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Wie kollaborativ ist kollaboratives Schreiben? Die Arbeit untersucht, wie Schüler:innen zu zweit in der Fremdsprache Französisch schreiben. Dabei fokussiert sie Momente, in denen sich die Paare uneinig oder unsicher sind, und analysiert, wie sie diese Situationen lösen. Mittels eines gesprächsanalytischen Vorgehens werden fünf Problemlösetypen rekonstruiert. Damit liefert die Studie detaillierte Einblicke in kollaborative Schreibprozesse. Sie legt differenzierte Schlüsse sowohl für die Schreibtheorie als auch die tägliche Unterrichtspraxis nahe und zeigt die Komplexität dieser Schreibform auf.
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Seitenzahl: 558
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Linda Pelchat
Kollaboratives Schreiben
Eine rekonstruktive Studie zu Problemlösepraktiken im Französischunterricht
Mit freundlicher Unterstützung der Barbara und Alfred Röver-Stiftung.
Der ursprüngliche Titel dieser Arbeit lautete: „Fremdsprachliches Schreiben. Eine rekonstruktive Studie zu Problemlösepraktiken beim kollaborativen Schreiben im Französischunterricht“. Sie wurde an der Universität Kassel im Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften eingereicht. Datum der Disputation: 20. Januar 2021.
https://www.doi.org/10.24053/9783823395287
© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 0175-7776
ISBN 978-3-8233-9528-7 (Print)
ISBN 978-3-8233-0336-7 (ePub)
Mein herzlicher Dank gilt allen, die mitgedacht, diese Arbeit begleitet,bereichert und ihren Teil zum Gelingen beigetragen haben.
Auf diese Weise äußerten sich Schülerinnen und Schüler einer 11. Klasse in dem vorliegenden Datensatz zum kollaborativen Schreiben.1 Es handelt sich um Aussagen, die in Fragebögen notiert oder im Prozess des kollaborativen Schreibens im Französischunterricht geäußert wurden. Mit den hier ausgewählten Zitaten soll erstens in die hier zugrundeliegenden Daten eingestimmt werden. Die Schülerinnen und Schüler kommen selbst zu Wort und es soll gezeigt werden, dass und wie sie etwas zu sagen haben: Sie stehen in dieser Arbeit im Fokus. Zweitens verweisen ihre Äußerungen auf diejenigen Themen und Inhalte, die in der vorliegenden Studie bearbeitet werden: Es geht um eine Schreibform, die unter konkreten schulischen Rahmenbedingungen realisiert wird (wir müssen) und die sowohl auf einen erwarteten Mehrwert (mehr ideen, besser hinkriegen) als auch auf damit verbundene Herausforderungen (so schwer) hindeutet. Mit ihren Äußerungen wird das Feld aufgespannt, das in dieser Arbeit empirisch bearbeitet wird. Es wird untersucht, wie Schülerinnen und Schüler in dyadischer Konstellation eine Schreibaufgabe in einem realitätsnahen, schulischen Unterrichtssetting bearbeiten und was daraus für Theorie und Praxis resultieren kann.
Nous écrivons parce que nous devons.1
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist eine schreibdidaktische Motivation. Sie geht auf die Erfahrung zurück, dass erstens die Tätigkeit des Schreibens im Fremdsprachenunterricht gleichermaßen alltäglich, verankert und aufgrund der überwiegend schriftlichen Prüfungsformate grundlegend ist. Zweitens zeigt die Erfahrung auch, dass das Schreiben überwiegend dafür angewandt wird, sprachliches Wissen zu trainieren und zu überprüfen, womit seine Funktion reduziert wird und woraus ein unfreiwilliges, möglichst korrektes Aneinanderreihen von Wörtern resultieren kann, wie es häufig zu beobachten ist (s. Zitat). Verbunden damit ist drittens festzustellen, dass der Fokus i.d.R. auf der Textebene liegt und dem Schreibprozess wenig Beachtung geschenkt wird, obwohl gerade dieser Einblicke und Aufschlüsse über Schwierigkeiten bei der Textproduktion geben kann (vgl. z.B. Grésillon/Perrin 2014: 82f.; Lehnen 2000: 7, 2017: 299f.).
Eine Schreibform, die den Prozess in den Vordergrund rückt, ist das kollaborative Schreiben. Dabei schreiben zwei oder mehr Personen gleichzeitig gemeinsam einen Text, was voraussetzt, dass sie sich austauschen. Auf diese Weise werden Einblicke in die komplexen Schreibprozesse gegeben und die interaktionale Ebene wird relevant. Das kollaborative Schreiben kann mit Aspekten einhergehen, die aus lerntheoretischer Sicht von besonderem Interesse sind. So konnte bspw. Storch in mehreren Studien feststellen, dass sich beim gemeinsamen Schreiben folgende Phänomene beobachten lassen: Die gemeinsame Wissensbasis vergrößert den Ressourcenzugriff insgesamt (Pooling), die Interaktanten können sich ergänzen und unterstützen (Scaffolding), sie verbalisieren dabei ihr Vorgehen und ihre Überlegungen (Languaging), wodurch sie Bewusstheit erlangen und evtl. Lücken identifizieren können (vgl. z.B. Storch 2016: 389f.). Diese Beobachtungen basieren auf Studien, die überwiegend mit fortgeschrittenen Lernenden, meist Erwachsenen im universitären Kontext für den Bereich English as a Second Language (ESL) und English as a Foreign Language (EFL) durchgeführt wurden. Der Fokus lag dabei überwiegend auf der sprachformalen Korrektheit bestimmter grammatischer Phänomene, entsprechend wurden überwiegend reproduzierende Formate wie das Dictogloss2 eingesetzt (vgl. u.a. Storch 2013: 45ff.).3 Trotz dieser auch für den schulischen Fremdsprachenunterricht durchaus vielversprechenden Erkenntnisse wird das kollaborative Schreiben dort kaum eingesetzt und wenig beforscht, wie auch ein Blick in die Literatur bestätigt (vgl. Storch 2013: 1). Dies scheint im Widerspruch zu stehen mit den Potentialen, die aus Studien zum kollaborativen Schreiben bekannt sind. Diese Ausgangssituation wird in dieser Studie zum Anlass genommen, das kollaborative Schreiben im Fremdsprachenunterricht einzusetzen und forschend zu begleiten. Anders als Storch und weitere, die den Fokus hauptsächlich auf die grammatische Korrektheit legen, soll in der vorliegenden Arbeit ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt werden, der die Interaktionen der Schülerinnen und Schüler in den Blick nimmt und damit auch einen Beitrag leistet zu der bislang wenig erforschten Perspektive der Schülerinnen und Schüler (vgl. Trautmann 2014: 78). Dies soll anhand der Gesprächsanalyse nach Deppermann (2008) umgesetzt werden, denn sie erfasst neben der linguistischen auch die interaktionale Ebene und basiert auf realitätsnahen Daten.
Um den vielschichtigen Gegenstand des kollaborativen Schreibens im Hinblick auf das fremdsprachliche Lernen und Lehren in angemessener Tiefe erforschen zu können, soll dieser weiter fokussiert werden. Das Augenmerk ist auf diejenigen Momente gerichtet, die aus fremdsprachendidaktischer Sicht als besonders vielversprechend einzustufen sind. Dazu gehören – versteht man das Fremdsprachenlernen als einen konstruktiven Prozess – insb. Momente, in denen eine intensive Auseinandersetzung mit der Fremdsprache stattfindet. Derartige Momente ergeben sich vor allem dann, wenn zwei oder mehr Personen zusammenarbeiten. Zu nennen sind hier bspw. Bedeutungsaushandlungen (vgl. Schwab 2009: 314), Aushandlungsmomente (vgl. Lehnen 2014: 415), Prozesse der gemeinsamen Wissensbildung (vgl. Keller 2013: 241) oder auch Momente, in denen die Sprache selbst thematisiert wird, sog. Language Related Episodes (LRE)4. Der Ansatz, der in dieser Arbeit verfolgt wird, besteht darin, Problemlöseprozesse, wie sie in der psychologischen Problemlöseforschung beschrieben werden, in den vorliegenden Daten zu identifizieren und als Analyseeinheit zugrunde zu legen. Das Problemlösen geht, wie auch die vorher genannten Phänomene, einher mit einer aktiven Auseinandersetzung und Konfrontation mit den vorhandenen Ressourcen der Interaktanten sowie – bedingt durch das Setting des kollaborativen Schreibens – mit dem Einsatz sozialer Ressourcen. Ein Problem wird von den Schreibenden erstens festgestellt, zweitens wird dieses mittels Denkprozessen bearbeitet und drittens dabei möglichst gelöst. Problem und Problemlösen wird hier im psychologischen Sinne verwendet und ist nicht wie im Alltagsverständnis impliziert negativ i.S. von ‚schwierig‘ ‚problematisch‘ zu verstehen (s. auch Kap. 2.3.1.).
Da es sich hier um eine fremdsprachendidaktische Arbeit handelt, interessieren dabei insb. fremdsprachliche Problemlösesequenzen, also Sequenzen, die sich auf das Lösen fremdsprachlicher Probleme beziehen. Damit ist der Fokus auf diejenigen Bereiche gelenkt, die von den Schülerinnen und Schülern selbst als bearbeitungswürdig wahrgenommen werden. Es wird untersucht, wie sie ihre fremdsprachlichen Probleme gemeinsam bearbeiten, wobei die interaktionale Ebene miteingeschlossen ist. Auf diese Weise wird ein begrenztes und dennoch vielschichtiges fremdsprachendidaktisches Interesse verfolgt, das nach fremdsprachlichen Phänomenen, individuellen, kognitiven Prozessen sowie sozialen Zusammenhängen fragt. Dieses Erkenntnisinteresse wird in den folgenden zwei Forschungsfragen konzentriert.
Das Erkenntnisinteresse besteht darin, zu erfahren, welche Funktionen das kollaborative Schreiben im Französischunterricht erfüllen kann und welche Schlüsse daraus gezogen werden können. Dafür wird zunächst nach den Bearbeitungen der Schülerinnen und Schüler gefragt (Forschungsfrage 1). In einem zweiten Schritt werden diese eingeschätzt (Forschungsfrage 2):
Forschungsfrage 1: Wie bearbeiten die Schülerinnen und Schüler ihre fremdsprachlichen Probleme?
Diese Frage legt den Fokus auf die Handlungen der Schülerinnen und Schüler. Auf einer beschreibenden Ebene wird erfasst, was sie wie und mit welchem Ziel tun. In ihren konkreten Handlungen wird nach Erklärungen für ihre Handlungen sowie nach musterhaften Bearbeitungen gesucht, die in ihren Gesprächspraktiken manifest werden. Praktiken werden in diesem Kontext in ihrem Sinne als in einer konkreten Situation stattfindende, wiederkehrende, musterhafte Handlungen verstanden (vgl. Deppermann 2008).1 Da es sich hier um Gesprächspraktiken handelt, die auf Problemlösesequenzen bezogen sind, werden diese fortan als Problemlösepraktiken bezeichnet. Aus diesen Praktiken wiederum sollen schließlich Problemlösetypen entwickelt werden.
Aus fremdsprachendidaktischer Perspektive drängt sich dabei die Frage nach einer Einschätzung dieser Bearbeitungen auf. Diese wird mit der zweiten Forschungsfrage angegangen:
Forschungsfrage 2: Welche Funktionspotentiale können anhand dieser Bearbeitungen rekonstruiert werden?
Hier liegt der Fokus auf den Einschätzungen der Handlungen der Schülerinnen und Schüler. Es wird danach gefragt, welche möglichen Funktionen (Funktionspotentiale) durch die Bearbeitungen erfüllt werden können, also grundsätzlich möglich sind (z.B. ein sprachliches Problem zu lösen oder nicht zu lösen). Aus diesen Funktionen wiederum können Schlüsse gezogen werden auf damit verbundene eventuelle Lernpotentiale und Grenzen. Es geht also grundsätzlich um die Funktion und Bedeutung, die die Bearbeitungen der Schülerinnen und Schüler haben können. Die Beantwortung dieser Frage soll auch Aufschluss darüber geben, wie ‚erfolgreich‘ diese Bearbeitungen sind.
Ausgehend von einem fremdsprachendidaktischen Anspruch, der grundsätzlich darauf abzielt, Lern- und Lehrprozesse (besser) zu verstehen, um diese letztendlich beeinflussen zu können, sollen mit der vorliegenden Arbeit detaillierte Einblicke in den gemeinsamen fremdsprachlichen Schreibprozess der Schülerinnen und Schüler gegeben werden. Dabei wird ihre Perspektive in den Vordergrund gerückt, ihren Stimmen Gewicht verliehen, was methodisch durch einen gesprächsanalytischen Zugang umgesetzt wird. Ihre Handlungen werden in den Problemlösesequenzen herausgearbeitet und die damit einhergehenden Funktionen und Ziele ermittelt, um zu verstehen, wie und wozu die Schülerinnen und Schüler in einer bestimmten Weise handeln. Dabei wird nach Handlungsmustern und möglichen Zusammenhängen gesucht. Indem konkrete Praktiken aufgedeckt werden, können – so die Annahme – komplexe Abläufe, Prozesse und Zusammenhänge sichtbar werden. So wird ausgehend von einem konkreten Phänomen nach seiner Realisierung in einem bestimmten Kontext gefragt (vgl. auch Feilke 2016a: 273ff.).
Aus der Anlage der Arbeit und den damit verbundenen Zielsetzungen wird ersichtlich, dass es sich um eine Momentaufnahme eines begrenzten Phänomens handelt und keine Aussagen über Lerneffekte zulässt. Jedoch geht es in dieser Arbeit zentral um die Frage nach Funktionspotentialen und damit auch um mögliche Lerngelegenheiten. In diesem Sinne möchte diese Forschung in erster Linie dazu beitragen, Einblicke in die konkrete Anwendung des kollaborativen fremdsprachlichen Schreibens zu geben, auf Prozesse und Funktionen hinzuweisen, daraus Potentiale und Risiken zu rekonstruieren und damit Informationen zu liefern, die unmittelbar relevant für die Theoriebildung und die fremdsprachliche Unterrichtspraxis sein können (s. Kap. 4.2.). Auf diese Weise soll auf einen informierten und reflektierten Umgang mit dem kollaborativen Schreiben hingewirkt werden.
Es handelt sich bei der vorliegenden Studie um eine fremdsprachendidaktische Arbeit, die naturgemäß interdisziplinär ausgerichtet ist. Sie ist interessiert an fremdsprachlichen Lehr- und Lernprozessen im Kontext des Französischunterrichts. Diese können nicht losgelöst von dem gegebenen Kontext, den Akteuren und Akteurinnen sowie den angrenzenden Disziplinen betrachtet werden. Für die vorliegende Arbeit bedeutet dies i.S. eines „interdisziplinär-integrativen Ansatzes“ (Bausch et al. 2016: 20f.) andere Disziplinen einzubeziehen und zu ‚nutzen‘,1 um Erkenntnisse für das komplexe Feld der Fremdsprachendidaktik zu generieren (vgl. Aguado 2019: 68f.; Schmenk 2019; Wilden/Rossa 2019). Konkret bedeutet dies für diese Arbeit den Einbezug der (kollaborativen) fremdsprachlichen Schreibforschung, der Interaktions- sowie der Problemlöseforschung. Mit dem kollaborativen Schreiben wird der Fokus auf den fremdsprachlichen Schreibprozess gelegt (Kap. 2.1.2.). Durch das kollaborative Schreiben (Kap. 2.1.3.) sind die Interaktanten gezwungen sich auszutauschen, Interaktion wird zu einer Bedingung, weshalb die Interaktionsforschung einbezogen wird (Kap. 2.2.). Die Problemlöseforschung wird insofern einbezogen, als Problemlösesequenzen die Analyseeinheit darstellen. Sie wird dafür genutzt, diejenigen Sequenzen aus den Daten auszuwählen, die als relevant eingestuft werden (Kap. 2.3.). Es geht hier also darum, die jeweiligen Forschungsbereiche zu nutzen, um den vorliegenden, vielschichtigen Forschungsgegenstand umfassend bearbeiten zu können.
Theoretisch gerahmt werden diese Forschungsbereiche mit der zugrunde liegenden, sprachlerntheoretischen Annahme, dem soziokulturellen Ansatz,2 der die soziale Ebene prominent miteinschließt. Ausgehend von den Arbeiten des Entwicklungspsychologen Vygotskijs in der Weiterführung und Anwendung für den Kontext des Zweit- und Fremdsprachenlernens und -lehrens3 von Lantolf/Poehner (2008) und Compernolle (2015) wird (Fremdsprachen-)Lernen verstanden als ein sozial eingebetteter konstruktiver Prozess, bei dem das Verhaltens- und Handlungsrepertoire verändert bzw. erweitert wird (vgl. Tassinari 2010: 130). Folglich spielen die zwischenmenschliche, kommunikative Interaktion und auch der jeweilige Kontext eine zentrale Rolle und beeinflussen sich wechselseitig (vgl. Compernolle 2015: 5; Vygotskij 1978: 79ff.).4 Für den Fremdsprachenunterricht bedeutet dies, dass er ein Ort ist, an dem Sprache erstens vermittelt wird (Gegenstand) und zweitens Gelegenheiten gegeben werden, die Sprache anzuwenden (Medium). Dies erfolgt vor allem in Situationen, die realen Sprachverwendungssituationen nachempfunden, folglich simuliert werden (vgl. z.B. Edmondson/House 2011: 244). Bei der Frage der Vermittlung (mediation) wird aus soziokultureller Perspektive das von Vygotskij entwickelte Konzept der sog. Zone of Proximal Development (ZPD) bedeutsam. Damit beschreibt er seine Entdeckung, wonach Kinder mit Unterstützung zu Handlungen fähig sind, die sie alleine nicht realisieren könnten.5 In dieser ZPD offenbare sich, so seine Argumentation, die zukünftige Entwicklung, das was noch nicht gereift, aber im Prozess der Reifung befindlich ist, trete zu Tage. Demnach betrachtet er die ZPD auch als Werkzeug, mit dem zukünftige Entwicklung erfasst werden kann: „what a child can do with assistance today she will be able to do by herself tomorrow.‟ (ders. 1978: 87; vgl. auch ebd.: 85ff.). Mit diesem Konzept wird ein zentraler Bereich des Lernens erfasst, der in direkter Abhängigkeit zu menschlicher Interaktion steht und damit die soziale Ebene betont, eine Erkenntnis, die besonders im Bildungskontext viel rezipiert wurde (vgl. z.B. Bernié/Brossard 2014; Jegodtka 2016; Lengyel 2009; Vadeboncoeur 2017) und auch für die vorliegende Arbeit eine zentrale Rolle spielt.
Vor diesem Hintergrund möchte die vorliegende Studie ausgehend von Beobachtungen einer realitätsnahen Unterrichtspraxis rekonstruktiv das kollaborative fremdsprachliche Schreiben untersuchen. Sie möchte damit einen Beitrag leisten zur kollaborativen fremdsprachlichen Schreibforschung und dabei die Perspektive der Schülerinnen und Schüler, die bislang dabei weitgehend außen vor gelassen wurde, in den Vordergrund rücken.
Die vorliegende Arbeit besteht aus vier Teilen. Auf die Einleitung, die einen groben Überblick über Erkenntnisinteresse, die damit verbundenen Forschungsfragen sowie die Zielsetzung gibt (1) folgen die theoretischen Grundlagen (2). Darin werden diejenigen Forschungsfelder ausgeführt, auf denen die empirische Untersuchung basiert. Im Kapitel zum Schreiben in der Fremdsprache (2.1.) wird einführend die Ausgangslange des Schreibens im schulischen Kontext allgemein dargestellt sowie Funktionen und Einflussfaktoren aufgezeigt (2.1.1.). Daraufhin wird das fremdsprachliche Schreiben erläutert (2.1.2.). Dafür wird einführend eine Begriffsklärung vorgenommen (2.1.2.1.). Es folgt ein Forschungsüberblick (2.1.2.2.). Im anschließenden Kapitel werden die Spezifika des fremdsprachlichen Schreibens herausgestellt (2.1.2.3.). Im Kapitel zum kollaborativen Schreiben (2.3.1.) wird diese Schreibform zunächst vorgestellt (2.1.3.1.). Der diesbzgl. Forschungsüberblick wird skizziert (2.1.3.2.) und daraufhin diejenigen Elemente ausführlich besprochen, die sich im Hinblick auf die vorliegende Arbeit als besonders relevant erweisen (2.1.3.3.). Das Schreibkapitel endet mit einer Zusammenfassung (2.1.4.).
Das Kapitel zur Schüler-Schüler-Interaktion (2.2.) diskutiert einführend den Begriff (2.2.1.), gibt einen Forschungsüberblick (2.2.2.), widmet sich zentralen Aspekten der Schüler-Schüler-Interaktion (2.2.3.) und endet mit einer Zusammenfassung (2.3.4.).
In dem Kapitel zum Problemlösen (2.3.) wird zunächst einführend das Phänomen des Problemlösens dargestellt (2.3.1.). Auf den Forschungsüberblick (2.3.2.) folgt die Anwendung des Problemlösens auf den fremdsprachlichen Kontext (2.3.3.), die in einer Arbeitsdefinition mündet (2.3.4.). Eine Zusammenfassung beschließt das Kapitel (2.3.5.).
In dem abschließenden Kapitel zu den theoretischen Grundlagen (2.4.) wird eine zusammenfassende Betrachtung der drei Forschungsbereiche (Schreib-, Interaktions- und Problemlöseforschung) in Bezug auf das hier zugrunde liegende Erkenntnisinteresse gegeben und es werden Schnittstellen aufgezeigt.
Im dritten empirischen Teil dieser Arbeit (3) werden zunächst die methodisch-methodologischen Grundlagen gelegt (3.1.). Dafür wird die Anlage der Studie vorgestellt (3.1.1.). Die Datenerhebung wird beschrieben (3.1.2.), die Wahl der Analysemethode begründet (3.1.3.) und die Vorgehensweise erläutert (3.1.4.). Dieser Teil endet mit einem methodenkritischen Rückblick (3.1.5.).
Das Kapitel der Analyseergebnisse (3.2.) beginnt einführend mit Informationen zur empirischen Datengrundlage (3.2.1.). Es folgen die Darstellungen der jeweiligen Problemlösetypen (3.2.2.). Das darauffolgende Kapitel (3.2.3.) enthält eine typenübergreifende Betrachtung. Dabei werden die Typen in Bezug auf ihr Vorkommen (3.2.3.1.) und im Vergleich untereinander behandelt (3.2.3.2.) und eingeschätzt (3.2.3.3.). Das in dieser Arbeit realisierte Analysevorgehen wird in Kapitel 3.2.4. reflektiert. Der empirische Teil endet mit einer zusammenfassenden Betrachtung der Analyseergebnisse (3.2.5.).
Der vierte und letzte Teil dieser Arbeit (4) widmet sich den Schlüssen, die aus den empirischen Analysen vor dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen gezogen werden können. Dafür wird zunächst die Studie zusammenfassend dargestellt (4.1.). Im Kapitel der Schlussfolgerungen (4.2.) wird diskutiert, welche Implikationen sich aus den vorliegenden Ergebnissen für die Theorie (4.2.1.) und die unterrichtliche Praxis (4.2.2.) ergeben können. Die Arbeit endet mit einer abschließenden Diskussion der Ergebnisse und einem Ausblick (4.3.).
Der Anspruch der vorliegenden Arbeit ist es, möglichst eindeutige Begriffe zu verwenden. Es wird versucht, das Gemeinte möglichst genau und unmissverständlich zu benennen. Dafür werden, sofern sinnvoll und notwendig, Begriffe bei ihrer Erstnennung eingeführt und ggf. diskutiert sowie das zugrunde gelegte Verständnis erläutert. Damit einher geht auch, sich möglichst konsequent innerhalb eines Diskurses zu bewegen, um Verwirrung und Unschärfe zu vermeiden. Das bedeutet konkret, dass bspw. bezogen auf die Analyse weitgehend das Vokabular von Deppermann angewendet wird (Gesprächspraktik, Typ, Typologie etc.).
Bei der zugrunde gelegten Literatur handelt es sich vorwiegend um deutschsprachige Quellen aus unterschiedlichen Fachrichtungen (Fremdsprachen-, Französisch-, Englischdidaktik, Allgemeinpädagogik, Psychologie). Darüber hinaus wird insb. auf anglophone und z.T. frankophone Literatur zurückgegriffen.1 Mit der Verwendung vielsprachiger Quellen wiederum ist ein Wechsel zwischen Sprachen verbunden und damit einhergehend ein noch stärkerer Wechsel zwischen den Diskursen, der dann zu Entscheidungen zwingt, wenn Konzepte und damit verbundene Begriffe in einem anderen Sprachraum, einer anderen Disziplin nicht vorhanden sind oder unterschiedlich verwendet werden (wie z.B. die Kompetenzdebatte, die hauptsächlich im deutschsprachigen Raum geführt wurde). In dieser Arbeit wird angestrebt, in der Bewegung zwischen den Forschungsbereichen und Sprachen keine zentralen Ideen zu verlieren oder diese zu modifizieren, sondern stattdessen diese Vielfalt zu nutzen. Weshalb, sofern Übersetzungen uneindeutig sind, möglichst originalsprachliche Begriffe eingesetzt werden. Gleichzeitig kann an manchen Stellen auf begriffliche Unschärfe nur hingewiesen werden. In der anglophonen Forschung z.B. wird häufig nicht unterschieden, ob es sich um eine im informellen Kontext gelernte Zweitprache (Second Language) oder um eine Fremdsprache (Foreign Language) handelt. Stattdessen wird häufig beides unter Second Language subsumiert, worauf die Forscherinnen und Forscher z.T. selbst hinweisen (z.B. Compernolle 2015: 1; Storch 2013: 1). Dieses Vorgehen ist zwar einerseits verständlich und sinnvoll, da durchaus viele Überschneidungen vorliegen, die eine gemeinsame Betrachtung nahelegen und damit auch das Forschungsfeld erweitern. Andererseits geht dies mit Informationseinbußen einher. Auf diese Weise können bspw. Einflussfaktoren, die spezifisch für den einen oder anderen Kontext sind, nicht mehr zugeordnet werden (vgl. auch Reichert/Marx 2020: 37). Idealerweise wäre hier außerdem noch weiter zu differenzieren zwischen der erstgelernten Fremdsprache, i.d.R. Englisch, und weiteren gelernten Fremdsprachen, sog. Tertiärsprachen. Bei Letzteren liegen die Erfahrungen der erstgelernten Fremdsprache vor und können dementsprechend genutzt werden, was spezifische Lernbedingungen schafft. Aufgrund der begrenzten Forschungslage zum kollaborativen, fremdsprachlichen Schreiben allgemein und dem damit verbundenen notwendigen Rückgriff auf Erkenntnisse aus der anglophonen Schreibforschung kann diese Differenzierung in dieser Arbeit jedoch nicht geleistet werden. Entsprechend wird in der vorliegenden Arbeit soweit möglich unterschieden zwischen der Erst- Zweit- und Fremdsprache. Der Begriff Erstsprache (und nicht die konnotierte Bezeichnung Muttersprache) wird verwendet, um die erstgelernte Sprache zu bezeichnen. Als Zweitsprache wird diejenige Sprache bezeichnet, die im informellen (meist familiären) Kontext gelernt wurde. Als Fremdsprache werden die im institutionellen Rahmen erlernten Sprachen bezeichnet.
Mit diesem Anspruch geht letztlich auch einher, eine möglichst genderneutrale Sprache zu verwenden. Es wird von Schülerinnen und Schülern gesprochen, wenn beide gleichermaßen gemeint sind. Geht es nur um männliche oder weibliche Personen wird die geschlechtsspezifische Bezeichnung gewählt. Grundsätzlich werden, soweit möglich, geschlechtsübergreifende Begriffe wie Interaktanten, Lehrkräfte etc. eingesetzt. Wird davon abgewichen, wird dies an der jeweiligen Stelle vermerkt und diskutiert bzw. begründet. Wenn genderneutrale Benennungen die Lesbarkeit deutlich erschweren (wie bspw. Interaktion zwischen Schülerinnen/Schülern und Schülerinnen/Schülern), wird das generische Maskulinum verwendet und damit Personen beiden Geschlechts bezeichnet. Wenn möglich, wird dabei auf feststehende Bezeichnungen zurückgegriffen (z.B. Schüler-Schüler-Interaktion, Experte-Novize).
In diesem Kapitel werden diejenigen Bereiche und ihre theoretischen Hintergründe, die für das vorliegende Forschungsinteresse relevant sind, erläutert. Da es sich um eine fremdsprachendidaktische Arbeit handelt, spielen Bezugswissenschaften naturgemäß eine große Rolle (s. auch Kap. 1). Gegenstand sind Problemlösepraktiken von Schülerinnen und Schülern beim kollaborativen Schreiben im Französischunterricht. Demnach ist diese Arbeit in erster Linie in der fremdsprachendidaktischen Schreibforschung verortet (Kap. 2.1.). Mit dem kollaborativen Schreiben wird eine schreibprozessbetonte Schreibform untersucht, die mündlichen Austausch zwischen den Schreibenden bedingt. Deshalb werden auch Erkenntnisse aus der Schüler-Schüler-Interaktion herangezogen (Kap. 2.2.). Schließlich wird das Feld der Problemlöseforschung betrachtet, da Problemlösesequenzen als potentielle Lerngelegenheiten angesehen und deshalb als Analyseeinheit zugrunde gelegt werden (Kap. 2.3.). Der theoretische Teil schließt mit einer Zusammenführung, in der die jeweiligen Erkenntnisse aus den theoretischen Grundlagen zusammenfassend dargestellt und abschließend aufeinander bezogen dargelegt werden (2.4.).
In diesem Kapitel werden die theoretischen Grundlagen für das Schreiben in der Fremdsprache gelegt (2.1.). Dafür wird zunächst die Ausgangslage skizziert, indem die Rolle des Schreibens im Fremdsprachenunterricht und dessen Rahmenbedingungen in seinen wesentlichen Aspekten umrissen werden (2.1.1.).
Das sich anschließende Kapitel widmet sich dem fremdsprachlichen Schreiben (2.1.2.).1 Dabei wird einführend die Tätigkeit des Schreibens allgemein erläutert (2.1.2.1.). Auf den Forschungsüberblick zum fremdsprachlichen Schreiben (2.1.2.2.) folgt das dritte Teilkapitel, in dem die Bedingungen und Spezifika des fremdsprachlichen Schreibens zusammengetragen werden (2.1.2.3.).
Vor diesem Hintergrund wird in dem nächsten Kapitel das kollaborative Schreiben in der Fremdsprache (2.1.3.) erläutert. Es beginnt mit einer Einführung und begrifflichen Klärung des Gegenstandes (2.1.3.1.), gibt daraufhin einen Forschungsüberblick (2.1.3.2.) und widmet sich dann den zentralen Elementen, die das kollaborative Schreiben in der Fremdsprache auszeichnen (2.1.3.3.).
Das Kapitel zum Schreiben in der Fremdsprache endet mit einer Zusammenfassung (2.1.4.), in der die zentralen Aussagen der jeweiligen Kapitel wiedergegeben werden.
Schreiben gehört zu den alltäglichen Handlungen des Fremdsprachenunterrichts. Schülerinnen und Schüler schreiben ab, fügen Endungen, Wörter oder ganze Sätze in Tabellen, Lückentexte und Grammatikübungen ein, notieren Hausaufgaben, Gedanken, Stichpunkte und schreiben kurze und gelegentlich auch längere zusammenhängende Texte. Diese Aufzählung führt einerseits die Vielseitigkeit und Eingebundenheit von Schreibhandlungen im Fremdsprachenunterricht vor Augen. Andererseits zeigt dies auch, dass das Schreiben verschiedene Funktionen erfüllt: es wird geschrieben, um zu memorisieren, zu üben, Gedanken zu strukturieren, sich auszudrücken, Gelerntes wiederzugeben etc.
Diese Aufzählung verdeutlicht bereits, dass mit dem Schreiben unterschiedliche Funktionen verbunden sind. Bezogen auf die unterrichtliche Ebene interessiert im Kontext des Fremdsprachenlernens und -lehrens insb. die Frage danach, welche Rolle das Schreiben im Lernprozess einnimmt. Das Schreiben erfüllt dort, neben der kommunikativen (vgl. u.a. Allwermann 2019b: 2; Börner 1989a: 350f.; Nieweler 2004b: 2), eine gedächtnisstützende und -entlastende Funktion: Es wird zum Üben neuer Strukturen und Ausdrücke eingesetzt und kann bspw. in Form von Notizen für einen mündlichen Beitrag gedächtnisentlastend wirken. Vor dem Hintergrund, dass Denken und Schreiben in einem engen Zusammenhang stehen, lässt sich das Schreiben auch als „Denkwerkzeug“ (Molitor-Lübbert 2002: 33f.; s. auch Fußnote 45, S. 41) charakterisieren. Das Schreiben in seiner heuristischen Funktion kann eingesetzt werden, um Gedanken schrittweise zu ‚verfertigen‘ (Kruse 2001: 3), zu schärfen, zu fassen, zu strukturieren, Zusammenhänge herzustellen etc. und damit neues Wissen zu schaffen – eine Funktion, die besonders für fortgeschrittene Schreibende relevant wird (vgl. u.a. Kruse 2001: 106; Molitor-Lübbert 2002; Scheuermann 2013: 18). Durch das Verschriftlichen werden Gedanken fixiert und sichtbar. Der raumzeitliche Abstand, der mit dem Verschriftlichen einhergeht, ermöglicht es, das Geschriebene zu einem späteren Zeitpunkt an einem anderen Ort zu lesen und gibt so die Möglichkeit, Distanz zu dem Geschriebenen einzunehmen, dadurch die Wahrnehmung zu schärfen und evtl. eine neue Perspektive darauf zu eröffnen. Außerdem kann dabei ein „Nachdenken über die (niedergeschriebenen) Zwischenprodukte des eigenen Denkens“ (Kruse 2001: 3) erfolgen. Dies wiederum ermöglicht, Bewusstheit über das eigene Denken und Wissen und somit auch über das Schreiben selbst1 zu erlangen (vgl. Becker-Mrotzek 2011: 39; Berning 2002, 2011; Ehlich 2010; Krings 2016: 109; Krings 2020: 11; Tesch 2020: 58f.), womit Reflexionsprozesse einhergehen können (vgl. u.a. Bräuer 2003; Dolz et al. 2011: 12; Frentz et al. 2005). Ein Umstand, der durch den „Verfremdungseffekt“ (Segermann 2005: 243), der mit dem Schreiben in der Fremdsprache verbunden ist, noch verstärkt werden könnte.2 Angewendet auf das (Fremd-)Sprachenlernen bedeutet dies auch, dass sich Schreibende auf die sprachliche Form konzentrieren (focus on form). Dies fördert eine Auseinandersetzung damit, die schließlich dazu führen kann, eventuelle Unsicherheiten und Wissenslücken aufzudecken und diese zu bearbeiten (vgl. u.a. Adams/Ross-Feldman 2011: 245; Philp et al. 2014: 23ff.; Swain 1995, 1998, 2000). Außerdem ist beim Schreiben im Gegensatz zum Sprechen3 die Fehlertoleranz sowohl seitens der Schreibenden als auch der Lesenden i.d.R. niedriger (und die Fehler werden sichtbarer, da die Augen von Lehrkräften für das Finden von Fehlern besonders trainiert sind). Dieser Umstand wiederum kann intensive Denk- und Wahrnehmungsprozesse bewirken. In diesem Zusammenhang erfährt das kollaborative Schreiben einen besonderen Stellenwert. Denn zu dem ohnehin auf die Bewusstheit lenkenden Schreiben kommt die interaktionale Ebene hinzu, die ihrerseits weitere, potentiell bewusstheitsfördernde Prozesse anstoßen kann (s. auch Kap. 2.1.3). Mit den hier erläuterten vielfältigen Funktionen und damit verbundenen Implikationen wird der enge Zusammenhang von Schreiben und Lernen sichtbar und legt den Schluss nahe, das Schreiben mit Scheuermann als umfassendes „Lernwerkzeug“ zu verstehen (vgl. dies. 2013 sowie Börner 1989a: 350f.; Philp et al. 2014: 158).4
Bezogen auf die gesellschaftliche Ebene lassen sich dem Schreiben Funktionen zuordnen, die das Zusammenleben organisieren und sicherstellen: Mittels der Schriftsprache kann Wissen konserviert, dokumentiert und damit ein langfristiger Zugriff gewährleistet werden (Zeugnisliteratur, Geschichtsschreibung, Rechtsfragen u.a.). Des Weiteren kann mittels Schrift kommuniziert, informiert, beworben, Meinung gemacht und beeinflusst werden (Marketing, Journalismus u.a.). Bezogen auf die persönliche Ebene kann Schreiben in seiner therapeutischen (vgl. z.B. Unterholzer 2017) sowie expressiven, darunter auch literarischen und poetischen Funktion (vgl. z.B. Haußmann/Damm 2017; Ruf 2016) eingesetzt werden, was sowohl für den beruflichen und (hoch)schulischen Kontext eine Rolle spielen als auch – in Form von Schreibateliers oder kreativen Schreibformaten5 – nutzbar gemacht werden kann.
Die hier aufgezählten Funktionen sind größtenteils weder fremdsprachenspezifisch noch stellen sie eine exhaustive Erfassung dar. Sie dienen an dieser Stelle dazu, die zahlreichen Schreibfunktionen aufzuzeigen und die Vielfalt dieser Tätigkeit aufzufächern. Sie können wie folgt zusammengefasst werden: Schreiben in seiner a) materialisierenden und verstetigenden, b) kommunikativen, c) heuristischen sowie d) bewusstheitsstiftenden Funktion. Angesichts dieser zahlreichen Schreibfunktionen – Börner spricht von „Funktionsreichtum“ (vgl. ders. 1989a: 357) – und den damit einhergehenden, vielfältigen und lernrelevanten kognitiven Handlungen kann dem Schreiben allgemein, und dem Schreiben im schulischen Kontext umso mehr, ein hoher Stellenwert zuerkannt werden.
Der hohe Stellenwert für den schulischen Kontext ist nicht zuletzt auch maßgeblich dadurch bedingt, dass dem Schreiben vor allem in der Leistungsmessung eine herausragende Rolle zukommt.6 Die Prüfungsformate – insb. auf höheren Niveaus – sind überwiegend schriftlich dominiert und enthalten meist mindestens einen verpflichtenden schriftlichen Prüfungsteil.7 Schreibprodukte werden demnach als maßgebliche Bewertungsgrundlage herangezogen. Das Schreiben wird hier in seiner evaluativen Funktion eingesetzt: Es dient dazu, Leistung zu erfassen (vgl. u.a. Tesch 2020: 52).8 Dies lässt sich in erster Linie dadurch erklären, dass das Bewerten schriftlicher Leistungen eine zeitlich verzögerte Reaktion ermöglicht, somit einen Vergleich erleichtert und sich auch verwaltungstechnisch (Dokumentation, Überprüfbarkeit) einfacher bewältigen lässt (vgl. dazu auch Böhme et al. 2017: 599; Börner 1989a: 358). Hinzu kommen prüfungspraktische Gründe wie der Betreuungsaufwand – in Präsenzprüfungen werden bei schriftlichen Formaten deutlich weniger Prüfende pro Prüfling benötigt als in mündlichen – sowie die raumzeitliche Organisation der Prüfung.10 Gleichzeitig ist in jüngster Zeit für den deutschen Raum eine Tendenz zu mündlichen Prüfungsformaten zu erkennen, beispielsweise mit dem Einführen einer sog. Präsentationsprüfung, wie sie z.B. das Land Berlin vorsieht (vgl. Rahmenlehrplan Französisch Senatsverwaltung Berlin 2014).
Ein Blick in die historische Entwicklung zeigt, dass der Stellenwert des Schreibens im Laufe der jeweiligen, dominanten didaktischen Strömungen, die mit bestimmten vorherrschenden Methoden einhergingen, als unterschiedlich bedeutsam ausgelegt wurde.11 Entsprechend wurde und wird immer wieder neu diskutiert, welchen Stellenwert das Schreiben beim (Fremd-)Sprachenlernen und -lehren einnimmt und einnehmen soll und kann. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt – das zeigen diese Ausführungen sowie aktuelle Publikationen12 –, ist unumstritten, dass diese grundlegende Kulturtechnik13 in Bezug auf das Lernen und Lehren von Fremdsprachen hohe Relevanz aufweist. Darüber hinaus stellt das Schreiben – allgemein und bezogen auf den (Fremd-)Sprachenunterricht – eine zentrale Grundlage für Schulerfolg dar. In den Worten von Dolz et al. (2011: 9), die sich hier auf das Schreiben in der Erstsprache beziehen:
L’apprentissage de la production écrite est l’une des finalités fondamentales de l’enseignement des langues. […] Le savoir-écrire […] c’est un constituant de la réussite scolaire de tous les élèves […].
Auch Graham/Perin sehen die Schreibfähigkeit als Indikator (predictor) für akademischen Erfolg und grundlegende Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (vgl. dies. 2007: 3; vgl. auch Becker-Mrotzek 2014: 51). Folglich leistet das Schreiben einen entscheidenden Beitrag für die Selektionsfunktion14 in unserer Gesellschaft. Diesem Stellenwert widerspricht die in Deutschland im Unterricht allgemein tatsächlich zugewiesene Bedeutung und es fehlt, so stellt z.B. Philipp fest, ein systematischer Schreibunterricht (vgl. ders. 2015 Kap. 2.2.).
Die Bedeutung des Schreibens ist damit in seiner alltäglichen Praxis nachgezeichnet, theoretisch untermauert und zudem bildungspolitisch festgeschrieben und beeinflusst somit unumstritten den schulischen Alltag. Die spezifisch schulischen Rahmenbedingungen stellen einen weiteren Einflussfaktor dar und prägen maßgeblich die Schreibrealität im fremdsprachlichen Klassenzimmer (vgl. z.B. Petersen 2014: 68). Dazu gehören die institutionellen Vorgaben und Bedingungen: Die engen zeitlichen (45 bis 90 Minuten) und räumlichen Beschränkungen des Unterrichts (vgl. Becker-Mrotzek/Vogt 2009: 8; Thiel 2016), die bildungspolitischen Vorgaben (vgl. Christ 2016) sowie ein Unterricht, der sich für das Fach Französisch – insb. vom Anfangsunterricht bis hin zur Mittelstufe – vorwiegend am Lehrbuch orientiert (vgl. Fäcke et al. 2016: 114; Sobel 2012: 239). Das Lehrbuch gilt gar als ‚Leitmedium‘ des Französischunterrichts (vgl. Schmelter 2011: 149) und wird damit zum großen Einflussfaktor des unterrichtlichen Geschehens: Es setzt den Rahmen und übt damit auch bis in die Prüfungen hinein Einfluss aus (vgl. Grotjahn/Kleppin 2017: 23; Schmelter 2011: 150).15 Der dominierende Einsatz des Lehrbuchs geht einher mit typischen Aufgabenformaten und entsprechenden Aufgabenstellungen16, die wiederum die konkreten Schreibmöglichkeiten determinieren. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Schreibaufgaben in Lehrbüchern überwiegend darauf ausgelegt sind, grammatische Phänomene und den Wortschatz zu üben. Auch eine exemplarische Analyse für das Lehrwerk Cours intensif 2 (2007–2010), mit dem die hier beforschten Schülerinnen und Schüler gearbeitet haben, bestätigt dies. In den explizit als ‚schriftlich‘ gekennzeichneten Aufgaben wird das Schreiben eingesetzt, um kurze Texte zu produzieren (z.B. eine E-Mail verfassen), Grammatik anzuwenden und zu üben (z.B. bestimmte Verben in einen vorgegebenen Dialog einfügen) sowie das Textverständnis zu überprüfen (z.B. Zusammenfassung des Lehrbuchtextes).17 Es handelt sich folglich um Übungen im engeren Sinne, wie sie bspw. Martinez in Anlehnung an Littlewood (2004) und Siebold (2007) in Abgrenzung zu Aufgaben erläutert (vgl. Martinez 2016c: 141f.). Zu Recht wird in der Schreibforschung kritisiert, dass auf diese Weise, ein über den einzelnen Satz hinausgehendes Schreiben von Texten zu kurz komme (vgl. Grießhaber 2010: 233). Das Schreiben wird dabei überwiegend von seiner kommunikativen Funktion entkoppelt (vgl. Hallet 2016: 7; Porsch 2010: 62; Segermann 2005: 243; Thörle 2010). Außerdem erklärt sich damit auch, dass es im Unterricht häufig zur „Produktion bedeutungsloser Aufsätze [kommt]‟ (Kruse 2003: 106).
Aus diesen Betrachtungen lässt sich folgern, dass einhergehend mit dem Einsatz des Lehrbuchs tendenziell eine eher reduzierte und einseitige Anwendung des Schreibens stattfindet. Hinzu kommt einschränkend, dass der Besuch des Französischunterrichts für die meisten Schülerinnen und Schüler aufgrund der hohen Abwahlen nach der Mittelstufe endet (vgl. z.B. Caspari 2010: 13f.; Fritz 2019, 2020): „ich hab franz abgewählt“ (SG1808 Z.790). Auf diese Weise äußert sich bspw. Lina in der vorliegenden Studie, ohne dass sie dazu befragt worden wäre und spiegelt so eine typische Motivationslage und Einstellung gegenüber dem Schulfach Französisch wider.19
Mit den hier aufgeführten Faktoren geht einher, dass die Schülerinnen und Schüler die französische Sprache wenig praktizieren; Grabe spricht von „limited practice“ (2001: 45). Daraus resultiert ein begrenztes Sprachniveau, das die Schreibmöglichkeiten einschränkt und wiederum negativ auf die Schreibmotivation zurückwirken kann. Die Darstellung der aktuellen Ausgangslage für das Schreiben im Fremdsprachenunterricht hat gezeigt, welche Rolle das Schreiben im Fremdsprachenunterricht einnimmt und dass das Schreiben sowohl (schul)praktisch als auch bildungspolitisch und historisch verankert ist. Dabei wurde deutlich, dass das Schreiben vordergründig zum Üben von grammatischen Formen eingesetzt und der potentielle Funktionsreichtum nicht ausgeschöpft wird. Dies lässt sich anhand der schulspezifischen Rahmenbedingungen erklären (Lehrbuch, zeitliche Beschränkung, Sprachniveau) und bedeutet im Umkehrschluss, dass diese spezifischen Bedingungen immer mitzudenken sind. Welche Spezifika das Schreiben in einer Fremdsprache mit sich bringt und wie diese komplexe Tätigkeit gefasst werden kann, wird im folgenden Kapitel thematisiert.
In diesem Teilkapitel werden die theoretischen Grundlagen für das Schreiben in der Fremdsprache erläutert. Dafür wird einführend auf das Schreiben allgemein Bezug genommen (2.1.2.1.), um daraufhin den Forschungsstand zum Schreiben in der Fremdsprache für den deutschsprachigen Raum zu skizzieren (2.1.2.2.). In einem dritten Unterkapitel werden die Bedingungen und Spezifika des fremdsprachlichen Schreibens zusammengetragen (2.1.2.3.).
Writing is best understood as a set of distinctive thinking processes which writers orchestrate or organize during the act of composing. (Flower/Hayes 1981: 366)
Beim Schreiben handelt es sich um eine vielschichtige Tätigkeit, die hohe Anforderungen auf verschiedenen Ebenen an die Schreibenden stellt und von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird.1 Zum Verfassen von Texten ist die Koordinierung und Vernetzung grafomotorischer, grammatischer, orthografischer und lexikalischer, aber auch pragmatischer, textsorten- und adressatenspezifischer sowie lebensweltlicher Kenntnisse erforderlich (vgl. u.a. Becker-Mrotzek 2014: 54; Krings 2016: 107). Somit kann das Schreiben als eine komplexe Tätigkeit beschrieben werden, die sich aus zahlreichen, miteinander interagierenden Abläufen und Prozessen zusammensetzt, die von der schreibenden Person ‚orchestriert‘ werden. Einblicke in diese Prozesse werden durch Schreibmodelle möglich.2 Dadurch, dass bei der Modellentwicklung die Komplexität reduziert wird, können Zusammenhänge aufgedeckt und Teilaspekte herausgearbeitet werden.3 Ein bis heute wegweisendes, allgemeines Schreibprozessmodell wurde in den 1980er Jahren von Flower/Hayes (1981) entwickelt. Seitdem dient es als Grundlage für die Schreibforschung und wurde mehrfach, auch von Hayes selbst, weiterentwickelt.4 Es handelt sich hierbei um ein Modell, das versucht, den Schreibprozess mit seinen einzelnen Teilprozessen und -komponenten zu erfassen. Es entstand anhand weniger fortgeschrittener Probanden und Probandinnen, die in ihrer Erstsprache schrieben und deren Schreibprozesse mittels Laut-Denk-Protokollen erfasst wurden. Aufgrund dieser spezifischen Bedingungen ist dieses Modell begrenzt auf andere Kontexte übertragbar. Nichtsdestotrotz ist unbestritten, dass dieses „pioneering model“ (Göpferich 2015: 108) maßgeblich zum Verstehen des Schreibprozesses beigetragen hat und die Schreibforschung bis heute nachhaltig prägt.
Schreibmodell Flower/Hayes (1981: 370)
Das Modell setzt sich aus drei Hauptkomponenten zusammen, die sich wechselseitig beeinflussen, was mit den bidirektionalen Pfeilen angezeigt wird (s.Abb. 01):
die Aufgabenumgebung (task environment), die mit der Schreibaufgabe den Impuls zum Schreiben gibt sowie das daraus resultierende Produkt, auf welches während des Schreibens immer wieder zurückgegriffen wird;
das Langzeitgedächtnis des Schreibenden (writer’s long term memory), welches Wissen über den Gegenstand und das Schreiben beisteuert;
der eigentliche Schreibprozess (writing process), der aus den Phasen des Planens (planning), Formulierens (translating) und Überarbeitens (reviewing) besteht und ständig überwacht und koordiniert wird (monitor).
Mit diesen drei Komponenten werden zentrale Einflussfaktoren herausgestellt, die wiederum Ansatzpunkte für didaktische Fragestellungen sein können. Eine konkrete Anwendung findet dieses Modell auch bei der Konzeption schulischer Schreibaufgaben, die überwiegend dem dreischrittigen Grundaufbau von Planungs-, Formulierungs- und Überarbeitungsphase folgen (vgl. z.B. Hidden 2013: 37ff.).5 Mit diesen unterschiedlichen Phasen und Komponenten, die auf komplexe Weise zusammenwirken, verdeutlicht das Modell einmal mehr, dass das Schreiben ein rekursiver, iterativer und interaktiver Prozess ist (vgl. Becker-Mrotzek 2014: 53; Krings 2016: 109).
Das Schreibmodell bestätigt einmal mehr die Komplexität der Schreibtätigkeit allgemein, die auch in dem nachfolgenden Zitat von Petersen (2014: 42), Schreibforscherin im Bereich Deutsch als Zweitsprache, betont wird:
Da es sich beim Schreiben um einen hochkomplexen Prozess handelt, der dem Einfluss zahlreicher situativer Faktoren[1] unterliegt und in bestimmten Situationen auch mit Lese- und Verstehensprozessen verschränkt ist,[2] stellt die begriffliche Präzisierung und Modellierung der Schreibkompetenz eine besonders große Herausforderung dar.
Schreiben ist nicht nur eine vielschichtige Tätigkeit, die bereits an sich schwer definier-, modellier- und greifbar und entsprechend auch schwer untersuchbar ist. Hinzu kommt – insb. für den deutschsprachigen Raum –, dass mit verschiedenen Begriffen gearbeitet wird, die nicht trennscharf verwendet werden. Das Schreiben oder die Schreibfertigkeit wird mehrfach mit Schreibkompetenz gleichgesetzt (vgl. auch Grießhaber 2010: 228). Problematisch daran ist, dass Schreibkompetenz – folgt man dem als grundlegend akzeptierten Kompetenzverständnis von Weinert (2001) – so umfangreich ist, dass empirisch nur schwerlich damit gearbeitet werden kann (s. Zitat Petersen; vgl. auch Jost 2017: 174). Durch die Begriffserweiterung mit -kompetenz kommen zahlreiche Aspekte hinzu. Darüber hinaus wird Schreibkompetenz im deutschsprachigen Raum mehrfach mit der sog. Textkompetenz3 gleichgesetzt, womit ein weiteres, noch umfangreicheres Begriffsfeld aufgespannt wäre. Denn Textkompetenz umfasst die Fähigkeit, Texte rezipieren und produzieren zu können und betrifft damit neben der Schreib- auch die Leseforschung, also zwei Bereiche, die für sich genommen bereits umfangreiche Forschungsfelder darstellen. Dies führt in der Forschung zu zwei unterschiedlichen Vorgehensweisen: Einerseits ist zu beobachten, dass diese weiten Begriffe, um sie handhabbar zu machen, in Teilaspekte ausdifferenziert bzw. wieder eingeschränkt werden: Petersen (2014) bspw. spricht von „Schreibfähigkeit“ und versteht darunter bestimmte Aspekte von Schreibkompetenz; von Gunten (2012) spricht von „produktive[r] Textkompetenz“ und grenzt damit das weite Verständnis wieder auf den schriftlichen Aspekt ein, so wie auch andere Forschende von Textkompetenz sprechen und sich dabei allein auf geschriebene Texte beziehen (z.B. Aguado 2011; Nardi/Knorr 2011; Thörle 2010). Andererseits ist eine Ausweitung der Begriffe zu beobachten. Stark gedehnt wird der Begriff des Schreibens bei der Ausweitung auf das sehr umfassende, bereits erwähnte, Verständnis von Textkompetenz (vgl. z.B. Feilke 2013, Portmann-Tselikas/Schmölzer-Eibinger 2002) oder gar der literalen Kompetenz (vgl. z.B. Becker-Mrotzek/Böttcher 2018; Preußer/Sennewald 2012; Tesch 2020). Diese Begriffsheterogenität spiegelt den Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung wider (vgl. hierzu bspw. Thörle 2010: 110f.). Gleichzeitig erschwert sie die wissenschaftliche Auseinandersetzung insofern, als die Vergleichbarkeit von Ergebnissen dadurch eingeschränkt wird. Deshalb wird in der vorliegenden Arbeit vom (fremdsprachlichen) Schreiben (und nicht von Schreibkompetenz) gesprochen und dann jeweils weiter spezifiziert (Schreibprozess, Schreibdidaktik u.a.). Dabei wird das Schreiben als vielschichtige Tätigkeit verstanden, die Wissen und Fertigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen voraussetzt, unterschiedliche Funktionen erfüllen kann und in einem Schreibprodukt mündet.
Die oben erläuterte, vielfältige Begriffsverwendung könnte u.a. in den zwei unterschiedlichen Betrachtungsebenen begründet sein: der Prozess- und der Produktebene, auch als Performanz-Kompetenz-Problematik bezeichnet (vgl. u.a. Krings 2016: 108; Pohl/Steinhoff 2010: 261). Während in der Schreibforschung bis in die 1980er Jahre hinein das Schreibprodukt im Fokus stand, interessiert seither, einhergehend mit der kognitiven Wende, zunehmend der Schreibprozess. In diesem Zusammenhang wurde versucht, u.a. mittels Laut-Denk-Protokollen, Einblicke in den Schreibprozess und die damit verbundenen mentalen Aktivitäten zu erhalten (vgl. Grésillon/Perrin 2014: 82f.). Davon ausgehend können Rückschlüsse auf Schwierigkeitsbereiche gezogen und mögliche Ursachen ausgemacht werden. Diese Erkenntnisse können wiederum als didaktische Ansatzpunkt genutzt werden (vgl. Dolz et al. 2011). Zwar hängen Schreibprozess und das dabei entstehende Schreibprodukt in hohem Maße zusammen, dennoch werden sie in der Forschung überwiegend isoliert betrachtet. Dies mag damit zusammenhängen, dass jede Ebene für sich betrachtet bereits sehr komplex und schwer mess- und fassbar ist. Problematisch ist dies insofern, als in der Forschung zur Schreibkompetenz (wie auch in der schulischen Praxis, s. Kap. 2.1.1.) meist eine Reduktion auf die Produktebene stattfindet, auch wenn in der Forschung immer wieder dafür plädiert wird, dass die Schreibkompetenz nicht auf das Schreibprodukt reduziert werden solle, da sie sowohl produktive als auch prozessuale Aspekte umfasse (vgl. z.B. Keller 2013: 266; Thörle 2010: 108ff.). Eine Erklärungsmöglichkeit ist, dass Texte leichter untersuchbar sind als Prozesse: Texte sind das, was sichtbar, unmittelbar zugänglich und letztlich bewertet wird. Dies führt in der Konsequenz dazu, dass Erkenntnisse bzgl. des Schreibprodukts häufig mit Schreibkompetenz gleichgesetzt werden. Dabei wird außerdem häufig außer Acht gelassen, dass der Schreibprozess, der das Schreibprodukt zum Ergebnis hat, von vielfältigen materiellen und konzeptionellen Bedingungen abhängt (s. Kapitel 2.1.1) und damit sowohl intra- wie interindividuell sehr unterschiedlich verlaufen kann. In den Worten Petersens (2014: 66):
Bei Texten handelt es sich lediglich um die Manifestation konkret aktualisierter Schreibfähigkeiten, also um ein Phänomen der Performanz, das von vielen unterschiedlichen Faktoren wie der Schreibaufgabe, der Motivation und Tagesform des Schreibers etc. beeinflusst wird und auf dessen Grundlage nur bedingt Aussagen über die zugrundeliegende Schreibkompetenz gemacht werden können.
Demnach stellt das Schreibprodukt immer nur eine begrenzte Momentaufnahme der Schreibkompetenz dar und kann nicht mit ihr gleichgesetzt werden (vgl. auch Bachmann 2005: 156; Girgensohn/Sennewald 2012: 56; Steinhoff 2010: 268). Gleichwohl besteht ein enger Zusammenhang. Dieser Umstand wird in der Forschung mehrfach problematisiert und theoretisch diskutiert, eine konsequente praktische Reaktion darauf – i.S. einer integrativen Betrachtung – ist jedoch selten zu beobachten: entweder wird das Produkt oder der Prozess beforscht.1 Auch in der vorliegenden Arbeit steht, aufgrund begrenzter Kapazitäten und dem Schwerpunkt auf die Interaktionen der Schülerinnen und Schüler mit dem Fokus auf den Schreibprozess ‚nur‘ eine Seite im Zentrum. Die Textebene wird insofern berücksichtigt, als darauf verwiesen und das Geschriebene an entsprechender Stelle einbezogen wird.
Ein Blick in die Publikationen der letzten Jahrzehnte zum Schreiben in der Fremdsprache im deutschsprachigen Raum1 zeigt, dass die Forschungslage überschaubar ist.2 Bis in die 1990er Jahre hinein werden nur wenige Artikel und Studien zum fremdsprachlichen Schreiben veröffentlicht (u.a. Antos/Krings 1989; Börner et al. 1996; Krings 1989; Zimmermann 1995).3 Ab den 2000er Jahren werden, neben wenigen Sammelbänden (z.B. Akukwe 2017; Nardi/Knorr 2011) und einzelnen Aufsätzen (z.B. Callies 2013; Keller 2006; Pelchat 2014; Porsch 2020; Thörle 2010; Weirath 2000) vereinzelt Dissertationen (z.B. Eckerth 20034; Porsch 2010; Staschen-Dielmann 2012) bzw. eine Habilitation (Keller 2013) zum Schreiben in der Fremdsprache vorgelegt. Ab Mitte der 2000er Jahre sind mehrere Publikationen – sowohl Themenhefte, als auch Einzelbeiträge und Sammelbände – zum Schreiben im Hochschulkontext (sog. wissenschaftliches oder akademisches Schreiben) zu verzeichnen (z.B. Breuer 2015; Busch-Lauer 2014; Gnutzmann et al. 2015; Göpferich 2015; Nardi/Knorr 2011), darunter eine kürzlich publizierte Promotion (Schnell 2020).5
Abgesehen davon publizieren praxisorientierte Zeitschriften regelmäßig zum Schreiben in der Fremdsprache (z.B. Der Fremdsprachliche Unterricht. Französisch72/2004a, 93/2008 sowie 157/2019a; Französisch Heute3/2005; Praxis Fremdsprachenunterricht3/2020). Auch die einschlägigen Fachzeitschriften, die vorwiegend an forschendes Publikum gerichtet sind, widmen sich in Form von Themenschwerpunkten oder in einzelnen Beiträgen immer wieder dem Schreiben (z.B. Fremdsprachen Lehren und Lernen1/2015 sowie Fremdsprachen Lehren und Lernen1/2020). Darüber hinaus enthalten Handbücher entsprechende Artikel (z.B. Krings 2016, im Handbuch Fremdsprachenunterricht). Im Gegensatz zum Schreiben in der Erstsprache Deutsch (vgl. Becker-Mrotzek et al. 2017; Jakobs/Perrin 2014) und neuerdings auch Deutsch als Zweitsprache (Grießhaber et al. 2018)6 liegt ein Handbuch für das Schreiben in der Fremdsprache im deutschsprachigen Raum bislang nicht vor.
Angesichts der hier aufgezeigten, begrenzten deutschsprachigen Forschungslage (die jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt), soll in der vorliegenden Arbeit punktuell auf einschlägige Literatur aus anderen Sprachräumen zurückgegriffen werden. Zu nennen sind hier neben dem Handbook of Second and Foreign Language Writing (Manchón/Matsuda 2016) insb. die Monografie von Hidden (2013) zum Schreiben in der Fremdsprache Französisch. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass sie theoretisch verankert und gleichzeitig sehr anschaulich, praxisnah und konkret auf die Fremdsprache Französisch bezogen ist.
In der Gesamtbetrachtung der hier aufgeführten Publikationen lassen sich folgende rekurrente Themen der fremdsprachlichen Schreibforschung identifizieren:
Analyse des Schreibprozesses (z.B. Börner 1989b; Krings 1989; Zimmermann 2000)
Erfassung von Textqualität bzw. Bewertung von Schreibprodukten (z.B. Akukwe 2017; Busch-Lauer 2014; Keller 2013; Porsch 2010)
Erfassung von Schreibkompetenz (z.B. Akukwe 2017; Porsch 2010; Harsch 2020)
Vermittlung von Schreibkompetenz bzw. schreibdidaktische Ansätze (z.B. Keller 2006, 2013; Hidden 2013; Porsch 2020)
Vergleich von Erst- und Fremdsprache bzw. Einfluss der Erstsprache (z.B. Breuer 2015, 2020; Weirath 2000)
Spezifika des Schreibens in einer Fremdsprache (Hidden 2013)
(korpuslinguistische) Untersuchung von Lernersprache7 (z.B. Callies 2013; Pelchat 2014)
akademisches Schreiben (z.B. Gnutzmann et al. 2015; Schnell 2020)
Zusammenfassend ist eine begrenzte Forschungslage bzgl. der fremdsprachlichen Schreibforschung festzustellen, eine Tendenz, die auch mit der frankophonen8 und anglophonen9 Forschungslage übereinstimmt. Auffällig ist dabei, dass überwiegend fortgeschrittene Schreibende10 der englischen Sprache im universitären Kontext beforscht werden. Insbesondere jüngere Schreiberinnen und Schreiber nicht-anglophoner Fremdsprachen im schulischen Kontext stellen, angesichts der Relevanz des Schreibens (s. Kap. 2.1.1.), ein dringliches Desiderat dar. Dieses Desiderat greift die vorliegende Arbeit auf. Sie setzt dabei den Fokus auf den Schreibprozess und die Interaktionen der Schülerinnen und Schüler und ist somit schreibtheoretisch einem soziokulturellen Ansatz zuzuordnen (vgl. Cumming 2016: 75ff.).
Tout enseignant de FLE [Français Langue Étrangère] sait bien que ses élèves peinent souvent à écrire des textes – une tâche trop importante, trop complexe, nécessitant la mobilisation de trop de compétences de niveaux différents. (Allouche/Maurer 2011: 5)
Ist das Schreiben allgemein bereits komplex (s. Kap. 2.1.2.1.), so ist es das fremdsprachliche Schreiben umso mehr. Ein Umstand, der sich auch im vorangestellten Zitat andeutet. Folglich wird das Schreiben in der Fremdsprache Französisch oftmals als schwierig empfunden.1 Inwiefern sich der Komplexitätsgrad (im Vergleich zum Schreiben in der Erstsprache) erhöht soll im Folgenden ausgeführt werden. Dafür wird das fremdsprachliche Schreiben aus fünf zentralen Perspektiven betrachtet: in seinem Verhältnis von Erst- und Fremdsprache, in Bezug auf die Rolle des Vorwissens, die begrenzten Ressourcen, den Einsatz von Kompensationsstrategien sowie in Bezug auf die Textebene.
In der fremdsprachlichen Schreibforschung wird überwiegend davon ausgegangen, dass sich das Schreiben in der Fremdsprache nicht grundsätzlich, sondern graduell von dem in der Erstsprache unterscheidet. Es wird angenommen, dass ähnliche Prozesse ablaufen und ähnliche Fähigkeiten vorausgesetzt werden (vgl. Börner 1989b: 60; Cumming 2016: 70ff.; Krings 2016: 109). Hidden geht davon aus, dass die Unterschiede eher quantitativer als qualitativer Natur sind. Sie verweist dabei u.a. auf die längere Schreibzeit und die kürzer ausfallenden Endprodukte (Hidden 2013: 31ff.). Aufgrund der Ähnlichkeiten des erst- und fremdsprachlichen Schreibprozesses wird bei dem Versuch, die Spezifik des fremdsprachlichen Schreibens zu erfassen, dieses hauptsächlich vor dem Kontrasthintergrund der Erstsprache analysiert und versucht, Erkenntnisse entsprechend zu übertragen.1 So auch bei der Entwicklung fremdsprachlicher Schreibmodelle. Es liegen einige wenige Schreibmodelle vor, die sich auf die Fremdsprache beziehen. Sie legen mehrheitlich das Modell von Flower/Hayes zugrunde und erweitern dieses um die Spezifik des fremdsprachlichen Schreibens (vgl. insb. Börner 1989a; Krings 1992; Wang/Wen 2002; Zimmermann 1995, 2000).2 Zwar liegt in den Worten Grabes bislang kein allgemeines, zufriedenstellendes Schreibmodell für die Fremdsprache vor (vgl. ders. 2001: 46),3 gleichwohl haben die vorgelegten Modelle erstens dazu beigetragen, schulspezifische Faktoren in Betracht zu ziehen. Zu nennen sind hier zuvorderst der Korrekturtext der Lehrperson, der den Zieltext beeinflusst sowie Schreibhilfen, die bereitgestellt werden (vgl. Börner 1989a). Zweitens stellen die Modelle diejenigen Aktivitäten heraus, bei denen die Fremdsprache eine dominierende Rolle einnimmt bzw. die ausschließlich in der Fremdsprache erfolgen, wie häufige Simplifizierungen, Unterbrechungen bedingt durch fremdsprachliche Wissensdefizite u.a. (vgl. Krings 1989; Zimmermann 1995). Weng/Wan (2002) ordnen in ihrem Modell die einzelnen Aktivitäten des Schreibprozesses der jeweiligen Sprache zu (s. nachfolgende Abbildung).
A descriptive model of the L2 composing process (Wang/Wen 2002: 242)
Demnach erfolgt der Bereich der Aufgabenumgebung mit der Aufgabenstellung (Input: Writing Task) und dem resultierenden Schreibprodukt (Textual output) ausschließlich in der Fremdsprache. Im eigentlichen Schreibprozess dominiert die Fremdsprache bei der Analyse der Aufgabenstellung (Task Examining) sowie der Texterzeugung (Text Generating). Bezogen auf das Langzeitgedächtnis dominiert sie, wenn es darum geht, die entsprechenden Ausdrücke und Formen in der Fremdsprache zu finden (Linguistic Knowledge).4
Die Modelle zeigen einmal mehr die Komplexität des fremdsprachlichen Schreibens und das Ineinandergreifen verschiedener Teilprozesse. Dabei spielen sowohl die Erst- als auch die Fremdsprache eine Rolle und beeinflussen sich wechselseitig.5
Wenn Schülerinnen und Schüler in einer Fremdsprache schreiben, verfügen sie i.d.R. bereits über grafomotorische Schreibfertigkeiten, ein Strategierepertoire, Weltwissen und Vorerfahrungen mit Sprache und Texten sowie eine gewisse kognitive Reife (vgl. u.a. Börner 1989a: 351; Porsch 2010: 29). Dieses umfangreiche Vorwissen bringen sie in den Lernprozess des fremdsprachlichen Schreibens ein. Auf diese Weise können auch Wissen und Fertigkeiten, die in anderen Sprachen vorliegen, für die neu zu erlernende Fremdsprache zugrunde gelegt und nutzbar gemacht werden. Vorwissen und Vorerfahrung – und dazu gehört sowohl das Sprach- als auch das Schreib- und Textwissen im weiten Sinne – spielen eine zentrale Rolle für jegliches weitere Lernen und prägen dieses (vgl. z.B. Gruber/Stamouli 2015: 32ff.; Renkl 2015). Als entsprechend bedeutsam wird die Rolle der Erstsprache sowie weiterer gelernter Sprachen eingeschätzt (vgl. z.B. Königs 2015; Krings 2016: 109; Riemer 2013; Weirath 2000: 411). Daraus ergibt sich ein Potential, welches dort sichtbar wird, wo vorhandenes Wissen direkt übertragen werden kann, wie z.B. bei der Bezeichnung für Löwe, die in mehreren Sprachen Ähnlichkeiten aufweist: eng. lion → fra. lion → esp. león → ital. leone → por. leão. Derartige lexikalische Sprachvergleiche können das Erlernen von Wortschatz erleichtern und beschleunigen. Auch auf sprachstruktureller Ebene stellen Sprachvergleiche und Sprachwissen eine zentrale Grundlage dar, wie bspw. das Wissen über Flexion.1 Neben den hier angedeuteten positiven Transfermöglichkeiten kann es ebenso zu negativem Transfer kommen.2 Ein Beispiel dafür ist das Phänomen des sog. ‚falschen Freundes‘: so entspricht dem englischen Verb to regard eben nicht das französische Wort regarder, sondern considérer.
Es wird davon ausgegangen, dass positive Transferleistungen von der Erst- in die Fremdsprache – und dazu gehört auch das Text- und Schreibwissen – insb. dann möglich sind, wenn bereits ein gewisses Sprachniveau in der Fremdsprache vorhanden ist (vgl. u.a. Hidden 2013: 35; Wolfersberger 2003). Im Zusammenhang mit dem Phänomen des Transfers wird in der Forschung häufig der Frage nachgegangen, inwiefern Schreiben als Übersetzen aus der Erst- in die Fremdsprache betrachtet werden kann und welche Konsequenzen daraus für die fremdsprachliche Produktion resultieren. Einerseits kann beobachtet werden, dass das Formulieren in der Fremdsprache häufig ein Übersetzen aus der Erstsprache ist (vgl. u.a. Hidden 2013: 37). Andererseits stellen bspw. Zimmermann (2000) und Weirath (2000) in ihren Studien fest, dass Schreibende überwiegend direkt in der Fremdsprache formulieren. Wang/Wen (2002) kommen in ihrer Studie mit 16 chinesischen Englischlernenden zu dem Ergebnis, dass der Einsatz der Erstsprache niveauabhängig ist: während fortgeschrittene Schreibende ihren Text direkt in der Fremdsprache formulieren, tendieren weniger fortgeschrittene Schreibende dazu, Satz für Satz aus der Erst- in die Fremdsprache zu übersetzen.
Der Einsatz der Erstsprache wird in der Fremdsprachenforschung mitunter kontrovers diskutiert. Dabei wird die Warnung formuliert, dass die Textproduktion auf ein Übersetzen von der Erst- in die Fremdsprache beschränkt bleibt, was mit negativem Transfer verbunden wird (insb. auf syntaktischer Ebene) und die Gefahr birgt, nicht in die Fremdsprache ‚einzutauchen‘. Allerdings zeichnet sich in den letzten Jahren diesbzgl. eine gemäßigtere Haltung ab. Die Erstsprache wird für bestimmte Kontexte und gewisse Arbeitsschritte (wie z.B. als Transferbasis oder zum Aufrechterhalten der Kommunikation) als sehr hilfreich angesehen (vgl. u.a. Hidden 2013: 35ff.). Sie stellt, wie das Vorwissen aus anderen Bereichen auch, eine wichtige Ressource dar.
Bedingt durch den üblicherweise spät einsetzenden Lernbeginn sowie die zeitlich, räumlich und inhaltlich beschränkten Anwendungsmöglichkeiten im schulischen Kontext (s. Kap. 2.1.1), ist das Schreiben in der Fremdsprache meist wenig entwickelt und somit auch nur eingeschränkt automatisiert. Kognitive Ressourcen stehen dabei in einem begrenzten Ausmaß zur Verfügung. Wird ein großer Teil der zur Verfügung stehenden Ressourcen bereits für ‚basale Tätigkeiten‘ (wie die Orthografie einfacher Wörter) aufgewendet, fehlen diese an anderer Stelle. Denn je mehr einzelne Teilprozesse automatisiert sind, desto mehr Kapazitäten stehen für andere Aktivitäten zur Verfügung (vgl. u.a. Kuiken/Vedder 2007, 2014; Weigle 2013: 38). Durch die geringe Automatisierung wird das Arbeitsgedächtnis – bei der an sich ohnehin bereits komplexen Schreibtätigkeit – stark gefordert bzw. gar überlastet (vgl. Hidden 2013: 34; Krings 2016: 109). Dies bedeutet, dass die Schreibenden aufgrund geringer oder fehlender Automatisierung und Routinen insb. mit orthografischen, grammatischen, lexikalischen Fragen absorbiert sind und ihnen wenig Kapazitäten bleiben, um ihre Gedanken zu entwickeln und einen kohärenten Text zu produzieren. Stattdessen wenden sie viele Ressourcen dafür auf, entsprechende Ausdrücke und Strukturen zu suchen, was dazu führt, dass der Schreibprozess insgesamt zäher verläuft; er wird verlangsamt, fragmentiert, unterbrochen oder gar blockiert (vgl. Breuer 2015, 2020; Hidden 2013: 34; Krings 2016: 109; Weirath 2000: 409).
In einem engen Zusammenhang damit steht die begrenzte Verfügbarkeit sprachlicher Mittel, die in mehreren Studien als ein sehr häufig auftretendes, typisches Merkmal festgestellt wird (vgl. z.B. Krings 2016: 109; Manchón et al. 2014: 242; Porsch 2010: 40). Demnach beansprucht die Phase der Formulierung während des Schreibprozesses besonders viel Zeit. Hidden merkt an, dass die Hälfte der Zeit bei der Formulierungsphase für die Suche nach Lexik und dem Klären morphosyntaktischer Probleme aufgewendet wird (vgl. dies.: 34).1 Die Tatsache, dass sich Schreibende überwiegend auf die lokale Ebene konzentrieren, könnte damit zusammenhängen, dass genau diese Ebene (insb. in Bezug auf normsprachliche Abweichungen) von Lehrpersonen bei der Textkorrektur und -bewertung besonders stark ins Gewicht fällt und i.d.R. von ihnen als ihr „Kerngeschäft“ (Keller 2013: 99) betrachtet wird. Auf die Problematik der Fehlerfokussierung kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden.2 Als typisch für den fremdsprachlichen Formulierungsprozess konnten Zimmermann (2000) und Keller (2013) die sog. Vor-Formulierung3 herausarbeiten. Dabei handelt es sich um tentative Formulierungen, die (auch mündlich oder gedanklich) mehrfach wiederholt und modifiziert werden, bis sie als richtig und passend eingeschätzt und notiert werden. Diese Vorgehensweise beschreibt Berning in Anlehnung an Ortner (2000), bezogen auf das Schreiben allgemein, besonders treffend:
Schreiben […] ist etwas Tentatives, also ein ständiges Suchen und Finden. Was wir suchen, sind Anschlussmöglichkeiten für das nächste Wort, den nächsten Satz oder den nächsten Einfall. (Berning 2011: 7)
Bei diesen tentativen Formulierungen geht es beim fremdsprachlichen Schreiben überwiegend darum, auf basaler Ebene eine fremdsprachliche Entsprechung zu finden. Es handelt sich vorwiegend um Suchbewegungen auf lokaler, überwiegend auf der lexikalischen Ebene (vgl. Börner 1989b; Hidden 2013). Dadurch, dass viele kognitive Ressourcen für derartige lokale Suchbewegungen4 eingesetzt werden, besteht die Gefahr, das Textganze aus dem Blick und damit ggf. auch den roten Faden zu verlieren:
Ce scripteur malhabile qui se préoccupe presque exclusivement de l’orthographe et de la grammaire des phrases (et cela aussitôt qu’il commence à écrire) perd rapidement de vue le sens de son texte. (Cornaire/Raymond 2008: 67)
Für die Schreibenden können die begrenzten Ressourcen zu einem Spannungsverhältnis dazwischen führen, was sie ausdrücken möchten und können. Es kommt insofern zu einem Ungleichgewicht, als die Schreibenden bereits eine gewisse kognitive Reife erlangt und entsprechende Ansprüche entwickelt haben, ihre Gedanken aber nicht derart auszudrücken vermögen und folglich permanent sprachlich hinter ihren Gedanken – in Börners Worten – „hinterherhinken“. Er bezeichnet dieses Phänomen als „fremdsprachliche Regression“ (ders. 1989a: 351f.). Außerdem führt den in der Fremdsprache Schreibenden der Vergleich zu dem, was sie in ihrer Erstsprache (oder auch einer anderen fortgeschritteneren Fremdsprache) mühelos könnten, diese Grenzen ständig vor Augen, was Frustration und Motivationseinbußen zur Folge haben kann (vgl. Börner 1989a: 351ff.; Weirath 2000: 411). Hidden vergleicht die Situation, in der sich fremdsprachlich Schreibende befinden, mit der junger, unerfahrener, erstsprachlich Schreibender. Beide sind stark herausgefordert und konzentrieren sich auf die lokale Ebene (vgl. dies. 2013: 35). Ein zentraler Unterschied jedoch besteht darin, dass letztere sich nicht in dem Maße darüber bewusst und entsprechend weniger frustriert sein dürften, da sie keinen Vergleich am eigenen Leib erfahren.
Eine Folge aus der vorhergehend konstatierten Begrenzung von Ressourcen ist der verstärkte Einsatz von Kompensationsstrategien.1 Es ist eine Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, auf Wissenslücken zu reagieren und mit ihnen umzugehen. Insbesondere weniger erfahrene Schreibende greifen häufig auf Kompensationsstrategien zurück (vgl. Manchón et al. 2014: 242). Folglich ist es für Schreibende in der Fremdsprache umso wichtiger, über entsprechende Strategien und Werkzeuge zu verfügen.2 Nachfolgend sollen diejenigen Strategien aufgeführt werden, die häufig zur Kompensation beim fremdsprachlichen Schreiben eingesetzt werden.3 Dazu gehören:
Rückgriff auf die Erstsprache
inter- und intralinguale Vergleiche
Vermeiden durch Umformulieren, Simplifizieren, Aufgeben
Raten ausgehend von dem situativen oder sprachlichen Kontext
externe Unterstützung durch Wörterbuch, Nachfragen
Eine häufig verwendete Kompensationsstrategie ist der Rückgriff auf die Erstsprache. Weirath (2000) konnte in ihrer Studie beispielsweise beobachten, dass ihre Probandinnen und Probanden häufig unmittelbar in der Fremdsprache schreiben und nur bei unbekannten Wörtern stocken und sich vorläufig des erstsprachlichen Äquivalents bedienen. Damit nutzen sie die Erstsprache als ‚Lückenfüller‘ bzw. ‚Gedankenstütze‘ und verhindern so, dass der Schreibprozess unterbrochen wird (vgl. dies. 411). Die Erstsprache, wie jede andere erlernte Sprache, kann auch i.S. eines inter- oder intralingualen Vergleichs als Transferbasis genutzt werden (s. obenstehende Ausführungen). Eine weitere Möglichkeit, mit unsicherem Wissen umzugehen, besteht darin, Vermeidungsstrategien einzusetzen. Gemeint ist damit die Anpassung der Ausdrucksabsicht an das sprachliche Können (durch Umformulieren oder Simplifizieren), was häufig mit inhaltlichen Einbußen einhergeht und auch dazu führen kann, die Äußerungsabsicht völlig aufzugeben. Eine andere Möglichkeit besteht darin, zu raten; sich trotz eines unsicheren Wissensstatus’ für einen Ausdruck, eine grammatische Form zu entscheiden, ohne diese geprüft zu haben.4
Von den Kompensationsstrategien, die eine unmittelbare Reaktion auf Wissenslücken darstellen (reaktive Strategien), können diejenigen Strategien unterschieden werden, die zur Klärung von vorhandenem oder der Produktion neuen Wissens führen (produktive Strategien). Zu nennen sind hier die metakognitiven Strategien wie das Planen, Kontrollieren und Evaluieren sowie die kognitiven Strategien des Abrufens (bei dem aktiv nach einem Wort oder einer Form gesucht wird) und des Generalisierens fremdsprachlichen Wissens, das bspw. zu neuen Wortschöpfungen führen kann, indem vorhandenes (fremd)sprachliches Wissen auf andere unbekannte Kontexte übertragen wird.
Während die hier aufgeführten Strategien auf dem internen Wissen und Können der Schreibenden basieren, können bei Unsicherheiten und Wissenslücken auch externe Ressourcen herangezogen werden. Darunter fallen insb. der Einsatz eines Wörterbuchs und sonstige Möglichkeiten des Nachschlagens und Überprüfens sowie eine explizite Hilfsanforderung.