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Werne an der Lippe ist eine beschauliche Kleinstadt am südlichen Rand des Münsterlandes. Für Kapitalverbrechen ist die Kriminalpolizei in Unna zuständig. Einer der Kommissare der Kripo Unna, Kriminalhauptkommissar Jens Wischkamp, wohnt mit seiner Freundin, der Fotografin Silvia Markbohm, in einer kleinen Wohnung am Roggenmarkt in Werne. Eines Nachts wird er zu einem Leichenfund gerufen. In der Nähe von Schloss Nordkirchen liegt ein Toter, vermutlich Osteuropäer. Nun ist es mit der Ruhe und Beschaulichkeit in und um Werne herum vorbei. Die organisierte Bandenkriminalität aus Russland macht sich breit und stellt Kommissar Wischkamp vor schier unlösbare Probleme. Drogenhandel, Prostitution, internationaler Waffenhandel, Entführung und Mord – Jens Wischkamp schaltet das LKA ein. Als dann auch noch zwei junge Mädchen aus Werne spurlos verschwinden, wird die Lage sehr, sehr ernst. Unerwartete Hilfe kommt aus Moskau. Ein Oberst der russischen Miliz beteiligt sich mit wertvollen Informationen an den Ermittlungen. Wird es Jens Wischkamp gelingen, die beiden Mädchen aus den Fängen der Verbrecher zu retten? Die Zeit läuft ab und eigentlich kann nur noch ein Wunder helfen ... Ein weiterer spannender Fall aus der Werne-Krimireihe um den jungen Kriminalhauptkommissar Jens Wischkamp.
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Seitenzahl: 284
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Renate Behr
Kommissar Wischkamp
© Brighton Verlag, Ober-Flörsheim
www.brightonverlag.com
info@brightonverlag. com
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags
Alle Rechte vorbehalten!
Satz & Covergestaltung: Ernst Trümpelmann,
unter Verwendung eines Bildes von ©depositphotos.com/belchonok
ISBN 978-3-95876-043-1
Jens Wischkamp arbeitet als Kriminalkommissar bei der Kreispolizeibehörde in Unna. Er ist in der Abteilung für Kapitalverbrechen und Tötungsdelikte auch für Verbrechen zuständig, die in Werne an der Lippe begangen werden.
Jens Wischkamp ist 1978 geboren, ledig und lebt in Unna in einer kleinen Wohnung ganz in der Nähe des Kriminalkommissariats.
In seinem ersten großen Fall („Silvias Flucht) häufen sich die Verbrechen in der beschaulichen Kleinstadt Werne und Jens Wischkamp hat alle Hände voll zu tun, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.
Im Zuge seiner Ermittlungen lernt er Silvia Markbohm kennen. Die junge Frau mit den rotblonden Locken hat in Werne die Leitung eines alteingesessenen Fotostudios übernommen. Durch eine zufällige Bekanntschaft gerät sie in einen Strudel aus Verbrechen, der letztlich in ihrer Entführung mündet.
Kommissar Wischkamp gerät unter Druck. Sein Interesse an der bildhübschen Fotografin geht weit über das Berufliche hinaus.
Als Silvia Markbohm von Hamburg nach Werne kommt, lernt sie Walter Grossenberg kennen. Walter Grossenberg ist Rentner und wohnt am Ortseingang von Lünen. In seiner Freizeit beschäftigt er sich sowohl mit der Historie seiner Heimat als auch mit ungelösten Verbrechen. Gemeinsam mit Silvia Markbohm findet er wichtige Details heraus und ist Kommissar Wischkamp bei seinen Ermittlungen eine große Hilfe. Zwischen Silvia und Walter Grossenberg entwickelt sich eine enge Freundschaft.
In „Silvias Flucht“ trifft Silvie auch auf die Familie Schreiber. Zu der Tochter, einer Abiturientin, die nur wenige Jahre jünger ist als Silvie, entwickelt sie eine Art schwesterlicher Zuneigung. Als Martina in dem hier vorliegenden zweiten Teil der Werne-Krimi-Reihe in Schwierigkeiten gerät, setzt Silvie alles daran, der jungen Freundin zu helfen.
Lesen Sie auf den nächsten Seiten, wie sich die Protagonisten von „Silvias Flucht“ weiterentwickeln. Begleiten Sie Kommissar Wischkamp bei seinen Ermittlungen in diesem undurchsichtigen Fall, der weit über die Grenzen der zuständigen Kreispolizeibehörde hinausführt.
»Aua!«
Mühsam unterdrückte Jens Wischkamp einen lauten Aufschrei. Stattdessen fluchte er nur leise vor sich hin, um seine Freundin Silvie nicht zu wecken und rieb sich sein schmerzendes Schienbein. Dann tastete er sich weiter zum Badezimmer, öffnete die Tür und machte das Licht an. Er hatte sich wieder einmal im dunklen Flur von Silvies kleiner Wohnung an irgendeiner Kommode gestoßen. Diese Wohnung war einfach zu klein für zwei Personen. Er wohnte jetzt seit ein paar Wochen hier, aber noch immer hatte er nicht alle seine Sachen aus Unna herüber holen können. Es gab einfach nicht genug Platz. Er wusste, wie sehr Silvie diese kleine Mansardenwohnung in dem windschiefen Fachwerkhaus am Werner Roggenmarkt liebte, aber so ging es nicht weiter. Er würde heute Abend mit ihr reden müssen.
Nachdem er geduscht hatte, rasiert und gekämmt war, ging er in die kleine Küche, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Als Kriminalkommissar bei der Kreispolizeibehörde in Unna konnte man sich seine Dienstzeiten nicht immer aussuchen. Er war von seinen Kollegen angepiept worden. Jetzt griff er zum Telefon und rief im Kommissariat an. Seine Kollegin Verena Schneider meldete sich.
»Hallo, Jens. Gut, dass du anrufst, dann kannst du dir einen Weg sparen und gleich von Werne aus zum Tatort fahren. Die Kollegen von der Spurensicherung sind schon unterwegs, der Gerichtsmediziner auch.«
»Hört sich nicht gut an, was ist denn überhaupt passiert und wo?«
»Also, vor ungefähr einer Stunde hat die Notrufzentrale einen anonymen Anruf bekommen, dass es in der Nähe vom Schloss Nordkirchen eine Schießerei gegeben haben soll. Wir haben eine Streife hingeschickt, aber die Kollegen konnten nichts Auffälliges feststellen. Kurz darauf rief uns dann ein Landwirt aus Capelle an, dass am Rand seines Feldes ein Toter liegt. Mehr weiß ich bisher auch noch nicht. Am Besten fährst du rüber und machst dir vor Ort selbst ein Bild. Eine Mordkommission haben wir vorsorglich eingerichtet.«
»Okay, danke Verena. Ich mache mich gleich auf den Weg. Du kannst die Kollegen informieren, dass ich in etwa zwanzig Minuten da sein werde.«
Schnell schrieb Kommissar Wischkamp noch eine Notiz für seine Freundin, dann verließ er so leise wie möglich die Wohnung. Sein Wagen stand etwa fünf Gehminuten weg an der B54, und wie versprochen dauerte es kaum zwanzig Minuten, bis er das Feld zwischen Capelle und Nordkirchen erreichte.
Das Areal war weiträumig abgesperrt, die Kollegen hatten Scheinwerfer aufgestellt, sodass der gesamte Feldweg hell erleuchtet war. Jens zückte seine Marke, um sich auszuweisen, dann duckte er sich unter dem Absperrband durch und ging auf den Gerichtsmediziner zu.
»Morgen, Doc. Hast du schon was?«Dr. Gerd Leinemann, der zuständige Gerichtsmediziner, hob den Kopf.
»Nicht viel. Der Mann ist erschossen worden, aber ganz sicher nicht hier.«
Dr. Leinemann deutete auf die Lage des Leichnams und die Schleifspuren.
»Ich bin sicher, dass er hierher geschleift und dann hier abgelegt wurde. Hier ist viel zu wenig Blut. Um den Tatort näher bestimmen zu können, müssen die Kollegen das Gebiet bei Tagesanbruch absuchen. Vielleicht solltet ihr eine Hundestaffel anfordern.«
Jens Wischkamp nickte.
»Todeszeitpunkt?«, fragte er.
Der Arzt zuckte mit den Schultern.
»Vor circa ein bis zwei Stunden, würde ich sagen. Er wurde von drei Kugeln getroffen. Die erste durchschlug seinen Oberschenkel, die zweite trat unter der zweiten Rippe ein und am Rücken wieder aus. Beide waren aber nicht tödlich, obwohl er ohne rechtzeitige Hilfe sicher daran verblutet wäre. Aber der Täter hat ihn anschließend mit einem Genickschuss sozusagen hingerichtet. Alles Weitere dann nach der Obduktion. Die Fotos sind gemacht. Kann ich ihn wegbringen lassen?«
Jens Wischkamp hatte sich hingehockt und sah dem Toten ins Gesicht. Der Mann war Anfang dreißig.
»Hatte er Papiere bei sich?«, fragte er.
Dr. Leinemann schüttelte den Kopf.
»Keine Brieftasche, keine Ausweispapiere, kein Geld. Könnte ein Raubmord gewesen sein. Und wenn du mich fragst, der ist nicht von hier. Sieh dir sein Gesicht an. Die hohen Wangenknochen, die dunkle Hautfarbe, die schwarzen Haare. Ich würde meinen, der Mann hat zumindest slawische Vorfahren. Vielleicht findet ihr ja was in eurer Datenbank, Fingerabdrücke haben die Kollegen bereits abgenommen. Ich werde auch noch ein DNA-Profil erstellen lassen, sobald ich ihn in der Pathologie habe.«
Jens Wischmann erhob sich und gab die Leiche zum Abtransport frei. Dann wandte er sich an einen Kollegen vom Team der Spurensicherung.
»Habt ihr schon irgendetwas gefunden, was uns weiterhelfen kann?« Der Beamte deutete nickend auf den Feldweg.
»Da sind Reifenspuren, von einem großen Geländewagen, würde ich mal tippen. Wir haben Gipsabdrücke genommen, damit müsste sich zumindest der Reifentyp feststellen lassen. Außerdem haben wir auf dem Feldweg etwa 150 Meter von hier an einem Gebüsch jede Menge Zigarettenkippen gefunden. Für mich sieht das so aus, als hätte da jemand gewartet. Kann natürlich auch Zufall sein, aber wir haben sie mitgenommen. Da ist bestimmt DNA-fähiges Material dran.« Kommissar Wischkamp nahm sein Handy und rief die Kripo in Unna an. Wieder meldete sich Verena Schneider.
»Hallo, Schneiderlein. Schick bitte Suchtrupps und eine Hundestaffel. Wir haben eine männliche Leiche gefunden, Fotos und Fingerabdrücke sind schon zu euch unterwegs. Der Leichenfundort ist nicht identisch mit dem Tatort, wir müssen das ganze Gelände hier zwischen Capelle und Nordkirchen absuchen. Vielleicht finden wir irgendwo Patronenhülsen. Und lass dir bitte schon mal die Bandaufzeichnung von dem anonymen Anruf kommen, den möchte ich mir nachher noch anhören. Sobald du die Fotos und die Fingerabdrücke hast, jag sie bitte durch den Computer. Du solltest in Betracht ziehen, dass unser Toter vielleicht aus dem östlichen Ausland stammt, also auch die Kollegen in Russland, Polen, Tschechien und so weiter bitte mit einbeziehen. Ich rede jetzt noch mit dem Zeugen, der die Leiche gefunden hat und komme dann rüber zu euch.«
Die Vernehmung des Landwirtes ergab nichts Neues. Er war wie jeden Morgen um kurz vor fünf mit seinem Hund ins Feld gegangen.
Dabei war er fast über die Leiche des Mannes gestolpert. Er hatte dann sofort die Polizei angerufen und auch hier auf das Eintreffen der Beamten gewartet.
»Sie haben den Toten ja gesehen. Kam der Ihnen irgendwie bekannt vor?«
Der Landwirt schüttelte den Kopf.
»Den habe ich in der Gegend noch nie gesehen. Von hier ist der bestimmt nicht. Aber auf den Spargelhöfen hier in der Umgebung arbeiten ja jetzt sehr viele Auswärtige, meistens Polen. Vielleicht gehört er ja zu denen.«
»Sind auf Ihrem Hof auch Tagelöhner beschäftigt?«
»Nee, nee, Herr Kommissar. Ich baue ja keinen Spargel an. Ich hab’ meine Milchkühe, meine Kälberzucht, ein paar Schweine. Und die Felder hier, die sind nur noch für das Viehfutter.«
Kommissar Wischkamp bat ihn, im Laufe des Tages ins Kommissariat zu kommen, um seine Aussage zu Protokoll zu geben. Dann verabschiedete er sich von seinen Kollegen und ging zurück zum Auto. Es war zwar schon Mitte Mai, aber trotzdem waren die Nächte noch ziemlich kühl. Jens Wischkamp fror.
In diesem Moment klingelte sein Handy. Ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass es seine Freundin war.
»Hallo, Liebes? Ich hoffe, ich habe dich nicht aufgeweckt. Ich habe mich so bemüht, leise zu sein, aber...«
»Ja, Jens, ich weiß. Du bist wieder vor die Kommode gelaufen. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ist etwas Schlimmes passiert?« »Ein Tötungsdelikt..« Silvie seufzte.
»Dann wird es sicher spät heute, oder?«
»Kann ich dir noch nicht sagen, Liebes. Ich fahre jetzt rüber nach Unna, ich denke, im Laufe des Nachmittags weiß ich mehr. Ich rufe dich im Laden an. Bis nachher.«
Dann beendete er das Gespräch. Silvie würde ohnehin den ganzen Tag im Fotogeschäft arbeiten und vielleicht ging es ja auch ohne Überstunden ab. Und wenn nicht? Silvie hatte Verständnis für seinen Beruf.
Da gab es keine Probleme. Trotzdem war sie immer traurig, wenn er spät nach Hause kam. Sie war nicht gern allein. Jens seufzte. Vielleicht sollte er doch versuchen, Silvie zu überreden, nach Unna umzuziehen.
Dann wäre er näher am Kommissariat und könnte auch mal zwischendurch kurz nach Hause. Aber dann lächelte er. Er wusste, dass Silvie nicht aus Werne fort wollte und er konnte sie gut verstehen. Auch er liebte diese kleine Stadt, in der er aufgewachsen war und in der alles ein wenig geruhsamer zuging als anderen Orts.
Als Kommissar Wischkamp das Kommissariat in Unna betrat, hingen an der Magnettafel bereits die ersten Tatortfotos. Verena Schneider nickte ihm zu und reichte ihm erst einmal einen Becher Kaffee.
»Du siehst ziemlich verfroren aus, mein Lieber. Der Kaffee wird dir gut tun.«
Dankbar nickte Jens Wischkamp.
»Wirklich kaum zu glauben, dass bald Sommeranfang ist. Es war wirklich richtig kalt und da pfiff ein ziemlich heftiger Wind über das freie Feld.«
Mit dem Kaffee in der Hand stellte er sich vor die Tafel und betrachtete die Fotos. Ohne sich umzudrehen, fragte er:
»Haben die Fingerabdrücke schon irgendwas gebracht?«
»Nein, bis jetzt nicht. Also, ich meine, bei uns hier hat er keine Akte. Auf die Antworten aus dem Ausland warte ich natürlich noch. Ich bin auch schon die Vermisstenanzeigen durchgegangen, aber ohne Erfolg. Was haben wir denn bis jetzt?«
Jens Wischkamp setzte sich an seinen Schreibtisch.
»Also, die Schießerei wurde um ca. 3.30 Uhr morgens anonym gemeldet. Die Streife war etwa 20 Minuten später, also um 3.50 Uhr, vor Ort, hat aber nichts Auffälliges gefunden. Um kurz nach fünf findet dann dieser Bauer aus Capelle am Rand seines Feldes eine männliche Leiche. Der Tote ist etwa 30 Jahre alt, schlank, hat dunkle Haare und ist auch vom Hauttyp her eher dunkel, vermutlich Osteuropäer. Wie mir Bauer Lachmann sagte, gibt es in der Gegend um diese Zeit eine Menge Tagelöhner aus Polen, die bei der Spargelernte helfen. Falls er dazugehören sollte, müsste er ja gemeldet sein. Setz dich doch mal mit den zuständigen Behörden für die Anmeldung von Tagelöhnern in Verbindung und lass dir eine Liste schicken, wer in der Gegend hier alles als Arbeiter aus dem Osten gemeldet ist. Vielleicht bringt uns das ja weiter.
Wie der Doc mir vor Ort sagte, gab es mindestens drei Schüsse. Die ersten beiden haben unser Opfer bewegungsunfähig gemacht, und der dritte war ein aufgesetzter Genickschuss.«
»Eine Hinrichtung, meinst du?«
Wischkamp nickte.
»Ich gehe davon aus. Und damit stellt sich mir natürlich die Frage, was unser Opfer wohl angestellt hat, dass ihm da jemand so ans Leder wollte. Und warum hat der Täter sich die Mühe gemacht, den Toten dann noch an eine andere Stelle zu bringen?«
Verena Schneider zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ich kümmere mich jetzt erst einmal um die Liste der Tagelöhner. Vielleicht wissen wir mehr, wenn wir den Autopsiebericht von Dr. Leinemann haben. Hier ist übrigens das Band von der Notrufzentrale. Ich habe es mir schon ein paar Mal angehört, aber außer, dass der Anrufer sehr aufgeregt war, ist mir eigentlich nichts Besonderes aufgefallen.«
Jens Wischkamp drückte auf die Wiedergabetaste des Rekorders.
»Hallo, ist da die Polizei? Sie müssen sofort jemanden herschicken, hier wird geschossen und ich habe jemanden schreien hören.«
»Bitte nennen Sie mir Ihren Namen und sagen Sie mir, von wo aus Sie anrufen.«
Die Stimme des Beamten, der den Notruf entgegen genommen hatte, klang sehr ruhig.
»Ich bin hier ganz in der Nähe von Schloss Nordkirchen, die Schüsse müssen vom Feld gegenüber kommen. Sie müssen sofort jemanden schicken, vielleicht braucht da jemand Hilfe.«
Dann hatte der Anrufer aufgelegt.
»Der Anrufer ist männlich, er klang sehr aufgeregt. Was ich nicht verstehe, ist, warum er seinen Namen nicht genannt hat. Es ist kaum anzunehmen, dass der Täter selbst die Polizei informiert. Also, wovor hat der denn Angst? Er hat doch nur seine Bürgerpflicht getan.«
Jens Wischkamp sah zu seiner Kollegin hinüber, aber die konnte sich das auch nicht erklären.
Silvie Markbohm wollte gerade die Wohnung verlassen, als ihr Telefon klingelte. Am anderen Ende meldete sich Martina Schreiber. Silvie hatte sich mit dem jungen Mädchen angefreundet, obwohl sie einige Jahre jünger war.
»Silvie, kann ich nachher zu dir in den Laden kommen? Ich habe ein Problem und niemanden, mit dem ich darüber reden kann.«
Die Stimme klang etwas zittrig, so, als falle es Martina schwer, überhaupt mit jemandem zu reden.
»Sicher, ich bin auf jeden Fall bis nachmittags im Geschäft. Um 17.00 Uhr habe ich einen Außentermin, aber wenn du vorher kommst, kein Problem. Was ist denn los? Du klingst so merkwürdig.«
»Kann ich dir am Telefon nicht sagen, bis nachher.«
Martina hatte aufgelegt.
Silvie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hat sie Stress mit ihrem Freund oder ein Problem mit ihren Eltern, dachte sie. Als Martina Schreiber mittags in das kleine Fotogeschäft kam, hatte Silvie das Telefonat schon fast wieder vergessen. Das junge Mädchen war blass.
»Komm, setz dich. Du siehst furchtbar schlecht aus. Was ist denn eigentlich los?«
Silvie dirigierte Martina zu der kleinen Korbecke und stellte ihr ungefragt ein Glas Wasser hin. In Martinas Augen glänzten Tränen. Sie schluckte.
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich war mit meiner Freundin am Wochenende in Dortmund. Ihr Freund arbeitet als DJ in einer Disco in der Nähe des Hauptbahnhofs. Sie wollte nicht allein dorthin, mein Freund hatte keine Zeit, also bin ich mitgefahren.
Ich hatte ihren Freund bis dahin noch nie gesehen, die beiden sind erst seit ein paar Wochen zusammen.
Also, die Disco, wenn man diesen Schuppen überhaupt als solche bezeichnen will, war ätzend. Alles wirkte schmuddelig, die Musik war viel zu laut und die Typen, die da rumliefen, zum Fürchten, sag ich dir. Ich habe sofort bereut, überhaupt mitgefahren zu sein. Aber Elfie hat nur gelacht. Dann hat sie mir ihren Freund vorgestellt. Was die an dem findet, kann ich wirklich nicht verstehen. Er ist ganz sicher nicht von hier, er spricht mit so einem merkwürdigen Akzent, wie ein Pole oder Russe oder so was. Und wie der Elfie behandelt, wie ein Stück Dreck, aber sie hängt an seinen Lippen, als würde er ihr die tollsten Komplimente machen. Ich wollte eigentlich nur wieder nach Hause, aber irgendwie hatte ich auch Angst, Elfie da so allein zu lassen. Also habe ich mir was zu trinken bestellt und mir eine Ecke gesucht, in der ich allein war und alles ein wenig beobachten konnte.
Es hat nicht lange gedauert, da kamen so ein paar Typen auf mich zu. Sie boten mir was zu trinken an, aber ich habe abgelehnt und gesagt, sie sollten mich in Ruhe lassen. Einer von denen ist dann zu Elfie und ihrem Freund gegangen. Die haben miteinander getuschelt und immer wieder zu mir rüber gesehen. Kurz drauf kam dann Elfie zu mir und meinte, ich sollte mich nicht so anstellen. Das wären alles Freunde von Boris, ihrem Freund. Die wären nett und völlig harmlos.
Ich habe ihr gesagt, dass ich mich nicht wohlfühle und gern nach Hause möchte und ob sie nicht lieber mitkommen wollte. Aber sie wollte nicht. Auf dem Weg zur Tür hat mir dann einer von den Typen den Weg verstellt. Ich sei zu verspannt, meinte er und er hätte ein gutes Mittel dagegen. Dann hat er mir eine Handvoll Pillen hingehalten und gemeint, die sollte ich mal probieren. Ich habe die Pillen dann genommen ....«
»Bist du wahnsinnig?«
Silvie schrie die Worte fast.
»Nein, nicht wie du denkst. Ich habe sie ihm aus der Hand genommen und gesagt, dass ich auf die Toilette will und die Pillen dann später ausprobiere. Daraufhin hat er mich gehen lassen. Ich bin dann sofort raus aus dem Laden und habe den nächsten Zug nach Werne genommen. Die Pillen habe ich in meiner Tasche, ich würde so was doch nie schlucken.
Aber ich mache mir Sorgen um Elfie. Wenn die Freunde von ihrem Freund so was verteilen, also, ich bin sicher, Elfie schluckt das Zeug. Sie war so anders an diesem Abend, so gar nicht wie sonst. Und jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich habe versucht, mit ihr zu reden, aber seit ich da einfach abgehauen bin, ist sie wohl sauer auf mich. Jedenfalls spricht sich nicht mit mir.
Meinst du, ich sollte ihren Eltern was sagen? Sie ist doch meine beste Freundin und ich will ihr ja keine Schwierigkeiten machen, aber wenn sie wirklich von diesem Typen dazu gebracht wird, Drogen zu nehmen, da kann ich doch nicht einfach so zusehen. Ach, Silvie, was soll ich bloß machen?«
Die Tränen kullerten Martina die Wangen herunter.
Silvie nahm sie fest in den Arm und tröstete sie, bis die Freundin sich wieder etwas beruhigt hatte. Dann hakte sie nach:
»Du hast die Pillen mitgenommen, sagst du. Hast du sie dabei?«
Martina griff in ihre Tasche und streckte Silvie die geöffnete Hand hin. Darauf lagen fünf hellblaue Tabletten, die mit einem Stern verziert waren.
»Hier, alle fünf. Ich habe wirklich keine genommen, das musst du mir glauben.«
»Tue ich doch, Martina. Gib mir die Pillen. Ich werde sie Jens geben und ihn bitten, sie im Polizeilabor analysieren zu lassen. Wenn das wirklich Drogen sind, wird die Dortmunder Kripo für den Tipp sicher dankbar sein.«
Erschreckt riss Martina die Augen auf.
»Glaubst du nicht, die wissen dann, dass ich dahinter stecke. Ich habe echt Angst vor denen, das kannst du mir glauben.«
Silvie schüttelte den Kopf.
»Wie sollten die denn darauf kommen. Werne und Dortmund, das liegt ein Stück auseinander. Du kannst auf jeden Fall nicht so tun, als sei nichts passiert. Lass mich mit Jens darüber reden, wir werden überlegen, wie wir das am besten regeln, ohne dich ins Spiel bringen zu müssen. Ich werde Jens auch fragen, was wir wegen deiner Freundin unternehmen können. Natürlich müssen ihre Eltern informiert werden, aber besser nicht durch dich. Ich denke, wenn es Drogen sind und es eine Razzia in dieser sogenannten Disco geben wird, kann man sicher einen Weg finden, warum die Polizei mit Elfies Eltern reden muss. Sie ist doch sicher öfter da, also kann sie auch gesehen worden sein, oder?«
Etwas beruhigt nickte Martina. Dann stand sie auf.
»Mir ist jetzt schon ein wenig wohler. Rufst du mich an, wenn du mit Jens gesprochen hast? Ich möchte gern wissen, was aus dieser Sache wird.«
Silvie nickte und versprach, sich am nächsten Tag zu melden. Dann packte sie die Pillen in einen Briefumschlag und steckte ihn in ihre Handtasche.
Silvie sah auf die Uhr. Es war kurz vor 17.00 Uhr und Jens hatte sich bis jetzt noch nicht gemeldet. Sie musste gleich los, also griff sie zum Telefon. Kommissar Wischkamp meldete sich sofort.
»Silvie, Liebes, entschuldige, aber ich habe total vergessen, dass ich dich anrufen wollte. Hier ist im Moment ziemlich viel los. Nicht böse sein, bitte.«
»Bin ich ja gar nicht, Jens. Aber ich muss jetzt zu einem Kunden und da wollte ich vorher noch mit dir reden. Weißt du schon, wann du nach Hause kommen wirst?«
»Im Augenblick kann ich hier nicht viel tun. Wir warten auf Auskünfte aus dem Ausland und das dauert in der Regel immer ein paar Stunden. Ich werde mich gleich auf den Weg machen. Wie lange brauchst du bei deinem Fototermin?«
»So etwa eine Stunde, denke ich.«
»Okay, Liebes, ich bin so gegen 19.00 Uhr zu Hause, ich bringe Pizza mit.«
Dann legte er auf.
Silvie lächelte. Jens Vorliebe für Pizza war außergewöhnlich. Mindestens einmal pro Woche brachte er auf dem Heimweg Pizza mit und heute war wieder einer dieser Tage. Na schön, dann konnte sie sich das Kochen sparen und beim Essen in Ruhe mit ihm über Martinas Problem sprechen.
Jens Wischkamp war eben dabei, seinen Schreibtisch aufzuräumen, als ein Kollege der Spurensicherung hereinkam.
»Na, Kollege, habt ihr noch was gefunden?«
»Tja, kann man so sagen. Wir haben uns die Kleidung unseres Unbekannten vorgenommen und in seinen Taschen so ein merkwürdiges, hellblaues Pulver gefunden. Wir haben die genaue Zusammensetzung noch immer nicht herausgefunden, aber ein Bestandteil ist auf jeden Fall hochgradiges Ephedrin-Derivat.«
Jens runzele die Stirn.
»Extasy?«, fragte er.
Der Kollege schüttelte mit dem Kopf.
»Nein, eben nicht. Aber auf jeden Fall eine Droge, eine synthetische und höchstwahrscheinlich absolut neu auf dem Markt. Die Kollegen von der Drogenfahndung sind sehr interessiert und bitten um weitere Informationen, sobald uns das möglich ist.«
Kommissar Wischkamp nickte. »Klar, gebt denen sofort Kopien von euren Berichten und haltet mich auf dem Laufenden. So, wie sich das jetzt darstellt, hat unser Toter entweder Krach mit seinem Dealer oder er hat mit dem Zeug gehandelt und Ärger mit einem Kunden bekommen. Das hat uns auch noch gerade gefehlt, eine neue Droge, ein Typ aus dem Ostblock, da bekomme ich gleich ein flaues Gefühl im Magen.« Der junge Mann von der Spurensicherung nickte.
»Russenmafia war das erste, was mir dazu eingefallen ist. Und das hier bei uns. Mann, wir sind hier doch nicht in Hamburg, Frankfurt oder Berlin.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
Jens Wischkamp winkte dem Kollegen (noch) dankend zu, dann nahm er den Hörer auf. Am anderen Ende meldete sich Dr. Leinemann vom gerichtsmedizinischen Institut in Dortmund.
»Hallo, Jens. Ich schicke euch gleich per Fax den vorläufigen Obduktionsbericht rüber. Es ist genauso, wie ich am Leichenfundort schon sagte, die ersten beiden Schüsse waren nicht tödlich. Der aufgesetzte Genickschuss hat ihn letztlich umgebracht. Und der Täter muss eine Menge von dem Blut abbekommen haben. Die Spurensicherung hat offensichtlich Spuren von Drogen in seinen Taschen gefunden und ich habe eine ähnliche Substanz unter seinen Fingernägeln entdeckt. Außerdem habe ich sein DNS-Profil an Europol und Interpol geschickt. Jetzt können wir erst einmal nur abwarten.«
Jens Wischkamp bedankte sich und legte auf. Dann sah er hinüber zu seiner Kollegin. »Na, Schneiderlein, wollen wir Feierabend machen für heute?«
Verena Schneider schüttelte mit dem Kopf. »Ich warte noch auf die Liste der Tagelöhner. Da steht dann auch gleich drauf, auf welchem Hof die beschäftigt sind und ich denke, jetzt, so gegen Abend, werde ich die meisten Landwirte zu Hause erreichen. Ich werde zusammen mit Björn Werner die Höfe abfahren und den Bauern ein Foto unseres Toten vorlegen. Vielleicht erkennt ihn ja jemand. Ich komme dafür morgen früh später. Wenn ich was rausgefunden habe, schicke ich dir später noch eine Mail. Schönen Feierabend und Grüße an Silvie.«
Dann verließ Verena Schneider das Büro.
Auch Jens machte sich auf den Heimweg. Abschalten, eine gute Pizza essen, mit Silvie ein wenig Fernsehen und ein paar Stunden nichts von Mord, Totschlag und Drogen hören, dann würde er sich wieder wie ein neuer Mensch fühlen.
Silvie hatte schon den Tisch gedeckt. Rotwein leuchtete in den Gläsern und zwei Kerzen flackerten ein wenig, als Jens die Tür öffnete. Sofort umarmte er seine Freundin.
»Schön, zu Hause zu sein. Mann, bin ich kaputt.«
Aufseufzend ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Silvie nahm die Pizza aus der Verpackung, schnitt sie in mundgerechte Stücke und verteilte sie auf die beiden bereitgestellten Teller. Dann ließen sie es sich schmecken.
Später, als sie gemeinsam auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen, holte Silvie tief Luft.
»Jens, ich muss dich was fragen.«
Aufmerksam sah er sie an.
»Martina Schreiber war heute bei mir im Laden. Offensichtlich hat eine ihrer Freundinnen ein Drogenproblem und Martina weiß jetzt nicht, wie sie sich verhalten soll.«
Jens runzelte die Stirn.
»Wie kommt sie darauf?«
Silvie erzählte ihm die Geschichte von dem Besuch in der Dortmunder Disco, genauso, wie Martina sie ihr geschildert hatte. Als sie den russischen Vornahmen von Elfies Freund erwähnte, wurde Jens sehr aufmerksam.
»Du sagst, die Typen seien alle aus Polen oder Russland? Das ist schon merkwürdig.«
Verständnislos sah Silvie ihn an.
»Tja, weißt du, der Tote, den wir hier in der Nähe gefunden haben, scheint nicht von hier zu sein. Zumindest hat er slawische oder russische Vorfahren und er scheint in irgendeiner Form mit Drogen zu tun gehabt zu haben, entweder als Konsument oder als Dealer. Und jetzt erzählst du mir diese Geschichte.«
Silvie stand auf.
»Martina hat mir die Tabletten gegeben, die man ihr angeboten hat. Glaubst du, es besteht ein Zusammenhang zwischen eurem Toten und diesen Pillen hier.«
Sie hielt ihm den Briefumschlag hin, den Jens vorsichtig öffnete. Er zog scharf die Luft durch die Nase ein.
„»Hellblau«, murmelte er. »Genau wie das Pulver in den Taschen unseres Opfers. Ich muss mal eben telefonieren.«
Jens erreichte die Nachbesetzung des Labors.
»Habt ihr schon mehr über dieses blaue Pulver herausgefunden?«
»Wie der Kollege schon sagte, ein Ephedrin-Derivat, versetzt mit irgendeinem synthetischen Halluzinogen, ähnlich wie LSD, nur mindestens einhundert Mal stärker. Außerdem haben wir Spuren von rotem Phosphor, Ethanol und Abflussreiniger gefunden. Schon eine geringe Dosis kann einen Horrortrip auslösen, eine höhere Dosis kann auch leicht tödlich wirken.«
»Kollege, ich komme gleich rüber zu euch. Ich habe hier ein paar hellblaue Pillen, die man einem jungen Mädchen in einer Dortmunder Disco unterschieben wollte. Ich möchte, dass ihr diese Pillen umgehend untersucht. Sollten sie identisch mit dem hellblauen Pulver sein, dann dürfte sich mein Verdacht, dass wir es hier nicht nur mit einem einfachen Mord zu tun haben, bestätigen. Ich bin in einer halben Stunde da.«
Jens legte auf und griff zu seinem Mantel. Bedauernd sah er Silvie an, doch die winkte ab.
»Fahr nur, ich lasse mir ein Bad ein und gehe dann schlafen. Aber ich bestehe darauf, dass du mich aufweckst, wenn du nach Hause kommst und mir erzählst, was ihr herausgefunden habt.«
Jens nickte, küsste sie zärtlich auf den Mund und verließ dann die Wohnung.
Boris Dimitrov lehnte sich zurück und funkelte sein Gegenüber zornig an.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen, Juschka? Was hast du dir nur dabei gedacht, der kleinen Schlampe die Pillen zu geben. Hast du wirklich geglaubt, dieses Landei nimmt sie brav und bleibt hier?«
Juschka Maximow zog den Kopf ein.
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie sich gleich aus dem Staub macht. Ich habe mich nur kurz umgedreht, das muss sie durch die Eingangstür entwischt sein. Bestimmt hat sie die Pillen weggeschmissen.«
Boris sah ihn stirnrunzelnd an.
»Hoffen wir es für dich, ich kann wirklich nicht noch mehr Probleme gebrauchen.«
»Ruf doch deine Perle an, die ist doch mit ihr befreundet. Ich meine, wenn da was im Busch wäre, würde sie es doch zuallererst ihrer Freundin erzählen. Das machen die Weiber doch immer so.«
»Mach ich nachher, mal sehen, was Elfie so erzählt.«
»Also ehrlich, Boris, ich weiß nicht, was du an der findest.«
Boris setzte ein fieses Grinsen auf. »Sie ist naiv und sie ist total verknallt in mich. Wenn ich es erst einmal geschafft habe, dass sie das Zeug wirklich braucht, wird sie mir helfen, neue Kunden zu kriegen. Und du kannst sicher sein, dass ich das schlauer anstellen werde als du, mein Freund. Eines sage ich dir jetzt schon. Wenn da irgendwas schief läuft mit Elfies Freundin, wirst du dich um sie kümmern. Wir verstehen uns?«
Juschka nickte. Boris widersprach man nicht. Aber bei dem Gedanken, ein junges Mädchen zum Schweigen zu bringen, war ihm gar nicht wohl. Doch er wusste, dass Boris eine ziemlich große Nummer war mit Kontakten, die ganz weit nach oben reichten. Gegen so jemanden stellte man sich nicht, wenn man überleben wollte. Zu oft schon hatte er erlebt, dass Menschen verschwanden, einfach so, (aber immer,) nachdem sie sich mit Boris angelegt hatten. Diesen Fehler würde Juschka auf keinen Fall machen. Er wusste ganz genau, dass der Job als DJ in dieser drittklassigen Disco für Boris nur eine Tarnung war.
»Du kannst jetzt gehen, ich lasse dich rufen, wenn ich dich brauche, also bleib in der Nähe.«
Boris deutete auf die Tür und Juschka verschwand, so schnell er konnte.
Verächtlich lachte Boris auf. Sie waren alle gleich. Wenn er pfiff, dann sprangen sie genau so, wie er es wollte. Dumm war nur, dass auch er nicht immer Herr seiner Entscheidungen war. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass dieses Mädchen aus der Provinz ein paar von seinen Cristal Blue Pillen hatte. Im besten Fall würde sie sie einfach wegwerfen. Aber wenn sie damit zur Polizei ging? Dann würde es in absehbarer Zeit eine Razzia in dem Laden geben, in dem er arbeitete.
Und die Kleine wusste, dass es zumindest ein Bekannter von Boris gewesen war, der ihr die Pillen gegeben hatte. Er versuchte, sich zu erinnern, wie sie ausgesehen hatte. Besser als Elfie auf jeden Fall. Vielleicht ließ sich daraus ja noch Kapital schlagen. Eigentlich wurden ja meistens Frauen aus dem Ostblock nach Deutschland geschleust und an irgendwelche Bordellbesitzer verkauft. Aber warum sollte man den Spieß nicht auch einmal umdrehen können? Nun ja, man würde sehen. Er nahm sein Handy und wählte Elfies Nummer.
»Hallo, Süße, wie geht es dir? Hast du was von deiner Freundin gehört? Die ist ja neulich abends so schnell verschwunden, dass ich ihr nicht mal mehr auf Wiedersehen sagen konnte.«
»Ach, Boris, Martina ist spießig. Sie fand die Disco schrecklich und sie mochte dich und deine Freunde nicht. Also ist sie nach Hause gefahren. Sie hat in der letzten Woche ein paar Mal versucht, mit mir zu reden, aber ich bin erst mal sauer. Ich will einfach nicht mit ihr sprechen.«
»Süße, das ist aber nicht richtig. Schließlich ist sie doch deine beste Freundin. Wir sollten uns einfach mal nachmittags treffen, nicht in der Disco, sondern auf einen Kaffee oder zum Eis essen. Du bringst deine Freundin mit, ich bringe Juschka mit und dann wird sie sehen, dass wir ganz normale, nette Jungs sind. Was meinst du? Rufst du sie an und lädst sie ein für morgen Nachmittag?«
»Okay, wenn du meinst. Aber ich habe keine Lust darauf, dass sie mir die ganze Zeit in den Ohren hängt, von wegen, du wärst nichts für mich und so. Ach ja, Boris? Hast du noch welche von den Pillen? Ich habe so entsetzliche Kopfschmerzen und fühle mich gar nicht wohl. Meine Pillen sind alle und das ist das Einzige, was mir wirklich hilft.« Boris grinste.
»Klar habe ich noch welche. Siehst du, nicht alles, was aus Russland kommt, ist schlecht. Unsere Kopfschmerzmittel jedenfalls sind klasse. Ich bringe dir morgen Nachmittag welche mit. Bis dann.«
Elfie lehnte sich zurück. Ihr Kopf dröhnte furchtbar und ihr war übel. Sie hatte es schon mit diversen Schmerzmitteln versucht, aber die Kopfschmerzen gingen einfach nicht weg. Wie gut, dass Boris noch einen Vorrat der russischen Schmerztabletten hatte. Bis morgen würde sie wohl noch durchhalten. Dann wählte sie Martinas Nummer.
»Hi, Martina, hier ist Elfie. Ja, ich weiß, du hast versucht mich zu erreichen, aber mir ging es nicht gut und ich mochte mit niemandem reden. Wollen wir uns morgen Nachmittag treffen zum Eis essen?
Nein, nicht hier in Werne, wir treffen uns in Selm in der Eisdiele an der Kreisstraße. So um drei, wenn es dir recht ist. Fein, bis morgen dann.«
Elfie seufzte und schickte Boris eine SMS.
»Sind morgen um drei in Selm in der Eisdiele an der Kreisstraße. Martina kommt, aber ich habe ihr nicht gesagt, dass ihr auch da sein werdet. Am besten, ihr kommt etwas später. Ich liebe dich. Elfie.«
Boris Dimitrov las die SMS und lächelte.
Braves Mädchen, dachte er. Sein Plan stand fest. Diese Martina würde von Selm aus nicht wieder nach Hause zurückkehren.
»Juschka«, brüllte er.
Die Tür ging auf und Juschka kam rein. Kurz informierte er ihn über den Termin am nächsten Nachmittag.
»Besorg einen Mietwagen mit dunklen Scheiben und ein oder zwei Rollen Klebeband. Du fährst morgen Abend noch Richtung Osten. Ich habe einen guten Freund in Polen, der uns die Sorgen mit der Kleinen abnimmt. Er wird dich um Mitternacht am Grenzübergang Frankfurt/ Oder erwarten. Ich gebe dir nachher noch seine Handynummer.«
»Und wie denkst du dir das? Ich meine, es ist heller Tag. Wie sollen wir die Kleine unbemerkt in das Auto kriegen.«
»Das werden wir sehen, irgendwas wird mir schon einfallen, also lass das meine Sorge sein und kümmere du dich um das Auto, ich muss telefonieren.«
Boris wählte eine lange Nummer.
»Hallo, Sergej, wie geht es dir? Nein, ich brauche zurzeit keine Mädchen. Ich muss im Augenblick mal ein wenig die Füße stillhalten. Aber du könntest mir einen Gefallen tun. Kannst du morgen um Mitternacht in Frankfurt/Oder mal eine Fracht annehmen?
Sie ist jung, sie ist hübsch und unverbraucht und ich kann sie hier nicht gebrauchen. Sie darf Deutschland nie wiedersehen. Ich hatte schon daran gedacht, sie von Juschka beseitigen zu lassen, aber dann bist du mir eingefallen. Du findest sicher einen Kunden außerhalb von Deutschland, der Interesse an der Kleinen haben könnte.