Mis en Vosges - JuttaStina Strauss - E-Book

Mis en Vosges E-Book

JuttaStina Strauss

3,8

Beschreibung

Philipp Guzzo ist für ein Jahr als Austauschpolizist im Rahmen eines EU-Programms nach Dabo in die Nordvogesen versetzt worden. Doch auf der Dienststelle ist er das fünfte Rad am Wagen. Bis die eine Hälfte eines beliebten Volksmusik-Duos verschwindet und unauffindbar bleibt. Doch hinter die wohlanständigen Fassaden der Bergdörfler zu schauen scheint unmöglich, erst recht für einen Auswärtigen. Bis Guzzos Frau Svea tief in die Geheimnisse der Menschen eintaucht. Vor ihr bleibt kein Riegel verschlossen. Aber ob sie auch den Verschwundenen findet? JuttaStina Strauss verlässt mit ihrem Personal die saarländische Landesgrenze. Mit ihrem Sprachgefühl, ihrem wunderbar schrägen Humor und mit Spannung bis zum Schluss garantiert Strauss, dass die Fans von Guzzo und Svea einen Krimi-Ausflug nach Frankreich mit höchstem Unterhaltungswerterleben.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelseite
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Impressum
Buchtipp: Koks und Kosakenkaffee
Buchtipp: Mis en Vosges

I

Merkte denn keiner, was für eine saublöde Musik das war? Massenware, mieser, nachgespielter Dreck. Unzufrieden mit der miserablen Auftrittslage blätterte Régis Schweitzer in seinem Terminkalender. Tiefe Falten hatten sich in seine Stirn gegraben, seit zu jedem Volksfest die verdammten Fredis engagiert wurden. Früher, ja, da hatten er und Antoine so richtig abgeräumt. Kein Holterdiepolter, nein, sie zählten noch zur alten Schule. Beherrschten mehrere Instrumente. Konnten alles spielen, wollten aber nicht alles spielen. Beschwingte französische und elsässische Weisen, hie und da ein Chanson, das die Damen zu Tränen rührte. Dann betupften sie sich mit ihren blendend weißen Spitzentaschentüchern die feuchten Äuglein. Und heute, was taten sie heute? Schnäuzten sich in Papierservietten. Perlen vor die Säue. Régis lächelte beim Gedanken an die beseelten Augen ihrer Zuhörer – damals. Selbst das lahmste Männlein, das dürrste Weiblein, die feinen Fräuleins aus der Stadt, die Kavaliere in ihren Knickerbockern … alle hatten sie mit ihrer Kunst auf den Tanzboden gelockt. Leute mit Gold im Mund und solche, denen nur noch ein paar Zahnstummel im Kiefer herumwackelten.

Von der Pike auf hatte er, Régis Schweitzer, das Musikerhandwerk gelernt. Dann, als sein alter Freund und Mitmusiker Jean, d’Schangala, so plötzlich verstorben war, hatte er sich den Antoine herangezogen. Wie einen jungen Hund. Eher noch wie einen jungen Fuchs, dachte man an seinen Nachnamen: Renard. Dass dem die Musik im Blut lag, hatte Régis gleich gemerkt. Beim Vorsingen in der Dorfschule. Als er noch Monsieur le Professeur gewesen war. Ja, sie waren ein gutes Team. In mehr als einer Hinsicht.

Seufzend blickte er auf die Uhr. Schon viertel vor sieben. Er schlüpfte in seine ausgetretenen Filzpantoffel. Zeit für die Probe.

In der alten Scheune wartete Antoine auf ihn. Seit neunzehn Jahren, jeden Donnerstag, auf die Minute genau, probten sie – in letzter Zeit mehr ein Trockenschwimmen. Aber für Régis bedeutete Nachlassen Feigheit vor dem Feind. Und der hatte einen Namen: Die Fredis.

»Du könntest ruhig etwas freundlicher zu mir sein!« Unwirsch versetzte Svea Andersson-Guzzo der druckfrischen Straßenkarte einen derben Handkantenschlag. Hatten sich eben noch blaue Bäche durch smaragdgrüne Wälder geschlängelt, wuselten jetzt jäh endende Wasserwege auf fahlem Grund herum. Ein solches Gewirr von Adern hatte sie zuletzt gesehen, als Tante Bodil ihre altersschwachen Beine entblößt hatte, um ein Tänzchen um den Maibaum zu wagen. Prüfend hielt Svea die Karte hoch, blinzelte durch ein Loch, dort, wo eben noch ein Dörfchen in flammendem Rot geleuchtet hatte. »Harg«, las sie. Das kam ihrem körperlichen und geistigen Befinden erheblich näher als das klangvolle Haselbourg. Mitleidig blickte sie auf das zerknüllte Etwas in ihren Händen – ein genaues Ebenbild ihrer selbst: zerknautscht, zerknickt, schlaff. Neben ihr reckte Philipp sein mürrisches Gesicht der Windschutzscheibe entgegen. Längst hatte sich die Straße in einen reißenden Fluss verwandelt, in dem der alte Ford Transit haltlos wie eine Nussschale von einer Seite zur anderen schlingerte. Gleißend gelbe Sonnenstrahlen brachen durch das samtige Anthrazit des Himmels, so dass Svea geblendet den Kopf abwenden musste.

Ein letztes erfolgloses Mal strich sie über das runzlige Papier. Drei Finger breit unter Philipps rechtem Ohr pochte es unmerklich. Das bläuliche Weiß des eben noch sichtbaren Stückchens Haut im Ausschnitt des Hemdes, die rosigen Flecken auf den Wangen, das Purpur der Stirn erinnerten Svea an jene unguten Abbildungen masern- oder scharlachgeplagter Kinder aus medizinischen Wälzern. Kränklich bleiche Illustrationen, auf denen Pusteln und Geschwüre wie surreale Berggipfel ins Auge des Betrachters ragten. Krater und Kegel des Schreckens, gekrönt von eitrigen Häubchen. Mit einiger Faszination hatte sie als Kind in dem leinengebundenen Werk geblättert, das ihre Mutter gerne zur Illustration drohender Strafen heranzog, wenn Svea – in Nachahmung und als Resultat genauer Beobachtung eines übernervösen Erwachsenen – ihre Grimassen schnitt. »Wenn du nicht damit aufhörst«, hatte Pia sie gewarnt und dabei wahllos in den Seiten geblättert, bis sie eine besonders scheußliche Abbildung gefunden hatte, »wirst du bald«, sie hatte mit einem manikürten Finger auf eine garstige Eiterbeule gewiesen, »so aussehen!«

Svea schüttelte sich. Tauchte aus den Tiefen ihrer Erinnerung auf wie ein Plastiklöffel aus sämigem Kinderbrei. Irgendetwas, ein Plakat vielleicht, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. »Halt an!«

»Ich hab Hunger«, knurrte Philipp.

»Halt an!«

Mit quietschenden Reifen setzte Philipp zurück, landete schräg auf einem matschigen Randstreifen. Svea kletterte fluchend vom Beifahrersitz.

Philipp Guzzo begutachtete derweil übellaunig die Entdeckung seiner Frau. Vor ihm stieg eine lange schmutziggrüne Fläche gemächlich bergan, deren Ende nicht abzusehen war. Er kniff die Augen zusammen. Das waren mindestens dreihundert Meter. Der beißende Geruch von Kuhdung nahm ihm den Atem. Ein stinknormaler Acker. Und direkt vor ihm ein mickriges, handgemaltes Schild, von dem in trauriggrauen Tränen die Farbe herunterlief: À vendre.

Commissaire Armand Eschenbrenner schleckte sich die schaumigen Reste seines café au lait von den gezwirbelten Schnurrbartspitzen. Mit ausgestreckten Beinen hatte er es sich vor der Hultehouser Winstub bequem gemacht, gut geschützt durch einen riesigen gelben Sonnenschirm, auf dem sich zwei dralle Babys zuprosteten. Schillernde Blasen stiegen aus ihren giftgrünen Erfrischungsgetränken auf. Eschenbrenner betrachtete ein wenig schläfrig das geschäftige Treiben auf der rue. Ah, da kam la petite. »Monique, alors, noch a mirabelle!«

»Oui, monsieur le Commissaire!« Auf halsbrecherischen Plateausohlen trippelte sie davon.

Eine Augenweide. Er schloss die Augen, reduzierte seine einundsechzig Lenze generös auf achtundfünfzig, stellte sich vor, was Monique ihm sonst noch geben könnte – in dieser warmen, goldenen Herbstsonne. Bald würde es mit dem süßen Müßiggang vorbei sein. Irgendein imbécile, ein Hornochse, auf der Metzer Préfecture hatte ein schwachsinniges Austauschprogramm angeleiert. Deutsche Polizisten aus der Grenzregion. Na danke, non merci. Auf deutsches Zack-Zack konnte er verzichten. Mit einem Überbeamten auf engstem Raum, und das kurz vor der Pension. Police sans frontières. Hatte nicht erst kürzlich ein deutscher Polizeibeamter den Slogan wörtlich genommen und fünf lothringische Tierschützer mit dem Wasserwerfer krankenhausreif gespritzt, um danach diskret in ein kleines Dorf in den Pyrenäen versetzt zu werden? Wo er vermutlich verstockte Bergbewohner drangsalierte. Wenn man ihn nicht schon längst auf einen Esel gebunden und in die Wüste geschickt hatte, wo er versuchte, aus dornigem Gestrüpp Trinkbares herauszuzuzeln.

Eschenbrenner gründelte noch ein wenig in der bereits ziemlich leeren bol, der eigens für ihn reservierten Trinkschale. Austausch. Neumodischer Kram. Ein Sonnenstrahl kitzelte ihn an der rot geäderten Wange, ließ sein Milchbärtchen trocknen. Obwohl … Vielleicht schickten sie ja eine Polizistin. Armand gab sich einer Vision vollbusiger Blondheit in praller Uniform hin, tat einen tiefen Seufzer, nahm Haltung an. Er kannte seine Pflichten – auch wenn er sich in der Mittagspause befand. »Monique, wo bleibt mein mirabelle? A bissle tout de suite, alors!«

Während seine Frau voller Tatendrang in grünbraunem Morast umherstakte, verharrte Philipps Blick eigensinnig fünf Zentimeter vor dem Ende seiner ruinierten Schuhe. Er hatte das begeisterte Aufblitzen in ihren Augen gesehen. Kein Wunder, dachte er verdrossen, diese karge Scholle erinnerte original an Schweden.

»Der ideale Bauplatz!«, erscholl es von weiter oben. »Das hast du davon, dass du mich einfach so nach Frankreich verfrachtest! Jetzt darf ich auch mal was entscheiden!«

Philipp seufzte. Waren sie also wieder auf Kindergartenniveau angelangt. Nur, dass Svea diesmal offenbar die Position der Kindergärtnerin einzunehmen gedachte. Er wusste: In diesem verschlammten Elend, umgeben von finster dreinblickenden Vogesenkämmen, würde er seine Zelte aufschlagen müssen. Wie nah er damit Sveas Vorstellung von ihrer gemeinsamen Zukunft kam, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Betreten hob er den Blick. Die zerlaufende Telefonnummer auf dem Schild, das außerdem zunehmend den Gesetzen der Schwerkraft Folge leistete, mahnte zur Eile.

»Handy!«, kommandierte Svea.

Warum nur hatte er sich selbst in diese missliche Lage versetzt? Als Kriminalhauptkommissar hatte er doch eine ruhige Kugel geschoben. Denn im Saarland wurde eher bescheiden gemordet. Lag es daran, dass man im Falle einer Verurteilung für Jahre auf die geliebten Schwenker – kräftig gewürzte, öltriefende Schweineschnitzel – verzichten musste, die jeden Sommer auf den eigens dafür konstruierten Rosten aus »organisiertem« rostfreiem Edelstahl sachte über der Glut hin und her schwangen? Philipp jedenfalls war seinen Landsleuten für diese friedfertige Umsicht dankbar. Gerade aber war ihm, als würde er von seiner eigenen ruhigen Kugel überrollt.

»Philipp! Sie hat gesagt, sie will nicht viel für das Land haben. War schon dreimal verheiratet. Hat genug Geld. Nur dreizehntausend!«

Nur? Er fand, dass es sich dabei um eine ganze Menge Schotter für diese moddrige Schräge handelte. Gab es einen Ehemann Nummer vier, den man notfalls um die Ecke bringen konnte, damit die Alte preislich noch ein bisschen weiter runter ging? Der Wertverfall des Grundstücks stand ja wohl in unmittelbarem Zusammenhang zum Ableben der Gatten. Philipp grinste böse, gab der frech vor ihm aufragenden Grasnarbe einen gezielten Tritt. Ihn für seinen Teil hätte es kaum gewundert, wenn die alte Dame ihnen das öde Terrain samt einer Champagnerflasche hinterhergeworfen hätte. »Aber sieh mal, wie lang das Teil ist!«, versuchte er einen letzten schwachen Einwand. Mit unbestimmter Geste wies er gen Himmel.

»Aber das ist doch gerade das Tolle! Vorne kommt unser schwedisches Holzhäuschen hin und weiter hinten der Campingplatz!«

Guzzos nahrungsbedürftiger Kiefer klappte nach unten. Ein fetter Regentropfen ergriff die Gelegenheit und platschte ihm dreist auf die Zunge.

Commissaire Armand Eschenbrenner rollte auf seinem Bürostuhl sachte vor und zurück. Mit dem Zeigefinger pulte er in seinem rechten Backenzahn. Ein Stück Mandel von einer meringue nervte ihn schon den ganzen Vormittag. Was hatte auch eine Nuss auf einem Baiser zu suchen? Vor seinem Fenster brausten zwei Jugendliche, und damit potentiell Kriminelle, auf ihren frisierten Mofas vorbei. Waren wohl auf dem Weg zu der kleinen kermesse, die ihre Buden und Karussells auf dem Platz vor der Kapelle Zur Heiligen Oranna aufgeschlagen hatte. Heckten Untaten aus, schüttelten im Geiste Spraydosen, um frisch gestrichene Hauswände zu beschmieren.

Noch nicht einmal zehn Uhr. Er betrachtete indigniert seine goldene Armbanduhr, als sei sie für die Misere verantwortlich. Seit geraumer Zeit schon dudelte neumodische Musik vom Jahrmarkt herüber, wummerte regelrecht in seinen Ohren. Wie sollte man bei diesem Lärm arbeiten können? Er fischte einen kleinen braunen Splitter aus der hintersten Ecke seiner Mundhöhle und betrachtete ihn eingehend. Zahn oder Mandel – das war hier die Frage. Vielleicht sollte er doch auf Racine hören, der ihn mit Vorliebe wegen seiner Angst vor ihm und seinem blutigen Handwerk aufzog. Allen, die es hören wollten, verkündete er: An Eschenbrenners Zähnen herumzuwerkeln, gleiche dem Einfahren in eine lothringische Grube. Und dabei sei er sonst doch so gepflegt. Wenn nicht ein anderer Patient ihn ermordete, konnte Armand sich gut vorstellen, selbst Hand an Monsieur le Docteur zu legen.

Svea ergriff beherzt einen mit goldenem Löwenkopf bewehrten Eisenring und pochte gegen die abweisende Tür eines gewissen Maître Brunaud, seines Zeichens Notar im Städtchen Phalsbourg. Die Dame im dezent dunkelblauen Kostüm ließ Sveas dargebotene Hand in der Luft hängen, während sie ihr mit kaum merklichem Lächeln bedeutete, im eichegetäfelten Wartezimmer Platz zu nehmen. Fahrig blätterte Svea in Hochglanzmagazinen, aus denen ihr dieses oder jenes Filmsternchen entgegenlächelte. Da ihr Französisch einiges zu wünschen übrig ließ, begnügte sie sich damit, an den edlen Seiten zu schnuppern. Nicht anders als während ihres denkwürdigen Frankreichaufenthalts vor über fünfundzwanzig Jahren. Mit sozialdemokratischer Versiertheit hatte Pia Andersson damals ihrer Tochter die Vorzüge eines Schüleraustauschs erläutert, sich dabei flüchtig das Haar gerichtet, als fürchte sie insgeheim, die sorgfältig gelegte Frisur könne unter ihrer splendiden Generosität leiden. Kontakte mit anderen Gesellschaftsschichten, in diesem Fall Landwirten, seien unabdingbar. Wann immer Svea dann allerdings das blau karierte Kopftuch ihrer französischen Brieffreundin hatte auftauchen sehen, war sie in wogenden Weizenfeldern verschwunden oder hatte sich auf dem staubigen Sofa zusammengekauert, das in dem brütend heißen Dachstuhl stand. Aus allen Poren schwitzend, hatte sie ihre Nase in einer der alten Illustrierten vergraben. Jenen herb-chemischen Duft eingesogen, der von da an ihre Erinnerungen an Frankreich begleiten sollte. Später beschrieb sie dieses »aromatische Lesen« gerne als eine Art Geruchsrefugium. Sveas Bruder indessen, heute ein renommierter Psychologe, bescheinigte seiner aus Frankreich zurückgekehrten Schwester mäßige soziale Kompetenz sowie fehlenden Willen zur Geselligkeit. In froher Runde erzählte er gerne, wie er die kleine Schwester mit seinem altersschwachen Volvo immer wieder von Kindergeburtstagen habe erretten müssen. Viel lieber hätte sie sich ja mit den Hühnern der Nachbarn unterhalten. Mit den Hühnern! Stunde um Stunde habe sie da im Staub gehockt und unverständliches Zeug gebrabbelt. Ein Wunder, dass sie nicht Körner pickend vor ihnen säße. Wäre ihr treu sorgender Bruder nicht gewesen: Um ein Haar würde sie heute völlig introvertiert mit ihren gefiederten Freunden auf der Stange sitzen und sinnlos, zudem verhalten, vor sich hin gackern. An dieser Stelle pflegte er in gebrochenem Deutsch den Schlager Ich wollt’ ich wär’ ein Huhn zum Besten zu geben, was Svea ein müdes Lächeln entlockte. Sie fragte sich, wie diese Art provokativer Therapie wohl bei seinen Klienten ankam. Außerdem war sie einigermaßen stolz auf die altkluge Perfektion, mit der sie den gastgebenden Müttern in knappen Worten mitgeteilt hatte: Für sie sei der Kindergeburtstag nun leider zu Ende. Schön sei’s gewesen, danke, aber jetzt bräuchte sie ein bisschen Ruhe.

Sie hatte eben etwas dagegen gehabt, einen kostbaren Nachmittag damit zu vertun, Spielzeugautos an einer langen Schnur in Bestzeit auf eine Spule zu wickeln oder sich von angeseilten Dauerbrezeln die Lippen blutig schlagen zu lassen. Auch der Sauerei mit den Schaumküssen, die man, ohne die Hände zu benutzen, in sich hinein mampfen musste, hatte sie keinerlei Reiz abgewinnen können. Leider hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie auf Anzeichen von Frühbegabung hin zu testen. Obwohl ihr Interesse am Kommunikationsverhalten des gemeinen Federviehs durchaus Grund dazu gegeben hätte. Noch heute verblüffte sie Freunde mit der Aussage, jene Partys seien am schönsten, bei denen sie sich in einem anderen Raum befände, sodass nur gedämpftes Lachen und Gemurmel zu ihr hinüber drängen. Und: Wenn’s am schönsten ist, soll man aufhören. Gäste, die Sekt trinkend und munter plaudernd verweilten, während Svea sich im Geiste bereits auf ihr Date mit dem Sandmännchen vorbereitete, waren ihr von jeher ein Graus …

Mit rauchiger Stimme verkündete ihr die Dame vom Empfang: »Der Maître hat jetzt Zeit für Sie.«

Verzweifelt versuchte Svea, ihre Fingerabdrücke von der funkelnd schwarzen Tischplatte in Maître Brunauds Konferenzzimmer zu wischen. Gleichzeitig rekapitulierte sie einige Vokabeln, die sie beim Frühstück aus einer Broschüre namens »Bauen und Wohnen in Frank-reich« in ihr Kurzzeitgedächtnis katapultiert hatte. Ein Heftchen, das sich schon seit einigen Wochen in ihrem Besitz befand, von dessen Existenz Philipp allerdings erst heute Morgen stirnrunzelnd Kenntnis erhalten hatte.

Der Maître maß derweil müßig die Umrisse des Grundstücks mit einem Lineal und trug ungenaue Werte in das umfangreiche Dokument ein, das Svea daraufhin mit acht Unterschriften besiegeln musste. »Und unterschreiben Sie auch hier. Das sind«, er lächelte süffisant, »meine bescheidenen Gebühren.« Beinahe wehmütig ließ er daraufhin seinen Blick aus dem hohen Fenster mit den schweren Gobelinvorhängen schweifen. »Sie sind also Schwedin. Das wird nicht einfach für Sie werden da oben.«

»Wie meinen?« Ihr war, als senkten sich alle verfügbaren vogesischen Nebel des Grauens über sie.

Schicksalsschwanger beäugte sie der Maître über seine Goldrandbrille hinweg, als sei sie eine Todgeweihte in den Fängen unkalkulierbarer Naturgewalten, eine lothringische Geierwally, der Teile ihres Augenlichts bereits abhanden gekommen waren – hätte sie sonst diese Wiese erworben? Bedauernd schüttelte der Maître den Kopf. »Die Leute sind nicht einfach da oben. Und Sie sind noch nicht einmal Französin!«

Da schien ihr doch glatt ein irreversibler Makel entgangen zu sein. Schwedin zu sein garantierte normalerweise einen lebenslangen Exotenbonus, unterstrichen von weizenblondem Wallehaar, das sie zuweilen zu zwei schwedisch-nationalen Zöpfen flocht. Was war das überhaupt für ein komischer Vogel, da, auf seinem Siegelring? In Anbetracht des meisterlichen Honorars musste es sich ja wohl um jenen Geier handeln, der über der armen Wally seine Gedärme entleerte. »Also …!«, brach es aus ihr hervor.

Brunaud wischte ihren Einwand mit einer gebieterischen Handbewegung vom Tisch. »Erwarten Sie nicht zu viel. Zumal es auf Ihrem Grundstück noch kein Wasser und keinen Strom gibt. Sie müssen eine fosse septique bauen, wie sagt man noch?«

»Eine Klärgrube«, antwortete Svea kleinlaut.

»Nein, keine Klärgrube!« Brunaud schlug synchron mit beiden Händen auf den Tisch, wobei sein Siegelring ein schmerzhaftes Klirren produzierte. »Man gräbt ein Loch und baut eine Abwasserkonstruktion rein!« Wie zur Illustration formte er mit seinen Händen zwei furchteinflößende Schaufeln, als wolle er unmittelbar mit den Ausgrabungsarbeiten beginnen.

»Eine Klärgrube!«, fauchte Svea. Sie gewann merklich an Boden.

»Nein, keine Klärgrube!«

»Ja, aber …«

»Meine Zeit ist begrenzt, Madame! Unterschreiben Sie hier! Und noch mal hier! Und überweisen Sie die Summe auf mein Konto!«

»Sie können doch nicht im Ernst erwarten, dass ich Ihnen Geld überweise, wo ich noch nicht mal eine Unterschrift von Ihnen …«

Drohend baute sich der Maître vor ihr auf. Sündhaft teures Aftershave, mit dem eindeutig zu verschwenderisch umgegangen worden war, drang in Sveas Nase. »Meine Sekretärin wird Sie nach draußen begleiten.«

Unter dem gelangweilten Blick der Dame in Blau stolperte Svea durch die Tür, an die sie noch vor einer halben Stunde so mutig gepocht hatte. Ihr war kläglich zumute. War der Kauf zu spontan gewesen? Unbarmherzig kitzelten Zweifel ihre Kehle. Hinter ihren Augen lauerten Tränen. Mangelndes Selbstbewusstsein, hätte ihr Bruder in seiner unnachahmlichen Art gefolgert. Aber was konnte man schon von einer Frau erwarten, die mit fast vierzig immer noch mamma zu ihrer Mutter sagte.

Mit das Schönste auf der Welt war eine messti im Hôtel des Vosges. Das fanden zumindest die zweihundertachtzig Einwohner von La Hoube, die auf ihrem sechshundertachtundvierzig Meter hohen Berg jeder Abwechslung zugetan waren. In langen Reihen saßen sie gutgelaunt beisammen, während schwitzende Kellner riesige Platten mit pot au feu aus der Küche heraus balancierten und dampfende Schüsseln mit Pommes frites auf die rot karierten Tischdecken stellten. Die bunten Glühbirnen, die leise herüberwehende Musik hatten auch Philipp und Svea angelockt, die auf ihrem neu erworbenen Grundstück in einem zum Wohnmobil umgebauten Feuerwehrauto campierten. Über der Tanzfläche drehte sich ein flackerndes Stroboskop, das rote, grüne und gelbe Flecke auf den dunklen Holzboden tupfte. Die Gäste wiegten sich beseelt mit rosigen Wangen und Nasen im Takt deutscher Volksmusik.

Svea und Philipp lehnten ein wenig abseits an der eiche-rustikalen Theke. »Deux pressions, s’il vous plaît!« Philipp war sich nicht sicher, ob es ›un‹ oder ›une‹ hieß, bestellte deshalb lieber gleich zwei davon. Obwohl er als echter Saarländer seine Frau normalerweise beim Ordern der Getränke vergaß. Meins, wie der Saarländer gemeinhin seine Frau zu nennen pflegte, konnte sich ja selbst eins bestellen, wenn es eins wollte. Philipp riss das frisch gezapfte Bier wie ein Ertrinkender den Rettungsring auf seine Seite des Tresens. Unten, am Ende der Leine, hatte sich Lennart, der ohnehin winzige Rauhaardackel der Guzzos, klein gemacht. Ängstlich beäugte er die vorbeiklackernden Schuhe.

»Ich weiß nicht, ob wir hier richtig sind.« Vor Scham versuchte Philipp offenbar in sein Bierglas abzutauchen.

»Ach, ist doch ganz nett hier! Ist das nicht unser Nachbar?« Svea nahm Anlauf zu einer ungezwungenen Kontaktaufnahme. »Monsieur! Souvi… Souvenieren Sie sich? Wir haben gestern miteinander … ensemble …« Ohne aufzublicken, rückte der Mann ein Stückchen ab.

Bevor Svea sich ärgern konnte, erklommen zwei Burschen in gelben Kniebundhosen und rotem Wams unter kräftigem Stampfen die Bühne. Tosender Beifall brandete ihnen entgegen. Eilends wurden die Tische von Rindfleisch und Meerrettich befreit, damit der Strom der Fans ungehindert zur Tribüne wogen konnte. Sicherheitshalber hob Svea den Dackel auf ihren Schoß. Das mussten dann wohl die Fredis sein, der Top-Act des Abends, wie die Plakate verkündeten.

»Komm, wir gehen!« Philipp riss an Sveas Ärmel, doch sie schüttelte ihn ab. Nanu? Wo blieben ihre charakteristischen Würgegeräusche angesichts der ohne Zweifel anstehenden akustischen Vergewaltigung? Schon hob der kapitalere Fredi gebieterisch die Tuba, pumpte wie ein Maikäfer, bevor er das Instrument an seine wulstigen Lippen führte. Sein hagerer Partner drückte hurtig einige Knöpfe am Keyboard. Mit seinen braun karierten Schlappen tippte er rhythmisch auf den Boden und alsbald überspülte ein elektronisches Zehnmann-Orchester das verzückte Publikum. Unter den orgiastischen Gesichtszuckungen Fredis des Schmächtigen wurden die beiden Zugezogenen endlich von der Flut entfesselter Volkstümlichkeit zur Tür hinausgedrückt. Das letzte, was Svea sah, war das Funkeln zweier immens dicker Brillengläser, die dem Musikanten eine irre Abgedrehtheit verliehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, hatte er offenbar die musikalischen Höhen des Nirwana erreicht. Sie warf einen sehnsüchtigen Blick zu den bunten Glühbirnen zurück, die sich sachte in der lauen Luft wiegten und so verheißungsvoll die Nacht eingeläutet hatten.

Das Dorf indessen wirkte wie ausgestorben, wären nicht die verzerrten Musikfetzen gewesen, die, einem gespenstischen Singsang gleich, aus dem Gasthaus herüberwehten. Hie und da drang der matte Schein einer Lampe durch die Gardinen. An dem unheimlichen Haus mit der verblichenen Pernod-Reklame schaukelte leise quietschend eine zerbrochene Laterne. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Lennart hob witternd eine Pfote. Fröstelnd zog Svea ihre Strickjacke fester um sich. Das eben noch kühle Lüftchen war drauf und dran, in einen reellen Sturm umzuschlagen. Was ihn betraf, so wäre Philipp lieber in das ehemalige Feuerwehrauto zurückgekrabbelt. Zumal ihm leicht schwummerig war. Noch einen framboise und dann gemütlich …

»Jetzt komm schon!« Svea ruckte genervt an Lennarts Leine, doch der Hund stemmte seine kleinen Vorderbeine gegen den Asphalt, wobei er gleichzeitig versuchte, sich aus seinem Geschirr zu winden. Philipp nahm ihn auf den Arm. Lustlos folgte er Svea bei ihrer »Runde um den Block«, die sich hoffentlich nicht zu einer Nachtwanderung ausweiten würde – eine Spezialität seiner Frau. In ihrer Heimat konnte sie gut und gerne sechs Nachtstunden damit zubringen, Elchköteln hinterher zu schnüren, die ihrer Meinung nach unweigerlich zum König der nordischen Tierwelt führen musste.

Und nicht eine Dorftusse war da gewesen, die einen Blick gelohnt hätte, dachte er, während er seiner Frau hinterher stolperte. Bis auf … Hatte nicht übel ausgesehen. Obwohl er nur einen flüchtigen Blick auf sie erhaschen konnte, so hatten die Typen sie umringt. Braune Locken. Eine Menge brauner Locken. Verstimmt kickte er einen Stein über die Straße, der hohl aufschlagend in einem finsteren Eingang landete. Trotz des heulenden Windes war ihm, als hielte die Natur für einen Moment den Atem an.

Kaum zehn Minuten später stopfte sich Svea die gelben Schaumgummistöpsel etwas tiefer als sonst in die Ohren, um sich gegen das heftige Schnarchen ihrer beiden Männer zu schützen, die sofort in totenähnliche Starre verfallen waren. Augenblicklich umfing sie dumpfe Stille. Dabei wäre sie gerne mit dem Geräusch des Regens eingeschlafen, der seit geraumer Zeit auf das Dach trommelte. Und doch schlief sie in dieser Nacht unruhig. Beinahe war ihr, als sei jemand um das Wohnmobil herumgeschlichen und habe durch das Seitenfenster gespäht.

So fühlte es sich also an, wenn einem die Lebenssäfte schwanden. Ächzend versuchte er, seinen Körper in eine günstigere Lage zu bringen. Längst jedoch hatte er die Kontrolle über seine Glieder verloren. Konnte er die Finger um ein, zwei Millimeter in Richtung Handfläche biegen? Keine Chance. Mit einem süffisanten Schmatzen glitten sie am schlammigen Untergrund ab. Er gab nach, ließ sich in das weiche, nasse Braun sinken, während sich ein metallischer Geschmack in seiner Mundhöhle ausbreitete. Seine Zunge hing wie ein tauber Klumpen auf der Seite. Ein Fremdkörper. Mehr nicht. Wer hatte ihm dieses angeschwollene Gummiorgan da hineingepflanzt, diesen verdammten Tennisball, der sich um kein Jota bewegen ließ? Gut. Oder vielmehr: schlecht. An einen Hilfeschrei war nicht zu denken. Er versuchte es mit einem leichten Blasen, einem sachten Anspitzen der Lippen, so wie er es getan hatte, seit er das erste Mal mit dem Rohrstock seines Musiklehrers Bekanntschaft gemacht hatte. Nicht pusten wie ein Ochse, du Dummkopf! Mit Gefühl, ja! Nicht doch, du musst natürlich auch ein bisschen Druck dazugeben! Sacré nom de dieu! Hast du schon mal einen Waschlappen pfeifen hören?

Ein weiteres Äderchen platzte in seinem Hirn. In einem letzten verschwommenen Gedanken sinnierte er darüber, dass er sein Instrument nicht mehr gereinigt hatte, bevor er nach draußen gegangen war. Er kicherte ein wenig in sich hinein, was ihm einen scharfen Schmerz in den Nebenhöhlen einbrachte. Ausgerechnet heute Abend hatte er vergessen, sein Instrument auszuwischen. Alles voller Spucke. Er hatte sein Bestes gegeben, und jetzt stand es vollgesabbert in der Gaststube. Wartete darauf, mit einem weichen Tuch von seinen Körpersäften gereinigt zu werden, wollte poliert und dann sorgsam im Kofferraum seines Wagens verstaut werden. Nein, so sollte man wirklich nicht von dieser Erde abtreten. Mit Spucke in der Tuba … Hier lag er, im Dreck, völlig benebelt. Mon dieu, war das kalt hier! Er seufzte, ein kleines, beinahe schüchternes Seufzen … Dann wurde es Nacht um ihn.

Irgendwann hatte das dumpfe Anlassen eines Motors sie aus dem Schlaf gerissen. Später noch hatte sie mit halbem Ohr das kehlige Starten eines zweiten Wagens registriert, sich aber nicht weiter darum gekümmert. Vage erinnerte sie sich ihrer Vision von einem Gesicht vor dem Fenster, das sich schemenhaft von der Dunkelheit abgehoben hatte. Zu viel Bier. Seit geraumer Zeit schon drückte es auf ihre Blase, aber sie hatte sich nicht aus dem Wagen getraut. Hoffentlich besorgte Philipp bald diese Chemietoilette.

Genervt entledigte sie sich ihrer Ohrstöpsel, bevor sie mit zittrigen Beinen aus dem Wohnmobil kletterte. Sie rieb sich die müden Augen. Hinter ihren Lidern explodierten kleine, weiße Sternchen, als sie verkniffen in das milchige Grau blinzelte, das die dunkle, regnerische Nacht durchwaberte, geisterhaft die Konturen eines einsamen Apfelbäumchens nachzeichnete. Dunkle Bergkämme schoben sich bedrohlich durch das fahle Licht. Langsam kroch die Feuchtigkeit in Sveas Norwegerpullover. Zusammengekrümmt stapfte sie in Philipps Badelatschen weiter, fluchte, als sie sich den großen Zeh an ihrem Spaten stieß, der, keine fünfzehn Meter vom Transit entfernt, in der Wiese lag. Hatte ihre Mutter nicht immer gewarnt: »Unordnung bestraft sich selbst!«? Gleich morgen würde sie ihn wegräumen. Endlich hockte sie sich ins nasse Gras, das sie unangenehm am Po kitzelte. Mit gemischten Gefühlen begutachtete sie das Feuerwehrauto, dessen knalliges Rot einem blassen, kränklichen Rosé gewichen schien. Vorsichtig lotete sie die nähere Umgebung aus. Keine Menschenseele. Gut so.

Sie beschloss, sich noch eine Weile in den warmen Schlafsack zu kuscheln. Wie spät war es eigentlich? Sie hievte sich in den Wagen, grapschte nach ihrer Uhr, die unter Hakle-Feucht, Wanderkarten und einer aufgerissenen Packung Madeleines vergraben lag. Viertel vor fünf. Hektisch versuchte sie aus dem Gewirr von Decken, Hunden und Männern ihren Schlafsack herauszufischen.

Philipp ließ ein unwilliges Knurren hören. Musste sie morgens so eine Wallung machen? Er kniff seine Augen fester zusammen, da er befürchtete, dass sie ihm einen Kuss auf dieselbigen geben würde. Wenn er jetzt auch nur das kleinste Lebenszeichen von sich gab … Hatte man bei Svea einmal auf »An« geschaltet, gab es kein Halten mehr. Eine menschliche Atombombe. Wahrscheinlich befand sich irgendwo – hinter ihrem linken Ohr vielleicht? – ein implantierter Mikrochip, der sie im Bruchteil einer Sekunde von null auf hundert katapultierte. Oder, mutmaßte Philipp, es lag an dem ewigen Fisch mit Kartoffeln, die sie da oben im Norden aus ihren kargen Erdschollen hervorquälten. Den Aus-Schalter hatten sie aus unerfindlichen Gründen vergessen.

Svea grub sich so tief wie möglich in ihren Schlafsack. Nach etwa zwei Dritteln stießen ihre Füße auf einen kleinen, aber hartnäckigen Widerstand. Aha, der kleine Lennart hatte es sich wieder darin bequem gemacht. Er schlummerte selig, wobei er leise vor sich hin schmatzte. Und Philipp sah mit seinen schlafrosa Bäckchen heute besonders niedlich aus. Sie beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss aufs rechte Auge.

II

Für Armand Eschenbrenners Geschmack war an diesem Montagmorgen eindeutig zu viel los auf der Wache. Erst war dieser Austauschpolizist aufgetaucht, der ausgesehen und gerochen hatte, als habe er eine Woche in irgendeinem Wanderzirkus verbracht. In merkwürdigem Kauderwelsch hatte er ihm zu erklären versucht, wer er sei. Na, den hatte er schön vorgeführt mit einem knappen »Schwätze Sie aouch döitsch?«. Sofort war der Mann zusammengeschrumpft, wie ein Gummitier, in das man eine Nadel gestochen hatte. Dann war die Frau Ferdinand Legrands, des dicken Fredi, hereingestürmt. Wollte ihren Mann als vermisst melden. Sollte doch froh sein, wenn der Dicke sich mal woanders die Wampe vollschlug, hatte er gewitzelt. Was er, Armand, sich erdreiste!, hatte sie geschrien. Ach, die Welt war eben noch nicht reif für seinen feinsinnigen Humor.

»Wann hast du ihn denn das letzte Mal gesehen?« Er schenkte Sandrine ein nachsichtiges Lächeln.

»Na da, wo du ihn auch das letzte Mal gesehen hast! Auf der messti, am Samstag!«

»Dann wird er irgendwo noch seinen Rausch ausschlafen. Du musst deinen Mann auch mal in Ruhe lassen, Sandrine!«, meinte er kopfschüttelnd.

»Jetzt fang du auch noch an, ihn zu verteidigen! Jedes Wochenende auf Tour und da soll ich einfach so ruhig bleiben… mit den ganzen nanas!« Sandrine wischte sich den Schweiß von der flächigen Stirn, der schon seit geraumer Zeit in Richtung ihres üppigen Busens rann. Eschenbrenner fand, dass ein so hübsches Wort, das er wohlwollend mit übersetzte, nicht in ein so grobes Mundwerk wie das seines Gegenübers passte. »Écoute, haschd du dei’ Fredi in der letzte Zitt mal angesehe’? Da muss eine ja schon an Geschmacksverirrung leiden…!«

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