Komm - Janne Teller - E-Book

Komm E-Book

Janne Teller

3,8

Beschreibung

Ein Verleger im Zwiespalt: Gerade hat er ein neues Manuskript seines Bestsellerautors zum Satz gegeben, da taucht eine Bekannte, Petra Vinter, auf. Sie behauptet, der Autor habe ihre Geschichte gestohlen. Eine Rede über Literatur und Moral, an der der Verleger schreibt, soll seine Gedanken ordnen. Dabei sieht er sein eigenes Leben an sich vorüberziehen, er hört geradezu: "Komm, folge mir. Du musst dein Leben ändern." Janne Teller, berühmt geworden mit ihren brisanten Jugendbüchern, schreibt ein philosophisches Nachtstück für Erwachsene. Es stellt existentielle Fragen der Ethik: Kann die Kunst die Welt besser machen? Was bedeutet Verantwortung? Wie wollen wir leben?

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Hanser eBook

Janne Teller

Komm

Roman

Aus dem Dänischen von

Peter Urban-Halle

Carl Hanser Verlag

Die dänische Originalausgabe erschien 2008

unter dem Titel Kom bei Gyldendal in Kopenhagen.

Sie wurde von der Autorin für die deutsche Übersetzung überarbeitet.

ISBN 978-3-446-23954-8

© Janne Teller & Gyldendal 2007. Published by agreement with the Gyldendal Group Agency

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2012

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

www.janneteller.com

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

»This is a moral universe. Everybody

has to live with themselves

– and Brother, that can be pretty tough.«

Desmond Tutu, Südafrika

I

Der Schnee fällt in dichten Flocken, ihr Rücken ist schon verschwunden. Er steht in der Tür und betrachtet die Fußspuren, drei Stufen hinunter, quer nach links über die Straße und weg.

Die Schneeflocken stieben durch die Türöffnung, wirbeln auf sein Hemd und das Fensterbrett dahinter, er rührt sich nicht. In der Luft ein schwacher Geruch nach feuchter Erde, obwohl es doch unmöglich ist. Die schmale gepflasterte Straße in der alten Stadtmitte ist von einer undurchdringlichen Asphaltdecke umschlossen. Es hat den ganzen Tag geschneit, und auf der Straße liegt der Schnee ein gutes Stück höher als der Bordstein, den man in der einen Ausfahrt, die gefegt ist, gerade noch erahnt.

Der Teppich vor seinen Schuhen ist nass, und rechts an der Hauswand klettert ein kleiner Schneewall heimlich immer höher. Trotzdem zögert er noch etwas. Sie hatte Stiefel mit dicken Gummisohlen an. Er kann die rhombenförmigen Rillen in den Fußabdrücken sehen, die ihm am nächsten sind. Leise rieselt der Schnee auf die Abdrücke, seine Brille beschlägt, und seine Hand auf der Klinke wird weiß vor Kälte. Er schiebt die Tür zu. Aber ehe sie zufällt, zieht er sie wieder auf. Auf der Straße ist ihre Spur undeutlicher, als ob sie den Fuß nachzöge oder einfach nicht imstande wäre, die Stiefel aus dem Schnee zu ziehen, und von einem Abdruck zum nächsten verläuft eine flache Rinne.

Die andern sind längst gegangen. Langsam schließt er die Tür, dreht den Schlüssel um und geht in sein Büro zurück. Setzt sich an den Schreibtisch und wuchtet ein dickes Manuskript vor sich hin. Das Manuskript ist feucht. Die ersten Seiten kleben zusammen, und oben rechts ist es so nass, dass man durch die Vorderseite den verwischten Text lesen kann. Die Ecken biegen sich nach oben, und unter dem Titel ist ein Rotweinfleck, aber er weiß nicht, ob er nicht immer schon da gewesen ist.

Er nimmt die Brille ab, vergräbt das Gesicht in den Händen, schließt die Augen. Sie hätte es nicht zurückbringen müssen. Heutzutage kann man einfach ein neues ausdrucken.

Er bleibt eine Weile still sitzen. Richtet sich plötzlich auf und schlägt mit der Handfläche auf das Manuskript.

»Was bildet die sich eigentlich ein?«

II

Du hast die Wahl«, hatte sie gesagt, ehe sie aufstand und ging.

Selbstverständlich hat er die Wahl. Wer sonst?

Er schaut auf das Manuskript. Steht abrupt auf und geht zu dem Stummen Diener, auf dem seine Jacke hängt, nimmt sie ab und zieht sie an. Der zweite Korrekturdurchlauf ist eben gemacht. Er schüttelt sich, das Hemd, wo es vom Jackett an die Haut gedrückt wird, ist kalt und klamm. Die Herstellung muss es morgen zum Setzer schicken, wenn das Buch planmäßig am sechsten Mai erscheinen soll.

Es wurde von einem jüngeren Mann verfasst, der zu den meistverkauften Autoren im Lande gehört. Sein fünfter Roman. Die Vertriebsabteilung war dafür gerüstet.

Er geht zum Fenster, schiebt die Gardine zur Seite. Der Schnee flutet herab und hüllt alles in ein fieberndes Weiß. Es ist der absolut beste Roman des Autors bislang. Über Themen, die er nie zuvor geschildert, mit einer Einsicht, die er nie zuvor offenbart hat. Er wird sich hunderttausendfach verkaufen.

Er geht zurück und setzt sich wieder. Weltweit vielleicht millionenfach.

»Es ist meine Geschichte«, sagte sie leise.

Er hatte ihr nur das Manuskript gegeben, weil sie dort gewesen war: in Morenzao während des Friedensprozesses. Dachte, es könne sie interessieren. Es war bereits fünf, als sie in sein Büro kam. Sie legte das durchweichte Manuskript auf seinen Schreibtisch.

»Es ist meine Geschichte«, sagte sie leise.

Zuerst hatte er nicht geantwortet. Sie hatten dagesessen und sich gegenseitig angeguckt. Er hätte ihr das nie geben sollen. Er hatte es nicht nur gemacht, weil sie dort gewesen war. Konnte jetzt auch egal sein. Derlei Probleme gab es viel zu viele.

»Eine Geschichte kann man nicht besitzen«, sagte er schließlich.

»Gibt es keine Geschichten, die so persönlich sind, dass andere sie nicht weitererzählen dürfen?«

Ihre Augen sind durchsichtig. Seltsam, dass er es noch nie bemerkt hatte.

»Das hier kannst du nicht erlebt haben …« Er sagte es freundlich, nicht wie eine Frage, sie konnte es bestätigen, und die Sache war damit erledigt, oder sie konnte ihm widersprechen, indem sie ihm Details gab, die nur, wie er wusste, in ihrem eigenen Kopf stimmig wären. Wie immer.

Man kann direkt in sie hineinsehen, dachte er. Sie antwortete nicht. Sah ihm nur stumm in die Augen. Das machte ihn wütend. Er weiß nicht, warum. Was er sah, war sie, die ihn sah.

Er greift zum Telefon und ruft zu Hause an. Es werde spät, erklärt er.

»Nicht schon wieder«, sagt seine Frau.

»Du musst nicht auf mich warten.«

»Ich hole dich auf dem Weg ab.«

»Nein, bei dem Wetter solltest du nicht in die Stadt fahren. Das wäre unvorsichtig.« Er meint es ehrlich. Es ist unvorsichtig, bei dem Wetter zu fahren, und er freut sich über die Aufrichtigkeit in seiner Stimme. »Ich nehme ein Taxi.«

Das Küchenpersonal legt immer etwas in den Direktionskühlschrank, was vom Mittagessen übrig bleibt.

Seine Frau erzählt irgendetwas vom Sozialministerium und von einer integrationspolitischen Initiative, die ihren eigenen, gerade vorgelegten Vorschlag untergräbt. Er steht auf und geht zum Fenster und schaut hinaus. Er hört nicht zu. Unaufhörlich schwebt der Schnee durch die Dunkelheit und die Lichtfelder der Straßenlaternen und der Fenster gegenüber. Das ist seine Welt, aber plötzlich kommt es ihm vor, als wäre es doch nicht seine Welt. Er muss eine Rede schreiben. Hat das Universum verschiedene Regeln für verschiedene Personen? Das hat er irgendwo gelesen. Sie hat ihm das nicht gesagt.

»Ich werde schon rechtzeitig kommen«, sagt er.

Als er aufgelegt hat, geht er in die Küche und öffnet den Kühlschrank, um einen Teller mit irgendwas herauszunehmen. Aber der Kühlschrank ist leer. Ist auch egal. Er hat keinen Hunger.

III

Ehe er seine Frau anrief, hatte er die ersten drei Kapitel gelesen. Es ist Fiktion. Faszinierende Fiktion, aber es gibt keinen, der solche Sachen wirklich erlebt. Das Buch fängt damit an, dass ein Wahlbeobachter erschlagen wird, mit dem Blut, das sich mit dem Staub auf dem afrikanischen Linoleum vermischt. Eine junge Frau ist die rechte Hand des Chefs der UNO in Morenzao. Die Seiten sind gewellt und die Ränder feucht, aber der Text ist noch lesbar. Sie blickt auf das getrocknete Blut und weiß nicht, dass ihr Leben im Begriff ist, ein anderes zu werden.

An dieser Stelle rief er seine Frau an.

Siebzehn Uhr fünfunddreißig.

Die Leute glauben oft, Dinge erlebt zu haben, die sie gar nicht erlebt haben. Sie gab keine Antwort, als er sie fragte:

»Hat dir jemand in Morenzao etwas angetan?«

Das sind so Geschichten, die man in Romanen liest.

Sie sah ihn bloß an. Er kam sich wie ein Idiot vor, obwohl sie gar nichts sagte und kein Ausdruck in ihren Augen sein Gefühl, ein Idiot zu sein, untermauerte. Als ob es einzig und allein seine Verantwortung wäre, dass er sich durch ihren Blick wie ein Idiot vorkam.

Was im Roman angeblich später folgt, ließ ihn diese Frage stellen.

Er blättert vor, versucht die Passage zu finden, ärgert sich über die feuchten, verklebten Seiten.

Sie hielt ihn nicht für einen Idioten. Oder?

Angetan. Vielleicht war es das Wort. So redet man nicht, wenn man von Krieg und Vergewaltigung in Afrika spricht? Aber sie ist es nicht gewesen. Wo steht es? In der Mitte? Weiter hinten?

Ja, sie ist dort gewesen, das weiß er, das wissen alle. Was war noch mal ihr Job? Sie spricht nie darüber. Das heißt, doch, in so seltsam distanzierten Wendungen. Die beiden Jahre in Morenzao. Das ist alles. Diese Augen von weit her. Wie zwei aus ihrem Leben genommene Jahre und so ein seltsamer Unterton der, wie kann man ihn beschreiben, ja, der Freude. Nicht des Entsetzens.

Er überfliegt die mittleren Kapitel, aber er findet die gesuchte Stelle nicht.

»Ein Land, das vom Krieg zum Frieden überging, und ich durfte dabei sein«, hatte sie vor einigen Jahren einmal gesagt. Genau das ist es, kein Grauen. Jetzt erinnert er sich, es war beim Festessen für den Albert-Preis.

»Wir müssen alle das Unsrige tun.« Hatte sie gesagt. Und gelächelt, die Augen von weit her. Als wäre es ihr Verdienst.

Das ist es, was so lächerlich ist.

Er gibt die Suche nach der Stelle im Buch auf, stattdessen legt er die beiden Stapel aufeinander. Er reißt einen blauen Zettel vom Notizblock und heftet ihn auf die Vorderseite des Manuskripts.

Als hätte sie persönlich Morenzao gerettet!

Er hat noch eine Rede zu schreiben und legt das Manuskript in den Postausgang mit dem Vermerk:

»Zum Satz.«

IV

Es ist fast achtzehn Uhr, und er muss noch eine Rede vorbereiten, bevor er gehen kann.

Wenn sie nicht gekommen wäre, hätte er schon halb fertig sein können. Nicht dass er Lust hätte zu gehen. Es ist eines dieser politischen Abendessen, die für seine Frau wichtig sind und bei denen er mitmacht, weil es auch für ihn nützlich sein kann. Er ist nicht in ihren Kreisen geboren. Morgen soll er auf einer internationalen Konferenz in Wien einen Vortrag über Ethik in der Verlags- und Literaturbranche halten.

Was hatte sie gesagt:

»Du hast die Wahl.«

Sie hat einen Namen, aber wenn er an sie denkt, dann nicht so. Er weiß nicht, warum, aber auch das kann egal sein.

Ist doch alles Unsinn. Was der meistverkaufte Autor des Landes schreibt, hat er ganz allein zu verantworten.

Ein Verlag ist für den Autor ethisch nicht verantwortlich, schreibt er. Es gehört zur Verantwortung des Verlegers, den Autor darauf aufmerksam zu machen, dass sein Werk für andere anstößig sein kann, aber es liegt allein in der Verantwortung des Autors, ob er es wünscht, etwas eventuell anstößig Wirkendes zu veröffentlichen.

»Wenn jemand seiner Verantwortung nicht bewusst ist, geht sie automatisch an denjenigen über, der das erkennt.«

Sie ist unerträglich. Er kann schon verstehen, dass die meisten sie nicht ausstehen können. Sie hat etwas extrem Provozierendes. Und dann diese Augen, grau, durchsichtig. Er schiebt den feuchten Manuskripthaufen an den Rand seines Schreibtischs. Als ob sie schon längst alles gesehen, alles verziehen hätte.

Der Schreibtisch ist aus Kirschholz und hat eine eingelassene Schreibunterlage aus grünem Leder. Er ist groß. Als ob sie keiner mehr mit irgendetwas überraschen könnte. Er drückt so fest auf die Tastatur, dass sich das T verklemmt und er ein Weilchen braucht, um die Taste wieder an ihren Platz zu bekommen. Das ist sein Verlag! Wenn sein Schwiegervater stirbt, wird es sein Verlag.

Wofür sollte sie ihm verzeihen?

Seine Frau ist schöner als Petra Vinter!

Fiktion ist nicht Wirklichkeit. Ein literarisches Manuskript kann deshalb nicht nach einem ethischen Maßstab beurteilt werden, der für andere Bereiche des Lebens gilt, schreibt er.

»Nicht?«, hört er ihre Stimme.

Er steht auf und geht zum Fenster, schaut hinaus.

Ist es das, was sie sagen wollte?

Der Schnee tanzt durch die winterliche Dunkelheit, und in den Lichtkegeln der drei Straßenlaternen scheint ein endloser Insektenkampf geführt zu werden. Der Wind hat zugenommen. Im Gebäude gegenüber sind fast alle Fenster erleuchtet. Es sind Privatwohnungen, Leute, die nach Hause gekommen sind, um hinter den Sprossenscheiben zu Abend zu essen.

Er schaut auf die Wanduhr, eine längliche Magnetuhr aus Silber. Achtzehn Uhr siebzehn. Seine Frau muss auf dem Sprung sein. Das Haar eingedreht, ein paar ausgesuchte Dinge in dem ausgesuchten Abendtäschchen, sie schraubt die Ohrringe fest, während ihre Füße mit dieser vollkommen sicheren Zerstreutheit nach den Stilettos suchen, die ihn immer gefuchst hat. Sie sind für achtzehn dreißig eingeladen.

»Er hatte es mir versprochen«, sagte sie. »Dass er nie darüber schreiben würde.«

Einer plötzlichen Eingebung folgend geht er hinaus und reißt die Haustür auf. Ihre Spuren auf den Treppenstufen unter dem Vordach sind immer noch deutlich, aber auf der Straße ist die Schleifspur zwischen den Abdrücken zu einer kaum sichtbaren Senke geworden, und die regelmäßig aufeinanderfolgenden scharfen Stiefelspuren haben sich in abgerundete Vertiefungen verwandelt, so als wäre da keine Person, sondern eher ein ballähnliches Wesen über die Straße und den Bürgersteig gehopst.

Er muss an Lula denken. Er hat schon lange nicht mehr an sie gedacht.

Idiot.

»Bedeutet ein Versprechen gar nichts mehr?«

V

Schriftsteller, ja, Künstler allgemein, haben sich stets des Materials bedient, das ihnen klar vor Augen lag. »Ausgeliefert« würden manche sagen, aber es heißt nicht ausliefern, wenn etwas Kunst ist. Schauen Sie sich Picassos entlarvende Gemälde von den Frauen an, die ihm nahestanden. Ob Dora Maar sich wohl gefreut hat, dass sie als Weinende Frau ausgestellt wurde? Aber wären wir nicht alle ärmer ohne diese Bilder?Nehmen Sie Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Der große Gatsby, Buddenbrooks.

Gibt es andere Regeln, als dass die Kunst außerhalb der Regeln der Wirklichkeit steht, weshalb es keine anderen Regeln gibt, als dass die Kunst gut sein muss?