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Beim Ruderclub dümpelt eine Frauenleiche. Ihr Tod gibt Rätsel auf. Guzzo vom LKA und sein schwerfälliger Assistent Krämer verrichten polizeiliche Routinearbeit. Die Spuren führen ins Drogenmilieu. Gleichzeitig erleben zwei Völklinger Großmütter ihr blaues Wunder. Was sie als Geschmackszusatz für Marzipan aufgegabelt haben, verschafft den beiden Ladies einen coolen Trip. Das Teufelszeug stammt von Oma Fines Enkelsohn Michael. Er ist der Schlüssel zu dem Fall. Und die Omas mischen darin kräftig mit... In ihrem Krimidebut lässt es die schwedische Saarländerin JuttaStina Strauss richtig krachen. Knallkomische Großmütter, fiese Dealer, fertige Junkies und genervte Bullen mischen die saarländische Verbrechensszene auf. Als käme Mankell an die Saar! Diese Mischung aus hartem Krimistoff, schrägen Gestalten und ironischer Saarlandveräppelung sollten Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.
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Seitenzahl: 525
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I
Wie oft hatte sie sich schon vorgestellt, ihm solange eine seiner dreckigen Unterhosen aufs Gesicht zu drücken, bis er aufhörte zu atmen. Vielleicht hätte sie ihn nur damit betäubt, bis ihr eine andere, schmerzhaftere Methode eingefallen wäre. Normalerweise verströmte seine Unterwäsche einen derart widerlichen Gestank, dass einem noch durch zwei Türfüllungen hindurch schlecht wurde. Aber wahrscheinlich war er selbst immun gegen seine penetranten Duftmarken.
Stattdessen stopfte sie seine elenden Klamotten alle zwei Wochen, meistens dienstags, in die Waschmaschine. Träumte, dass er plötzlich zwischen seinen Unterhemden und Slips auftauchen, mit ihnen herumwirbeln würde – das Gesicht entsetzlich verzerrt gegen die Scheibe gepresst. Starrte stundenlang in die sich drehende Trommel. Als hoffe sie – welch wunderbare Fügung – dass mit seinen löchrigen T-Shirts auch er selbst eingelaufen sein könnte. Auf handliche Größe geschrumpft. Damit sie ihn ganz einfach in den Mülleimer entsorgen könnte.
»Wenn es so schrecklich heiß ist, hat man doch gar keine Lust zu backen oder zu stricken. Ich finde, da muss es draußen schon richtig regnen und stürmen. Rumwursteln ist doch mehr was für den Herbst. Oder was meinst du, Cäcilia?« Josefine Reuther verlieh einem kleinen, giftgrünen Kohlkopf mit einem Schnitzmesser den letzten Schliff. Sie glättete gekonnt die Spitze eines Blattes, drehte den Kohlkopf nach allen Seiten. Zufrieden lächelnd bettete sie das feingeäderte Machwerk schließlich in ein ziseliertes, weißes Papierförmchen, auf dem in schwungvollen Lettern Viréns stand.
»Mhm«, stimmte Cäcilia beiläufig zu. Wie hätte sie ihrer Freundin auch erklären sollen, dass diese Tätigkeiten für sie völlig witterungsunabhängig waren? Stricken? Backen? Tunlichst hatte sie es vermieden, sich überhaupt in derartige Niederungen zu begeben. Für diese Arbeiten hatte man Angestellte – vorausgesetzt natürlich, man konnte sie sich leisten.
»Aber«, begann sie deshalb unvermittelt, »wie gerne habe ich in der Fensternische gesessen und unserer Köchin dabei zugesehen, wie sie die schönsten Küchlein und Torten für uns zubereitet hat. Das hat mir sehr gefallen.«
»Zugucken ist nicht dasselbe wie machen«, entgegnete Josefine ungerührt.
»Du musst es ja wissen. Aber immerhin könnte ich, wenn ich wollte.«
»Ich wusste, dass es ein Problem dabei gibt.«
Ob dieses unsachgemäßen Kommentars zog Cäcilia es vor, an ihrem winzigen Würstchen weiterzuarbeiten. Ein Zipfel wollte einfach nicht gelingen. Sie registrierte diesen Umstand mit zusammengekniffenen Lippen, begann vor Anstrengung sogar zu schwitzen. Als sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte, bemerkte sie entsetzt, dass auch das Würstchen etwas abbekommen hatte. Mit einem nicht mehr ganz sauberen Küchenhandtuch rieb sie verstohlen über die glatte, samtige Fläche. Josefine konnte streng sein, wenn es um Hygiene ging. Doch gleich, wenn sie den feinen Marderhaarpinsel in die braune Lebensmittelfarbe getaucht hätte, würde kein Mensch mehr merken, dass ein Zipfel ein wenig kleiner und vielleicht auch feuchter als der andere geraten war. Diese Arbeit lag Cäcilia sowieso mehr: Den Würsten mit einigen flüchtigen Pinselstrichen ein natürliches Aussehen zu verleihen. Das hatte etwas entschieden Künstlerisches. So hätte die etwas ungewöhnliche Arbeit selbst vor ihrer seligen Frau Mama Gnade gefunden. Mit einem Mal wusste Cäcilia, wie sie Fina von dem verschwitzten Würstchen ablenken konnte.
»Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass maman die kleinen Marzipanbrote und -bananen für meinen Kaufladen immer selbst ausgesucht hat? Und ebenso wenig ließ sie es sich nehmen, die winzigen Bordüren für die kleinen Regale und Fensterchen selbst zu klöppeln. Auch maman hat ein dezentes Maß an Arbeit nicht gescheut.« Ein wehmütiges Sehnen beschlich Cäcilias Herz, während sie aus den Augenwinkeln heraus bemerkte, dass Josefine sie mit missbilligendem Staunen betrachtete.
»Und erst meine wunderschöne Porzellanpuppe!«, fuhr Cäcilia ein wenig atemlos fort. »Mit Spitzenhäubchen und allem. Ich hatte sogar extra eine Wiege für sie. Wenn mein Bruder mitspielen woll…«
»Danke für das Gespräch.«
»Bitte«, entgegnete Cäcilia Amalia von und zu Ciggan schnippisch, woraufhin sie das Würstchen en miniature kritisch, ihre Freundin dabei gänzlich ignorierend, von einer Seite auf die andere drehte. Bislang war sie von Finas Stolz, der von Kohl zu Kohl, von Wurst zu Wurst wuchs, noch nicht angesteckt worden. Ganz im Gegenteil. Obwohl sie wusste, dass es bei dieser Arbeit, die ihr so unverhofft zugeflogen war wie ein Kanarienvogel im Winter, nur um das Formen und Modellieren von Marzipan ging, machte sie ihr irgendwie Angst …
»Diesen Virén möchte ich zu gerne mal kennen lernen«, hörte sie Oma Fina wie aus weiter Ferne sagen.
»Mhm«, erwiderte Oma Ziggan.
Sechs Wochen lang schwitzten die Saarländer nun schon unter der sengenden Hitze. Ehen zerbrachen, weil man feststellte, dass man einander eigentlich gar nicht riechen konnte. Seit Ende Juni war kein Tropfen Wasser mehr auf die ausgedörrten Wiesen und Äcker gefallen. Der Asphalt platzte auf. Unregelmäßige Risse ließen die Passanten von einer Seite auf die andere hüpfen. Man prallte unabsichtlich gegeneinander, wischte sich angeekelt den Schweiß des anderen von den nackten Armen. Durchdringend, in den stickigen Straßen der Städte wie in den ellenlangen Ortsdurchfahrten der Dörfer, roch es nach Teer. Niemand hätte sich gewundert, wenn Lavaströme aus dem pulsierenden Erdinneren hervorgebrochen wären, um alles Leben zu ersticken. Eine unheilvolle Energie hing wie eine milchige Dunstglocke über den Menschen. Als würde man die Ausdünstungen von Exkrementen und verdorbenen Lebensmitteln regelrecht inhalieren. Mülltonnen stanken, ohne dass man den Deckel heben musste. Die Saar kroch faulig, nach Verwesung riechend, dahin. Nachdem die Bäche im Frühjahr geradezu übergesprudelt waren, versickerten sie jetzt als spärliche Rinnsale im Sand. Wie in einem Querschnitt konnte man unter getrocknetem Schlamm, zwischen ausgebleichten Ästen und Wurzeln die Behausungen von Tieren entdecken, von denen man geglaubt hatte, sie seien längst ausgestorben. Enten watschelten ziellos umher, drängten sich unter schattenspendenden Brückenpfeilern zusammen. Griesgrämige Amseln zupften lustlos an rostroten, vertrockneten Regenwürmern, als seien sie unzufriedene Gäste in einem ansonsten renommierten Restaurant. Wer nicht unbedingt nach draußen musste, verschanzte sich hinter geschlossenen Rollläden, vermied jede überflüssige Bewegung. Selbst den Hunden hing von früh bis spät die Zunge aus dem Maul. Manche beließen sie der Einfachheit halber im Wassernapf, während sie sich mit letzter Kraft auf die Seite rollten, um die Hitze stoisch, mit halbgeschlossenen Lidern, über sich ergehen zu lassen.
Gleichzeitig fürchtete man die Möglichkeit plötzlicher und heftiger Regenfälle. Experten hatten davor gewarnt, dass, dränge Wasser unter die Straßendecke, der Asphalt wie Hefeteig aufquellen würde. Man entwarf Schreckensszenarien mit Massenkarambolagen und einbrechenden Autos. Im Geiste sah man die eingeklemmten Insassen langsam im Erdinneren versinken, die Hände hilfesuchend aus den Seitenfenstern gestreckt, während ihre Wagen bis zur Unkenntlichkeit deformiert wurden. Die Stimmen der Radiosprecher überschlugen sich in Ankündigung der zu erwartenden Katastrophe. Vor jeder noch so kleinen Spalte bildeten sich Autoschlangen, weil das Wenn so übermächtig wurde, dass es manchem schon als Tatsache galt. Die Hörer von SR 1 – immer aktuell – lauschten mit angehaltenem Atem.
»He, lass mir noch was übrig!«, lallte es aus dem winzigen, abgedunkelten Raum, der eher einer Müllhalde als einer Küche glich. Auf dem Boden lagen unzählige leere Bierdosen, deren Inhalt sich über das rissige, klebrig braune Linoleum ergossen hatte. In den Ritzen hatte sich eine schwarze, krümelige Masse gebildet. Fettfleckige, flache Kartons stapelten sich auf den Regalen, lagen in der Spüle sowie auf den beigebraunen Hängeschränken aus einem Kunststoff, der schon seit den Siebzigern nicht mehr hergestellt werden durfte. Pizzafladen hingen steif über der Gardinenstange, waren umsichtig in die Rillen des Heizkörpers gestopft oder achtlos auf den Boden geworfen worden, wo sie von metallisch schimmernden Schmeißfliegen belagert wurden. Ab und zu leuchtete eine im trüben Schein der Glühbirne auf, wenn sie auf der Suche nach weiterem Aas durch die Küche summte.
Manchmal war der Hunger nach zwei durchwachten Tagen und Nächten so groß, dass selbst eine vierzehn Tage alte, vergammelte Salamischeibe zur lebensrettenden Delikatesse wurde, die er gierig in sich hineinschlang. Längst hatte das fahle Fett dann die leuchtend rote Lebensmittelfarbe verdrängt. Kotzen musste man hin und wieder, so oder so. Man hatte sich daran gewöhnt. Nur ein Irrer würde seine Zeit an gesunde Ernährung verschwenden. Essen, ganz besonders dessen Zubereitung, hielt einen davon ab, die Welt am eigenen genialen Wesen teilhaben zu lassen. Raus musste man, sonst erstickte man noch an seiner Euphorie.
Doch heute war nicht gestern. Missmutig kratzte er an einem entzündeten Pickel. Er saß in dem speckigen Ledersessel, wartete darauf, dass ihn das elende schwarze Loch verschlucken würde. Allzeit bereit, lauerte es im hintersten Winkel seines Gehirns, um ihn anzuspringen, ihn zu verschlingen. Hatte es wieder mal zu bunt getrieben. Schon merkte er, wie es seine Zähne in sein Fleisch schlug, an ihm zerrte, ihn in schreckliche Tiefen ziehen wollte. Man musste den richtigen Moment abpassen, um es am struppigen Schopf zu packen und von sich zu schleudern. Nur, dass er diesen Zeitpunkt beinahe immer verpasste. Eine selbstzerstörerische Kraft hinderte ihn daran, rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Stattdessen harrte er mit perversem Gleichmut der dunklen Stunden, die so sicher kommen würden wie das Amen in der Kirche. Galt es doch, den Gedanken an Widerstand überhaupt erst zu fassen. Dann, und das war das Schwierigste, musste man sich nach vorne beugen, den Arm ausstrecken, die Finger ausfahren nach etwas, das so weit, so unendlich weit weg war wie das Ding da vor ihm auf dem Tisch.
»Du hast ja noch gar nicht angefangen«, riss ihn eine schrille Stimme aus seinen Gedanken. Sie stand direkt neben ihm und sah auf ihn herab. »Ich glaub’s ja nicht! Sitzt hier ’rum und kratzt an seinen Pickeln. Ich finde das saumäßig eklig. Und danach mit denselben Fingern an den Stoff. Mach voran! Ich hab’ keine Lust hier abzukacken.« Sie unterstrich ihren Unmut mit einem lahmen Wedeln ihrer Rechten, das, wäre es nicht so lasch ausgeführt worden, beinahe südländisch gewirkt hätte. Schwankend drehte sie dann wieder ab, um dem braunverkrusteten Spülbecken eine weitere Ladung dreckigen Geschirrs zuzuführen.
»Was machst ’n da?« Ihr Freund drehte mit widerwilligem Ächzen seinen Oberkörper Richtung Küche, als eine dicke Schmeißfliege durch die Türöffnung taumelte. Wie ein Chamäleon verfolgte er sie mit träge rollenden Augen.
»Ich räume auf, siehste doch!« Ohrenbetäubendes Rumpeln ertönte aus der Küche, gefolgt von schrillem Scheppern. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie ein Messer am Türausschnitt vorbeiflog und gegen die Wand klirrte.
»Mist, verdammt! Mann, ich hab’ mich geschnitten! Oh, Scheiße, das blutet, verdammt noch mal!«
Wutentbrannt, mit anklagend nach oben gerecktem Daumen, kam sie aus der Küche gestürmt. Sie rüttelte ihn unsanft an der Schulter: »Da chuck!«, schrie sie. »Dasch chut verdammt weh! Schag mal«, sie sog vehement an ihrem Finger, »intreschiert disch überhaupt noch wasch?« Als er immer noch nicht reagierte, versetzte sie ihm kurzerhand einen derben Stoß, der ihn beinahe gegen die Tischkante geschleudert hätte. Geistesgegenwärtig fing er sich mit den Händen ab, wobei er erstaunt feststellte, dass seine Reflexe noch funktionierten.
»Aua, was is’n?« Er rieb sich den Arm.
Seine Freundin, der gerade noch die passende Antwort eingefallen war, klappte den Mund wieder zu. Stumm starrte sie ihn an. Der gequälte Ausdruck in seinen Augen ließ sie innehalten, zerriss ihr schier das Herz. Das konnte doch nicht sein. Ließ sich einfach so schlagen. Und sie schlug ihn, rüttelte ihn, rempelte ihn an. Mehr als einmal am Tag. Dabei liebte sie ihn doch. Natürlich liebte sie ihn. Aber so hatte sie schon immer reagiert, wenn jemand einfach alles mit sich machen ließ. Noch einen draufgesetzt.
Normalerweise würde er ihr jetzt ein blaues Auge verpassen. Mindestens. Aber in letzter Zeit verlor er die Kontrolle über den Stoff. Dabei hatte sie sein Hang zur Aggressivität immer angemacht. Natürlich musste man wissen, wie man damit umging. Sie war ja nicht lebensmüde. War eben was anderes als die Weicheier, die ihre Eltern ihr vorgesetzt hatten. Doch in diesem Zustand zwischen Tag und Nacht hatte er etwas von einem wilden Tier, dem man die Klauen entfernt hatte. Man konnte einen Stecken zwischen den Gitterstäben hindurchschieben, es necken – ganz ohne Risiko. Wenn er sich wenigstens wehren würde! Aber dieses stille Erdulden, dieser leere Blick …
Sie schaute auf ihn hinunter, sah seine strähnigen blonden Haare, die im Schein der ramponierten Tischlampe fast grünlich wirkten. Sah seine entzündete Haut, auf der sich kein heiler Fleck mehr finden ließ. Sie kannte das. Nur war es bei ihr nicht so schlimm. Noch nicht. Erschrocken befühlte sie ihre Wange.
»He!« Sie berührte ihn sanft an der Schulter, doch er drehte sich nicht einmal um. Stierte auf irgendetwas in der Ferne, ohne sie noch im Mindesten wahrzunehmen. Mit einem erstickten Aufschrei taumelte sie rückwärts zum Sofa, ließ sich in die abgewetzten Kissen fallen. Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie drückte ihre Nase in den Bezug. Ihre verletzte Hand baumelte wie ein toter Fisch von der Kante herab. Bitterlich weinte sie über all das, was sie einmal besessen hatte. Geld, schöne Kleider, Fernreisen. Ein Zuhause, eine Familie. Kunst, Musik, ätherisches Feingefühl, Stil.
Mit einem Ruck richtete sie sich auf, rieb sich unsanft mit dem Handrücken über das tränennasse Gesicht. Sie schniefte energisch. Entschlossen trabte sie dann wieder auf den kleinen Tisch zu, der schräg vor der unbeweglichen Gestalt im Ledersessel stand. Sollte er so sitzen bleiben. Sie jedenfalls würde ihm nicht die Hand halten, wenn er in den Abgrund stürzte. Zwischen unzähligen zerknautschten Zigarettenkippen, deren eigentliche Quelle zwei überfüllte Aschenbecher bildeten, fischte sie ein kleines Papier heraus. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Miniaturbrief. Ein Produkt perfiden Origamis, effizient und erfinderisch zugleich.
»Wo ist jetzt das verdammte Ding?« Mit der heilen Hand fegte sie die Kippen vom Tisch. Ein kleiner, beinahe blinder Spiegel kam zum Vorschein. Sie spuckte ein paar Mal auf die schmierige Fläche, rieb sie mit dem Zipfel eines schmuddeligen Kissens trocken. Mit zitternden Händen faltete sie das Briefchen auseinander. Sie verteilte etwas, das wie Puderzucker aussah, in zwei krummen Linien auf dem Glas. Wenn sie so weitermachte, müsste sie nachher auf dem Boden rumkrabbeln, um das Zeug aufzusaugen. Mit der linken Hand versuchte sie, das rechte Handgelenk abzustützen. Schon besser.
Wo war jetzt das Röhrchen? Sie wühlte zwischen Kippen, Papierfetzen und einem alten Apfelgehäuse herum, fischte schließlich einen Zehn-Euro-Schein unter einem Haufen buntbedruckter Zigarettenpapers hervor. Das Silberröhrchen, das sie von einer Marokkoreise mitgebracht hatte, war irgendwo in dem ganzen Chaos verschwunden. Oder er hatte es zu Geld gemacht. Was viel wahrscheinlicher war. Er würde seine eigene Großmutter verkaufen. Sie hasste ihn. Gott, wie sie ihn hasste. Mit einiger Mühe rollte sie den Schein zu einem akkuraten Zylinder. Gute Laune heuchelnd, drehte sie sich zu ihrem reglosen Gefährten um. Mit einigem Kraftaufwand schob sie seinen Sessel nach vorne, Richtung Tischplatte.
»Wir wollen doch nichts verschütten«, murmelte sie und fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen. Mit der flachen Hand wedelte sie vor seinen Augen herum. Ohne mit der Wimper zu zucken, starrte er geradeaus. Sie versetzte ihm einen aufmunternden Stoß. »So, der Herr! Wenn Sie dann bitte so nett wären …« Sie nahm seine schlapp herabhängende Rechte, drückte ihm das Röhrchen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ein Löffelchen für Mami …« Gehorsam wie ein krankes Kind tat er einen jämmerlichen Zug. Beim Ausatmen wehte die Hälfte des teuren Stoffs über den Spiegelrand – eine winzige Schneeverwehung auf dem dunklen Holz des Tisches.
»Scheiße, du hast’s versaut!« Hektisch versuchte sie, die Kristalle auf ein Stück Papier zu schaben. »Also noch mal: Und hochziehen!«
Er tat einen tiefen Zug, begleitet von einem Seufzen, das ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
»Noch einmal, dann hast du’s geschafft.«
Unsanft ließ sie seine Hand auf die Armlehne plumpsen. Lautlos fiel der zusammengerollte Geldschein auf den Boden. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, denn ein taubes Gefühl über den Augen kündigte ihr an, dass der Feind bereits hinter der Stirn saß. Mit zitternden Fingern klaubte sie das Papierröhrchen vom Boden, klopfte es kurz über ihrem Handrücken aus. Gierig fuhr sie mit der Zunge darüber. Erneut rieselten zwei Linien auf den Spiegel. Mümmelnd wie ein aufgeregtes Kaninchen jagte sie sich die winzigen Kristalle ins Hirn. Schon wurden ihre Knie weich, breitete sich jenes so erstrebenswerte sanfte Versagen in ihrem Körper aus. Mit letzter Kraft schaffte sie es auf das schäbige Sofa, wo sie sich wie ein Embryo zusammenrollte. Ihr Freund dämmerte bereits mit seligem Lächeln vor sich hin. Sein Mund stand leicht offen, die Augen mit den verblüffend langen Wimpern waren halb geschlossen. Verschwommen nahm sie seine beiden Hände wahr, die so gelassen, so gelöst, rechts und links über den abgewetzten Armlehnen zu schweben schienen. Man hätte meinen können, er sei tot. So ruhig, so entspannt. Ein kleiner Tod zur rechten Zeit … Sie lächelte.
Schon zog eine ungestüme und doch sanfte Macht sie immer tiefer in die Kissen, die sie wie weiche, duftige Wolken umhüllten. Eine warme, sonnige Woge brandete ihr entgegen, riss sie mit sich in einen sämigen Strudel aus Wärme, Wärme, wohliger Wärme.
II
»Und du glaubst wirklich, dass er damit Geld verdient?«, fragte Oma Ziggan, während sie den orangefarbenen Marzipanblock auf eine Größe von sechzig mal sechzig Zentimetern ausrollte. Das massive Nudelholz, das sie benutzte, befand sich schon seit Menschengedenken im Besitz derer von und zu Ciggan, einem alten ungarischen Adelsgeschlecht, dessen Reichtum sich auf die Zucht von schneeweißen Rassepferden gründete, welche Lipizzanern angeblich in nichts nachstanden. »Waren die österreichischen Konkurrenten Warmblüter, so waren die Cigganer Heißblüter«, wurde Cäcilia nicht müde zu betonen. Sie stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die zähe Masse, wobei sie ein ums andere Mal wenig elegant aufstöhnte. Dies war keine Arbeit für eine Dame, die mit Absätzen gerade mal einsfünfzig maß.
»Was weiß denn ich?«, erwiderte Oma Fina leichthin. »Du kennst ihn doch. Fängt was an, knoddelt ein bisschen ’rum, dann kommt was Neues. Frag mich nicht, ob es dieses Mal was taugt! Kohlköpfe und Würstchen! Das mit der Wurst ist mir ja klar: Er ist nun mal ein echter Saarländer. Aber der Kohl? Vielleicht, weil er in der Pfalz geboren wurde. Und offenbar gelten Würstchen und Kohlköpfe in Schweden als typisch deutsch. So hat er es mir wenigstens erklärt. Jedenfalls haben wir Beschäftigung. Und verdienen was dabei. Das ist die Hauptsache.«
»Ach ja?« Zweifelnd ließ Oma Ziggan ihre Blicke über die orangefarbenen und giftgrünen Blöcke wandern, die sich auf jeder freien Ablagefläche stapelten. Mit etwas Fantasie, und sie besaß viel davon, hätte man meinen können, die Wände der winzigen Küche bestünden aus zuckrigen Backsteinen. Selbst Finas verstorbener Ehemann wurde von einem der Kolosse zur Hälfte verdeckt. Bei ihren einsamen Mahlzeiten unterhielt sich Fina rege mit seinem Konterfei. Das schwarze Trauerbändchen am rechten oberen Rand schien sie bei ihrer Konversation nicht zu stören. »So ein festgezurrtes Band passt zu ihm. Er hatte ja auch immer Hosenträger an. Brauchte etwas, woran er sich festhalten konnte«, hatte sie Cäcilia erklärt. Entgegen einer gewissen Unnachgiebigkeit sich selbst und anderen gegenüber spitzte er momentan wie ein Lausbub über den samtigen Marzipanrand, als hoffe er, etwas von der süßen Pracht stibitzen zu können. Gut, dass er sich in seinem jetzigen Zustand nicht sehen kann, dachte Oma Fina, die Cäcilias Blick gefolgt war. Sonst hätte er sich augenblicklich mit seinem Trauerbändchen stranguliert. Ob dieses blasphemischen Gedankens versetzte sie ihrer feingeschnittenen Nase mit den stolz geblähten Nasenflügeln – um welche sie Oma Ziggan ernsthaft beneidete – einen kräftigen Stüber. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Josefine klatschte in die Hände, sodass Cäcilia erschrocken einen kleinen Hüpfer tat, und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Wenn der Verblichene wüsste, dass sich seine Witwe auf ihre alten Tage noch mit Marzipanrohmasse abplagen musste, er hätte sicherlich so einiges dagegen gehabt. Oma Ziggan runzelte missbilligend die Stirn. Gekannt hatte sie ihn ja nicht. Und Josefine hatte sie erst nach dem Ableben des Gatten kennen gelernt. Genauer gesagt, als Oma Fina nach angemessener Trauerzeit gezwungen war, sich wieder alleine durchs Leben zu schlagen. Selbst hatte sie das schon geraume Zeit getan, denn Oberstleutnant Freiherr von und zu Ciggan hatte nur die ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs überlebt. Von einer feindlichen Kugel getroffen, war er von Esterházy, seinem Lieblingshengst, gestürzt. Dieser hatte daraufhin augenrollend das Weite gesucht und alsbald eine ausgemergelte Mauleselin gefunden, die er mit seinem ausgesuchten Samen beglückte. Wie dem auch sei: Im Geiste sah Cäcilia ihren Gatten stets samt Ross auf einem sturmumtosten Hügel auftauchen. Gerade noch hatte er spähend die behandschuhte Hand über die blitzenden Augen gelegt, da ereilte ihn auch schon der Tod. Plagten Oma Ziggan Herzrhythmusstörungen, ließ sie diesen Teil weg. Man musste realistisch bleiben. An dieser Stelle stellte sich für sie gemeinhin die Frage nach Morgengrauen oder Abenddämmerung. Tatsächlich war Freiherr von Ciggan so unvermittelt und zugleich tot aus dem Leben getreten, dass ihm für poetische Ausblicke gänzlich die Zeit gefehlt hatte. Sie wischte sich mit klebrigen Fingern eine Träne aus dem Auge. Josefine jedenfalls, in ihrer praktischen Art, hatte sie nach der samstäglichen Vorabendmesse einfach untergehakt. »Kommen Sie, Oma Ziggan, halten Sie sich an mir fest. Zu zweit geht es leichter.« Oma Ziggan – wie sie es hasste, so genannt zu werden. Sie kannte die Frau doch überhaupt nicht. Widerstandslos hatte sie sich von der kleinen, molligen Frau mitziehen lassen. Erst, als sie von der anderen bis fast vor ihre Haustür geschleift worden war, hatte sie freundlich, aber bestimmt, gefragt: »Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Ob es eine Ehre ist, weiß ich nicht«, hatte ihre selbsternannte Freundin unbekümmert geantwortet. »Aber ich bin die Josefine Reuther, die Oma Fina.« Mit diesen Worten hatte sie ihr die Hand hingestreckt. Nun, dem Benehmen nach entsprach diese Frau nicht ganz ihrem Umgang. Aber, wenn sie es sich recht überlegte … Mit einem noch unsicheren schiefen Lächeln hatte Cäcilia endlich die dargebotene Hand ergriffen, die sich erstaunlich zart und feingliedrig anfühlte. »Cäcilia, Cäcilia Amalia von und zu Ciggan, angenehm.«
»Wenn’s recht ist, lassen wir die Formalitäten. Jeder hier nennt Sie Oma Ziggan, und ich finde, das passt am besten zu Ihnen.« Sie kniff Cäcilia verschwörerisch in den Arm. »Das andere klingt irgendwie so gestelzt, so nach Csardasfürstin. Hoi, hoi, hoppa!«
In diesem Augenblick musste Cäcilia, ob sie wollte oder nicht, erkennen, dass ihre Umgebung offenbar ein anderes Bild von ihr hatte als das von ihr autorisierte. Sie öffnete den zartrosa geschminkten Mund, wollte protestieren, doch da hatte ihre neue Bekanntschaft schon das Thema gewechselt: »Sagen Sie, wollen wir ab jetzt nicht gemeinsam zur Kirche gehen? Ich meine, wo man heutzutage doch mit allem Möglichen rechnen muss.«
Und jetzt stand sie hier, walzte mit Fina eklig klebrige Marzipanblöcke platt. Dafür hatte Fürst Ciggan sicher nicht sein Leben gegeben. Cäcilia versetzte dem hauchdünn ausgerollten Teig ein paar derbe Schläge mit der Handkante. Frenetisch drückte sie daraufhin hie und da ein paar Dellen in die schimmernde Masse.
»Pass auf«, Oma Fina warf ihr einen verärgerten Blick zu, »dass du keine Löcher in das Marzipan machst. Er sagte, das Zeug wär’ verdammt teuer und die Kunden würden auf exakt gearbeitete Stücke bestehen.
»Auf exakt gearbeitete Stücke«, näselte Cäcilia in affektiertem Tonfall. »Warum dein Enkel diese Dinger da aus Schweden herschaffen muss, ist mir schleierhaft. Als ob es hier nicht auch Marzipan gäbe. Wahrscheinlich sogar besseres. Ich sage nur: Lüneburg.«
»Du meinst Lübeck. Aber, wie ich dir bereits erklärt habe«, Josefine sprach nachsichtig wie zu einem begriffsstutzigen Kind, »handelt es sich hierbei um besonderes Marzipan. Die Schweden haben eine spezielle Art es herzustellen. Und die Hauptsache ist doch, dass wir es veredeln.« Josefine nahm eine der dunkelgrünen Flaschen aus dem Regal zu ihrer Rechten und träufelte den Inhalt auf die fertigen Teigplatten. »So«, beschied sie, »kommt Opa Brenners Reineclaudenschnaps auch noch zu Ehren. Jetzt verkneten wir das Ganze gut, und dann rollen wir es wieder aus.«
Cäcilia beobachtete die spiegelnde Oberfläche mit skeptischem Blick, die zierlichen Hände in die Seiten gestemmt. »Mir kommt das komisch vor«, murmelte sie trotzig. »Marzipan aus Schweden! Davon hat doch noch kein Mensch was gehört! Ich meine, wir haben früher viel Marzipan gegessen. Und damit meine ich: echtes Marzipan. Süße kleine Schweinchen …« Sie formte mit den Händen ein imaginäres Gebilde von gut fünfzig Zentimetern Durchmesser. »Aber meine Mutter wäre doch nie – nie! – auf die Idee gekommen, das Marzipan aus Schweden kommen zu lassen. Aus Lüneburg vielleicht, aber doch nicht aus Schweden.«
Sicherheitshalber rückte sie jetzt ein wenig zur Seite. Denn die Freundin war ihr bedrohlich nahe auf die Pelle gerückt. Am liebsten hätte sie sich über ihre verunstaltete Marzipankugel geworfen. So allerdings konnte sie gerade noch versuchen, sie unter ihrem verflucht kleinen Schatten zu verbergen. Zu spät: Josefines gestrenger Blick fiel auf die grauen Fingerabdrücke im hügeligen Giftgrün. »Was ist das?«, fragte sie mit jenem gefährlichen Unterton, der Cäcilia von jeher das Fürchten gelehrt hatte.
»Gar nichts!«, erwiderte Cäcilia, riss ein Geschirrtuch von einem verschnörkelten Metallhaken und warf es über die Kugel. Mit schnellem Griff hatte Josefine es wieder weggezogen.
»Da soll mich doch …«
»Dann muss man eben ein Schälchen mit Zitronensaft hinstellen«, verteidigte sich Cäcilia mit weinerlicher Stimme. »Dann kann man sich auch ab und zu die Finger säubern.«
»Marsch, ins Bad, Händewaschen!«, kommandierte Josefine.
Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, riss sich Cäcilia die enzianblaue Leinenschürze vom Leib. Sie feuerte sie auf den nächstbesten Stuhl und stürmte erhobenen Hauptes durch die Tür. Mit zitternden Fingern schnappte sie sich ihren Mantel, setzte ihren Hut auf die weißen Löckchen und verließ laut schluchzend das Haus. Als sie bereits auf der Straße stand, drehte sie sich noch einmal um. »Du siehst mich nie, nie wieder!«, heulte sie gegen die geschlossene Haustür, fasste sich dann aber wieder, weil Apotheker Rittersporn, zierlich seinen Spazierstock schwingend, ein fröhliches »Guten Tag, meine Verehrteste!« zu ihr hinüberschickte.
In die plötzlich unendlich leere Küche war nicht mehr als ein entferntes Piepsen gedrungen. »Ja, geh du nur zu deinen Marzipanschweinchen aus Lüneburg!« Resigniert sah Josefine sich in der verwüsteten Küche um. Cäcilia hatte ja Recht. Kaum tauchte ihr Enkel auf, beschäftigte er sie mit irgendwelchen dubiosen Aufgaben. Und jedes Mal ließ sie sich breitschlagen. Tatsächlich hatte auch sie noch nie von schwedischem Marzipan gehört. Seufzend nahm sie die verdorbene Kugel vom Tisch. Sie betrachtete sie so eingehend wie Hamlet einst den Schädel. Sein oder nicht sein – wo war jetzt die Waage? Ah, da hinten stand sie und sagte kein Wort. Sie zeigte ein knappes Pfund an, als Josefine den schmutziggrünen Klumpen wog. Schade drum. Irgendwann würde ihr Enkel sicher wissen wollen, warum so viel weniger Marzipan ihre Küche verließ, als er anlieferte. Doch noch während Oma Fina den Klumpen in den Mülleimer gleiten ließ, überfiel sie rührselige Reue. Sie nahm sich vor, das nächste Mal nicht mehr so grob zu Cäcilia zu sein. In ihrem Alter musste man sich die wenigen Verbliebenen warm halten. Im Grunde genommen war Oma Ziggan gar nicht so übel. Um es frei nach dem Dichterfürsten Stefan George zu sagen, den sie in ihrer Jugend glühend verehrt hatte: Man musste mit denen arbeiten, die da waren. Mit Besseren, die nicht da waren, konnte man nicht arbeiten. Nein. Falsch, dachte Fina plötzlich. Oma Ziggan ist die Beste. Ja, die Beste. Gleich morgen früh würde sie bei ihr anrufen. Schließlich warteten all diese Blöcke noch auf ihre Verarbeitung. Und vielleicht konnte sie ihre Freundin nach getaner Arbeit noch zu einer Partie Offiziersskat überreden.
Sie hatten alles so belassen, wie es bei ihrem Einzug ausgesehen hatte. Zugegeben, es war viel zu groß für sie. Außerdem hätte es schon jemand anderen gebraucht als gerade sie beide, um das ein oder andere zu reparieren. Nicht mal Strom gab es.
Eben, als sie mit dem Fahrrad aus dem Dorf herausgefahren war, hatte sie den alten Johansson an seinem Dach fuhrwerken sehen. Obwohl es da, wie an dem ganzen Haus, nichts mehr zu reparieren gab. Über die Bitumenplatten, die im Alter zu einer fleckigen, hellgrauen Fläche verwittert waren, hatte er notdürftig Blechplatten genagelt. An einigen Stellen ragten sie weit über die Dachsparren hinaus, an anderen waren sie zu kurz geraten. Die aus einfachem Holzpaneel bestehenden Wände waren so ausgebleicht, dass sie beinahe rosa wirkten. Wahrlich kein erhebender Anblick in dieser idyllischen Gegend mit ihren adretten, ochsenblutrot gestrichenen Häuschen.
Er hatte sie mit seinem scheelen, unheimlichen Blick verfolgt. Das hatte sie ganz genau gespürt. Ihr Rücken hatte geradezu gebrannt. Auch dann noch, als sie ihn schon weit hinter sich gelassen hatte. Deshalb hatte sie in die Pedale getreten, was das Zeug hielt. Dieser Typ konnte einen ansehen … Wenn sie an sein wölfisches Grinsen dachte, schauderte ihr. Ein räudiger, dürrer, alter Wolf.
Jetzt saß sie mit untergeschlagenen Beinen in einem lang gestreckten, zwanzig auf zehn Meter großen Raum, dessen einziges Mobiliar aus einem weißen, deckenhohen Kachelofen bestand. Ein antikes Stück mit einer goldenen Krone, wie der gezackte Aufsatz genannt wurde. Über ihr hing ein riesiger Kronleuchter, der sich ein wenig unvermittelt aus der Stuckrosette mit dem verschnörkelten Eichenlaubmotiv ergoss. Zwischen den beiden mittleren der sechs Fenster hing ein überdimensionaler Spiegel. Sie ließ ihren Blick über die verblichene, blassgelbe Stofftapete zu dem aufwändig gearbeiteten Goldrahmen gleiten. Übergewichtige Putten schaukelten in üppigen Blumenranken, streckten ihre fetten Ärmchen nacheinander aus. Ein Faun stellte einer leichtbekleideten Nymphe nach, deren Brust kaum von einem zusammengerafften, durchsichtigen Tuch verhüllt wurde. Mit einer Mischung aus Neugier und Angst blickte sie sich nach ihrem dämonisch lächelnden Verfolger um. Malina wandte sich peinlich berührt ab. Irgendwie erinnerte sie diese Szene an ihr eigenes Verhältnis zu Männern. Verlegen zupfte sie an einem riesigen Kissen mit geometrischem, blau-rotem Kelimmuster herum, auf dem sie es sich bequem gemacht hatte. Silbrig-fahles Licht fiel durch die hohen Sprossenfenster, ließ sie mit der übrigen Umgebung verschmelzen. Fast schien es, als schwebe sie ein paar Zentimeter über dem Boden, in diesem einsamen, jetzt in sanftes Graublau getauchten Raum. Sie liebte diese magischen Momente zwischen elf und eins, wenn die Dunkelheit ein letztes Mal versuchte, die allmächtige Mitternachtssonne aus ihrem Reich zu verdrängen. Dann erstrahlte die Welt in überirdischem Licht. Die Blätter der hohen Birken dagegen schillerten in metallischem Schwarz. Zögerlich raschelten sie gegen die Scheiben, als wollten sie sich für die Ruhestörung entschuldigen. Malina badete mit zurückgelegtem Kopf in diesem Meer aus perligen Grautönen, sachte taumelnd, mit geschlossenen Augen. Bis ihr schwindlig wurde, und sie Halt an den Kanten des Kissens suchen musste. Der einzige Gegenstand, den sie von Zuhause mitgebracht hatte. Ein Mitbringsel von einer seiner Geschäftsreisen. Damals, als sie noch verheiratet gewesen war. Zuhause. Ihr entfuhr ein höhnisches Schnauben, als sie an ihr Leben in der langweiligen, ebenfalls zartgelben Villa dachte. Hatte sie immer an ein Museum, vielleicht auch ein Hotel erinnert. Ein seelenloses Gefäß für die Ahs und Ohs der mit Regelmäßigkeit einfallenden Partygäste. Sie kniff die Augen zusammen, als könne sie sich so besser an ihr früheres Leben erinnern. Ein sauberer Stockholmer Vorort, ständig von patrouillierenden, selbst ernannten Bürgerwehren bewacht. Ein Ghetto für die Reichen. Natürlich hätten sie einen Wachdienst beauftragen können, doch es verschaffte den Erfolgreichen einen Kick, selbst mit der Schrotflinte auf die Jagd nach Dieben zu gehen.
Ihre Finger krallten sich in den abgewetzten Stoff. Jetzt saß sie hier, in diesem riesigen, alten Schuppen, mitten in Värmland. Selma Lagerlöf, Nils Holgersson, Gösta Berlings Saga. Bis vor kurzem hatte sie noch geglaubt, dieser Landstrich sei die Erfindung von Schulbuchschreibern, die kleine Kinder mit antiquierten Texten quälen wollten. Aber es gab sie, die Värmländer, von denen man sagte, sie seien so dickschädelig, dass sie ihre Nägel mit den Köpfen einschlügen. Und es gab Johansson.
Da hatte ihr Ex seinem Vorzeigefrauchen zur Abwechslung mal etwas mitgebracht, das diesem gefallen hatte. Das hier – Malina strich über das raue Gewebe – hatte sie wohl der überaus tüchtigen Gunilla zu verdanken. Einer Frau mit hennagefärbten Haaren und merkwürdigen, orientalischen Ohrringen. Hatten die Ohrläppchen ein ganzes Stück nach unten gezogen. Das passierte eben mit gammeligem Fleisch. Sie zupfte probehalber an ihren eigenen, die klein, knubbelig und von mehreren Ohrsteckern geschmückt waren.
Vielleicht waren sie vorher miteinander im Bett gewesen. Und dann hatte Gunilla sich in einem Souvenirladen das Erstbeste geschnappt. Hier, das kannst du deiner Frau mitbringen. Damit sie weiß, dass du an sie denkst. Und dann hatte sie sich lachend bei ihrem Mann untergehakt. Das Schlimmste war, dass die Nachbarn schon viel früher Bescheid gewusst hatten. Sie warf ihr langes Haar in den Nacken, faltete die Hände wie zum Gebet und verzog mitleidig das Gesicht. »Ach, die Arme. So jung. Und der Mann? Immer unterwegs«, ahmte sie die vor Häme hohen Fistelstimmen nach. Malina streckte ihrem fünf Meter entfernten Spiegelbild die Zunge heraus. Vielleicht sollte sie sich doch piercen lassen? Verwegen blies sie sich das tiefschwarze Haar aus den Augen, griff nach der Rotweinflasche, schnippte den Plastikkorken weg. Sie goss sich eine großzügige Menge ein, kippte alles in einem gewaltigen Zug hinunter. »Ich glaube nicht, dass ich noch einen Schluck trinken sollte. Nicht einen einzigen Schluck«, ermahnte sie sich mit affektierter Stimme, während sie ihr Glas erneut befüllte. »Aber … es guckt mir ja keiner zu. Prost, Malina. Auf dich und deinen aktuellen Lover.« Oder sollte sie sagen: Immer wieder aktuellen Lover? Sie hob ihr Glas, schenkte sich selbst ein aufreizendes Lächeln und prostete in Richtung Spiegel. Jemand, dessen Haare zu hell schimmerten, prostete aus verschwommenen Tiefen zurück, verschwand dann aber so plötzlich, wie er aufgetaucht war. Mitten in der Bewegung hielt Malina inne. Blondes Haar? Sie zuckte zusammen. Wie in Zeitlupe fiel ihr das langstielige Glas aus der Hand. Mit einem Klirren zerbarst es auf den dunklen Holzdielen. Einen Augenblick war sie wie paralysiert. Mit ihrem bereits benebelten Hirn nahm sie wahr, dass hier etwas nicht war, wie es sein sollte. Ganz sicher, dachte sie, während sie sich langsam erhob, ganz sicher sollte hier niemand sein, der blondes Haar hat. »Hier sollte überhaupt niemand sein, der nicht ich ist!«, entfuhr es ihr in einem hohen Quieken. Erschrocken schlug sich Malina die Hand vor den Mund. Sie zitterte wie Espenlaub. Ihr war kalt. Sie ließ die Augen von links nach rechts wandern. Nichts. Langsam drehte sie den Kopf zur rechten Seite, achtete peinlichst darauf, dass keiner ihrer Halswirbel zu laut knackte, fühlte, wie ihr Mund trocken wurde. Jenseits dieser unendlichen Weite lag, durch eine zweiflüglige Tür getrennt, eine mindestens ebenso große Empfangshalle, dahinter der ehemalige Küchen- und Dienstbotenbereich. Eine geschwungene Freitreppe wand sich zu einer Flucht von sieben leeren Zimmern im ersten Stock hinauf. Und sie hockte alleine hier unten, in einem maroden Herrenhaus, dessen Glanzzeiten gut dreihundert Jahre zurücklagen. Leise, kaum hörbar, klirrten die Kristalle des Kronleuchters. Im oberen Stock schlug ein Fenster mit lautem Knall zu. Sie fühlte, wie sich die Härchen an ihren nackten Armen aufrichteten. Das Blut in ihren Ohren begann zu pochen. Ihr war, als schnüre ihr jemand die Kehle zu. Sie wollte schreien, öffnete den Mund, doch sie blieb stumm. Vor Erstaunen über diese Unmöglichkeit riss sie die Augen auf. Ein ums andere Mal klackte das Zäpfchen gegen ihren Gaumen, degradierte die Stimmbänder zu nutzlosem Gewebe. Nicht einmal schlucken konnte sie mehr. Aschfahl, mit weit aufgerissenem Mund, starrte ihr das eigene Spiegelbild entgegen. Nach einer halben Ewigkeit merkte sie, wie sich die Sperre im Kiefer löste. Ihr Atem ging flacher. Okay. Okay. »Das Fenster habe ich heute Abend selbst aufgemacht, weil ich lüften wollte. Wahrscheinlich ist draußen Wind aufgekommen und …«, murmelte Malina, als handele es sich um ein Mantra. Oder hatte sie das Fenster in einem Anfall geistiger Umnachtung schon wieder geschlossen? Wenn sie nur die verdammten Klappläden zugemacht hätte, damit niemand von draußen nach drinnen sehen konnte. Was aber, wenn dieser niemand längst nicht mehr draußen war, sondern sie von hier drinnen beobachtete? Der Kristallleuchter pendelte sachte im Luftzug. Sie versuchte das leise Quietschen der Verankerung zu ignorieren, leckte sich über den Finger, streckte ihn zögerlich nach der Decke aus, wie um zu prüfen, woher der Wind wehte. Ein sanfter Hauch streifte ihre Fingerkuppe. Da haben wir’s, dachte sie. Das ist einfach ein zugiger alter Kasten. Während ihr dieser Gedanke immer besser zu gefallen begann, schwang der Leuchter wie von einem kräftigen Stoß getrieben knarrend nach rechts. Ein panikerfülltes Lachen entrang sich ihrer Kehle. Beherzt und voller Rachsucht gegen den albernen Protzleuchter griff sie noch einmal zur Flasche, trank sie in einem Zug leer. Wein lief ihr über das Kinn, tropfte auf ihre Bluse.
Wollte sie nicht durchdrehen, musste sie sich Gewissheit verschaffen. Langsam, unsicher einen Fuß vor den anderen setzend, bewegte sie sich auf das stockfleckige Glas zu. Da war nichts. Absolut nichts. Plötzlich knarrte eine der morschen Dielen. Sie fuhr herum, griff sich an die Kehle. Stumm stürzte sie Richtung Entree. Und zum ersten Mal in ihrem sechsundzwanzigjährigen Leben wurde ihr bewusst, dass es unterschiedliche Arten von Schaudern gab. Oberflächliche und tiefer gehende, und solche, die man nie mehr vergessen würde.
Malina rannte atemlos die breite Einfahrt hinunter bis zu der Wegkreuzung, die zum Dorf führte. Als sie mit dem Fuß gegen etwas Hartes trat, verlor sie das Gleichgewicht und taumelte den Abhang hinunter, bis sich ihre dünne Bluse im Stacheldraht der angrenzenden Koppel verfing. Erst als sie die Pferde bemerkte, beruhigte sie sich ein wenig. Leise schnaubend, lautlos wie Schatten, bewegten sie sich auf Malina zu. Sie sah sich keuchend um. Von hier aus war die ockergelbe Front des Herrenhauses nichts weiter als eine schemenhafte Fläche, die milchig zwischen ein paar Birken hindurchschimmerte. Schweratmend lehnte Malina ihren Kopf gegen eines der Pferde, das zutraulich mit seinen Nüstern in ihr Haar blies. Wenn es sein musste, würde sie eben die ganze Nacht draußen verbringen. Wenn sie es schaffen würde, ihr Moped aus der Blechgarage zu bugsieren, könnte sie damit zu Britta fahren, um Asyl bitten. Ihr Fahrrad hatte sie sinnigerweise in der Halle abgestellt, aus Angst, es könnte geklaut werden. Doch das Auftauchen eines Fahrraddiebes wäre ihr jetzt geradezu willkommen gewesen. Malina kramte in ihrer Hosentasche. Irgendwo musste der verdammte Schlüssel für die Garage doch sein. Sie beförderte ein zerknülltes Bonbonpapier zu Tage. Nichts. Dann musste er sich wohl in ihrem Rucksack befinden. Und der? Stand auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades. Malina biss sich vor Entsetzen auf die Finger, die immer noch das bunte Papierchen umklammerten. Da war es wieder, dieses Zittern, das sie die Kontrolle über ihren Körper verlieren ließ. Dreh jetzt nicht durch. Malina trat von einem Fuß auf den anderen. Na bitte, jetzt musste sie auch noch pinkeln. Ohne sich umzusehen, hockte sie sich auf den dünnen Kiesstreifen vor der Koppel. Die Erleichterung durchströmte sie wie eine warme Sommerbrise. Plötzlich durchzuckte sie ein Geistesblitz. Das könnte klappen, auch wenn ihr allein der Gedanke schier den Magen umdrehte … Aufgeregt wanderte ihr Blick den holprigen Weg entlang. Hoppla, dachte sie, bereits um einiges besser gelaunt, was ist denn das? Keine zwei Meter vor ihr ragte der Ausläufer einer Baumwurzel aus der Erde. Und daran hing ein blinkendes Etwas. Malina schloss fahrig den Reißverschluss ihrer Jeans und lief zögerlich auf das seltsame Ding zu. Sieh mal einer an: ein Armreif. Sie ging in die Hocke, angelte den silbernen Reifen von der Wurzel. Probeweise streifte sie sich ihn über das Handgelenk. Passte wie angegossen. Sah aus wie eines dieser nachgemachten Wikingerteile, die sie in den Museen verkauften. Eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss. Sie nahm den Schmuck wieder ab, drehte ihn verwundert hin und her. »G. J., april 1969«, las Malina murmelnd die verschnörkelte Gravur auf der Innenseite. Nun, wer immer G. J. war, er oder sie musste leider auf den schönen Armreifen verzichten. Denn er gehörte jetzt ihr: M. V.
III
Es war weit nach zwölf, als sie das zweistöckige Haus erreichte, dessen schmutzigrote Fassade jetzt noch trostloser als am Tage wirkte. Der rote Pick-up parkte in einem Unterstand, der wohl erst vor kurzem errichtet worden war. Die einfache Konstruktion aus glänzendem Birkenholz hob sich wohltuend von der alles beherrschenden Tristesse ab, die über diesem Ort lag wie eine schimmelige Plane. Sie drückte energisch auf den rostigen Klingelknopf, unter dem ein zerkratztes Messingschild angebracht war. lautete die schlichte Gravur. Drinnen erklang ein dünnes Schrillen, doch es rührte sich nichts. Mit einem leichten Knacken rastete der Knopf ein. Mist. Neben der Haustür befand sich ein kleines, vergittertes Fenster. Sie spähte hindurch und sah eine von schwarzen Fingerabdrücken übersäte Waschbeckenablage, auf der eine lindgrüne Seifenschale mit Plastiknoppen ihr Dasein fristete. Wie es aussah, war die knochentrockene Seife das letzte Mal in den frühen Fünfzigern jemandem aus den Händen geglitscht.
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