Kollektive Erinnerungsarbeit - Robert Hamm - E-Book

Kollektive Erinnerungsarbeit E-Book

Robert Hamm

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Beschreibung

Die Methode der »Kollektiven Erinnerungsarbeit«, entwickelt und eingeführt von Frigga Haug, angewandt in aller Welt: Robert Hamm liefert einen Zugang zur Methode sowie erstmals einen Überblick internationaler Anwendungen mit höchst diversen Schwerpunkten und Kontexten.

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Robert Hamm

 

Kollektive Erinnerungsarbeit

Anwendungen, Variationen, Adaptionen weltweit

Argument

Dieses Projekt kam zustande als Kooperation zwischen der Universität Maynooth (Irland) und dem Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT e.V.).

Es wurde gefördert durch den Irish Research Council (IRC) im Rahmen des EU-Programms Horizon 2020 unter der Marie Sklodowska Vereinbarung No. 713279.

 

 

 

Deutsche Erstausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2021/2022

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Lektorat: Iris Konopik, Luis Poscharsky

Umschlag: Martin Grundmann

Umschlagbild: La panthère qui rit, © Nicole Claveloux, nicole.claveloux.free.fr

ISBN 978-3-86754-830-4 (E-Book)

ISBN 978-3-86754-521-1 (Buch)

Inhaltsverzeichnis

 

1 Kollektives Arbeiten mit individuellen Erinnerungen
1.1 Im Zug
2 Jetzt etwas theoretischer – Entwicklung der Kollektiven Erinnerungsarbeit
2.1 Grundlagen
2.2 Skizzenhaft: Das Vorgehen – was tun in welcher Reihenfolge
2.3 Berichtete Erfahrungen
3 Einmal rund um den Globus
3.1 Mädchen in ihrem Element – Frauen in Wissenschaft
3.2 Men’s stories for a change20
3.3 Das »Hayward Collective«
3.4 Körper und Geist
4 Textanalyse – Was tun?
4.1 Nicht Fisch, nicht Fleisch
4.2 Textanalyse – am Beispiel
4.3 Weil es so intensiv war
5 Presto, per favore
6 Hürden, Fallgruben, Stolperfallen
6.1 Autorin – Text – Identität
6.2 Sprachkenntnis
6.3 Themen entwickeln
6.4 Sensible Themen
6.5 Lernumgebung, Erwartungen und Erwartungserwartungen
7 Anfangen
8 Kollektive Erinnerungsarbeit – Konzepte in universitärer Lehre
8.1 Feministische Medienforschung
8.2 LehrerInnenausbildung I
8.3 LehrerInnenausbildung II
8.4 IT und organisationales Lernen
8.5 LehrerInnenausbildung III
8.6 Frauenstudien und Gender Studies
8.7 Wirtschaftsstudium
9 Kollektive Erinnerungsarbeit in universitärer Lehre – Lernerfahrungen
9.1 Wirtschaftsstudium – KEA und Erfahrungslernen
9.2 Lernerfahrungen – Einschätzungen I
9.3 Lernerfahrungen – Einschätzungen II
10Kollektive Erinnerungsarbeit in Lernumgebungen außerhalb der Universität
10.1 Schreibwerkstatt mit einer 8. Klasse
10.2 Projektwochen in Sekundarstufen
10.3 Reflexionsmethode in pädagogischen Berufen
10.4 Kollektive Erinnerungsarbeit in sozialpädagogischen Fachschulen
10.5 Kollektive Erinnerungsarbeit mit PädagogInnen in Österreich
10.6 Perspektivwechsel in Erzählwerkstätten an Volkshochschulen
10.7 Mind scripting – Betriebliche Fortbildung im Software-Bereich
11Paul und Tina
12Projektdesign – Arbeitsteilung und Lernpotenzial
12.1 Erstes Beispiel: Durchgängig kollektive Konzeption
12.2 Zweites Beispiel: Angeleitete Projekte
12.3 Drittes Beispiel: Anleitung als Mentoring
12.4 Viertes Beispiel: Individuelle Forschungsprojekte
12.5 Fünftes Beispiel: Fokusgruppen-Modell
13Mythenbildung ist keine Bildung

 

Literaturverzeichnis
Anmerkungen

1Kollektives Arbeiten mit individuellen Erinnerungen

 

 

Wer den Begriff »kollektive Erinnerungsarbeit« hört, dem fällt meistens zuerst die Aufarbeitung der faschistischen Diktatur ein, das Bemühen um eine Gedenkkultur, die Pflege und Bewahrung eines kollektiven Gedächtnisses. Auch andere Epochen und Ereignisse können Gegenstand derartiger Beschäftigung werden, die DDR-Geschichte, die APO, die Kolonialgeschichte oder wie vor nicht allzu langer Zeit die Revolution 1918. Gerade runde Jahrestage bieten Anlass, sich mit historischen Ereignissen näher zu befassen.

In diesem Buch geht es um etwas anderes. Es handelt von Kollektiver Erinnerungsarbeit1 als einer Methode forschenden Lernens. Im Zentrum stehen dabei der Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft. Die Methode baut auf dem kollektiven Arbeiten mit individuellenErinnerungen auf. Sie setzt eine Gruppe voraus. Ausgehend von den Erfahrungen der Gruppenmitglieder zu einem gemeinsamen Thema wird dabei versucht, Wege der Vergesellschaftung nachzuvollziehen. Weitergehendes Ziel ist, daraus mögliche Alternativen im Sinne erweiterter Handlungsfähigkeit aufzuspüren.

Über die letzten vier Jahre habe ich mich intensiv mit der Kollektiven Erinnerungsarbeit befasst, sowohl theoretisch als auch in praktischen Anwendungen. Diese fanden mit ganz unterschiedlichen Gruppen statt, von der Theatergruppe einer Arbeitsloseninitiative über informelle Gruppen in politischen Zusammenhängen, von stellvertretenden Leiterinnen in Kindertagesstätten, Auszubildenden an sozialpädagogischen Fachschulen bis zu Seminaren mit UniversitätsprofessorInnen.

In den verschiedenen Kapiteln werde ich mich dem Potenzial der Kollektiven Erinnerungsarbeit als Lernmethode widmen, mit deren Anpassung an lokale Gegebenheiten und Ansprüche sowie deren internationaler Verbreitung. Einige Anmerkungen zur Entwicklung der Methode dienen der historischen Einordnung. Grundlagen und Vorgehensweise werden dargestellt und ich werde Problembereiche ansprechen, die für Menschen, die die Methode ausprobieren möchten, relevant sein können.

Kollektive Erinnerungsarbeit basiert auf einem durchdachten Konzept. In vielen Gesprächen mit Menschen, die sich für die Methode interessieren, habe ich gelernt, dass es sinnvoll ist, einerseits die Komplexität der Methode anerkennend vorzustellen, andererseits aber eine Brücke von theoretischen Darstellungen zu alltäglicher Erfahrung und Sprache zu schlagen. Der Effekt ist verblüffend. Am Ende eines solchen Gesprächs steht nicht mehr: »Das musst du mal probieren«, sondern häufig: »Das will ich auch mal ausprobieren.« Diese Erfahrung war Leitgedanke beim Verfassen dieses Buches. Es gibt Kapitel, die die Komplexität der Methode (in möglichst zugänglicher Sprache) widerspiegeln. Daneben gibt es eine Serie von Dialogen, die die besagte Brücke schlagen. Sie sind den Gesprächen nachempfunden, die ich über die letzten Jahre geführt habe. Im Buch tauchen sie als eine Folge von Szenen auf, die aufeinander aufbauend fortgeschrieben sind. Mit einer solchen Szene soll hier begonnen werden.

 

 

1.1 Im Zug

Eine (nicht so ganz theoretische) Einführung

 

Paul sitzt im Zug einer Frau und einem Mann gegenüber, deren Unterhaltung er mit anhört.

 

Er: Was hältst du vom letzten Rundbrief? Ich hab ihn schon auswendig gelernt.

Sie: Machst du Witze?

Er: Bestimmt nicht. Es ist der erste Rundbrief, den ich komplett gelesen habe. Meistens leg ich die Dinger schon nach den ersten Sätzen zur Seite, weil ich den pathetischen Ton nicht ertrage. Aber das klang anders. Hör mal: Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.2

Sie: Na prima. Und ist dir auch klar, wo das herkommt?

Er: Das kommt vom Koordinationsausschuss. Es wurde vor zwei Wochen an alle Initiativen geschickt mit der Aufforderung, lokale Aktionsgruppen für Gesellschaftswandel zu bilden.

Sie: Von mir aus. Vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, wer diese Sätze ursprünglich formuliert hat.

Er: Nicht wirklich, nein. Wichtig ist, dass wir zur Tat schreiten.

Sie: Aber weißt du auch, wohin ihr schreitet? Und wer überhaupt mitschreitet? Und was ihr am Ziel finden wollt?

Er: Ach, hör auf. Wir schreiten zur Tat. Alles Weitere ergibt sich. Der Punkt ist, dass der Erzieher selbst erzogen werden muss.

Sie: Da ist schon der erste Haken. Erzieher sind meistens weiblich, wie ich. Wenn der Erzieher ausschließlich männlich konstruiert ist, wie in deinem Zitat aus den Feuerbach-Thesen, das du gerade so hübsch wiedergegeben hast, dann bin ich offenbar nicht gemeint. Das wär schon mal was zum Nachdenken für dich und auch für deinen Koordinationsausschuss. Und überhaupt, Gesellschaftswandel, es muss doch um eine umfassende Änderung gehen, die alle Bereiche menschlicher Tätigkeit betrifft, Arbeit, Familie, Politik, sogar die Freizeit im Rollschuhclub. Das hängt doch alles miteinander zusammen. Zur Tat schreiten, ohne die momentane Ausgangsposition bestimmt zu haben, die Koordinaten des Terrains, wenn du so willst, und die Richtung, wo es hingehen soll – vergiss es. Du wirst nur im Kreis gehen.

 

Paul ist ganz Ohr. Die beiden machen keine Anstalten, ihr Gespräch verdeckt zu halten, deshalb spricht er sie an.

 

Paul: Wenn Sie gestatten, ich bin in der Erwachsenenbildung tätig und in unserem Arbeitsbereich gibt es viele Versuche, genau in diese Richtung zu arbeiten. Viele von uns haben die Hoffnung, die Welt dadurch zu ändern, dass sie die Menschen ändern.

Sie: Die Welt zu ändern ist eine Sache, die Verhältnisse zu ändern eine andere. Die Welt ändert sich ständig, weil Materie immer in Bewegung ist. Womit wir uns befassen, ist die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Paul: Wenn Sie interessiert sind, erzähle ich Ihnen was über eine Methode, die unter Umständen sehr gut zu diesem Anliegen passt. Dabei geht es um einen Weg, Muster der Vergesellschaftung aufzudecken und eine größere Klarheit über die momentane Position im Verhältnis zu gesellschaftlichen Verhältnissen zu gewinnen.

Sie: Klingt spannend. Ich bin Marion, wir können uns gerne duzen.

Er: Jonas.

Paul: Freut mich. Paul.

Marion: Na denn schieß los, Paul.

Paul: Am einfachsten geht es mit einem Beispiel. Stellt euch eine Gruppe von Lehrern und Lehrerinnen vor, die mit ihrer täglichen Praxis unzufrieden sind, weil sie sich an so viele geschriebene und ungeschriebene Vorschriften, Normen, Rituale und Konventionen halten müssen.

Jonas: Das heimliche Curriculum.

Paul: So in der Art, ja. Nehmen wir an, sie kommen auf eine Einladung hin zusammen, in der es heißt ›Ritualisiertes Verhalten in der Schule – der tägliche Kleinkrieg an allen Fronten‹. Sie haben einen geteilten Leidensdruck, auch wenn sie das vielleicht nicht so ausdrücken würden. Sie treffen sich, zu sechst oder zu siebt, in einem informellen Rahmen, sagen wir an einem Mittwochabend in einem Raum im Bürgerzentrum, oder im Personalraum einer der Schulen, auf jeden Fall in einer ruhigen Umgebung. Sie beginnen mit einem Austausch darüber, warum sie zu dem Treffen gekommen sind. Sie erzählen sich gegenseitig aus ihrer Praxis und finden Gemeinsamkeiten. Und sie versuchen, ihre Erfahrungen zu dem Thema in Bezug zu setzen. Bei den Ritualen könnten sie sich zum Beispiel darüber unterhalten, was überhaupt ein Ritual ausmacht, oder was sie meinen, wo die Fronten liegen, denen sie begegnen. Vielleicht hat sich auch schon jemand genauer mit schulischen Ritualen befasst und kann einen Überblick über vorhandene Theorien geben. Aufgrund dieser einführenden Diskussion einigen sie sich auf einen Fokus für ihre weitere gemeinsame Beschäftigung mit dem Thema. Das kann in Form einer These sein, oder noch besser in Form einer Leitfrage, die ihnen später als Bezugspunkt dient.

Marion: Dazu fällt mir Stephen Brookfield ein. Der schreibt, man soll nicht annehmen, dass dadurch, dass man eine Gruppe von Lehrern und Lehrerinnen in einen Raum bringt und ihnen sagt, sie sollen über ihre Praxis reflektieren, die Menge an kritischer Reflexion in der Welt ansteigt.3

Jonas: Das ist überall gleich. Was wir bei unseren Gewerkschaftstreffen meistens machen, ist, den täglichen Müll abladen, der sich auf der Arbeit ansammelt, persönliche Geschichten, manchmal regelrechtes Getratsche.

Paul: Logisch, das ist ganz normal. Das wäre auch bei den Lehrern und Lehrerinnen in meinem Beispiel der Fall. Sie fangen sogar bewusst mit ihren eigenen Geschichten an. Andererseits sind sie auch gewärtig genug, dass sie über diese Anfangsphase hinauskommen.

 

Die Tür des Abteils öffnet sich. »Hier noch jemand zugestiegen? Die Fahrkarten bitte.« Paul, Marion und Jonas holen ihre Tickets heraus und reichen sie der Zugbegleiterin, die sie scannt und zurückgibt.

 

Jonas: Ist das nicht auch ein Ritual? Wenn es nach mir ginge, wäre der öffentliche Verkehr umsonst.

Paul: Und trotzdem, wir zahlen. Wir halten die Fahrkarten zur Kontrolle bereit. Wir bedanken uns sogar noch fürs Einscannen.

Marion: (lacht) Es hat ja keinen Sinn, der Zugbegleiterin den Krieg zu erklären.

Paul: Es kommt auf die richtige Zeit und den richtigen Ort an. Aber zurück zu den Lehrern und Lehrerinnen. Die haben also einen thematischen Fokus vereinbart, zum Beispiel eine Frage wie: Welche Effekte hat ritualisiertes Verhalten in Schulen? Als Nächstes kehren sie zu ihren persönlichen Geschichten zurück.

Jonas: Tratsch?

Paul: Nein, kein Tratsch. Ausgehend von ihrer Frage suchen sie sich einen Titel für eine kurze persönliche Geschichte, die sie jeweils für sich aufschreiben. Das sind erinnerte Geschichten zu Situationen, die sie selbst erlebt haben. Wenn der Titel beispielsweise Elterngespräch lautet, dann schreiben alle eine Geschichte zu einer selbst erlebten Situation bei einem Elterngespräch. Der Titel kann ganz unterschiedlich formuliert werden. Eine gute Variante ist, eine konkrete Situationsangabe zu machen wie Als ich einmal einen Tadel aussprach oder Als ein schulisches Ritual einmal zerstört wurde.

Jonas: Ah, die schreiben also ihre Geschichten auf?

Paul: Ja. Erinnerungsszenen, eine Seite lang, oder zwei, nicht länger. Darin beschreiben sie möglichst genau, was sich zugetragen hat. Dabei versuchen sie, Interpretationen oder Reflexionen über das Geschehen zu vermeiden. Einfach bloß, was passierte.

Marion: Wenn es keine Interpretation oder Reflexion in den Geschichten gibt, sollen die also frei sein von Bewertungen?

Paul: Die anderen in der Gruppe werden den Text später lesen. Daher geht es vor allem darum, keine Interpretation und Bewertung des geschilderten Erlebnisses vorzugeben. Beim Schreiben benutzen sie außerdem einen Trick, sie schreiben nämlich in der dritten Person. Das heißt, wenn ich eine vergangene persönliche Erfahrung schildere, dann benutze ich nicht die Form Ich tat dies oder jenes. Sondern: Er tat dies oder jenes. Es gibt auch Gruppen, die dafür ein Pseudonym wählen. Anstatt über Paul könnte ich zum Beispiel schreiben: Stefan tat dies oder jenes.

Jonas: Das hört sich komisch an. Warum sollte ich über mich schreiben, ohne meinen eigenen Namen zu benutzen?

Paul: Die Erinnerungsszenen werden als Material für eine Analyse benutzt, sozusagen der Stoff, aus dem die Koordinaten für das Terrain abgeleitet werden, von dem Marion vorhin sprach. Wenn eine Geschichte für die Autorin oder den Autor emotional aufgeladen ist, kann das zu Störungen bei der Analyse führen. Die dritte Person hilft, Distanz herzustellen.

Jonas: Analyse, klingt irgendwie nach Gruppentherapie.

Paul: Die Analyse bezieht sich auf einen Text, nicht auf eine Person. Es ist keine Therapie. Obwohl es natürlich immer möglich ist, dass die Teilnahme an so einer Gruppe auch therapeutische Effekte hat. So wie eure Gewerkschaftstreffen vielleicht auch manchmal therapeutische Effekte haben.

Jonas: Ja, haben sie. Selbst der Tratsch kann therapeutisch wirken für die, die sich darin wohlfühlen.

Marion: Ich kriege therapeutische Effekte durch Spazierengehen im Wald. Das ist auch keine Therapie in diesem Sinne.

Paul: Bei den Lehrern und Lehrerinnen in unserem Beispiel ist es das auch nicht. Sie schauen sich die Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Individuum an. Beim Schreiben in der dritten Person blickt man sozusagen von außen auf sich selber. Anstatt von vornherein zu wissen, wer die Guten und die Bösen sind, verfremdet man die Szene. Und das Schreiben in der dritten Person ist letztlich auch ein Mittel, die supra-individuellen Elemente in persönlichen Erfahrungen aufzudecken.

Jonas: Supra-individuell?

Marion: In jeder persönlichen Erfahrung steckt von vornherein mehr als nur persönliche Erfahrung. Als Menschen sind wir biologische Einzelwesen, aber gleichzeitig immer auch soziale Wesen. Erinnerst du dich an die andere von Marx’ Thesen? Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.4

Paul: Das ist schon ganz nah dran an den Gedanken, die diejenigen beschäftigten, die die besagte Methode entwickelt haben. Die Gründerinnen versuchten in den 80er Jahren Feminismus und Marxismus zusammenzubringen. Sie arbeiteten als Gruppe über etliche Jahre hinweg in wechselnder Zusammensetzung, hauptsächlich zusammengehalten durch Frigga Haug. Sie hat auch Grundlagenliteratur zur Methode geschrieben und herausgegeben. Das Projekt lief unter dem Titel Frauenformen. Den Namen wählten sie in Anlehnung an den französischen Philosophen Lucien Sève und dessen Theorie zu Individualitätsformen5. Sie nannten ihre Methode übrigens Kollektive Erinnerungsarbeit.

Jonas: Unter Kollektiver Erinnerungsarbeit hätte ich mir was anderes vorgestellt. Da geht es doch in erster Linie um Gedenkstättenarbeit oder so was, aber nicht um die Erinnerungen von einzelnen Lehrern oder Lehrerinnen an Elterngespräche.

Paul: Das geht dir wie den meisten. Auf den Namen gibt es kein Copyright. Er steht hier für das kollektive Arbeiten mit individuellen Erinnerungen.

Marion: Andererseits sagst du ja selber, persönliche Erinnerungen enthalten immer schon mehr als nur persönliche Erfahrungen. Sie haben notwendigerweise diese supra-individuellen Anteile. In einer Szene vom Elternabend stecken 200 Jahre Geschichte der Schulpflicht, oder nicht?

Paul: Genau, das bringt uns zurück zu den persönlichen Geschichten. Die Gruppe liest und analysiert die Geschichten mit der Wechselwirkung zwischen Persönlichem und Politischem im Hinterkopf. Im konkreten Beispiel haben die Lehrer und Lehrerinnen also jetzt ihre Erinnerungsszenen geschrieben.

Jonas: Warte mal. Du sagtest, die treffen sich mittwochabends. Wie lange dauert denn das Treffen? Die haben einen Tag in der Schule hinter sich, einige haben möglicherweise noch was für Donnerstag vorbereitet, waren einkaufen, manche haben vielleicht Familie.

Paul: Stimmt, diese Lehrer und Lehrerinnen sind nicht übermenschlich. Die sind nach einer Weile müde. Zwei Stunden wahrscheinlich, dann haben sie genug. Aber sie treffen sich ja nicht nur einmal. Sie erlauben sich, langsam voranzuschreiten. Im besten Falle haben sie es beim ersten Treffen geschafft, ihre Leitfrage zu klären. Es kann sogar sein, dass sie noch gar nicht so weit kommen. Vielleicht sind ihre Ansichten anfangs zu unterschiedlich und klärungsbedürftig. Aber dann machen sie eben beim zweiten Treffen da weiter, wo sie beim ersten aufgehört haben.

Jonas: Heißt das, die Gruppe trifft sich regelmäßig über einen gewissen Zeitraum?

Paul: Hab ich vergessen, das zu erwähnen? Kollektive Erinnerungsarbeit braucht Zeit.

Marion: Das kann ein Hindernis sein.

Paul: Alles braucht Zeit – wenn du in einem Fußballteam spielst, oder du bist in einer Food-Co-Op oder im Kommunalen Kino oder sonst wo aktiv, arbeitest in der Kirchengemeinde mit, falls du religiös bist. Das wäre auch bei einer lokalen Aktionsgruppe für Gesellschaftswandel nicht anders.

Jonas: Korrekt. Es kommt immer darauf an, was einem wichtig ist.

Marion: Na gut, die haben also jetzt ihre Geschichten geschrieben. Aber sitzen sie zum Schreiben alle in einem Raum? Das erscheint mir ein bisschen komisch, fast wie Aufsatzschreiben in der Schule.

Paul: Einige Gruppen haben das tatsächlich so gemacht. Nicht im gleichen Raum, aber im gleichen Gebäude. Die hatten aber einen begrenzten Zeitrahmen, beschränkt zum Beispiel auf ein Tagesseminar. Meistens werden die Erinnerungsszenen zuhause geschrieben, im Zeitraum zwischen zwei Treffen.

Jonas: Ich nehme an, du hast das auch schon selber mal gemacht, oder?

Paul: Ja, stimmt. Mir geht’s meistens so, dass ich ein paar Tage warte. Ich habe oft mehr als eine Geschichte im Kopf und versuche, sie so präzise wie möglich in der Erinnerung wachzurufen. Welche Szene? Was passierte genau? Was fällt mir noch dazu ein? Was passt am besten zum Thema? Aber ich schreibe auch nicht auf den letzten Drücker. Ich kenne Leute, die sagen, es klappt am besten, wenn sie ein bisschen Druck verspüren. Die warten bis zum letzten Tag. Es gibt keine Einheitslösung. Wichtig ist lediglich, dass die Szenen wie vereinbart zum nächsten Treffen vorliegen.

Jonas: Gut, jetzt sind sie da. Sechs oder sieben davon. Was passiert damit?

Paul: Zuerst lesen wir sie laut vor, eine nach der anderen. Nach jeder Szene geben wir spontan unsere Reaktionen darauf kund. Wir unterhalten uns darüber, was die Botschaft der Autorin oder des Autors ist, was sagen die über sich selbst. Und wir versuchen zu benennen, welche Alltagstheorien in der Geschichte stecken. Das sammeln wir alles und schreiben es auf.

Marion: Hast du gemerkt, dass du von sie zu wir gewechselt bist?

Paul: Jetzt, wo du es sagst … Macht nichts. Im Beispiel der Lehrer und Lehrerinnen war ich nämlich Teil der Gruppe.

Marion: Aber du bist selber kein Lehrer.

Paul: Nein, in diesem Fall war ich in der Rolle eines Moderators. Dazu sage ich gleich noch was.

Jonas: Was meinst du mit dem Begriff Alltagstheorie?

Paul: Das sind die Theorien, die uns spontan einfallen, ohne dass wir sie wirklich durchdacht hätten. Die lassen sich oft in Form von Sprichwörtern ausdrücken.

Jonas: Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es.

Marion: Reden ist Silber. Schweigen ist Gold.

Paul: (lacht) Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Das Erstaunliche an diesen Volksweisheiten ist doch, dass sie immer eine Portion Wahrheit enthalten. Und ob wir wollen oder nicht, Alltagstheorien sind in unserem Alltagsverständnis fest verankert. Wenn wir mit den Texten arbeiten, machen wir sie uns bewusst, damit sie sich nicht später unbemerkt einschleichen und uns bei der analytischen Arbeit in die Quere kommen. Sonst würden wir auf dem Erkenntnisniveau von Binsenweisheiten steckenbleiben. Mit Kollektiver Erinnerungsarbeit wollen wir über dieses Verständnis hinauskommen. Wir wollen die Bausteine unserer Selbstbilder als einzelne Teile nebeneinanderlegen, so ähnlich wie beim Auseinanderschrauben eines Radios.

Marion: Das erinnert mich an Michel Foucault und seine Werkzeugkiste.

Jonas: Kann mich mal jemand aufklären?

Marion: Michel Foucault hat mal in einem Interview gesagt, seine Bücher seien so was wie kleine Werkzeugkisten, und dass die Leute die Sätze oder Ideen darin als Schraubenzieher verwenden können, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu demontieren oder zu sprengen, einschließlich derjenigen, aus denen diese Bücher hervorgegangen sind.6

Paul: Und Kollektive Erinnerungsarbeit wurde beschrieben als eine Erweiterung der Werkzeugkiste, ein Skalpell zum Sezieren der Konstruktionen in einem Akt sozialer Chirurgie.7 Dafür braucht man die Textanalyse. Sonst könnte man genauso gut eine Selbsterfahrungsgruppe organisieren, oder einen Erzählkreis, oder ein Gewerkschaftstreffen, in dem man Geschichten austauscht, sich empathisch zuhört, gegenseitig Sympathie bekundet, gemeinsam Spaß hat, alles prima.

Marion: Zu Textanalysen habe ich schon einiges gehört. Da gibt es ein buntes Durcheinander an faszinierenden Namen: Inhaltsanalyse, Tiefenhermeneutik, objektive Hermeneutik, Dokumentarische Methode und was noch alles. Wie macht ihr das bei der Kollektiven Erinnerungsarbeit?

Paul: Texte bestehen aus Sätzen. Jeder komplette Satz besteht aus mindestens zwei Elementen, einem Subjekt und einem Verb, und er drückt einen kompletten Gedanken aus. Das ist unser erster Ansatzpunkt. Wir schauen uns an, wie die Sätze gebildet wurden. Zuerst suchen wir die Subjekte, die im Text vorkommen, und wir sammeln für jedes Subjekt die Verben, die die Autoren und Autorinnen ihnen zugeordnet haben.

Jonas: Peter trinkt eine Menge. Peter ist Subjekt, trinkt ist das Verb. Was gewinne ich dadurch?

Paul: Wenn die Geschichte von Peter handelt, dann werden ihm aller Voraussicht nach noch mehr Verben zugeordnet sein. Die Gesamtheit der Peter-Verben gibt uns einen Hinweis auf die Konstruktion der Person Peter. Außerdem kommen in der Geschichte vielleicht auch noch Pia und Pamela vor. Wir sammeln auch die ihnen zugehörigen Verben. Im Vergleich lassen sich dann schon zu diesem frühen Zeitpunkt unterschiedliche Charakterkonstruktionen benennen, die durch die Autorinnen und Autoren in den Text eingearbeitet wurden.

Jonas: Aber ist nicht eh klar, was für ein Typ Peter ist, oder Pia, oder Pamela?

Marion: Und warum gerade die Verben und die Subjekte?

Paul: Die kompletten Sätze sind das Rückgrat der Geschichte. Sie geben wieder, was letztlich den Handlungsablauf der Geschichte ausmacht. Ihr wärt überrascht, wie erhellend so eine Sammlung sein kann. Ich erinnere mich an die Geschichte eines Lehrers, der über den Besuch eines Schulinspektors schrieb. Beim ersten Lesen dachten alle, ach, der arme Lehrer, dieser Inspektor ist schlicht ekelhaft und grausam.

Jonas: (lacht)

Marion: Kein Grund zum Lachen.

Jonas: Aber du bist Schulinspektorin.

Paul: Oh, Entschuldigung.

Marion: Keine Ursache, ich kann ganz gut unterscheiden, Geschichten, Realitäten, täglicher Kleinkrieg.

Paul: Der Inspektor in der Geschichte schien der prototypische Bösewicht zu sein. Aber nachdem die Subjekte und Verben gesammelt waren, wurde erkennbar, dass der Lehrer selber in dem Text überhaupt nicht als Subjekt vorkam. Es war ein großartiger Text. Der Autor hatte sich selbst und sein Handeln völlig außen vor gelassen. Stattdessen war es der Inspektor, der durchgängig als aktives Subjekt auftauchte. Und die ihm zugeordneten Verben zeigten eine Bandbreite, die dem zuerst erweckten Bild widersprach. Er glich viel eher einem Bürokraten, der schlicht und einfach seinen Job macht. Darüber hinaus hatte der Autor eine Menge Sätze gebildet, in denen unbelebte Elemente als aktives Subjekt auftraten. Der Morgen verging langsam, die Mittagspause kam, der Nachmittag zog sich in die Länge und so weiter. Das macht etwas mit den Lesenden. Es erweckt den Eindruck der Unausweichlichkeit. Denn was kann man schon dagegen tun, dass der Nachmittag sich in die Länge zieht?

Marion: Heißt das, der Lehrer machte sich selbst unsichtbar in dem Text? Und dadurch verschob er die Aufmerksamkeit der Lesenden ausschließlich auf den vermeintlich so bösen Inspektor.

Paul: Genau. Und das wurde klar, als die Liste der Subjekte und Verben aufgestellt wurde. Es hatte einen richtigen Aha-Effekt – nicht nur für die übrigen Gruppenmitglieder, sondern auch für den Autor selbst. Eine einfache Übung, aber extrem hilfreich.

Marion: Das glaube ich gern. Da werden die Mechanismen sichtbar, mit denen wir unsere Geschichten konstruieren.

Paul: Aber Subjekte und Verben sind nur der Anfang. Wir schauen auch nach Gefühlen, die den Personen in der Szene zugeordnet sind, sowie nach Motivationen, die ausgedrückt werden. Wir bleiben dabei sehr eng am Text. Einerseits ist das recht einfach. Andererseits ist für Leute, die das zum ersten Mal ausprobieren, die Versuchung immer groß, etwas in den Sätzen zu lesen, was gar nicht drinsteht. Aber nach ein paar Versuchen kommen eigentlich alle dahinter, was es heißt, an dieser Stelle eng am Text zu bleiben.

Marion: Wenn ich mir vorstelle, eine Erinnerungsszene zu schreiben, kämen darin häufig noch andere Personen vor. Für mich selber kann ich Gefühle und Motivationen noch erinnern, aber für die anderen?

Jonas: Du wirst doch mitkriegen, wenn die Lehrer und Lehrerinnen, die du in der Schule triffst, sich über dich ärgern.

Marion: Die meisten ärgern sich nicht, wenn sie mich sehen. Einige sind eingeschüchtert. Aber sie bemühen sich, es nicht zu zeigen.

Paul: Und wenn du darüber eine Erinnerungsszene schreibst, kannst du beschreiben, wie sich das äußert.

Marion: Das geht wohl. Aber Motivationen? Die sind doch so versteckt. Die Idee des offenen Umgangs ist ja ganz schön, aber im echten Leben ist es doch anders. Der Ausgangspunkt für Leute, wenn sie miteinander kommunizieren, sind stets die Machtstrukturen, in denen die Kommunikation stattfindet.

Jonas: Wer redet schon frei von der Leber weg mit dem Chef, wenn das Risiko besteht, rauszufliegen?

Paul: In den meisten Szenen tauchen tatsächlich keine Motivationen auf. Im Text danach zu suchen, öffnet aber unseren Blick für die Situation, in die die Szene eingebunden ist. Nimm die Szene mit dem Lehrer, der sich unsichtbar machte. Der Inspektor in der Geschichte sollte an dem Tag die Lehrprobe für das Examen abnehmen. Und am Ende des Tages verweigerte er dem Lehrer die Abnahme der Lehrprobe.

Marion: Aus welchem Grund?

Paul: Das war eine Leerstelle in der Geschichte. Der Lehrer lieferte die Begründung im Text nicht mit. Aber er schrieb, dass der Inspektor ihn nicht einfach durchfallen ließ. Stattdessen notierte der Inspektor, die Lehrprobe sei verschoben, was sich in der Akte des Lehrers besser machen würde. Die Geschichte ließ uns also über die Gründe für das Nicht-Bestehen im Dunkeln. Aber die Motivation des Inspektors dafür, den Lehrer nicht völlig durchfallen zu lassen, wurde erwähnt.

Jonas: Lehrer bestehen Lehrproben oder sie bestehen sie nicht, je nachdem, wie es in die aktuelle Wirtschaftslage passt. Wenn es zu wenige gibt, dann lassen die Schulen alle möglichen Typen auf die Kinder los. Wenn das Geld im Säckel knapp wird, werden die Schrauben fester angezogen.

Marion: Es ist sicher ein bisschen komplexer als das. Aber stimmt schon, die wirtschaftliche und politische Situation beeinflusst selbst die zwischenmenschlichen Begegnungen bei einem Schulbesuch. Ich bin an bestimmte Protokolle gebunden. Wenn ich sie missachte, handle ich mir Ärger ein.

Paul: Unser Alltag ist durchzogen von Widersprüchen. Dabei sind wir uns der Spannungsfelder in unserem Leben oft durchaus bewusst. Gleichzeitig versuchen wir, ein widerspruchsfreies Bild von uns selbst zu konstruieren. Das geht nur, wenn wir Widersprüche ausblenden. Kein Wunder, dass unsere Erinnerungsszenen viele Leerstellen enthalten. Das ist sozusagen nicht anerkanntes Wissen, oft mit dem eigentümlichen Effekt, dass es uns darin bestätigt, dass wir ja doch nichts ändern können, dass es keinen anderen Weg gibt, dass es eben ist, wie es ist, und so weiter. Aber das fesselt uns an die Opferposition. Das Schlimmste an dieser Position ist, dass sie uns lähmt. Die Leerstellen sind nebenbei gesagt auch einer der Punkte, nach denen wir bei der Textbearbeitung suchen.

Jonas: Hätte ich beinah vergessen, du warst ja dabei, uns von deiner Methode zu erzählen.

Paul: Es ist nicht meine Methode. Sie wurde von der Gruppe um Frigga Haug entwickelt. Aber wem gehört eine Methode überhaupt? Letztlich doch denen, die sie anwenden. Die machen immer das daraus, was sie selber richtig finden. Das ist Aneignung und damit ist es ihre Methode. Wo waren wir stehen geblieben? Textanalyse. Zuerst lesen wir die Szenen, schälen die Botschaft der Autorin oder des Autors, die Alltagstheorien heraus. Dann dekonstruieren wir die Texte, Subjekte, Verben, Gefühle, Motivationen. Wir suchen nach Widersprüchen, Leerstellen, Klischees und sprachlichen Besonderheiten.

Jonas: Was meinst du mit sprachlichen Besonderheiten?

Paul: Da geht es um die Benutzung von Sprache. Wenn zum Beispiel ein Text mit ganz viel wörtlicher Rede geschrieben ist, das wäre eine Besonderheit. Die Texte sind Erinnerungsszenen. Häufig liegen die geschilderten Situationen weit in der Vergangenheit. Wer wäre beim besten Willen in der Lage, einen Dialog von vor ein paar Jahren im genauen Wortlaut wiederzugeben?

Marion: Du sagtest vorhin, du versuchst dich so genau wie möglich zu erinnern.

Paul: Aber wie sicher kann ich mir sein? Ich krieg die Richtung hin. Ich erinnere manchmal einen bestimmten Satz, der gesagt wurde, einen Fluch, einen Schrei. Aber ein ganzes Gespräch? Keine Chance. Und dennoch gibt es Texte voller wörtlicher Rede. Der Effekt ist, eine höhere Glaubwürdigkeit zu erzeugen.

Jonas: Das ist ein bisschen vorgegaukelt, oder nicht?

Paul: Die Autoren und Autorinnen schreiben ja nicht mit der Absicht, etwas vorzugaukeln. Sie wählen diese Form, weil sie der Meinung sind, ihre Botschaft auf diese Art besser vermitteln zu können.

Marion: Eine andere Besonderheit wäre, wenn etwas mehrmals wiederholt wird. Das wird in den Berichten zu Schulbesuchen häufig gemacht. Du sagst es in der Einleitung, dann sagst du’s noch mal im beschreibenden Teil, und dann wiederholst du’s ein weiteres Mal in der Evaluation.

Jonas: Um es regelrecht einzuhämmern.

Marion: Im Inspektorat würden wir das nicht so ausdrücken.

Jonas: Ihr im Inspektorat vielleicht nicht. Aber ich schon.

Paul: Vielleicht sollten wir mal ’ne kurze Pause machen, ich muss eh zur Toilette.

Marion: (lacht) Altbewährte Strategien, wie in der Schule.

Paul: (lacht) Immerhin etwas fürs Leben gelernt.

 

Als Paul von der Toilette zurückkommt, verzehrt Jonas gerade den letzten Rest eines belegten Brötchens. Marion nippt an einer Tasse Tee aus ihrer Thermoskanne.

 

Paul: Noch zwei Haltestellen, dann muss ich raus. Vielleicht sollte ich noch erklären, was nach der Dekonstruktion der Texte geschieht.

Jonas: Nur zu.

Paul: Alles, was wir bei der Dekonstruktion herausfinden, schreiben wir auf große Poster. Die befestigen wir an der Wand. Dann haben wir das ganze Material sichtbar vor uns. Es ist ein bisschen wie ein Haus, dessen Bausteine nebeneinander ausgelegt sind. Plötzlich sieht man, das hätte ja auch ganz anders gebaut werden können. Als Nächstes versuchen wir, zu einer erweiterten Beschreibung der Figuren in der Geschichte zu kommen, die alle Elemente aus der Dekonstruktion mit einbezieht.

Jonas: Einschließlich der Tarnstrategien der Autorinnen und Autoren?

Paul: Wenn du es so ausdrücken willst. In jeder Geschichte steckt mehr, als beim ersten Lesen verstanden wird. Manchmal handelt es sich um eine leichte Bedeutungsverschiebung, manchmal entsteht auch eine völlig neue Interpretation.

Marion: Das alles klingt wie eine sehr intensive Selbstreflexion gemeinsam mit anderen.

Paul: Kollektive Erinnerungsarbeit ist mehr als Selbstreflexion. Zu Beginn hatte die Gruppe eine Diskussion zu ihrem Thema. Mit dem Schreiben der Geschichten wurde eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis hergestellt. Nach der Analyse der jeweiligen Szene muss diese Verbindung erneut betrachtet werden. Jede einzelne Textanalyse bringt neue Hinweise für ein erweitertes Verständnis. Daher wird nach der Arbeit mit dem Text jeweils geschaut, was an neuen Aspekten zum Thema aufgetaucht ist.

Marion: Und in dieser Art arbeitet man sich von einem Text zum nächsten durch, richtig?

Paul: Ja. Es ist ein Prozess, Schritt für Schritt voran.

Marion: Du hast vorhin erwähnt, dass es ein langsamer Prozess ist. Es hört sich nach einem guten Stück Arbeit an, und man muss wohl auch aufpassen, nicht vom Weg abzukommen.

Paul: Zeit ist wichtig. Für eine sorgfältige Textanalyse braucht man im Durchschnitt etwa zwei Stunden.

Jonas: Ganz schön lang, wenn man bedenkt, dass die Texte doch offenbar nur eine oder zwei Seiten umfassen.

Paul: Nur, wenn du es noch nicht selber gemacht hast.

Jonas: Da kann ich nicht gegen argumentieren. Nur um das klarzukriegen, wir sagten, die Gruppe trifft sich mittwochabends. Wie viele Treffen brauchen die denn? Ich nehme mal an, die hatten ihre Eingangsdiskussion, hatten ein Treffen, in dem sie alle Geschichten gelesen haben, dann die Geschichten nacheinander bearbeitet und so weiter. Das ist einfaches Kopfrechnen, neun oder zehn Treffen.

Paul: Und vielleicht noch ein paar mehr, wenn sie zwischendrin noch einen Artikel zum Thema lesen, einen Film anschauen, eine Ausstellung besuchen oder einen Vortrag dazu hören und diskutieren.

Jonas: Und wer macht so was?

Marion: Ich kann mir alle möglichen Gruppen vorstellen. Nicht nur Lehrer und Lehrerinnen, das wäre genauso geeignet für eure Gewerkschaftstreffen.

Jonas: Wir haben ein paar Leute dabei, da wette ich, dass die bloß Revolverblätter lesen. Wenn ich mit dem Vorschlag käme, Erinnerungsgeschichten zu schreiben und die dann zu analysieren, ich bekäme ein freundliches, aber bestimmtes ›Mach dich vom Acker‹ zu hören.

Paul: Das käme auf einen Versuch an. Eine der ersten Gruppen, die so ein Projekt durchgeführt haben, bestand aus Gewerkschaftsfrauen. Deren Ausgangspunkt war, dass ihre Erfahrungen, Standpunkte und Forderungen in der Gewerkschaft nicht ernst genommen wurden. Aus dieser Frustration heraus begannen sie, ihre Geschichten darauf hin zu untersuchen, wie sie Teil einer größeren Struktur waren und welche Eingriffsmöglichkeiten es für sie gab.

Marion: Gewerkschaften als Teil sozialen Fortschritts und gleichzeitig Brutstätte patriarchaler Traditionen und Sexismus. Aber Jonas sprach vom Schreiben und dass das Textlastige der Methode ein Hindernis sein kann.

Paul: Das höre ich immer wieder. Dazu zwei Anmerkungen. Nehmt die Gewerkschaftsfrauen. Sie waren zu neunt, im Alter von 27 bis 47. Sie arbeiteten als Packerin, Erzieherin, Bibliothekarin, am Band in einer Keksfabrik, als Sekretärin, Hochschullehrerin und Industriekauffrau. Da liegt es nahe, dass nicht alle den gleichen Bezug haben zum Schreiben, Lesen, Texteanalysieren. Aber das wird in einen Vorteil gewendet, wenn jede ihre Erfahrungen und Kenntnisse der Gruppe zur Verfügung stellt. Es bedeutet, sich als Einzelne für den Fortschritt aller nützlich zu machen. Frigga Haug benutzt dafür den Begriff der organischen Intellektuellen.8

Marion: Das ist Gramsci.

Paul: Ja. Andere sprechen von Moderation. Mit einer guten Moderation ist es auch Gruppen möglich, deren Mitglieder sich die Textbearbeitung anfangs nicht alleine zutrauen. Das lernen sie ganz schnell, nach ein oder zwei Texten läuft es wie von selber. Sie müssen nur eine gesunde Portion Neugier mitbringen.

Marion: Das sagen wir auch den Lehrern und Lehrerinnen immer wieder, dass sie in ihrer Praxis reflektierter sein und ihrer Neugier folgend stets neue Fragen stellen sollten.

Jonas: Und hören die euch zu?

Marion: Sie hören zu, aber oft einfach nur, weil sie müssen. Wenn ich mit meinem Inspektorinnen-Hut in eine Schule komme, wird alles, was ich sage, durch diese Linse gefiltert. In seltenen Fällen treffe ich Leute, die anders sind. Meistens ist es sehr ritualistisch. Alle spielen im Rahmen des Protokolls ihr Skript runter. Alle sind höflich, oder versuchen es zumindest. Und alle sind extrem vorsichtig, aus Angst vor zu viel Kritik.

Paul: Gilt das auch für dich?

Marion: Tatsächlich, ja. Genauso ritualistisch, genauso vorsichtig.

Paul: Schaut mal, bevor ich aussteigen muss, geb ich euch das hier.

Marion: Deine Kontaktadresse, danke.

Jonas: Waren es nicht zwei Anmerkungen, die du zum Schreiben als Hindernis machen wolltest?

Paul: Du hast recht. Die Gruppenzusammensetzung, organische Intellektuelle, Moderation ist das eine. Das andere ist, dass die Schreibaufgabe tatsächlich sehr leicht zu meistern ist. Niemand fragt nach einer wissenschaftlichen Abhandlung oder einem ganzen Roman. Alles, was gebraucht wird, ist eine Erinnerungsszene über eine oder zwei Seiten. Mit ein bisschen Mut kann das jede und jeder. Zumal die Arbeit mit den Texten ja in einer Gruppe stattfindet.

Jonas: Warum betonst du das noch mal?

Paul: Weil es wichtig ist. Warum, glaubt ihr, haben viele Leute diese Angst vorm Schreiben oder eine Abneigung gegen Textarbeit?

Jonas: Schule. Die haben es nie richtig gelernt.

Paul: Das kam ja wie aus der Pistole geschossen. Aber in der Kollektiven Erinnerungsarbeit ist die Gruppe eine Hilfe, Unterstützung, Solidarität.

Marion: Gruppen können Solidarität bedeuten, aber genauso Konkurrenz, Einschüchterung.

Paul: Wie lange würdest du in einer Gruppe bleiben, die dich einschüchtert?

Marion: Stimmt auch wieder. Aber nicht jede und jeder kann jede Gruppe jederzeit verlassen.

Paul: Für Kollektive Erinnerungsarbeit ist das eine Voraussetzung.

Marion: Das hieße, dass es in einem beruflichen Zusammenhang nicht anwendbar ist.

Paul: Kommt drauf an. Wo die Leute eine echte Wahl haben, geht es. Wo das nicht der Fall ist, kann es sein, dass es nicht möglich ist oder dass sich die Lernerfahrungen der Teilnehmenden anders darstellen.

Jonas: Das ist wie überall. Ich kann den anderen auf der Arbeit auch nicht vorschreiben, dass sie in der Aktionsgruppe für Gesellschaftswandel mitmachen sollen. Ich kann sie einladen, aber kommen müssen sie schon selber. Das bringt mich noch mal auf den Rundbrief, Veränderung der Umstände und Veränderung der Menschen. Was leistet die Methode zur Veränderung der Umstände?

Paul: Man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen. Es geht um gesellschaftliche Verhältnisse. Streikposten können wichtig sein, oder der Dienst nach Vorschrift. Das wichtigste Werkzeug zur Veränderung der Umstände sind wir selber. Was auch immer man macht – wenn die Koordinaten präzise bestimmt sind, dann ist die Chance größer, dass man nicht nur zur Tat schreitet, sondern dabei auch einer großen Richtung folgen kann. Dazu müssen wir uns als Teil des Koordinatensystems begreifen. Dann finden wir unsere Position darin besser.

Marion: Wenn der Lehrer, der sich selbst unsichtbar schreibt, seine Fixierung auf den Inspektor überwinden kann, würde ihm das nicht auch erlauben, bei der nächsten Inspektion anders zu handeln?

Paul: Das wäre schon ein Gewinn. Aber es könnte ihn auch weitergehend dazu bringen, in seiner Gewerkschaft für eine strukturelle Veränderung der Schulaufsicht zu mobilisieren.

Marion: Da würde ich ihn sofort unterstützen.

Paul: (lacht) Ich muss jetzt los. Danke für das Gespräch. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.

Marion: Danke auch.

Jonas: Viel Glück.

 

Damit steht Paul auf und macht sich auf den Weg zum Ausstieg, während der Zug langsam in den Bahnhof einfährt.

 

*

Jonas, Marion und Paul werden später im Buch wieder auftauchen. Die in ihr Gespräch eingearbeitete erste Einführung in die Methode der Kollektiven Erinnerungsarbeit will ich im nächsten Kapitel anhand einer theoretischer orientierten Darstellung vertiefen. Daran anschließend wird der Blick auf Anwendungen außerhalb des deutschsprachigen Raumes gerichtet.

 

2Jetzt etwas theoretischer – Entwicklung der Kollektiven Erinnerungsarbeit

 

 

Kollektive Erinnerungsarbeit rückt den Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft in den Mittelpunkt der Beschäftigung. Verankert in der Frauenbewegung, wurde die Methode seit Mitte der 70er Jahre schrittweise in Frauengruppen mit wechselnder Zusammensetzung entwickelt. Dazu gibt es umfassende Darstellungen in Frigga Haugs Veröffentlichungen (siehe Haug 1999a, 2015, 2018). Sie hat die Entwicklung der Methode entscheidend vorangetrieben und entsprechende Grundlagenliteratur publiziert.

Eine wichtige Frage in der Entwicklung der Kollektiven Erinnerungsarbeit betraf das Verhältnis von Erfahrung, Erkenntnis, Theorie und Praxis. Das lässt sich gut anhand der Beschreibungen in drei Studienheften nachvollziehen, die von der Frauenredaktion im Argument Verlag unter dem Titel Frauengrundstudium (1980, 1982, 1984) herausgegeben wurden. Dort heißt es beispielsweise: »In vergangenen Frauenseminaren, gleichgültig ob wir sie selbst organisierten oder Teilnehmerinnen waren, zeigte sich Folgendes: Ein Teil der Frauen hatte den Anspruch an das Seminar, dass hier nun endlich der Ort an der Universität sein sollte, wo sie ihre persönlichen Erfahrungen einbringen können. Der Umgang mit Theorie schien ihnen zu abgehoben, hatte nichts mit ihnen zu tun und wurde deshalb strikt abgelehnt. Sie wollten sich wohlfühlen und ein persönliches Klima schaffen. Dies war ihrer Meinung nach durch die gemeinsame Anstrengung der Aneignung von Theorie unmöglich. Der andere Teil der Frauen wollte sich dagegen nur mit Theorie beschäftigen, sie hielten Erfahrungen für überflüssig. Der Konflikt, unmittelbar aus persönlichen Erfahrungen bzw. nur aus der Theorie lernen zu wollen, erschwerte die Arbeitsbedingungen für alle.« Zur Begriffsklärung fügen die Autorinnen bei:

 

»Erfahrung – ist der Prozess des Erlebens selber

Erkenntnis – bedeutet das Begreifen des Aufbaus, der Struktur und des Gewordenseins

Theorie – baut auf Erfahrungen auf, sie ist jedoch nicht identisch mit Erfahrungen, sondern deren Verallgemeinerung und Verarbeitung

Praxis – ist das Handeln der Menschen« (Projekt Frauengrundstudium 1980, 8).

 

Was hier als Konflikt zweier Fraktionen in einem Seminar beschrieben wird, verweist auf das Problem, dass Frauenerfahrungen in sozialwissenschaftlicher Theorie nicht repräsentiert waren. Es ging daher um eine Herangehensweise, in der die je eigenen Erfahrungen in Erkenntnis überführt, in ein produktives Verhältnis zu Theorie gesetzt werden und als Basis für eine daraus zu entwickelnde Praxis dienen können.

Wichtig für diese Herangehensweise war, sich nach beiden Seiten hin neu zu orientieren. Einerseits: »Die gelernten sozialwissenschaftlichen [Methoden] behandeln die Menschen als Objekte. Vor dem statistisch Durchschnittlichen verliert das Alltägliche seine Bedeutung. Wir wollen von den handelnden Menschen selbst ausgehen und nicht aus der Sicht von oben ›über‹ die da unten forschen« (Projekt Frauengrundstudium 1982, 12). Andererseits: »Begreifen ist durch bloße Erfahrung nicht möglich, da Widersprüche als solche z.B. nicht gelebt werden können. Vielmehr werden zur Orientierung – oder um überhaupt leben zu können – Widersprüche für das unmittelbare Leben einseitig aufgelöst, umgedeutet, zum Kompromiss gebracht, verdrängt usw. Wir können somit nicht aus der eigenen Erfahrung direkt zur Erkenntnis gelangen. Wollte man Widersprüche wirklich leben, würden sie einen zerreißen, wie als würde man gleichzeitig nach rechts und links gehen« (Projekt Frauengrundstudium 1980, 10).

Ihren Vorschlag, diesem Problem zu begegnen, überschreiben die Autorinnen: Wider die Begriffslosigkeit des Alltäglichen – Kollektive Erinnerungsarbeit (Projekt Frauengrundstudium 1982, 10). Dabei werden bei der Untersuchung eines Themas der Beschäftigung mit Theorie selbst erlebte Alltagssituationen in Form von kurzen Erinnerungsgeschichten gegenübergestellt. Die »Alltagsgeschichten können die Theorie nicht widerlegen. Aber sie können sich ›sperrig‹ zu der theoretisch abgeleiteten Fragestellung verhalten. Sie können wichtige Hinweise geben, dass das Problem […] woanders liegt, als vermutet. […] Geschichten können die Notwendigkeit einer Problemverschiebung anmelden […]« (Projekt Frauengrundstudium 1982, 12). So wird eine Kritik möglich sowohl von vorgefundener Theorie als auch von alltäglichen Erklärungsmustern. Angewandt auf das eigene Dasein und die darin erfahrenen Widersprüchlichkeiten, Einschränkungen, Selbstbehinderungen und Selbstfesselungen ist eine solche kritische Beschäftigung gleichzeitig emanzipatorisches Lernen, in dessen Folge sich nach neuen Handlungsmöglichkeiten suchen lässt.