch …«

»… im Umgang mit seinen Mitmenschen nicht immer gerade sensibel. Und nicht jeder ist so duldsam wie unsereins und nimmt ihn trotz seines herben Charmes als Freund an.«

»Könnt ihr aufhören, so zu reden, als wär ich gar nicht mehr da?«

Der Doktor hob beschwichtigend die Hand. »Natürlich. Noch erfreuen wir uns Ihrer Gegenwart, und das soll auch so bleiben. Wie dem auch sei, in Ihrem Beruf wird es nicht ausbleiben, dass man sich den einen oder anderen zum Feind macht. Irgendeine Idee, wer zu solch einer Aktion in der Lage wäre?«

»Nein, und damit ist das Verhör beendet, Doktor Watson«, brummte Kluftinger, auch wenn er sich eingestehen musste, dass der Arzt durchaus recht hatte. Natürlich gab es Leute, die ihm den Teufel an den Hals wünschten, schließlich hatte er seit vielen Jahren mit Schwerstverbrechern zu tun. Nicht wenige von ihnen hatte er hinter Gitter gebracht. Man musste kein Psychologe sein, um zu ahnen, dass da auch einige darunter waren, die das persönlich nahmen. Oder lag der Schlüssel woanders? Im privaten Bereich? Hatte er tatsächlich jemanden so verletzt, dass der sich durch diesen makabren Scherz an ihm rächen wollte?

»Noch mal wegen vorher«, meldete sich nun Hedwig Maria Kluftinger wieder zu Wort, »wenn doch mal was sein sollt, Erika, ihr kommt beide zu uns ins Familiengrab, gell?«

»Ins was?«, krächzte der Kommissar.

»Ja, hast schon richtig gehört«, bestätigte Kluftinger senior. »Wir haben vorgesorgt, die Mutter und ich. Man will ja auch nicht irgendwo liegen, eines Tages, nur weil alle anderen schneller waren. Beim Beierle Günther, dem vom Bestattungsinstitut, sind unsere Wünsche für die Trauerfeiern hinterlegt, und angezahlt haben wir auch schon was.«

»Ihr habt dem Beierle schon das Geld für eure Beerdigung in den Rachen geworfen?«

»Höre ich da meinen Namen?«, tönte es da plötzlich neben dem Tisch, wo nun ein hagerer Mann im schwarzen Anzug stand. »Klufti, wenn mal was ist, wende dich vertrauensvoll an mich. Kennst ja unseren neuen Slogan: Beierle – Trauern mit Herz und Verstand.«

»Kein Bedarf im Moment, Günther. Reicht schon, dass du wehrlosen Greisen wie meinen Eltern das Geld aus der Tasche ziehst.«

»Dir werd ich gleich einen Greis geben«, protestierte Kluftingers Vater.

Ungerührt erklärte Beierle wortreich, sein Geschäftsmodell sei gängige Praxis und erleichtere den Angehörigen das Leben im Sterbefall ungemein.

»Sag mal, Günther, könntest du dir vorstellen, auf wessen Mist dieser Schmarrn mit dem falschen Grab gewachsen sein könnt?«

Der Bestatter legte die Stirn in Falten. »Ich? Wie kommst jetzt darauf?«

»Na ja, da war frische Erde auf dem Grab, die ganzen Blumen und so, das Kreuz, irgendjemand muss das ja gemacht haben.«

»Schon, aber wenn jemand so etwas Abwegiges in Auftrag geben würd, täte ich dir das doch sagen, Klufti.«

»Ich mein ja bloß, kannst dich vielleicht mal umhören bei deinen Leuten, die waren sicher auch viel auf dem Friedhof in den letzten Tagen, Gräber richten und so.«

»Das machen zwar normalerweise die Gärtnereien, aber ja, ich frag mal meine Mitarbeiter.«

»Danke, Günther«, sagte Kluftinger mit einem Seufzen.

»Machst dir doch Sorgen, Bub?«, fragte Kluftingers Vater.

Einen Moment war es still am Tisch, und alle warteten gespannt auf die Antwort des Kommissars. Der wollte das Thema so gut es ging entschärfen: »Ich find halt, dass so ein Jux geschmacklos ist, und würd gern denjenigen zur Rede stellen, der sich den Schmarrn ausgedacht hat.«

»Immerhin hat sich da jemand ganz schön Mühe gegeben«, fand Günther Beierle. »Ich mein, das Kreuz ist schön gemacht, auch die Blumen …«

»Sag mal, Günther, wer liegt denn eigentlich in dem Grab?«, fiel der Kommissar ihm ins Wort.

»Niemand. Also, hoff ich. Das ist schon vor Jahren aufgelöst worden, aber jetzt wird es bald wieder belegt. Die Maliks, weißt schon, von der Tankstelle, da ist ein Onkel von der Anita gestorben, als Missionar in Afrika, und der wird jetzt hierher überstellt. Interessanter Fall, wir holen den morgen in München am Flughafen ab, aber er muss vorher noch durch die Zollkontrolle.«

»Das heißt, ihr beerdigt den morgen?«

»Morgen richten wir das Grab, Beerdigung ist dann am Dienstag.«

»Ihr meldet euch, wenn da was nicht koscher ist, ja?«

»Logo, wird gemacht. Willst du eigentlich den Blumenschmuck von deinem … ich mein … streng genommen gehört das ja niemandem.«

»Kannst gern entsorgen, Günther, kein Interesse.«

»Okay. Erika, du vielleicht?«

»Schau bloß, dass du dich schleichst«, schimpfte Kluftinger und holte mit dem Arm aus, worauf sich der Bestattungsunternehmer trollte.

»So«, sagte der Kommissar dann und klopfte auf die Tischplatte, »jetzt brauch ich was zu essen.« Er drehte sich um und winkte die Bedienung zu sich. »Maria, ich krieg bitte einen Gockel mit doppelten Pommes. Und als Vorspeise einen Wurstsalat.«

Die fragenden Gesichter quittierte er, indem er grinsend erklärte: »Könnt ihr nicht wissen: Das Auferstehen von den Toten ist wahnsinnig anstrengend und zehrend, da braucht es nachher eine Stärkung. Und nachdem mich eh der halbe Ort schon tot wähnt, muss ich es mit der gesunden Ernährung auch nicht mehr so genau nehmen.«

ALLERSEELEN

2

»Das war ein dummer Streich von irgendeinem Idioten, mehr nicht. Kein Grund, nervös zu werden. So, und jetzt fangen wir bitte endlich mit der Arbeit an!«

Bereits als Kluftinger seine Abteilung bei der Kriminalpolizeidirektion Kempten betreten hatte, war ihm Kollege Richard Maier aufgeregt entgegengekommen und hatte mit der Lokalzeitung vor seinem Gesicht herumgefuchtelt, in der ein halbseitiger Artikel über das »makabre Scheingrab in Altusried« samt Foto vom Kreuz erschienen war.

Nun lag die Zeitung auf dem Besprechungstisch. Maier und Kollege Roland Hefele hatten es sich nicht nehmen lassen, den Vorfall als Erstes auf die Tagesordnung zu setzen, auch wenn Kluftinger beteuerte, dass es dazu keinerlei Veranlassung gebe.

»Chef, noch mal: Nimm das nicht auf die leichte Schulter«, gab Maier zu bedenken. »Der Typ hat sich ziemlich viel Mühe gegeben, nach einem kleinen Jux schaut mir das nicht aus.«

»Schmarrn«, winkte der Kommissar ab, obwohl er genau dieses Argument bereits gestern am Tisch im Mondwirt von Günther Beierle gehört hatte. Und nicht gänzlich leugnen konnte, dass es einleuchtete.

»Sagt mal, hat jemand was vom Eugen gehört?« Der dritte Mitarbeiter von Kluftingers Abteilung, Hauptkommissar Eugen Strobl, war vor dem Wochenende nicht zum Dienst erschienen und hatte sich nur per SMS bei Sekretärin Sandy Henske krankgemeldet.

»Er hat mir heut früh eine WhatsApp geschrieben«, berichtete Hefele. »Ich hab gedacht, du wüsstest Bescheid. Steht nur drin, dass er Kopfweh hat und heute nicht kommen kann.«

»Wird immer schöner mit dem, früher hat er sich wenigstens noch ordentlich krankgemeldet«, brummte Kluftinger mehr zu sich als zu den Kollegen. »Wird wohl um einen Besuch beim Amtsarzt auf Dauer nicht rumkommen.«

Maier und Hefele warfen sich vielsagende Blicke zu. Auch sie konnten sich die lasche Dienstauffassung und die Unzuverlässigkeit ihres langjährigen Kollegen nicht recht erklären.

»Meint ihr, den hat das mit seiner Scheidung so mitgenommen, dass er sein Leben nicht mehr richtig auf die Reihe kriegt?«, fragte der Kommissar.

Maier und Hefele machten ratlose Gesichter.

»Wobei: Der hat doch schon wieder eine Freundin gehabt in München.«

»Ich hab läuten gehört, dass die Schluss gemacht hat. Vielleicht trauert er um die Beziehung«, vermutete Maier. »Liebeskummer kann den stärksten Mann aus der Bahn werfen.«

»So ein Krampf«, herrschte ihn Hefele unwirsch an. »Liebeskummer in unserem Alter, da lach ich doch!«

Maier räusperte sich vernehmlich, sah grinsend zu seinem Vorgesetzten und sagte dann: »Wer im Glashaus sitzt, Roland … Seit die Sandy dir nach eurem kurzen Intermezzo die kalte Schulter zeigt, leidest du doch wie ein Hund.«

Hefele lief knallrot an. »Ich? Leiden? Blödsinn! Ich bin schon lang wieder in besten Händen. In festen, mein ich.«

Das überraschte Kluftinger, der genau das befürchtet hatte, was nun eingetreten war: Dass das Büroklima darunter litt, dass sich die Henske und sein Kollege nicht mehr verstanden. »Heu, ja jetzt aber. Wer ist denn die Glückliche?«, fragte er interessiert.

»Kennt ihr nicht, tut auch nix zur Sache«, entgegnete Hefele schnell.

»Jetzt muss ich aber schon mal nachhaken«, ließ Maier nicht locker, doch Kluftinger bedeutete ihm mit einem Kopfschütteln, nicht weiter zu insistieren.

»Außerdem geht es um den Eugen«, kam Hefele zum Thema zurück. »Vielleicht liegt’s ja an seinen Aktienspekulationen. Der Markt ist grad ein bissle schwierig, hab ich gelesen.«

Kluftinger seufzte. »Wir werden’s schon noch rausfinden. Hoffen wir mal, dass sich die Lage bald wieder normalisiert.«

»Das finde ich auch, Chef.« Sandy Henske kam mit einem Zettel auf ihn zu.

»Was?«

Die Sekretärin verstand nicht. »Bitte?«

»Was finden Sie auch?«

»Dass Sie dem nachgehen müssen, mit dem Grab. Herausfinden, was dahintersteckt. Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter.«

Der Kommissar winkte ab.

»Ich hab Ihnen mal die Nummer von der Friedhofsverwaltung rausgesucht, Chef.«

Hefele grinste. »Meinst du, sie geben ihm noch ein schöner gelegenes Grab? Mehr im Zentrum vom Friedhof? Eins mit Parkplatz für den Passat? Oder fährt man als Untoter gar kein Auto?«

Die Sekretärin sah ihn verständnislos an.

»Müssen wir jetzt in Zukunft nachts arbeiten, damit du nicht zu viel Sonnenlicht ausgesetzt bist?«, setzte Hefele noch einen drauf.

Kluftinger blickte gequält drein. »Roland, ich hab sämtliche Witze zu dem Thema schon gestern in der Wirtschaft gehört, gib dir also keine Mühe.«

Sandy Henske schüttelte den Kopf: »Wenn ich dazu auch mal was sagen darf: Ich finde das geschmacklos, über so etwas macht man wirklich keine Späße, Roland. Musst dein mangelndes Feingefühl nicht auch noch zur Schau stellen.«

»So? In meinem sehr nahen Umfeld gibt es da schon eine Weile jemanden, die sich noch nie über mein mangelndes Feingefühl beschwert hat.«

Plötzlich legte sich ein Lächeln auf Sandys Gesicht. Sie klopfte Hefele auf die Schulter und sagte mit Erleichterung in der Stimme: »Na, da bin ich aber ehrlich froh, Roli, wirklisch. Siehste, jeder Topf findet seinen Deckel.« Und mit einem verschmitzten Lächeln fügte sie an: »Und wenn er noch so verbeult ist …«

Hefeles siegessicheres Grinsen verschwand. Er hatte ganz offenbar auf eine andere Reaktion gehofft.

»Kollegen, ich glaub, wir sollten dann mal …« Für Kluftingers Geschmack hatte das Gespräch einen allzu privaten Verlauf genommen. »Was liegt dienstlich an?«

»Wir müssen zumindest ermitteln, woher das Grabkreuz stammt und wer für diesen groben Unfug verantwortlich ist«, beharrte Maier. »Das hätten wir bei jedem anderen schließlich auch getan, schon von Amts wegen.«

»Bitte, wenn ihr drauf besteht, dann ruf ich halt nachher mal in Altusried an und erkundige mich. Ist ja irgendwie auch nett, dass ihr euch so Sorgen um mich macht.«

Eine halbe Stunde später saß er allein in seinem Büro, die Nummer der Altusrieder Friedhofsverwaltung vor sich. Er starrte den Zettel an. In eigener Sache dort anrufen zu müssen kam ihm seltsam vor. Was würde er schon groß erfahren? Das Läuten seines Telefons ließ ihn zusammenzucken. Das Display zeigte an, dass Birte Dombrowski, die Polizeipräsidentin, anrief. Auch das noch! Mit einem Seufzen nahm er das Gespräch an.

»Frau Dombrowski, guten Morgen. Geht’s Ihnen gut?«, fragte er, um einen fröhlichen Ton bemüht.

»Das müsste wohl eher ich Sie fragen«, erwiderte die Präsidentin, und Kluftinger entging nicht, dass ihre Stimme einen besorgten Klang angenommen hatte. »Wie schätzen Sie und die Kollegen die Lage ein?«

»Welche Lage?«, fragte er, obwohl er genau wusste, worauf sie anspielte.

»Herr Kluftinger, bitte, verkaufen Sie mich nicht für dumm.«

»Mei, also, ich glaub nach wie vor, dass das ein saudummer Streich war.«

»Ich muss Ihnen nicht sagen, dass Kriminalbeamte durch ihre Tätigkeit häufig Zielscheibe von Racheaktionen ehemaliger Delinquenten sind, oder? Leute, die das Gefühl haben, sie hätten noch eine Rechnung mit dem offen, der sie damals ihrer Tat überführt hat.«

»Ja, aber von meinen … dings, also, von meinen Klienten will mir keiner ans Leder. Das sind alles …«

»Was, Herr Kluftinger?«, fiel ihm die Dombrowski ins Wort. »Anständige Leute?«

Kluftinger entfuhr unweigerlich ein bitteres Lachen. »Ja, nein, das nicht direkt, aber ich mein halt …«

»Herr Kluftinger, Sie wissen bestimmt am besten, was zu tun ist. Sollte es irgendwelche Neuigkeiten geben, vergessen Sie bitte nicht, mich unverzüglich zu informieren. Versprochen?«

»Versprochen, Frau Dombrowski.«

Nach weiteren dreißig Minuten hatte er auch mit der Friedhofsverwaltung in Altusried gesprochen. Bei all dem Trubel, der vor Allerheiligen auf dem Gottesacker geherrscht habe, sei dort niemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Die Grabstätte, auf der das Kreuz gestanden hatte, sei vor einiger Zeit aufgelöst worden und würde nun, wie er ja schon von Günther Beierle wusste, neu belegt. Das Holzkreuz habe man zu den anderen gegeben, diese würden in unregelmäßigen Abständen entsorgt, außer die Angehörigen stellten sie im Wald der Sterbekreuze auf. Kluftinger wusste, was damit gemeint war: Ins Gschnaidt, einen kleinen Weiler etwas außerhalb, brachten einem alten Brauch folgend viele Altusrieder die provisorischen Holzkreuze ihrer Verstorbenen. Sie stellten sie dort im Wald auf und hatten damit zwei Gedenkstätten. Schon als Kind war er manchmal dorthin geradelt, um in der Wallfahrtskapelle eine Kerze für besondere Anliegen anzuzünden. Stets war er der morbiden Faszination erlegen, die von diesem Totenwäldchen ausging.

Als der Friedhofsverwalter dann jedoch auf die Beerdigung zu sprechen kam, während der Kluftinger einst bei einer Verfolgungsjagd im offenen Grab gelandet war, hatte der Kommissar das Gespräch schnell beendet.

Nun saß er am Schreibtisch und starrte durchs Fenster in den trüben Herbsttag. Der Friedhof in seinem Heimatort schien für ihn immer neue Überraschungen bereitzuhalten. Er ging zum Thermostat und drehte ihn ein wenig höher. War es wirklich nur ein harmloser Spaß gewesen, wie er nicht müde wurde, gegenüber allen zu betonen?

»Chef, ein Telefonat für Sie«, tönte seine Sekretärin durch den offenen Türspalt. »Darf ich durchstellen?«

Kluftinger legte die Stirn in Falten. »Wer ist es denn?«

»Ein Herr Rösler. Er sagt, Sie wüssten schon, worum es geht.«

Rösler? Diesen Namen verband der Kommissar zuallererst mit einem Mann, mit dem er bei einem seiner spektakulärsten Fälle zu tun gehabt hatte. Ein paar Jahre war das nun her. Damals war es um einen Kunstraub gegangen, und jener Heinz Rösler, ein ehemals legendärer Seriendieb, hatte ihm bei der Aufklärung geholfen. Aber er war damals schon sterbenskrank gewesen und inzwischen sicherlich tot. Der konnte es also nicht sein. Aber welcher Rösler wollte ihn sonst sprechen? »Ja, legen Sie es mir rein, danke, Fräulein Henske.«

Kluftinger nahm den Hörer und sagte seinen Namen, doch niemand meldete sich. Stattdessen war ein leises Röcheln zu vernehmen. »Hallo, ist da wer?«

Das seltsame Stöhnen wurde heftiger. Ein vager Verdacht keimte im Kommissar auf. »Richie, Roland, seid ihr das? Hört’s bloß mit dem Blödsinn auf, ihr Kindsköpf.«

Am anderen Ende der Leitung vernahm er nun ein rasselndes Husten. »Herr Kommissar?« Die Stimme war so leise, dass er kaum etwas verstehen konnte. »Hier ist Rösler.«

»Ja, aha. Kennen wir uns?«

»Heinz Rösler, können Sie sich denn nicht mehr an mich erinnern?«

Kluftinger war baff. »Herr Rösler? Sind Sie’s wirklich? Ich hab gedacht, Sie …« Er stockte.

»Sie haben gedacht, ich bin schon tot.«

Genau das, stimmte ihm Kluftinger im Geiste zu. Er zog die Brauen zusammen. Hatte ihm der Alte seinen schlechten Zustand damals nur vorgespielt, um der Strafverfolgung zu entgehen?

»Ja, da wundern sich alle, mich eingeschlossen, glauben Sie mir das, Herr Kommissar. Wie dem auch sei, ich komm grad zurück aus Spanien aus meinem Ferienhaus, und was les ich da über Sie?«

»Ihr Ferienhaus?« Kluftinger holte tief Luft, um seiner Wut Herr zu werden, da brach der Mann wieder in heftiges Husten aus. Oder war es ein Lachen?

»Nur ein Spaß«, sagte Rösler schwach, als er wieder bei Stimme war. »Hören Sie, ich muss mit Ihnen reden. Können Sie mich im Heim besuchen? Ich kann hier leider nicht mehr raus, beim besten Willen. Adresse kennen Sie ja.«

Auch wenn er keine Ahnung hatte, worum es in dem Gespräch gehen sollte, stimmte Kluftinger sofort zu. »Sicher kenn ich die noch, Herr Rösler. Ich komm vorbei. Bis später dann.«

Er wollte gerade aufbrechen, als erneut das Telefon klingelte. Der Friedhofsverwalter teilte ihm mit, dass das Kreuz nicht mehr auffindbar sei.

»Es ist weg?«

»Ja, weg.«

»Entsorgt?«

»Schwer zu sagen. Die anderen sind alle noch da.«

Kluftinger konnte nicht genau sagen, warum, aber dieser Umstand beunruhigte ihn nun doch ein wenig. Aber vielleicht hatte jemand es als bizarres Andenken an diesen skurrilen Vorfall mitgenommen, schließlich hatte die ganze Aktion für einigen Wirbel gesorgt. Dennoch wäre ihm wohler gewesen, er hätte das Ding selbst zersägen, im Ofen verbrennen und damit die ganze Sache für sich endgültig abschließen können.

Als er das gläserne Eingangsportal zu dem Altersheim betrat, in dem Heinz Rösler wohnte, fühlte sich der Kommissar in mehrfacher Hinsicht unwohl. Einerseits erinnerte ihn das alles äußerst unangenehm an den Fall, der ihn das letzte Mal hierhergeführt hatte. Er hatte den spektakulären Raub der Magnus-Monstranz zwar aufgeklärt, aber eben nicht richtig zu Ende gebracht, was ihn bis heute nicht losließ.

Zum anderen wurde er aufs Neue mit dem Thema Tod konfrontiert. Trotz der schlechten Luft, die im Korridor hing, atmete er noch einmal tief durch, bevor er an die Tür zu Röslers Zimmer klopfte. Als niemand antwortete, trat er einfach ein. Obwohl er auf einiges gefasst war, erschrak er beim Anblick des Mannes, der da im Bett lag. Sein Gesicht war grau und eingefallen, müde Augen sahen ihn aus tiefen Höhlen an, die wenigen Haare standen struppig vom Kopf ab. Diesmal brauchte Kluftinger keinen Arzt, um zu wissen, dass der Alte im Sterben lag.

Neben dem Bett stand der selbst gebaute Rollator, den Kluftinger sofort wiedererkannte, hatte er doch in seinem Fall damals eine nicht unerhebliche Rolle gespielt.

»Kein schöner Anblick, gell?«, keuchte es plötzlich vom Bett zu ihm herüber.

Kluftinger wurde bewusst, dass er den Mann ein bisschen zu lange angestarrt hatte.

»Setzen Sie sich doch.«

Der Kommissar nahm Platz. »Dank’schön, Herr Rösler.« Erst jetzt bemerkte er das rhythmische Klopfen der Maschine, die über einen Schlauch mit Röslers Nase verbunden war. »Allerdings … ich mein, Sie sehen ja gar nicht … also …«

»Schon gut«, krächzte der Alte und hob eine knochige Hand. »Es geht zu Ende mit mir, das ist in Ordnung. Ich hatte noch ein paar schöne letzte Jahre. Auch dank Ihnen. Aber jetzt muss ich Platz machen für die nächste Generation. So ist das halt.«

Kluftinger nickte langsam. Die Art, wie Rösler mit seinem nahen Ende umging, nötigte ihm Respekt ab. Der Mann hatte recht: So funktionierte das Leben. Das Alte geht, das Neue kommt. Trotzdem wusste er nicht, ob er einmal in vielen, vielen Jahren, respektive Jahrzehnten, wenn es bei ihm wirklich mal so weit war, die Größe besitzen würde, das ebenso hinzunehmen. Die direkte Art des Sterbenden ließ ihn darauf verzichten, die Sätze zu sagen, die ihm eigentlich auf der Zunge lagen: Ach, das wird schon wieder! Sie sind doch gut beieinander! Bloß nicht den Mut verlieren und dergleichen. Stattdessen kam er sofort zur Sache: »Sie haben mich sprechen wollen?«

»Ja. Ich muss bei Ihnen noch eine Schuld begleichen.« Rösler machte eine Pause. Kluftinger wusste nicht, ob er einfach zu Atem kommen musste oder erwartete, dass er widersprach. »Wie gesagt, ich hab in der Zeitung gelesen, was passiert ist.«

Der Kommissar wunderte sich: Der Alte konnte noch Zeitung lesen? In seinem Zustand?

»Mein ehemaliger Zimmergenosse liest mir immer daraus vor«, präzisierte sein Gegenüber. Kluftinger schnaufte. Rösler schien in ihm zu lesen wie in einem offenen Buch.

»Jetzt haben sie mich zum Sterben in ein Einzelzimmer gelegt. Ist besser für ihn. Jedenfalls: Der Albert ist wieder da.«

»Albert? Ist das Ihr ehemaliger Mitbewohner?«

»Unsinn. Der Schutzpatron, wenn Ihnen das besser gefällt.«

Kluftinger sog scharf die Luft ein. Albert Mang, genannt der Schutzpatron. Ein Meisterdieb aus dem Allgäu, sagten manche voller Bewunderung. Ein Schwerverbrecher, der endlich hinter Gitter gehörte, fand Kluftinger. Dass er noch immer auf freiem Fuß war, nagte am Kommissar, schließlich war er einer Festnahme schon einmal sehr nahe gekommen.

Die Tür ging auf, und eine Frau in hellblauer Pflegerinnen-Uniform kam herein. Als sie den Kommissar sah, seufzte sie: »Schon wieder Besuch? Na, Sie sind ja ganz schön beliebt, Herr Rösler.« Sie musterte Kluftinger mit hochgezogenen Brauen. »Immerhin scheinen Sie mir etwas solider als die anderen, die schon da waren. Ich komm in ’ner halben Stunde noch mal, Herr Rösler, ja?« Mit diesen Worten schloss sie die Tür hinter sich.

Fragend blickte der Kommissar den Alten an. Der verzog zum ersten Mal die Lippen zu einem Lächeln: »Ja, es waren einige Kollegen da. Sie hätten sich nur am Eingang postieren müssen, dann hätten Sie ein paar verlorene Schäfchen einsammeln können.«

Kluftinger lachte lauthals, doch Rösler verzog keine Miene. »Meinen Sie das etwa ernst? Also, waren hier wirklich …?«

»Alles, was in meiner zweifelhaften Branche Rang und Namen hat. Aber halten wir uns nicht mit solchen Dingen auf, meine Zeit ist knapp.« Röslers Stimme war nun kaum mehr als ein Hauchen.

Der Kommissar nickte und ließ den Alten erzählen.

»Der Albert ist in der Nähe, das weiß ich. Und einige meiner Besucher haben mir berichtet, dass er noch immer einen Groll gegen Sie hegt. Würde mich nicht wundern, wenn er hinter der ganzen Sache steckt. Der tät sich freuen, wenn er Sie los wäre. Sie haben ihm damals nicht nur die Tour vermasselt, Sie haben auch seine makellose Bilanz zerstört. Der einzige Coup, der ihm nicht gelungen ist. Hat seinen Marktwert rapide sinken lassen.« Rösler brach ab und stimmte ein kraftloses Husten an, das sich immer weiter steigerte. Kluftinger bekam Panik, stand schnell auf und drückte den Notrufknopf. Bevor aber jemand kam, hatte sich Rösler wieder erholt.

»Entschuldigung.«

»Das klang aber gar nicht gut.«

»Und das war noch einer von den harmlosen Anfällen. Vielleicht sollten wir doch besser ein andermal weiterreden.«

»Ja, sicher, ich will Sie nicht zu sehr anstrengen. Aber wie kommen Sie darauf, dass der Schutz …, also ich mein, der Mang, dass der was mit dieser depperten Kreuzsache vom Friedhof zu tun hat? Bloß weil er mich nicht mag? Das gilt für so ziemlich alle, gegen die ich ermittelt hab.«

Rösler blickte den Kommissar aus trüben Augen an. »Weil er was vorhat mit Ihnen. Das hab ich gehört.«

»Von Ihrem Besuch?«

»Was gibt es?« Die Pflegerin von vorhin stand keuchend in der Tür.

»Der Herr Rösler hat grad so einen Anfall gehabt«, erklärte Kluftinger, »aber jetzt geht’s ihm schon wieder besser.«

»Sind Sie Arzt?«

»Ich? Na, um Gottes willen, ich bin …«

»Dann stellen Sie doch bitte keine Diagnosen, wem es hier wie geht«, blaffte die Frau und stellte sich neben das Bett. »Herr Rösler, Sie sind ja ganz verschwitzt. Nein, Schluss jetzt, der Mann braucht Ruhe. Bitte, gehen Sie.«

»Jaja, wollt ich eh grad«, erklärte Kluftinger schuldbewusst. Doch im Türrahmen drehte er sich noch einmal um. »Woher wissen Sie eigentlich, dass der Mang in der Nähe ist?«

Die Pflegerin stemmte empört die Hände in die Hüften, aber Rösler antwortete: »Sie können doch Fälle und Tatorte so gut lesen, sagt man. Schauen Sie sich die Kochel-Geschichte mal genauer an.«

»Welche Kochel-Geschichte?« Der Kommissar hatte keine Ahnung, was der Alte meinte.

»Museum«, hörte er ihn noch stöhnen.

»Was genau …?«

»Sie gehen jetzt, oder ich lasse Sie rauswerfen«, unterbrach ihn die Frau und schob den Kommissar aus dem Zimmer.

Bevor er in den Wagen stieg, hielt Kluftinger bewusst inne und sog die frische, kühle Luft ein. Er fühlte, wie dadurch die Beklommenheit von ihm wich, die er im Inneren des Altenheims verspürt hatte. Der Kommissar dachte über das nach, was Rösler ihm noch mit auf den Weg gegeben hatte, bevor er von der Pflegerin so unsanft aus dem Zimmer bugsiert worden war: Von der »Kochel-Geschichte« hatte er gesprochen, und Kluftinger dämmerte nun, was er meinte. Er hatte den Fall nur am Rande verfolgt, aber mitbekommen, dass vor ein paar Wochen im oberbayerischen Kochel am See ein Kunstraub auf ein kleines Museum verübt worden war. Irgendein kostbares Bild war gestohlen worden. Den Namen des Künstlers hatte er sogar schon einmal gehört, auch wenn er ihm gerade nicht einfiel. Eigentlich etwas, das genau ins Beuteschema des Schutzpatrons passte. Er beschloss, sich gleich am nächsten Morgen genauer über den Fall zu informieren.

Eben hatte er den Motor gestartet, als es in seiner Hosentasche heftig zu vibrieren begann. Er zog sein Telefon im Sitzen heraus, wobei er die Füße gegen das Bodenblech stemmen und sich strecken musste, was ihn derart anstrengte, dass die Scheiben beschlugen. Ein Blick aufs Handy verriet ihm, dass seine Frau anrief.

»Ja, Erika? Was gibt’s?«

»Was es gibt? Das Butzele ist da.«

»Wer?« Kluftinger stutzte. Butzele war Erikas Spitzname für ihn.

»Dein Enkelkind.«

»Ach so, ich hab schon gedacht, weil ich doch, also, das Butzele bin.«

»Du? Du bist doch jetzt der Opa.«

Kluftinger rollte die Augen. Auch das noch.

»Wo bist denn so lange? Hast doch versprochen, dass du es heut mal früher schaffst.«

»Ich fahr jetzt gleich los.«

»Aber schick dich, die Kinder müssen weg, die können auch nicht immer auf den Opa warten.«

»Jaja, bis nachher. Oma.«

»Übrigens, da hat grad einer nach deiner Handynummer gefragt.«

»Und?«

»Ich hab sie ihm gegeben.«

»Aha. Wer war es denn?«

»Also der hat so gebrummelt, hab den Namen nicht verstanden.«

»Und was wollte der?«

»Deine Nummer halt. Bloß dass du es weißt, falls er dich anruft.«

»Aha, danke, wenn mich ein unbekannter Brummler anruft, weiß ich, dass er vorher meine Nummer wollte.«

»Du, grantel dich bitt’schön aus, bis du da bist, ja?« Seufzend legte seine Frau auf.

Tatsächlich klingelte Kluftingers Handy, kurz nachdem er den Passat vor seinem Haus abgestellt hatte. Eine Altusrieder Nummer, die ihm jedoch nichts sagte.

»Ja?«

»Hier wär der Helmut.«

Kluftinger runzelte die Stirn.

»Hallo?«

»Ja?«

»Hier ist der Strehler Helmut. Bist du noch dran?«

Auch beim Familiennamen klingelte noch nichts beim Kommissar.

»Servus, Helmut«, sagte er zögerlich, »was … kann ich für dich tun?«

»Du hast keine Ahnung, wer ich bin, oder?«

»Ja, doch schon, also … der Helmut halt …«

»Der Wirt vom Gschnaidt. Wir waren zusammen in der Grundschule, und später warst du ab und zu auf einen Wurstsalat bei uns oben. Schon lang nimmer, wenn ich’s genau bedenke. Egal, wirst dich nimmer erinnern.«

»Schmarrn, klar erinner ich mich. Ich bin bloß auf der Leitung gestanden.« Das stimmte, und auf Kluftingers Wunschliste für einen Sonntagsausflug stand Strehlers Wirtschaft mit dem womöglich besten Wurstsalat der Gegend ziemlich weit oben.

»Egal, jedenfalls hab ich das mitgekriegt, mit dem Grab und so. Jetzt schau ich ja von meiner Küche aus auf den Wald mit den Kreuzen, und wenn mich nicht alles täuscht, ist da vorhin jemand mit einem Holzkreuz, auf dem dein Name stand, direkt vor meinem Fenster vorbeigeschlappt.«

Kluftinger hatte das Gefühl, als packe ihn eine kalte Hand im Nacken. »Himmelarschzefix«, hauchte er.

»Hab ich mir doch gedacht, dass dich das interessieren könnt.«

»Was denkst du denn? Gut, dass du mich angerufen hast. Ich komm sofort rauf zu dir. Halt den Mann fest, bis ich da bin, ich brauch zehn Minuten.«

»So weit käm’s noch! Ich hab nachher einen ganzen Kirchenchor zum Kässpatzenessen da. Musst dich schon selber drum kümmern, habe die Ehre.«

»Herrschaft, dann pass wenigstens auf, was passiert, und meld dich, wenn sich was tut. Oder schreib das Kennzeichen von dem Typen auf oder so.«

»Weiß doch gar nicht, ob es ein Typ war, kann genauso gut eine Frau gewesen sein.«

»Bis gleich dann, Helmut, und dank’schön schon mal.« Der Kommissar steckte sein Telefon weg und wollte wieder einsteigen, als aus seinem Haus Geräusche erklangen, die ihn innehalten ließen: Aus dem offenen Badfenster hörte er das vertraute Glucksen seines Enkelkindes und hin und wieder ein freudiges Kichern seiner Frau. Ob er das vermaledeite Kreuz nicht einfach vergessen sollte? Mit einem Kopfschütteln setzte er sich schweren Herzens wieder hinters Steuer und fuhr los.

3

Als er das Gschnaidt erreicht hatte, jenen sonderbaren, winzigen Wallfahrtsort in den Hügeln über seinem Heimatdorf, der aus der Gastwirtschaft und zwei Kapellen bestand, war es fast völlig dunkel. Immer wieder traf das Scheinwerferlicht seines Wagens auf milchige Nebelschwaden, die aus dem Wald aufstiegen. Kluftinger fuhr auf den Gasthof zu, der passenderweise den Namen »Zum Kreuz« trug, stoppte das Auto direkt neben dem Wirt, der rauchend vor der offenen Tür stand, und kurbelte die Scheibe herunter. »Servus, Helmut. Ruhe vor dem Sturm, hm?«

»Ja, der Kirchenchor Lenzfried kommt zum alljährlichen Kässpatzenessen. Ganz angenehme Gäste, bloß wenn sie anfangen zu singen …« Er verdrehte die Augen. »Aber danach müssen die ihre Stimmen ölen, da geht noch mal richtig was, sag ich dir.«

»Verstehe. Du, wegen dem Kreuz …«

»Ja, schau einfach hinter. Die Kapellen müssten noch offen sein.«

»Magst vielleicht mit?«, fragte der Kommissar zaghaft. Ihm wäre es deutlich lieber gewesen, nicht allein in den schon tagsüber unheimlichen Wald der Sterbekreuze zu müssen.

»Sicher nicht. Ist am End noch gefährlich.«

Kluftinger nickte. Vielleicht war es das wirklich. Seufzend kurbelte er die Seitenscheibe wieder hoch und bog in die Allee ein, die zu den beiden kleinen Kirchen führte. Hin und wieder segelte im Lichtkegel seiner Scheinwerfer eines der mächtigen Kastanienblätter zu Boden, die auch die Straße bedeckten. Er hielt an und machte den Motor aus. Schlagartig war kein Laut mehr zu vernehmen. Mit einem mulmigen Gefühl kramte er im Handschuhfach vergebens nach einer Taschenlampe und stieg schließlich mit einem »Zefix!« aus. Nachdem die Autotür satt ins Schloss gefallen war, war es zwar immer noch still, jetzt aber hörte er die Geräusche des Waldes, was das Ganze nicht weniger unbehaglich machte: hier ein Tropfen des Nieselregens, der von den Blättern fiel, da und dort ein undefinierbares Rascheln oder Knacken. Die Fenster der größeren Kapelle flackerten im Schein der Opferkerzen, die hier in großer Zahl von Gläubigen entzündet wurden, um ihren Gebeten mehr Gewicht zu verleihen.

Kluftinger fröstelte, er atmete schwer. Als er auf den Waldrand zuschritt, sah er sich immer wieder um, denn außer ihm war ja noch mindestens eine Person hier oben. Ob der Unbekannte auf ihn wartete? War er schnurstracks in eine ihm gestellte Falle gelaufen? Auch wenn er sich zunächst anders entschieden hatte: Er ging nun doch noch einmal zurück zum Passat und holte seine Waffe. Erika hatte ihn eindringlich gebeten, sie nicht wie sonst in der Direktion zu lassen, und auch die Kollegen hatten ihm dazu geraten.

Er steckte sich die Pistole in den Hosenbund. Der Druck der Waffe verlieh ihm etwas Sicherheit, und er ging zielstrebig auf den Eingang zum Wald der Sterbekreuze zu. Seine Augen hatten sich an die Dämmerung gewöhnt und konnten mittlerweile recht gut die einzelnen Bäume als Schatten vor dem trüben Himmel ausmachen. Jetzt hatte er den Waldrand erreicht und bemerkte die Grablichter, die hier zwischen Tausenden von alten Holzkreuzen brannten. Der feuchte Waldboden verströmte den modrigen Geruch von Tod und Verwesung. Oder bildete er sich das nur ein? Er nahm noch einen anderen Geruch wahr, einen, der ihn an Seniorenheime und die alten Menschen aus seiner Kindheit erinnerte, eine Mischung aus Kölnisch Wasser und Mottenkugeln. Er schüttelte den Kopf über sein Unterbewusstsein, das wieder einmal dabei war, seinem Verstand Streiche zu spielen.

Hier ist bestimmt niemand mehr, sagte er zu sich selbst und hoffte, seine rationale Seite könne damit wieder die Oberhand gewinnen. Alles war still, kein … er erstarrte. Dort, tiefer im Wald, hatte gerade etwas geknackt.

Nur ein Reh oder ein Eichhörnchen, versuchte Kluftinger die Panik niederzuringen, doch sein Herz pochte bis zum Hals. Er bewegte sich keinen Millimeter weiter, hielt die Luft an, um ganz genau hören zu können. Da! Wieder klang es, als würde dort, links vor ihm, ein Zweig zertreten. Je mehr er lauschte, desto klarer konnte er nun aus den einzelnen leisen Geräuschen den Klang von Schritten heraushören. Langsame, schleppende Schritte – die näher kamen.

Er legte die Hand an seine Waffe.