Knabenalter - Lew Tolstoi - E-Book

Knabenalter E-Book

Lew Tolstoi

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Beschreibung

Die Selbstbiografie ›Knabenalter› erzählt, geschrieben in der Ich-Perspektive, die Kindheit und Jugendzeit des Nikolai Petrowitsch Irtenjew, eines Jungen aus einer russischen Adelsfamilie. Der Schriftsteller Tolstoi verbindet darin autobiografische und fiktive Erzählungen. ›Knabenalter‹ ist Teil der ›Kindheit, Knabenjahre, Jünglingsjahre‹; Hermann Hesse nannte sie "eine der schönsten Dichtungen Tolstois und eine der schönsten, liebenswertesten russischen Dichtungen überhaupt."

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LUNATA

Knabenalter

Lew Tolstoi

Knabenalter

© 1884 Lew Tolstoi

Originaltitel Otročestvo

Aus dem Russischen von Hanny Brentano

Umschlagbild: Wallerand Vaillant

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Wagenfahrt

Das Gewitter

Neue Anschauungen

In Moskau

Mein älterer Bruder

Schrot

Karl Iwanowitschs Geschichte

Fortsetzung des Vorhergehenden

Fortsetzung

Die Eins

Das Schlüsselchen

Die Verräterin

Verblendung

Phantasien

Kommt Zeit, kommt Rat

Haß

Wolodja

Papa

Großmama

Ich

Wolodjas Freunde

Betrachtungen

Anfang der Freundschaft

Wagenfahrt

Wieder stehen zwei Wagen vor der Freitreppe des Herrenhauses von Petrowskoje: eine Kutsche, in welcher Mimi, Katjenka, Ljubotschka und ein Stubenmädchen Platz nehmen, während der Verwalter Jakob in eigener Person auf dem Bock sitzt, und ein offener Wagen, in dem Wolodja und ich und der kürzlich in Dienst genommene Lakai Wassilij fahren.

Papa, der einige Tage nach uns in Moskau eintreffen will, steht ohne Kopfbedeckung auf den Treppenstufen und schlägt ein Kreuz über das Fenster der Kutsche und den Wagen.

»Nun, Gott mit euch! vorwärts!«

Jakob und die Kutscher (wir fahren mit eigenen Pferden) nehmen die Mützen ab und bekreuzigen sich. »Hü! hü! mit Gott!« Kutsche und Wagen holpern über den unebenen Weg, und die Birken der großen Allee gleiten eine nach der andern an mir vorüber. Mir ist gar nicht traurig zumute: mein Sinn ist nicht auf das gerichtet, was ich verlasse, sondern auf das, was mich erwartet. In dem Maße der Entfernung von den Gegenständen, die mit den trüben Erinnerungen verbunden sind, welche bisher meine Einbildungskraft beschäftigten, verlieren diese Erinnerungen an Stärke, und an ihre Stelle tritt schnell das beseligende Bewusstsein eines Lebens voller Kraft, Frische und Hoffnung.

Selten habe ich einige Tage so – ich will nicht sagen lustig, denn ich schämte mich noch gewissermaßen, mich der Lustigkeit hinzugeben, – aber so angenehm, so gut verlebt wie die vier Tage unserer Reise. Vor meinen Augen stand weder die geschlossene Tür zu Mamas Zimmer, an der ich nicht ohne schmerzliches Zusammenzucken vorbeigehen konnte, noch das geschlossene Klavier, welches man nicht nur nicht öffnete, sondern das man sogar mit einer gewissen Scheu ansah, noch die Trauergewänder (wir alle hatten einfache Reisekleider angelegt), noch all jene Dinge, welche mir den unersetzlichen Verlust lebhaft in Erinnerung brachten und mich zwangen, jedes Hervorbrechen der Lebensfreude zu unterdrücken, aus Furcht, ihr Andenken zu beleidigen. Hier aber gibt's immer neue malerische Gegenden und Dinge, die meine Aufmerksamkeit fesseln und ablenken, und die in Frühlingsherrlichkeit prangende Natur flößt der Seele frohe Gefühle der Zufriedenheit mit der Gegenwart und der leuchtenden Hoffnung auf die Zukunft ein.

Ganz, ganz früh morgens zieht der unbarmherzige und wie alle Dienstboten in neuer Stellung übereifrige Wassilij die Bettdecke weg und versichert, es sei Zeit aufzubrechen, und alles sei schon bereit. Wie man sich auch weigert, wie man sich ärgert, wie schlau man's auch anstellt, um den süßen Morgenschlummer wenigstens um ein Viertelstündchen zu verlängern, – man merkt's dem entschlossenen Gesichte Wassilijs an, daß er sich nicht erweichen läßt und bereit ist, die Decke noch zwanzigmal fortzuziehen; da springt man auf und läuft in den Hof, um sich zu waschen.

Im Flur dampft bereits der Samowar, in dessen Zugrohr Mitjka, der Vorreiter, mit krebsrotem Gesichte hineinbläst. Im Hof ist's feucht und nebelig, und vom duftenden Dünger steigt's wie Dampf auf; die Sonne erhellt mit frohem, strahlendem Licht die östliche Hälfte des Himmels und die tauglänzenden Strohdächer der geräumigen Schuppen, die den Hof umgeben. Unter ihnen sieht man unsere Pferde, die an die Krippen gebunden sind, und hört ihr gleichmäßiges Kauen. Ein zottiges Hündchen, das vor dem Morgendämmern auf einem trockenen Düngerhaufen geschlafen hat, reckt sich träge und läuft dann schweifwedelnd in kurzem Trab auf die andere Seite des Hofes. Die geschäftige Hausfrau macht das knarrende Tor auf und treibt die nachdenklichen Kühe auf die Straße, wo bereits das Getrampel, das Brüllen und Blöken der Herde hörbar wird, und wechselt ein Wörtchen mit der verschlafenen Nachbarin. Philipp zieht mit aufgestreiften Hemdärmeln den Eimer am Rad aus dem tiefen Brunnen, plätschert in dem klaren Wasser und gießt es in die Krippe aus Eichenholz, neben der die erwachten Enten bereits in der Pfütze baden; ich blicke mit Vergnügen auf Philipps ernstes, von großem Vollbart umrahmtes Gesicht und auf die starken Adern und Muskeln, die auf seinen nackten, sehnigen Armen scharf hervortreten, wenn er eine kräftige Bewegung macht.

Hinter der Zwischenwand, hinter der Mimi und die Mädchen geschlafen haben und durch die wir am Abend ein Gespräch geführt haben, rührt es sich. Mascha läuft mit allerhand Gegenständen, die sie mit ihrem Kleide vor unserer Neugier zu schützen sucht, immer öfter an uns vorüber; endlich wird die Tür geöffnet, und wir werden zum Tee gebeten.

Wassilij kommt in einem Anfall überflüssigen Eifers immer wieder ins Zimmer gelaufen, trägt bald das, bald jenes hinaus, zwinkert uns zu und bittet Maria Iwanowna, sobald als möglich aufzubrechen. Die Pferde sind angespannt und äußern ihre Ungeduld, indem sie von Zeit zu Zeit mit den Schellen klirren; die Koffer und Kisten, die Schachteln und Schächtelchen werden wieder aufgeladen, und wir nehmen unsere Plätze ein. Aber jedesmal finden wir im Wagen statt eines Sitzes einen Berg, so daß wir gar nicht begreifen, wie das alles gestern geordnet gewesen, und wie wir heute sitzen sollen. Ganz besonders erregt eine Teebüchse mit dreieckigem Deckel, die man uns in den Wagen reicht und unter meinen Sitz stellt, meinen größten Unwillen. Aber Wassilij behauptet, der Berg werde sich schon zusammendrücken lassen, und ich muß ihm glauben.

Die Sonne ist eben erst hinter einer dicken, weißen Wolke, die den östlichen Horizont bedeckt, heraufgekommen, und die ganze Gegend erglänzt in ruhig freudigem Lichte. Alles rundumher ist so schön, und mir ist so leicht und ruhig zumute. Die Straße windet sich vor uns wie ein breites, flatterndes Band zwischen vertrockneten Stoppelfeldern und tauglänzendem Grün; hier und da steht am Wegrande eine düstere Weide oder eine junge Birke mit kleinen, klebrigen Blättern, die einen langen, unbeweglichen Schatten auf die trockenen, lehmigen Radspuren und das niedrige, grüne Gras des Weges wirft. Das einförmige Geräusch der Räder und der Schellen vermag das Getriller der Lerchen, die grade über der Straße in die Luft steigen, nicht zu übertönen. Der Geruch von mottenzerfressenem Tuch, von Staub und irgend einer Säure, durch den sich unser Wagen auszeichnet, wird vom Morgenduft verdrängt, und ich fühle im Herzen eine wonnige Unruhe und den Wunsch, irgend etwas zu tun, – das Kennzeichen des echten Genusses.

Ich bin in der Nachtherberge nicht dazu gekommen, zu beten; da ich jedoch schon mehr als einmal bemerkt habe, daß an dem Tage, an dem ich aus irgend welchem Grunde vergesse, das zu tun, mir irgend ein Unglück widerfährt, bemühe ich mich, das Versäumte nachzuholen: ich nehme die Mütze ab, wende mich nach der Ecke des Wagens, sage meine Gebete her und bekreuzige mich unter meiner Jacke so, daß es niemand bemerkt. Aber tausenderlei verschiedene Dinge lenken meine Aufmerksamkeit ab, und ich wiederhole in der Zerstreutheit mehrmals hintereinander dieselben Gebetsworte.

Jetzt werden auf dem Fußpfade, der sich die Fahrstraße entlang schlängelt, langsam schreitende Gestalten sichtbar: es sind Wallfahrerinnen. Ihre Köpfe sind in schmutzige Tücher gehüllt, ihre Füße in schmutzige, zerrissene Fetzen gewickelt und mit schweren Bastschuhen bekleidet; auf dem Rücken tragen sie Ranzen aus Birkenrinde. Gleichmäßig greifen sie mit den Wanderstäben aus und schreiten, kaum einen Blick auf uns werfend, langsamen, schweren Schrittes eine hinter der andern dahin, und mich beschäftigen die Fragen: Wohin und aus welchem Grunde pilgern sie? Werden sie lange unterwegs sein? Und werden die langen Schatten, welche sie auf den Weg werfen, sich bald mit dem Schatten der Weide vereinen, an der sie vorübergehen müssen? – Jetzt kommt uns ein vierspänniger Postwagen schnell entgegengefahren. Zwei Sekunden – und die Gesichter, die auf kaum zwei Ellen Entfernung mit freundlicher Neugier zu uns herübergeschaut, sind schon vorbeigeglitten, und mir erscheint's gradezu sonderbar, daß diese Menschen nichts Gemeinsames mit mir haben und daß ich sie vielleicht nie mehr wiedersehen werde.

Seitwärts vom Wege rennen zwei schweißbedeckte, zottige Pferde im Kummet, den Zugriemen hinter den Rückenriemen geschlungen; hinterdrein reitet – die langen Beine in den großen Stiefeln zu beiden Seiten des Pferdes hängen lassend – ein junger Fuhrknecht; auf dem Nacken des Gaules sitzt ein Krummholz, an dem bisweilen ein Glöckchen erklingt. Der Bursche hat die Lammfellmütze schief auf ein Ohr gedrückt und singt ein Lied von schwermütiger Melodie. Sein Gesicht und seine Haltung drücken eine solch träge, sorglose Zufriedenheit aus, daß es mir als das höchste Glück erscheint, Fuhrknecht zu sein, mit Retourpferden heimzureiten und melancholische Lieder zu singen.

Dort in der Ferne hinter der Schlucht hebt sich vom hellblauen Himmel eine Dorfkirche mit grünem Dache ab; und dort ist auch das Dorf selbst, das rote Dach des Herrenhauses und ein grüner Garten. Wer mag in diesem Hause wohnen? Gibt es darin Kinder, einen Vater, eine Mutter, einen Hauslehrer? Warum sollten wir nicht in diesem Hause einkehren und seine Bewohner kennen lernen? – Jetzt sehen wir vor uns einen langen Zug hochbepackter Lastwagen, vor welche je ein Dreigespann wohlgenährter, starkfüßiger Pferde gespannt ist und die wir seitwärts umfahren müssen. »Was führt ihr?« fragte Wassilij den ersten Fuhrmann, der – mit den riesigen Füßen baumelnd und die Peitsche schwenkend – uns lange mit ausdruckslosem Blicke nachstarrt und erst dann antwortet, als wir ihn nicht mehr hören können. »Mit welcher Ware?« wendet Wassilij sich an den nächsten, der auf dem abgesonderten Vorderteile seiner Fuhre unter einer neuen Bastmatte liegt. Der blonde Kopf mit dem roten Gesicht und dem rötlichen Bärtchen taucht für einen Augenblick unter der Matte hervor, läßt die gleichgültig verächtlichen Augen über unsern Wagen schweifen und verschwindet wieder – und mir kommt der Gedanke, daß diese Fuhrknechte sicherlich gar nicht wissen, wer wir sind und woher und wohin wir reisen.

Anderthalb Stunden etwa vertiefe ich mich in die verschiedenartigsten Betrachtungen und achte nicht auf die schiefen Zahlen auf den Werstpfählen. Nun aber brennt mir die Sonne heiß auf Kopf und Rücken, die Straße wird staubiger, der dreieckige Deckel der Teebüchse macht sich sehr fühlbar, ich ändere einige Mal meine Stellung: mir wird heiß, unbehaglich und langweilig. Meine ganze Aufmerksamkeit wendet sich den Werstpfählen und den auf ihnen vermerkten Zahlen zu; ist stelle verschiedene mathematische Berechnungen an über die Zeit, in welcher wir die Poststation erreichen können. »Zwölf Werst sind ein Drittel von sechsunddreißig, und bis zum Dorfe Lipzy sind's einundvierzig, folglich haben wir jetzt zurückgelegt ein Drittel und –?« und so weiter.

»Wassilij«, rufe ich, als ich bemerke, daß er auf dem Bock zu schlummern beginnt, »laß mich auf den Bock, mein Täubchen!«

Er geht darauf ein. Wir tauschen die Plätze; er fängt sofort zu schnarchen an und streckt sich so lang aus, daß niemand mehr im Wagen Platz hat; mir aber bietet sich von der Höhe, die ich nun einnehme, der angenehmste Anblick: unsere vier Pferde, Nerutschinskaja, Djatschok, das Deichselpferd Ljewaja und Apotheker, die ich bis in die geringsten Besonderheiten und feinsten Schattierungen ihrer Eigenart kenne.

»Warum ist Djatschok heute rechtes und nicht linkes Seitenpferd, Philipp?« frage ich etwas schüchtern.

»Djatschok?«

»Und Nerutschinskaja zieht gar nicht«, fahre ich fort.

»Djatschok darf nicht links eingespannt werden«, sagt Philipp, ohne meine letzte Bemerkung zu beachten; »das ist kein Pferd, das man links einspannen könnte. Links muß ein Pferd sein, das – na mit einem Wort ein Pferd; dies aber ist kein solches Pferd!«

Und bei diesen Worten neigt Philipp sich nach rechts und haut, die Zügel aus aller Kraft anziehend, den armen Djatschok immer wieder über den Schweif und über die Beine, so auf eine besondere Art, von unten herauf; ungeachtet dessen, daß Djatschok sich aufs äußerste anstrengt und den ganzen Wagen umzuwerfen droht, stellt Philipp dies Manöver erst ein, als er das Bedürfnis fühlt, sich zu erholen und seine Mütze aus unerfindlichen Gründen auf die Seite zu rücken, obgleich sie bisher sehr gut und fest auf seinem Kopfe saß. Ich benütze den günstigen Augenblick und bitte Philipp, mich ein wenig »kutschieren« zu lassen. Philipp gibt mir erst die eine Leine, dann die zweite; endlich habe ich alle sechs Zügel und die Peitsche in der Hand und fühle mich vollkommen glücklich. Ich bemühe mich, Philipp in jeder Hinsicht nachzuahmen, und frage ihn immer wieder, ob es so recht sei; gewöhnlich aber endet es damit, daß er mit mir nicht zufrieden ist: er behauptet, das eine Pferd ziehe zu viel, das andere gar nicht; schließlich nimmt er mir die Zügel wieder fort. – Die Hitze nimmt zu. Die Lämmerwölkchen blähen sich auf wie Seifenblasen, steigen höher und höher, vereinigen sich und nehmen eine dunkelgraue Färbung an. Aus dem Fenster der Kutsche streckt sich eine Hand mit einer Flasche und einem kleinen Bündel; Wassilij springt mit erstaunlicher Gewandtheit während der Fahrt vom Bock und bringt uns Käsekuchen und Kwas.

An steilen Abhängen verlassen wir alle unsere Wagen und laufen manchmal um die Wette bis zur Brücke, während Wassilij und Jakob die Bremse anziehen und von beiden Seiten die Kutsche mit den Händen stützen, als wenn sie imstande wären, sie zu halten, wenn sie umfallen würde. Dann steige ich oder Wolodja mit Mimis Erlaubnis in die Kutsche, während Ljubotschka oder Katjenka im offenen Wagen Platz nehmen. Diese Übersiedelungen bereiten den Mädchen großes Vergnügen, denn sie finden mit Recht, daß es in unserm Wagen bedeutend lustiger ist. Zuweilen, wenn es allzu heiß wird, bleiben wir bei der Fahrt durch ein Wäldchen hinter der Kutsche zurück, brechen grüne Zweige von den Bäumen und bauen im Wagen eine Laube. Die fahrende Laube eilt dann in vollem Galopp der Kutsche nach, und Ljubotschka quietscht dabei mit der gellendsten Stimme, was sie nie unterläßt, wenn ihr etwas großes Vergnügen bereitet.

Nun ist das Dorf erreicht, in dem wir Mittag essen und ausruhen sollen. Es riecht auch schon »nach Dorf«: nach Rauch, Teer und Baranken1