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Als in Werne-Stockum eine männliche Leiche gefunden wird, ist der Tatverdächtige schnell ermittelt: Alles deutet auf einen ehemaligen Strafgefangenen hin. Doch dann wird die Freundin des Toten entführt und weitere Leichenfunde deuten darauf hin, dass dieser Fall weitaus komplexer ist, als zunächst angenommen – den Toten fehlen lebenswichtige Organe. Kommissar Wischkamps dritter Fall führt ihn in die Tiefen des illegalen Organhandels und zeigt, dass die Schwerkriminalität auch vor den Toren einer beschaulichen Kleinstadt nicht innehält. Doch dieses Mal steht nicht nur das Leben der entführten jungen Frau auf dem Spiel, auch Jens Wischkamp gerät im Zuge der Ermittlungen in immer größere Gefahr …
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Seitenzahl: 294
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Renate Behr
Auf Herz und Nieren
Werne Krimireihe Band 3
Kommissar Wischkamp
Neuauflage Ober-Flörsheim 01.01.2015
© Brighton Verlag, Ober-Flörsheim
www.brightonverlag.com
info@brightonverlag. com
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags
Alle Rechte vorbehalten!
Satz & Covergestaltung: Ernst Trümpelmann,
unter Verwendung eines Bildes von ©depositphotos.com/felker
ISBN 978-3-95876-044-8
Schweiß rann ihm in Bächen den Rücken herunter. Gehetzt blickte er in den Rückspiegel. Sie würden ihn suchen, das wusste er genau. Er wusste nicht, wer sie waren. Aber sie hatten ihn dort gesehen. Sie hatten das Auto gesehen, mit dem er abgehauen war, Werners Auto. Und nun war er sicher, sie waren hinter ihm her. Dabei war er nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. In seinem Leben ging aber auch alles schief. Er konnte noch immer nicht richtig durchatmen. Seine Panik hatte ihn fest im Griff.
Im Augenblick konnte er jedoch nichts Verdächtiges entdecken. Seine Hände umklammerten noch immer verkrampft das Lenkrad. Vorsichtig versuchte er, sich zu entspannen. Es wurde langsam dunkel und hier, zwischen den großen Lkws auf dem Autobahnparkplatz Overberger Busch, auf der A1 kurz vor dem Kamener Kreuz, fühlte er sich für den Augenblick einigermaßen sicher.
Er lehnte sich vorsichtig zurück und schloss die Augen. Sein Atem ging noch immer stoßweise, das Adrenalin peitschte seinen Blutdruck in die Höhe. Ihm wurde schwindelig. Er riss die Augen sofort wieder weit auf.
»Jetzt nur nicht schlappmachen, alter Junge«, dachte er.
Er musste nachdenken. Gefolgt waren sie ihm offensichtlich nicht. Solange er hier auf dem Parkplatz stehen blieb, würde ihm nichts passieren. Aber er konnte ja nicht ewig hier stehen bleiben. Nach Hause, zu seinen Eltern, wollte er nicht, da würden sie zuerst nach ihm suchen. Falls sie überhaupt wussten, wer er war. Aber durfte er sich darauf verlassen, dass sie es nicht wussten? Fieberhaft überlegte er, wie es weitergehen sollte.
Er könnte zur Polizei gehen. Aber würden die ihm glauben, dass er mit der ganzen Sache rein gar nichts zu tun hatte? Wahrscheinlich nicht. Denn dass er abgehauen war, machte ihn ja auch nicht gerade unverdächtiger. Aber was hätte er denn tun sollen? Die Wohnungstür war offen gewesen. Da lag Werner und alles war voller Blut. Er war so blöd gewesen, das Messer hochzuheben. Da waren jetzt seine Fingerabdrücke drauf. War sowieso nur eine Frage der Zeit, bis auch die Bullen hinter ihm her wären.
Dann hatte er gespürt, dass er nicht allein in der Wohnung war. Er hatte es mit der Angst zu tun bekommen, Werners Autoschlüssel vom Haken gerissen und fluchtartig die Wohnung verlassen. Auf der Treppe hatte er sie gehört, aber er war schneller. Werners Golf stand direkt vor der Tür. Im Rückspiegel hatte er noch die zwei Gestalten gesehen. Einer von ihnen hatte eine Waffe in der Hand. Kurz bevor er um die Straßenecke gebogen war, hatte er gesehen, dass sie auf ihr Auto zustürzten. Sie hatten Werner umgebracht und er hatte sie gesehen. Sein Leben war keinen Pfifferling mehr wert. Er war in Werne aufgewachsen und kannte hier jede noch so kleine Gasse. Mit fast 100 Sachen war er durch die dreißiger Zone in der Berliner Straße gerast. Die rote Ampel hatte er ebenso ignoriert wie das Quietschen und Kreischen, als der alte Golf über die Barrieren dieser verkehrsberuhigten Zone jagte. Er wollte zur Autobahn und nur noch weg. Immer wieder hatte er in den Rückspiegel gesehen, aber da war nichts. Er hatte sie offensichtlich abgehängt. Und dann hatte er endlich die Autobahn erreicht. Der Schweiß brannte in seinen Augen und er hatte gewusst, dass er so nicht weiterfahren konnte. Er musste sich beruhigen. Endlich kam dieser Parkplatz. Hier war er erst einmal in Sicherheit.
Erst heute früh war er aus der JVA Aachen entlassen worden, wo er sechs Jahre wegen schweren Raubes abgesessen hatte. Er hatte Werner angerufen und der hatte sofort gesagt:
»Klar, komm her. Kannst für ein paar Tage hier pennen, bis du was gefunden hast. Zu deinen Eltern willst du ja wohl nicht, was?«
Ihm war klar gewesen, dass Werner ihm helfen würde. Schließlich hatten sie den Bruch zusammen gemacht, aber er hatte Werner nicht verpfiffen. Wieso hätten sie auch beide sitzen sollen? Blöd war damals nur, dass die Bullen bei ihm auch die gesamte Beute gefunden hatten. Startkapital hatte er also nicht. Aber Werner würde sicher was einfallen. Werner fiel doch immer was ein.
Und dann war alles so ganz anders gekommen.
»Was für ein beschissener Tag«, fluchte er vor sich hin.
»Und was machen wir jetzt?»
Armin Wiefels sah sein Gegenüber an. Der zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung, ehrlich. Das ist alles ziemlich Scheiße gelaufen heute. Wieso hat der Penner uns nicht gesagt, was wir wissen wollten?«
»Ach ja, und wieso hast du ihm einfach das Messer in den Bauch gerammt?«
Hämisch grinsend sah Martin Breisbach seinen Komplizen an.
»Es hat mir Spaß gemacht, ich wollte sein Blut sehen. War der Idiot doch selber schuld. Und schießen konnte ich ja nicht, das hätten die Nachbarn sofort gehört und die Bullen gerufen.«
Armin lief ein kleiner Schauer über den Rücken. Dass Martin gewalttätig war, wusste er. Aber diese kalte Mordlust, die er heute früh in Werner Meiers Wohnung in Werne-Stockum in den Augen des Anderen gesehen hatte, hatte ihn erschreckt.
»Und wie sollen wir dem Boss jetzt erklären, dass wir nicht ein Stück weitergekommen sind?«
Martin zuckte mit den Schultern.
»Ich lass‘ mir schon was einfallen. Der Meier hatte eine Freundin und ich weiß, wo wir die finden. Wir nehmen uns die Kleine mal vor. Die weiß bestimmt, wo Meier die Unterlagen versteckt hat, die der Boss so dringend haben will. Falls er sie überhaupt schon hatte. Schließlich hat der Idiot das Verhältnis mit der Kleinen doch nur angefangen, um in der Wohnung ihrer Eltern ungestört nach diesen verfluchten Unterlagen suchen zu können. Sie wird schon wissen, wie wir da ran kommen. Und sie wird es uns sagen, das kannst du mir ruhig glauben. Ich bin wirklich gut im Überreden.« Wieder zog dieses grausame Grinsen über Martins Gesicht.
»Aber wenn er sie noch gar nicht hatte, oder wenn sie nichts sagt, willst du sie dann auch umbringen?«
»Zeugen können wir nicht gebrauchen, Kleiner. Ich weiß schon, was ich tue.«
»Apropos Zeugen, was ist denn mit dem Typen, der in der Wohnung war heute Mittag?«
Martins Gesicht verfinsterte sich.
»Den müssen wir auch noch finden. Ich glaube zwar nicht, dass er uns erkennen würde, und dass er das Messer in die Hand genommen hat, war ziemlich blöd von ihm. Da sind jetzt nur seine Fingerabdrücke drauf. Aber wir können es trotzdem nicht riskieren, dass er zu den Bullen geht.«
»Und wie willst du das verhindern? Wir wissen doch gar nicht, wer das war.«
Martin Breisbach grinste und griff in seine Jackentasche.
»Das nicht. Aber ich habe die Autonummer und ich habe da jemanden, der mir helfen wird, die Karre zu finden. Alles nur eine Frage der Zeit. Und jetzt hör’ auf, dämliche Fragen zu stellen. Wir müssen unbedingt die Kleine von dem Typen finden. Ihre Adresse habe ich. Wir fahren da jetzt hin, und wenn die Gelegenheit günstig ist, schnappen wir sie uns. Um den anderen Kerl können wir uns dann immer noch kümmern.«
Sabine Fröhlich starrte auf das Display ihres Handys. Sie verstand nicht, warum ihr Freund sich nicht meldete. Sie waren verabredet gewesen, aber Werner war offensichtlich nicht zu Hause und ans Telefon ging er auch nicht.
Sabine wusste von der kriminellen Vergangenheit ihres Freundes. Doch er hatte ihr hoch und heilig geschworen, dass er sich geändert und mit der Vergangenheit Schluss gemacht hatte. Sabine hatte ihm geglaubt, weil sie ihm glauben wollte. Aber immer, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte, wenn Werner zum Beispiel eine Verabredung absagte, ohne ihr zu sagen, warum, hatte sie ein ungutes Gefühl. Und dieses Mal hatte er nicht einmal abgesagt.
Zu blöd, dabei waren sie mit Freunden verabredet heute Abend. Sim-Jü, das größte Volksfest in der Region, hatte heute angefangen. Sabine hatte sich so darauf gefreut, mit Werner und ihren Freunden gemeinsam über die Kirmes zu schlendern. Endlich mal wieder was Ungesundes essen, hatte sie lachend zu Werner gesagt. Der kannte die Vorliebe seiner Freundin für fettige Pommes frites und matschiges Kirmeseis. Er hatte genau gewusst, wie sehr Sabine sich auf diesen Abend gefreut hatte. Wieso war er jetzt nicht da?
Sabine wählte die Nummer erneut, aber wieder meldete sich nur die Mailbox. Sie wurde zornig. Entschlossen stand sie auf und griff nach ihrer Jacke. Obwohl es ein sonniger Tag gewesen war, die Abende Ende Oktober hier in Werne waren recht kühl. Einen Augenblick dachte sie darüber nach, ob sie noch bei Werner vorbeigehen sollte. Aber dann schüttelte sie den Kopf. »Der kann mich mal«, dachte sie.
»Ich laufe doch jetzt nicht eine halbe Stunde nach Stockum, um vor verschlossener Türe zu stehen. Dann gehe ich eben alleine«.
Sie zog die Wohnungstür hinter sich zu und machte sich zu Fuß auf zum Steintor. An der alten Kirmesorgel würden Stefan und Martina sicher schon warten.
Martina Schreiber sah auf ihre Armbanduhr.
»Wo Sabine und Werner bloß bleiben? Wir warten jetzt schon mehr als eine halbe Stunde.«
Fragend sah sie ihren Freund Stefan an. Der zuckte mit den Schultern. So ganz traurig war er über das Ausbleiben der Beiden nicht. Stefan mochte Martinas Freundin Sabine. Sie war ein offener und – wie der Name auch sagte – ein sehr fröhlicher Mensch. Aber seit sie diesen Typen, diesen Werner Meier angeschleppt hatte, hatte sie sich irgendwie verändert. Stefan mochte Werner Meier nicht besonders. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Kerl. Er lächelte Martina an.
»Keine Ahnung, vielleicht ist ihnen was dazwischen gekommen.
Komm, wir gehen ins Zelt. Wenn sie noch kommen, werden sie uns da zu allererst suchen. Vielleicht sind ja Silvie und Jens da.«
Er hakte seine Freundin unter und sie machten sich auf ins Gewühl. Normalerweise diente der Parkplatz am Hagen den Besuchern des Solebades und denjenigen, die in die Stadt wollten, als kostenloser Parkplatz. Aber wenn Sim-Jü in Werne war – der historische Simon-Judas-Markt – dann herrschte hier Ausnahmezustand. Mehrerer Hunderttausend Besucher wurden zu den vier Kirmestagen in der kleinen Stadt erwartet. Mitten im Kreisverkehr stand das große Kettenkarussell und auf dem gesamten Parkplatz am Hagen reihte sich Fahrgeschäft an Fahrgeschäft, nur unterbrochen durch Fressbuden, Getränkestände und die unvermeidlichen Losverkäufer, die ständig anpriesen, dass es überhaupt keine Nieten gäbe. Am Ende des Platzes war das große Riesenrad und daneben gab es das Zelt. Eigentlich waren es drei Zelte. Eines war das Partnerschaftszelt, in dem sich die Partnerstädte von Werne präsentierten. Hier war es immer gerammelt voll, weil es so viele leckere Spezialitäten aus den anderen Ländern zu kosten gab.
Dann war da das Gewerbezelt, wo sich ortsansässige, aber auch ortsfremde Gewerbebetriebe präsentierten. Aber das Wichtigste war das Festzelt mit großer Bühne und Bierzeltgarnituren. Und darauf steuerten Martina und Stefan nun zu.
Der Weg dauerte länger, als gedacht war, weil sie unterwegs immer wieder Freunde und Bekannte trafen, die sie mit lautem Hallo begrüßten. Man kannte sich eben in Werne.
Aber endlich hatten sie das Festzelt erreicht. Die Geräuschkulisse machte es fast unmöglich, sich zu unterhalten. Stefan stieß Martina an und zeigte auf eine der Sitzbänke.
»Da sind Silvie und Jens. Geh schon mal rüber, ich hole uns ein Bier und komme nach.«
Kurze Zeit später saßen sie am Tisch und eine lockere Unterhaltung war im Gang. Nur Martina schaute immer wieder zuerst auf ihre Uhr, dann auf das Display ihres Handys und dann zum Zelteingang. Sie hatte schon ein paar Mal versucht, ihre Freundin Sabine zu erreichen, aber es meldete sich immer nur die Mailbox. Das war mehr als ungewöhnlich und langsam begann Martina, sich Sorgen zu machen. Silvie Wischkamp war das merkwürdige Verhalten der jüngeren Freundin nicht entgangen.
»Sag mal, Martina. Was ist eigentlich los? Wartest du noch auf jemanden?«
Bevor Martina etwas sagen konnte, schaltete Stefan sich ein. »Wir waren mit Martinas Freundin Sabine verabredet. Naja, eigentlich mit Sabine und ihrem Freund. Die sind aber nicht gekommen. Mensch, Martina, denk mal an was anderes. Die Beiden hatten sicher was Besseres vor.«
Jens Wischkamp, von Beruf Kriminalhauptkommissar bei der Kripo in Unna, war der unwirsche Ton von Stefan nicht entgangen. »Na, du scheinst ja nicht sehr enttäuscht zu sein.«
Stefan grinste.
»Wenn du den Werner kennen würdest, wüsstest du auch, warum. Das ist irgendwie ein komischer Typ. Und seit Sabine mit dem zusammen ist, hat sie sich auch ganz schön verändert. Nein, enttäuscht bin ich nicht, dass ich mir nicht wieder den ganzen Abend sein Geschwafel anhören muss.«
»Aber ich mache mir Sorgen. Das ist einfach nicht Sabines Art, mich so mir nichts, dir nichts zu versetzen. Hoffentlich ist da nichts passiert.« Jens erkannte sofort, dass Martina sich wirklich Sorgen um die Freundin machte. Beschwichtigend legte er ihr die Hand auf die Schulter.
»Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag. Ich habe ab morgen früh Bereitschaftsdienst, das heißt, ich fahre rüber ins Kommissariat nach Unna. Wenn du bis mittags deine Freundin noch nicht erreicht hast, rufst du mich an. Dann kümmere ich mich darum, einverstanden?« Er wusste, dass es für eine offizielle Vermisstenmeldung auch morgen Mittag noch zu früh wäre. Aber er wollte das junge Mädchen beruhigen und natürlich auch dafür sorgen, dass der so fröhlich geplante Abend hier auf Sim-Jü nicht durch Sorgen überschattet wurde. Martina sah ihn dankbar an.
»Das ist wirklich nett von dir, Jens. Wenigstens einer, der meine Sorgen ernst nimmt.«
Bei diesen Worten traf Stefan ein ziemlich gehässiger Blick. Der grinste aber nur unbekümmert und nahm seine Freundin in den Arm. »Nun hab dich nicht so. So war das doch gar nicht gemeint. Ich glaube eben einfach nicht, dass Sabine was passiert ist. Wirst schon sehen, morgen meldet sie sich ganz zerknirscht und gesteht dir, dass sie die Verabredung total vergessen hat.«
Vielleicht hat er ja recht, dachte Martina. Dann verbannte sie die sorgenvollen Gedanken und beteiligte sich wieder an der Unterhaltung. Schließlich waren sie hier, um Spaß zu haben.
Es war kurz vor dreizehn Uhr, als das Telefon von Hauptkommissar Wischkamp in seinem Büro bei der Kripo in Unna klingelte.
»Hallo, Jens. Hier ist Martina.«
»Martina, wie geht es dir. War ein netter Abend, oder?« »Ja, war es. Aber deswegen rufe ich nicht an. Du erinnerst dich, dass
wir über meine Freundin gesprochen haben? Sie meldet sich noch immer nicht. Ich war bei ihr zu Hause, aber sie scheint nicht da zu sein und ihre Eltern wissen auch nicht, wo sie ist. Ich würde gern bei ihrem Freund Werner vorbeigehen, aber ich weiß nicht, wo er wohnt. Kannst du mir die Adresse besorgen?«
»Werner Meier in Werne? Das sollte nicht allzu schwierig sein. Das kann ich schon machen. Aber ich denke, ich werde erst mal versuchen, mit diesem Herrn Meier zu telefonieren. Ich melde mich bei dir, bis dann, Martina.«
Jens legte auf. Martina Schreiber war offensichtlich wirklich besorgt. Er wollte sich eben darum kümmern, Adresse und Telefonnummer des Mannes herauszufinden, als sein Telefon schon wieder klingelte.
»Kripo Unna, Jens Wischkamp am Apparat.«
»Mein Name ist Walter Fröhlich. Ich möchte wissen, ab wann ich eine Vermisstenanzeige aufgeben kann, Herr Kommissar.«
Die sonore Männerstimme am anderen Ende der Leitung wirkte ziemlich aufgeregt.
»Wer ist denn verschwunden und seit wann?«
»Es geht um meine Tochter, Sabine Fröhlich. Sie wohnt in Werne, in der Jüngststraße. Seit gestern ist sie nicht mehr erreichbar. Ich war bei ihr zu Hause, da ist sie nicht. Sie geht nicht ans Telefon und ihr Freund, dieser Werner Meier, meldet sich auch nicht. Das ist merkwürdig, denn wir feiern heute den Geburtstag meiner Frau und Sabine würde niemals den Geburtstag ihrer Mutter vergessen. Und als mich dann vorhin noch ihre Freundin anrief ...«
Jens Wischkamp unterbrach den Redefluss.
»Haben Sie auch die Adresse von diesem Herrn Meier?«
»Nein, leider nicht. Ich weiß nur, dass er irgendwo in Stockum wohnt, aber die Telefonnummer, die kann ich Ihnen geben.«
Jens Wischkamp notierte die Nummer.
»Herr Fröhlich, für eine offizielle Vermisstenanzeige ist es leider noch zu früh. Schließlich ist Ihre Tochter erwachsen. Aber ich bin mit der Freundin Ihrer Tochter befreundet und die hat mich auch schon gebeten, etwas zu unternehmen. Ich werde mal eine Streife bei diesem Herrn Meier vorbeischicken. Ich bin sicher, die ganze Sache ist harmloser, als Sie denken. Ich notiere mir jetzt noch Ihre Rufnummer, und sobald ich Neuigkeiten habe, rufe ich Sie an.«
Walter Fröhlich bedankte sich und legte auf. Er schien ein wenig erleichtert zu sein, dass die Kripo sich einschaltete.
Jens Wischkamp wählte die Telefonnummer der Polizeiwache in Werne. Mit den Kollegen arbeitete er gut zusammen. Sie würden ihm den kleinen Gefallen sicher gern tun. Die Adresse im Einwohnermeldeamtsregister hatte er schon gefunden. Der wachhabende Beamte in Werne versprach, eine Streife dorthin zu schicken und diesen Herrn Meier zu befragen, ob er etwas zum Aufenthaltsort von Sabine Fröhlich sagen konnte.
Kriminalhauptkommissar Jens Wischkamp wollte gerade genüsslich in sein Käsebrötchen beißen, als sein Telefon schellte. Er seufzte und griff zum Hörer.
„Kollege Wischkamp, hier ist Bernd Sträter, Polizeiwache Werne. Ich fürchte, von einem geruhsamen Wochenende kannst du dich verabschieden. Wir haben einen Leichenfund und benötigen die Mordkommission, die Spurensicherung und den Gerichtsmediziner.“ „Mist, das war‘s dann wohl mit dem netten Samstagabend zu Hause. Wisst ihr schon, wer der Tote ist?“
„Ja, und du weißt das auch. Du hast ja selbst darum gebeten, dass wir eine Streife zur Freiligrathstraße schicken.“
„Doch nicht etwa dieser Werner Meier?“
„Eben der und freiwillig ist der nicht aus dem Leben geschieden, soviel ist sicher.“
„Verdammt. O. K., Kollege. Ich veranlasse, was notwendig ist und fahre dann selbst auch gleich rüber. Wir sehen uns.“
Jens Wischkamp legte auf. Er hatte eigentlich nur Martina Schreiber und Walter Fröhlich einen Gefallen tun wollen. Er war sich sehr sicher gewesen, dass da nichts wirklich Ernstes vorgefallen sein konnte. Junge Frauen waren doch oft mal etwas unentschlossen und ließen Verabredungen mit Freunden zugunsten des eigenen Partners ausfallen. Und nun?
Dieser ominöse Freund von Sabine Fröhlich war ganz offensichtlich einem Mord zum Opfer gefallen. Wie passte das Verschwinden der jungen Frau zu diesem Verbrechen? Und wie sollte er sich verhalten? Er hatte sowohl Martina als auch Sabines Vater versprochen, dass er sich melden würde, sobald er irgendwelche Neuigkeiten über Sabine hatte. Sollte er die beiden anrufen?
Dann aber entschied er sich dagegen. Schließlich musste er sich vor Ort erst einmal selbst ein Bild davon machen, ob dieser Mord in irgendeiner Form im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Sabine Fröhlich stand. Ob Sabine Fröhlich ihren Freund umgebracht hatte? Ach was, alles Spekulieren half nicht weiter. Er informierte die Spurensicherung und den diensthabenden Pathologen und dann verließ er das Kommissariat, um nach Werne zu fahren. Vielleicht war er danach ja ein wenig schlauer.
Als Jens Wischkamp in Werne-Stockum eintraf, war der Hauseingang des Dreifamilienhauses in der Freiligrathstraße bereits abgesperrt. Im Erdgeschoss waren die Rollläden geschlossen. Ein Kollege der Wache in Werne begrüßte den Kommissar.
»Hallo, Jens. Der Eigentümer des Hauses, ein gewisser Herr Peter Waldmann, ist verreist. Die Wohnung in der ersten Etage wird normalerweise vom Sohn des Eigentümers benutzt, aber der ist laut Aussage einer Nachbarin zurzeit im Krankenhaus.
Und Werner Meier, unser Toter, hat hier die Dachgeschosswohnung gemietet. Er wohnt seit sechs Jahren hier und ist keinem der Nachbarn bisher unangenehm aufgefallen. Allerdings hat er eine Akte bei uns. Er saß zwei Mal ein wegen kleinerer Diebstähle. Vor sechs Jahren ist er verhaftet worden, weil er dringend tatverdächtig war, mit einem Komplizen eine Wohnungseinbruch in Aachen verübt zu haben. Allerdings wurde ihm nichts nachgewiesen und der Komplize hat damals alle Schuld auf sich genommen.
Wir haben dann da noch eine Zeugin, die etwas beobachtet hat gestern Nachmittag. Da soll ein Mann, den sie aber nicht näher beschreiben kann, mit dem Auto des Opfers, einem VW-Golf, ziemlich überhastet weggefahren sein.«
»Hat die Zeugin noch was beobachtet?«
Der Beamte schüttelte den Kopf.
»Sie hat nur das Auto erkannt. Und sie war sich sicher, dass nicht Werner Meier am Steuer saß. Den Hauseingang selbst konnte sie nicht einsehen. Sie hat aber noch bemerkt, dass zwei Männer es sehr eilig hatten, dem Wagen zu folgen.«
Jens Wischkamp notierte sich den Namen und die Anschrift der Zeugin, dann duckte er sich unter dem Absperrband hindurch und stieg die Treppe zum Dachgeschoss des Hauses hoch. Auf dem Weg in die Wohnung rief er im Kommissariat in Unna an. Seine Kollegin Verena Schneider, die genau wie Jens Wischkamp, Wochenendbereitschaft hatte, meldete sich. „Hallo Schneiderlein. Ich gebe dir mal das Kfz-Kennzeichen von unserem Mordopfer durch. Da ist jemand mit dem Wagen abgehauen, vielleicht unser Täter. Schreib die Karre mal zur Fahndung aus.“
Verena Schneider bestätigte augenblicklich und Jens trat durch die Wohnungstür. Die Spurensicherung war schon bei der Arbeit.
»Keine Einbruchspuren, Herr Hauptkommissar«, sagte ein junger Beamter. »Die Leiche liegt im Wohnzimmer, der Pathologe ist schon da.«
Jens bedankte sich und ging in Richtung Wohnzimmer. Als er den Raum betrat, bot sich ihm ein Bild, an das er sich wohl nie gewöhnen würde. Werner Meier lag in einer ziemlich großen Blutlache mit verdrehten Gliedern auf dem Teppich. Der Raum sah aus, als sei er gründlich durchwühlt worden.
»Wie sieht’s aus, Doc. Kannst du schon was sagen?»
Dr. Gerhard Leinemann vom gerichtsmedizinischen Institut in Dortmund zuckte mit den Schultern.
»Multiple Stichverletzungen. Sieht so aus, als hätte man ihn überwältigt. An Armen und Schultern hat er Blutergüsse, so, als ob ihn jemand auf den Boden gedrückt hätte. Die Reihenfolge der Stichverletzungen kann ich noch nicht zuordnen. Tödlich war höchstwahrscheinlich der Stich in den Bauch. Der Blutmenge nach wurde wohl die Aorta durchtrennt. So, wie sich das hier darstellt, würde ich vermuten, dass das der letzte Einstich war.«
»Du meinst, man hat ihn zuerst gefoltert und dann getötet?«
»Vermutlich, aber Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen. Die Tatwaffe, ein Jagdmesser, lag neben der Leiche. Da sind Fingerabdrücke drauf, ist schon unterwegs ins Labor.«
»Und der ungefähre Todeszeitpunkt?«
»Wahrscheinlich gestern Spätnachmittag bis Abend. Ich lasse ihn jetzt wegbringen, wenn du nichts dagegen hast.«
Jens nickte und trat etwas beiseite. Die Sache wurde immer undurchsichtiger. Werner Meier hatte eine Strafakte, aber in den letzten sechs Jahren war er polizeilich nicht mehr in Erscheinung getreten. Und nun war er tot.
Was war ihm zum Verhängnis geworden? Hatte er etwas gewusst, was für den Täter wichtig war? Oder hatte er etwas in seiner Wohnung gehabt, was der Täter haben wollte? Die durchwühlten Schränke sprachen dafür. Und wo, zum Teufel, war seine Freundin Sabine Fröhlich? Dass sie etwas mit diesem Mord zu tun haben sollte, konnte Jens Wischkamp sich nach Lage der Dinge nicht vorstellen. Hier sprach nichts für einen einzelnen weiblichen Täter. Aber wieso war sie verschwunden? Hatte sie möglicherweise den Täter überrascht und versteckte sich jetzt aus Angst, auch sie könnte umgebracht werden? Oder war es gar noch schlimmer? Hatte der Täter die junge Frau mitgenommen?
Fragen über Fragen, auf die er im Moment noch keine Antwort wusste. Bevor nicht die Spuren ausgewertet waren und das Obduktionsergebnis vorlag, wusste er ja nicht einmal, wo er anfangen sollte, nach dem Täter und der Vermissten zu suchen.
Denn dass die junge Frau die Verabredung mit ihrer Freundin am Vorabend vergessen haben sollte, daran glaubte Jens Wischkamp nun nicht mehr. Er musste mit Walter Fröhlich, dem Vater der Vermissten sprechen. Er wollte in Sabines Wohnung und hoffte, die Eltern würden einen Zweitschlüssel haben.
Jens Wischkamp verließ das Haus. Am Tatort konnte er jetzt nichts mehr tun. Er nahm sein Handy und wählte die Nummer von Walter Fröhlich.
»Haben Sie etwas von Ihrer Tochter gehört, Herr Fröhlich?«
»Nein, Herr Kommissar. Bis jetzt hat sie sich nicht gemeldet. Ich mache mir große Sorgen. Sie vergisst doch den Geburtstag ihrer Mutter nicht. Da ist bestimmt etwas passiert.«
»Herr Fröhlich, haben Sie einen Zweitschlüssel für die Wohnung ihrer Tochter?«
»Ja, sicher. Aber warum wollen Sie das wissen?«
»Ich möchte mich in der Wohnung umsehen. Vielleicht finde ich einen Hinweis darauf, wo Sabine sich aufhält. Das geht aber nur, wenn Sie mir den Zutritt zur Wohnung Ihrer Tochter gestatten. Ansonsten müsste ich mir erst einen Öffnungsbeschluss durch die Staatsanwaltschaft besorgen.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Man hörte nur das laute, gepresste Atmen des Mannes, dem im Augenblick die Angst um seine Tochter wahrscheinlich die Kehle abschnürte.
»Meine Tochter wohnt in der Jüngststraße, Herr Kommissar. Ich treffe Sie in zehn Minuten dort.«
Dann legte Herr Fröhlich auf und Jens startete den Motor. Er hoffte inständig, in der Wohnung von Sabine Fröhlich einen Hinweis darauf zu finden, dass das Verschwinden der jungen Frau einen harmlosen Hintergrund hatte.
Er war für einen Moment eingenickt. Jetzt schreckte er hoch. Jemand klopfte von außen an die Scheibe.
»Sie haben dich«, war das Einzige, was er denken konnte.Langsam drehte er den Kopf. Da stand ein Mann in Jeans und Karohemd mit einer Thermoskanne in der Hand.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Die Stimme klang dumpf, aber nicht unfreundlich. Langsam und vorsichtig kurbelte er das Fenster einen Spalt auf.
»Alles in Ordnung. Ich war nur müde und brauchte eine kleine Pause.«
»Na, Kumpel. Die Pause dauert aber jetzt schon recht lange. Ich stehe seit fünf Stunden hier und dein Auto war schon da, als ich kam. Kaffee?«
Der Fremde schenkte aus der Thermoskanne etwas in einen Becher. Augenblicklich spürte er den brennenden Durst. Das war ein Trucker, harmlos. Der würde ihm sicher nichts antun.
Er öffnete das Fenster ein wenig weiter und nickte.
»Danke, sehr gern.«
Nachdem er den Kaffee getrunken hatte, wagte er es, auszusteigen. Er streckte seine Glieder, die vom langen verkrampften Sitzen steif geworden waren. Entschuldigend lächelte er den Lkw-Fahrer an.
»Ich war lange unterwegs und dann wurde ich müde. Eigentlich wollte ich nur für einen Moment die Augen zumachen, aber dann bin ich wohl eingeschlafen. Danke für den Kaffee, der hat mich wieder munter gemacht. Jetzt kann ich weiterfahren.«
»Und wohin willst du?«
Er zuckte zusammen. Darüber hatte er sich immer noch keine Gedanken gemacht. Nur weg, aber das konnte er diesem Fremden ja nicht sagen. »Nach Bayern«, antwortete er mit einem leichten Zögern.
»Na, denn mal gute Fahrt«, lächelte der Fremde und klopfte ihm auf die Schultern.
Nach Bayern, hatte er gesagt, aber das war nicht ernst gemeint. Krampfhaft überlegte er und dann fiel ihm ein, was er machen konnte. Er würde nach Bochum fahren. In Bochum konnte er vielleicht erst einmal untertauchen, bei Mary. Mary war eine Freundin aus alten Tagen, die ihm das ein oder andere Mal Unterschlupf gewährt hatte, wenn die Bullen hinter ihm her waren. Sie arbeitete als Bardame in einer kleinen Kneipe in der Nähe der Gußstahlstraße, dem Puff von Bochum. Wenn Mary noch da war, dann wäre er erst einmal in Sicherheit. Und das Auto musste er auch unbedingt loswerden. Wenn die Bullen erst mal die Leiche gefunden hatten, würden sie bald feststellen, dass Werners Auto verschwunden war. Die Karre musste spurlos verschwinden. Mary würde wissen, was zu tun war.
Er setzte sich hinters Steuer und startete den Motor. Nach Bochum waren es nur etwa 50 Kilometer. Er war ja schon kurz vor dem Kamener Kreuz. In einer knappen Stunde konnte er in Sicherheit sein. Alles andere würde sich finden.
Als Jens Wischkamp in die Jüngststraße in Werne einbog, sah er schon einen hochgewachsenen, grauhaarigen Mann unruhig vor dem Haus, in dem sich die Wohnung von Sabine Fröhlich befand, auf und ab gehen. Jens stieg aus und die beiden Männer machten sich bekannt. Jens schilderte Sabines Vater in kurzen Worten, was in der Wohnung von Werner Meier passiert sein musste.
Walter Fröhlich wurde blass, aber er zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und reichte es Jens.
»Es ist die linke Wohnung im ersten Stock. Vielleicht möchten Sie vorgehen?«
Hauptkommissar Wischkamp hörte am Klang der Stimme, dass Walter Fröhlich Angst hatte. Er wollte nicht zuerst die Wohnung seiner Tochter betreten.
Als sich auf Schellen und Klopfen in der Wohnung nichts rührte, steckte Jens Wischkamp den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
»Frau Fröhlich, sind Sie da? Hier ist die Kriminalpolizei.«
Aber es blieb alles still. Jens sah sich um. Die Wohnung war aufgeräumt und liebevoll dekoriert, aber von Sabine Fröhlich fehlte jede Spur. Er drehte sich um zu Sabines Vater.
»Herr Fröhlich, Ihre Tochter ist augenscheinlich nicht hier. Sehen Sie sich doch bitte mal um, ob Ihnen etwas auffällt.«
Walter Fröhlich ging durch die Räume und schüttelte immer wieder den Kopf.
»Es ist alles genauso wie immer. Alle ihre Sachen sind im Schrank, im Badezimmer fehlt auch nichts. Wenn sie verreist wäre, hätte sie ihre persönlichen Dinge mitgenommen.«
Er ließ sich auf die Couch fallen und senkte den Kopf.
»Da stimmt etwas nicht, Herr Kommissar. Sabine ist ein so zuverlässiges Kind. Und sie liebt ihre Mutter. Sie würde ihr das niemals antun, ihr nicht zu gratulieren. Und wenn sie verreist wäre, hätte sie uns das vorher gesagt. Ihr ist etwas zugestoßen. Bitte finden Sie mein Kind.«
Verzweiflung klang aus dieser Stimme und Jens lief ein leichter Schauer über den Rücken. Auch er war sich inzwischen ziemlich sicher, dass Sabine Fröhlich nicht freiwillig verschwunden war.
Er seufzte.
»Herr Fröhlich, wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Wie lange kennen Sie eigentlich schon den Freund Ihrer Tochter?«
»Die beiden sind seit ungefähr einem Jahr zusammen. Mir gefiel dieser Meier nicht besonders, aber Sabine ist erwachsen. Er hat sie immer gut behandelt und zu uns war er sehr zuvorkommend und höflich. Ich kann also eigentlich nichts Negatives über ihn sagen, bis auf. ...« Er zögerte.
»Bis auf was?«
Jens Stimme klang schärfer, als er es beabsichtigt hatte.
»Nun, ich weiß nicht, ob es überhaupt von Bedeutung ist. Vor ein paar Wochen waren die Beiden bei uns. Wir wollten einen gemütlichen Grillabend miteinander verbringen. Werner ging ins Haus, um die Toilette aufzusuchen. Als er nach zehn Minuten noch nicht zurück war, bin ich ihm nachgegangen. Ich dachte, ihm ginge es vielleicht nicht gut. Ich habe gesehen, wie er aus meinem Arbeitszimmer gekommen ist. Er hat mich nicht bemerkt. Ich habe ihn aber auch nicht gefragt, was er dort gemacht hat. Ich habe kurz nachgesehen, aber mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Ich dachte, er hätte sich dort kurz ausgeruht. Meinen Sie, das könnte etwas bedeuten?«
Jens zuckte mit den Schultern.
»Das weiß ich nicht, aber wenn ich, wie in diesem Fall, keinerlei Anhaltspunkte habe, dann gibt es nichts Unbedeutendes. Darf ich fragen, was Sie beruflich machen, Herr Fröhlich?«
»Ich bin Diplom-Chemiker. Ich arbeite in der Forschungsabteilung eines Pharma-Konzerns.«
»Haben Sie in der Zeit, als Werner Meier in Ihrem Arbeitszimmer war, an etwas Besonderem oder möglicherweise Geheimen gearbeitet?«
Walter Fröhlich wurde ein wenig blass.
»Nun ja, wir sind dabei, ein neues Medikament zu entwickeln. Ich darf darüber nicht reden, aber wenn die neuen Testreihen die Ergebnisse der ersten Tests bestätigen, ist unserem Unternehmen einen großer Durchbruch gelungen im Hinblick auf Abstoßungsreaktionen bei Organtransplantationen. Das Patent wird Milliarden wert sein. Nur, bis dahin ist es noch ein sehr weiter Weg. In diesem Stadium der Entwicklung kann man noch gar nicht sagen, ob das Medikament wirklich Erfolg versprechend eingesetzt werden kann. Wir wissen ja noch nicht einmal, welche Nebenwirkungen es beim Menschen möglicherweise auslösen kann.«
»Könnten Sie sich vorstellen, dass es Konkurrenten Ihres Unternehmens gibt, die gern Einblick in Ihre Forschungen haben würden?«
Walter Fröhlich lachte trocken auf.
»Da können Sie mal getrost von ausgehen, Herr Kommissar. Ich bin sicher, dass etliche Pharmakonzerne wer weiß was dafür tun würden, um an unsere Testergebnisse und die Formel heranzukommen.« Wieder wurde er blass.
»Sie denken doch nicht ...?«
Walter Fröhlich versagte die Stimme.
»Noch kann ich gar nichts sagen, Herr Fröhlich. Aber wir werden unsere Ermittlungen auch auf diesen Bereich ausdehnen. Es wäre nicht das erste Mal, dass im Bereich der Industriespionage Menschenleben geopfert worden wären. Es wäre doch immerhin möglich, dass Werner Meier den Auftrag hatte, in Ihrem Arbeitszimmer nach Unterlagen über dieses neue Medikament zu suchen.«
»Aber das ist doch Schwachsinn, Herr Kommissar. Das muss doch jedem klar sein, dass ich solche Unterlagen nicht bei mir zu Hause habe. Das darf ich doch gar nicht. Das ist alles im Labor, streng unter Verschluss.«
Jens Wischkamp nickte. Es war sicher nur eine kleine Spur, aber wenigstens war es eine. Vielleicht wusste der Auftraggeber von Werner Meier nicht, dass ein Diplom-Chemiker seine Arbeit nicht mit nach Hause nehmen durfte. Und das es, falls es sich wirklich um die Arbeit von Walter Fröhlich drehte, einen Auftaggeber geben musste, das stand für Jens Wischkamp fest. Meier selbst hätte nicht das Format zum Industriespion.
Er stand auf.
»Herr Fröhlich, Sie fahren am Besten wieder nach Hause. Wenn Sie etwas von Ihrer Tochter hören, rufen Sie mich bitte an.«
Dann verabschiedeten sich die beiden Männer und Hauptkommissar Wischkamp fuhr zurück in sein Büro bei der Kripo in Unna. Er hoffte, dass die Spurensicherung in Werner Meiers Wohnung irgendeinen Anhaltspunkt entdeckt hatte.
Vorsichtig fuhr er den klapprigen VW-Golf in die Toreinfahrt. Die Bar hatte geöffnet. Wenn er Glück hatte, war Mary noch hier. Auf jeden Fall war er jetzt erst einmal ein Stück weit von Werne weg. Er entspannte sich ein wenig.
Dann stieg er aus und ging zum Vordereingang der kleinen Bar. „Rote Marlene“ stand auf der alten, vergilbten Leuchtreklame. Aus dem Inneren drangen Musik und Stimmengewirr auf die Straße. Er öffnete die Tür. Es war dunkel und der Zigarettenqualm vernebelte ihm die Sicht. Aber er sah sie sofort. Sechs Jahre waren vergangen, aber an Mary schien die Zeit spurlos vorbeigegangen zu sein. Das Leben hatte viele Linien in ihr Gesicht gezeichnet, aber ihre Augen strahlten noch immer vor Lebensfreude.
Er drängelte sich durch die Männer bis zur Theke vor. Ohne ihn anzusehen, fragte Mary:
»Na, Süßer, was darf ’s denn sein?«
Er brachte keinen Ton heraus. Etwas unwillig sah sie auf, dann glitt ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Na, das ist ja eine Überraschung. Was führt dich denn hierher? Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.«
Und dann, nach einem prüfenden Blick in sein Gesicht:
»Du siehst nicht gut aus. Stimmt was nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gib mir erst mal ein Bier. Wir müssen reden.«
Mary stellte ihm ein Bierglas vor die Nase und sah auf ihre Uhr. Dann griff sie hinter sich.
»Hier ist mein Wohnungsschlüssel. Du weißt ja wohl noch, wo ich wohne. Ich mache um drei Uhr früh Schluss, dann komme ich nach.«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, wandte sie sich den anderen Gästen zu. Sie wusste, bei ihm war nichts zu holen und Geschäft war Geschäft. Er trank sein Bier aus, legte einen Fünfeuroschein auf die Theke und ging wieder. Draußen auf der Straße atmete er auf. Das war Mary, seine Mary. Nichts fragen, einfach helfen. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Er überquerte die Straße. Mary wohnte genau gegenüber von der Bar, wo sie arbeitete. Er betrat die Wohnung, nahm sich aus dem Kühlschrank ein Bier und setzte sich auf die kleine Couch. Hier hatte sich in all den Jahren nichts verändert. Viele Nächte hatten sie hier gesessen und geredet und genauso viele Nächte hatte er auf diesem unbequemen Sofa geschlafen. Für wie lange würde es dieses Mal sein?