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Ist das Treffen mit ihrer Internetbekanntschaft für die junge Margrit Brinkmann wirklich so harmlos, wie sie selbst glaubt? Jens Wischkamp und seine Frau werden zufällig Zeugen dieser ersten Begegnung, der sie jedoch keine Bedeutung beimessen. Kommissar Wischkamp erinnert sich aber an ein tragisches Ereignis, dass die Familie Brinkmann vor Jahren traf. Die ältere Schwester von Margrit war damals Opfer einer Vergewaltigung, nachdem sie hilflos zusehen musste, wie ihr Verlobter vor ihren Augen ermordet wurde. Jens Wischkamp hatte den Täter gefasst und lebenslänglich hinter Gitter gebracht. Ein anonymer Brief an die Staatsanwaltschaft sagt, dass Margrit Brinkmann in Gefahr sei. Kurz darauf verschwindet das junge Mädchen spurlos. Hat ihr Blind Date etwas damit zu tun? Oder ist es der verurteilte Vergewaltiger und Mörder, der sich an der Familie rächen will? Als Kommissar Wischkamp erste Zusammenhänge erkennt, nimmt der Fall eine entsetzliche Wendung ... In Blind Date wird Kommissar Wischkamp vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt. Die Frage, wer Täter und wer Opfer ist, lässt sich einfach nicht mehr beantworten. Und im Zentrum des Geschehens steht ein junges Mädchen, das nichts weiter will als ein normales Leben. Doch vielleicht ist es dafür bereits zu spät ...
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Seitenzahl: 232
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Renate Behr
Kommissar Wischkamp
Neuauflage Ober-Flörsheim 01.01.2015
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags Alle Rechte vorbehalten!
Satz & Covergestaltung: Ernst Trümpelmann,unter Verwendung zweier Bilder von ©depositphotos.com/Volga2019
Leises Stimmengewirr schlug Margrit Brinkmann vom Marktplatz in Werne entgegen. Die 17jährige sah sich um. Die Außengastronomie vor dem Alten Rathaus war bis auf den letzten Platz besetzt. Seit das alte Rathauscafé den Besitzer gewechselt hatte, war viel passiert. Das neue Café, das eigentlich Bistro, Lounge, Café und Restaurant in einem war, galt als der neue Treffpunkt in Werne. STILVOLL hatte der Besitzer es genannt und der Name war Programm. Unter den Rathausarkaden luden massive Holzmöbel mit schweren Polstern zum gemütlichen Verweilen ein. Aber heute suchten die Leute auch die Sonne auf dem Marktplatz. Margrit war froh, dass sie sich für ein Treffen im Inneren des STILVOLL entschieden hatte. Dort würde es sicher ein wenig ruhiger sein. Ein schlechtes Gewissen hatte sie schon. Zum ersten Mal hatte sie ihre Mutter bewusst angelogen, um sich diesen freien Nachmittag zu verschaffen. Doch das schlechte Gewissen verdrängte sie und genoss das Glücksgefühl, endlich einmal ein paar Stunden ohne Aufsicht zu sein. Ihr Herz klopfte und die Hände waren eiskalt vor Nervosität. Nur noch eine Viertelstunde. Obwohl sie fast nichts über den Mann wusste, mit dem sie sich gleich treffen wollte, hatte Margrit das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen. Sie dachte an die mahnenden Worte ihrer einzigen Freundin Sonja.
»Mensch, Margrit, das kann aber echt gefährlich sein. Du kennst den Typen doch gar nicht. Ist dir eigentlich klar, wie viele Männer falsche Profile in diesen Chaträumen einstellen, um sich an junge und naive Mädchen heranzumachen? Keine Angst, ich verrate dich nicht. Aber ich mache mir echt Sorgen. Was machst du denn, wenn da so ein schmieriger Kerl auftaucht, der dich anmacht oder sogar noch Schlimmeres vorhat?«
Margrit hatte die Bedenken mit einer Handbewegung weggewischt. »Was soll mir denn im STILVOLL schon passieren, Sonja? Wenn wirklich was faul ist, kann ich doch einfach gehen oder ich rufe die Polizei. Also lass gut sein und gönn mir den Spaß. Ich bin sicher, es wird ein aufregender Nachmittag und ich freue mich doch so darauf.«
Sonja hatte klein beigegeben. Es stimmte schon, allzu viel Aufregendes passierte in Margrits Leben nicht. Sie durfte nicht ausgehen und zu Schulveranstaltungen wurde sie gebracht und wieder abgeholt. Nach und nach war Margrit zu einer Außenseiterin geworden, die kaum noch Freunde hatte. Sie wurde ausgelacht, weil sie sich so von ihren Eltern bevormunden ließ, obwohl sie doch schon fast volljährig war. Aber Sonja wusste, warum das so war und hielt unbeirrt an dieser Freundschaft fest, die schon im Kindergarten entstanden war.
Margrit Brinkmann sah erneut auf ihre Armbanduhr. Die Zeit schien nur so zu schleichen. Sie verstand, dass Sonja sich Sorgen machte. Auch sie verfolgte immer wieder die Pressemeldungen über diese sogenannten Blind Dates und was dabei so alles passieren konnte. Aber Peter hatte von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Er hatte ihr geschrieben, dass er 12 Jahre älter war als sie und ihr freigestellt, den Kontakt abzubrechen. Aber bisher hatte sich noch nie jemand so viel Zeit für Margrit und ihre Probleme genommen. Sie konnte Peter alles schreiben, was sie bedrückte und er schien immer Verständnis zu haben. Er konnte kein schlechter Mensch mit unlauteren Absichten sein. Also hatte Margrit dieses Treffen vorgeschlagen, rein freundschaftlich, nur, um sich einmal kennenzulernen. Sie schüttelte die roten Locken. Ein leiser Schauer lief über ihre Haut, als sie darüber nachdachte, wie es dazu gekommen war, dass ihr eigenes Elternhaus für sie zu einem Gefängnis geworden war, aus dem es kein Entrinnen gab. Alles war so schön gewesen, früher. Sie hatten viel gelacht und Gitta, ihre ältere Schwester, hatte Margrit abgöttisch geliebt. Sie war sieben Jahre älter und für Margrit war sie Schwester und Freundin zugleich. Alles war gut, bis zu diesem verhängnisvollen Abend vor fünf Jahren. Ein paar Stunden nur hatten das Leben im Hause Brinkmann von Grund auf verändert. Aber heute wollte sie es wissen. Sie wollte ihr Leben verändern. Und vielleicht war dieses Treffen mit Peter der Anfang von etwas ganz Wunderbarem.
»Entlein, nun schmoll nicht schon wieder.«
Lachend nahm Gitta Brinkmann ihre 12jährige Schwester in den Arm. Die reagierte wie immer ungehalten.
»Du sollst mich nicht immer Entlein nennen. Du weißt, dass ich das hasse.«
Gitta lachte. Als Margrit klein gewesen war, hatte sie ihr immer das Märchen vom hässlichen Entlein vorgelesen. Dann wurde Margrit älter und die anderen hänselten sie oft wegen ihrer roten Haare, der grünen Augen und der vielen Sommersprossen. Gitta hatte sie zu trösten versucht, indem sie sie an die Verwandlung des kleinen Entleins in einen wunderschönen Schwan erinnerte. Und Entlein war ein Spitzname für Margrit geworden, den Gitta immer dann anwandte, wenn die kleine Schwester einmal wieder vollkommen unzufrieden und grantig war.
Heute war Gitta selbst der Auslöser. Eigentlich hatte sie versprochen, Margrit mitzunehmen, wenn sie sich heute Abend mit ihrem Verlobten Tom treffen wollte. Aber Tom hatte kurzfristig eine Einladung zu einer Party in einer sehr angesagten Disco in Dortmund erhalten. Dort durfte Margrit mit ihren 12 Jahren noch nicht hin und also musste sie zuhause bleiben. Margrit war selbst ein kleines bisschen in Tom verliebt und genoss es, mit den beiden auszugehen. Tom behandelte sie nämlich nie wie ein Kind, sondern immer wie eine junge Dame. Frau Brinkmann kam ins Wohnzimmer und sah sofort, dass Margrit traurig war, weil sie den Abend zuhause verbringen sollte. »Margrit, was hältst du von einem Spieleabend? Papa kommt heute pünktlich nach Hause. Wir könnten uns Pizza zum Abendessen bestellen.«
Erstaunt sah Margrit ihre Mutter an. Pizza zum Abendessen, das war ja mal ganz was Neues. Normalerweise wurde im Hause Brinkmann sehr auf eine gesunde Ernährung geachtet. Und Spieleabende mit Mama und Papa waren in letzter Zeit auch eher selten, seit Martin Brinkmann sich erfolgreich mit einer Anwaltskanzlei selbstständig gemacht hatte. Begeistert nickte sie. Ein solches Angebot durfte man einfach nicht ausschlagen. Wer wusste schon, wann sich eine solche Gelegenheit mal wieder bieten würde. Ihre schlechte Stimmung war schlagartig verflogen.
In diesem Moment hörte sie das Brummen von Toms Motorrad in der Einfahrt. Rasch schüttelte sie die roten Locken und setzte ihr süßestes Lächeln auf. Gitta war das nicht entgangen, aber sie machte sich darüber keine Gedanken. Ihr Tom war eben ein toller Kerl, kein Wunder also, dass auch Margrit ihn so sehr mochte. Sie flog förmlich zur Haustür, um ihren Verlobten hereinzubitten. Der hatte ein buntes Paket in der Hand.
»Ich dachte mir, ich müsste deine kleine Schwester etwas aufheitern. Sie ist ja bestimmt nicht begeistert darüber, dass wir sie heute nicht wie versprochen mitnehmen können, oder?«
Gitta nickte. Tom überreichte Margrit das Paket, die sich sofort mit einer stürmischen Umarmung bedankte. Als sie die Verpackung öffnete, ließ sie einen Jubelschrei los.
»Mama, schau, eine Sonderausgabe von „Monopoly“. Das können wir nachher gleich spielen.«
Frau Brinkmann lächelte und gab Tom die Hand. Der Junge verstand es doch immer wieder, sich in das Herz von Margrit zu schleichen. Schelmisch lächelte sie.
»Wenn das so weitergeht, wirst du dir ernsthaft Gedanken machen müssen, welche unserer Töchter du heiraten willst.«
Tom lachte und nahm Gitta in den Arm.
»Keine Chance für Margrit. Der Termin für den Sommer steht schließlich schon fest. Aber es macht mir eben auch ein wenig Spaß, wie meine kleine Schwägerin mich anhimmelt. Sie wird darüber hinwegkommen, wenn ihr selbst der erste Junge den Kopf verdreht.« Dann verließen Gitta und Tom gemeinsam das Haus am Stadtwald in Werne, nicht ahnend, dass in wenigen Stunden nichts mehr so sein sollte, wie es bisher war.
Die Tür öffnete sich und ein junger Mann betrat das STILVOLL. Margrit atmete erleichtert auf. Das war Peter, Peter Hartmann. Und er sah genauso aus wie auf dem Foto, das er ihr gemailt hatte. Es war also alles in Ordnung und Sonjas Bedenken war total überflüssig gewesen. Peter sprach kurz mit der Bedienung, die mit der Hand nach oben zur Galerie wies und mit den Schultern zuckte. Margrit stand kurz auf und winkte ihm zu, dann ließ sie sich wieder auf das weiche Lederpolster fallen. Irgendwie hatte sie weiche Knie vor Aufregung. Lächelnd kam Peter Hartmann die Treppe herauf und ging auf Margrit zu. Er reichte ihr die Hand.
»Hallo, Margrit. Ich bin Peter. Schön, dass wir uns jetzt mal persönlich kennenlernen. Ein nettes Lokal hast du ausgesucht, das hat wirklich Stil.«
Beide mussten sofort lachen, weil diese Beschreibung so genau zum Namen des STILVOLL passte. Und obwohl Margrit nervös und unsicher war, entwickelte sich bald eine muntere Unterhaltung. Peter interessierte sich für alles, was mit Margrits alltäglichem Leben zusammenhing. Dann fragte er plötzlich:
»Was haben eigentlich deine Eltern dazu gesagt, dass du dich mit einem wildfremden Mann treffen willst?«
Margrit runzelte die Stirn. Wieso musste er sie jetzt ausgerechnet an ihre Eltern erinnern?
»Sie wissen es nicht. Sie hätten mir das nie erlaubt. Ich habe gesagt, ich gehe mit einer Freundin Eis essen. Auf endlose Diskussionen hatte ich nämlich keinen Bock.«
Die Antwort war fast ein wenig heftig ausgefallen und Peter Hartmann entschloss sich, dieses Thema auf sich beruhen zu lassen. Er fand das junge Mädchen sehr anziehend und sie schien es nicht zu stören, dass er älter war als sie. Allerdings war er sich auch darüber klar, dass er sehr behutsam mit ihr umgehen musste, um sie nicht zu verschrecken. Sein Gefühl sagte ihm, dass Margrit kaum Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht hatte. Kaum vorstellbar, sie war so süß und sah unglaublich gut aus. Die Zeit verging wie im Flug. Nach zwei Stunden sah Margrit erschrocken zur Uhr.
»Ich muss los, ich muss um sieben Uhr zuhause sein.«
Dieser Satz klang so bedauernd, dass Peter Hartmann ganz automatisch ihre Hand nahm. Margrit hielt den Atem an. Diese Berührung durchfuhr sie wie ein Stromschlag. Konnte es denn sein, dass sie sich auf den ersten Blick in diesen Mann verliebt hatte? Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie wagte es nicht, Peter anzusehen. Sie hatte Angst, dass er die Unsicherheit in ihren Augen sehen würde und sie wollte sich auf gar keinen Fall lächerlich machen.
»Dann bezahle ich jetzt und bringe dich nach Hause.«
»Auf gar keinen Fall. Ich habe dir doch gesagt, meine Eltern wissen nicht, dass ich mich mit dir treffe. Ich gehe allein.«
Peter Hartmann nickte bedauernd, aber zustimmend.
»In Ordnung, Margrit. Ich will ja nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst.«
Er nahm einen Zettel aus der Tasche und schrieb ein paar Ziffern darauf.
»Hier, das ist meine Handynummer. Ruf mich doch einfach an, dann können wir uns verabreden, wenn du Zeit hast. Oder magst du mich nicht wiedersehen?«
Treuherzig lächelte er sie an und hob fragend die Augenbrauen. Margrit errötete.
»Doch, sicher will ich das. Es ist nur etwas schwierig für mich, zuhause wegzukommen. Aber ich rufe dich an, ganz bestimmt. Willst du meine Nummer auch?«
Peter lachte. Wie herrlich naiv sie doch war. Aber er nickte und notierte sich die Nummer. Nun konnte auch er Margrit erreichen und musste nichts dem Zufall überlassen. Vor der Tür des STILVOLL verabschiedeten sich die beiden jungen Leute voneinander. Wie selbstverständlich umarmte Peter das junge Mädchen und küsste sie auf beide Wangen. Margrit hielt vor Aufregung den Atem an. Diese Umarmung war viel zu kurz, aber sie löste sich trotzdem rasch und sah sich um. Nicht auszudenken, wenn sie jemand gesehen hätte und ihren Eltern erzählen würde, Margrit hätte in den Armen eines Mannes vor dem STILVOLL gestanden. Aber da war niemand, den sie kannte und so lächelte sie Peter noch einmal an.
»Danke für den schönen Nachmittag. Bis bald.«
Dann drehte sie sich um und ging rasch über den Marktplatz davon. Sie fühlte sich beschwingt und seltsam glücklich. Auf dem Nachhauseweg sah sie in ihren Taschenspiegel. Hoffentlich fragte Mama nicht, wie sie den Nachmittag verbracht hatte. Margrit hasste es, ihre Mutter anzulügen, aber um Peter wiederzusehen, war ihr jede Lüge der Welt recht.
Gitta und Tom tanzten ausgelassen bis weit nach Mitternacht. Irgendwann sah Tom zur Uhr.»Liebes, es ist fast halb zwei und wir haben noch eine gute halbe Stunde Fahrt vor uns. Meinst du nicht, wir sollten langsam aufbrechen?«
Gitta und Tom tanzten ausgelassen bis weit nach Mitternacht. Irgendwann sah Tom zur Uhr.
»Liebes, es ist fast halb zwei und wir haben noch eine gute halbe Stunde Fahrt vor uns. Meinst du nicht, wir sollten langsam aufbrechen?«
Gitta seufzte. Tom war immer so vernünftig, aber genau dafür liebte sie ihn ja auch so sehr. Sie nickte und nahm ihre Tasche. Arm in Arm verließen beide die immer noch gut gefüllte Disco und gingen zum Parkplatz. Der Parkplatz lag fast im Dunklen und Tom achtete sorgfältig darauf, dass Gitta nicht stolperte. Er war völlig ahnungslos, als ihn plötzlich ein Schlag von hinten auf den Kopf traf. Er ging zu Boden und auch Gitta strauchelte. Sie wollte sich gerade umdrehen und nachschauen, was passiert war, als sie von hinten gepackt wurde. Panik machte sich in der jungen Frau breit, aber bevor sie um Hilfe schreien konnte, wurde ihr eine Hand brutal auf den Mund gepresst. Eine leise Stimme zischte:
»Kein Wort oder dein Freund ist sofort tot. Kapiert?«
Gitta nickte und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie sah Tom am Boden liegen, offensichtlich bewusstlos. Der Mann hinter ihr trat nach Tom, aber der rührte sich nicht.
»Bitte«, flehte Gitta unter Tränen, «bitte lassen Sie uns doch in Ruhe. Nehmen Sie unser Geld oder was immer Sie wollen und lassen Sie uns gehen. Bitte.«
Der Mann lachte hässlich.
»Klar lasse ich euch gehen, wenn ich mir genommen habe, was ich will. Aber erstmal müssen wir von diesem Parkplatz verschwinden. Du gehst jetzt brav mit mir zu meinem Auto. Dann hole ich deinen Freund und wir suchen uns ein stilleres Fleckchen. Wenn du auch nur einen Ton von dir gibst oder versuchst, wegzurennen, überlebt ihr das beide nicht. Klar?«
Wieder nickte Gitta. Sie konnte vor Angst kaum gehen und der Mann schleifte sie bis zu einem silbernen Kombi. Brutal stieß er sie auf die Rückbank und schloss die Autotür. Er ging zurück, hob Tom auf, als würde er gar nichts wiegen und kam wieder auf sie zu. In diesem Moment konnte Gitta sein Gesicht sehen, ein Gesicht, dass sie nie in ihrem Leben je wieder vergessen würde. Der Mann öffnete die Heckklappe und warf Tom auf die Ladefläche. Gitta drehte sich um und sah, wie er Tom an Händen und Füßen mit Klebeband fesselte und ihm mit Klebeband auch den Mund verschloss. Dann setzte er sich hinters Steuer und fuhr los. In Gittas Kopf arbeitete es fieberhaft. Was mochte der Kerl wollen? Wenn es ihm nur ums Geld gegangen wäre, hätte er sie doch auf dem Parkplatz ausrauben und verschwinden können. Wieso brachte er sie jetzt aus der Stadt? Als sie ihn danach fragte, lachte er gemein: »Na, meine Kleine, das wirst du schon noch früh genug erfahren. Warte einfach ab, diese Nacht wirst du nie wieder vergessen.«
Margrit hatte Glück. Als sie nach Hause kam, war es ganz ruhig im Hause Brinkmann. Es war kurz nach 18 Uhr, Sportschauzeit. Ihr Vater ließ es sich nicht nehmen, samstags die Bundesliga im Fernsehen zu schauen. Wahrscheinlich war ihre Mutter im Garten und Gitta, na, die verließ ihr Zimmer ja sowieso nur zu den Mahlzeiten. Wie immer umfing Margrit sofort die düstere Atmosphäre, in der sie nun seit fünf Jahren tagein, tagaus lebte. Dann schüttelte sie energisch ihre roten Locken. Keine trüben Gedanken an diesem wundervollen Tag. Sie lief die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer und ließ sich auf das Bett fallen. Verträumt blickte sie zur Decke und ließ den Nachmittag Revue passieren. Jedes Wort, das Peter zu ihr gesagt hatte, war ihr im Gedächtnis geblieben. Sie griff nach ihrem Tagebuch, um alles aufzuschreiben, damit sie sich immer daran erinnern konnte, als ihr Handy einen kurzen Ton von sich gab. Sie hatte eine SMS erhalten. Auf dem Display stand:
»Es war ein wundervoller Nachmittag mit dir, den wir hoffentlich bald wiederholen können. Du bist genauso, wie ich dich mir vorgestellt habe. Ich vermisse dich schon jetzt. Dein Peter.«
Margrit drückte das Handy an ihr Herz. Konnte es wirklich wahr sein? Hatte Peter sich vielleicht auch in sie verliebt? Sie stand auf und ging zum Spiegel. Ihre Augen hatten einen seltsamen Glanz und die Wangen waren gerötet. Obwohl Margrit nie zufrieden mit ihrem Äußeren war, heute fand sie sich schön. Und das hatte sie nur Peter zu verdanken. Sie antwortete sofort auf die SMS.
»Du fehlst mir auch. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Deine Margrit.«
Als sie die SMS verschickt hatte, klingelte das Handy plötzlich. Sonja war dran.
»Nun erzähl schon, wie war es?«
»Sonja, es war unglaublich. Glaubst du, dass man sich auf den ersten Blick in jemanden verlieben kann? Ich denke nämlich, genau das ist mir heute Nachmittag passiert. Und Peter scheint es genauso zu gehen. Er hat mir gerade eine so liebe SMS geschickt. Ach, Sonja, ich bin so glücklich.«
»Na, da habe ich mir ja wohl ganz umsonst Sorgen gemacht. Du musst mir den Typen aber unbedingt vorstellen. Ich will schließlich wissen, mit wem meine beste Freundin sich einlässt.«
Margrit lachte. Das war typisch Sonja.
»Ja, mache ich. Im Augenblick weiß ich ja selbst noch nicht einmal, wann und wie ich ihn wiedersehen kann. Du weißt, wie schwierig es für mich ist, allein aus dem Haus zu kommen.«
»Ach, da wird uns schon etwas einfallen. Lass mich mal machen. Ich ruf dich morgen noch mal an, wir kriegen gerade Besuch.«
Margrit hatte sich wieder auf ihr Bett gelegt. Sonja war wirklich toll, sie würde ihr helfen. Und Sonja hatte immer so gute Ideen. Dem Wiedersehen mit Peter stand also eigentlich nichts im Weg. Margrit war nach langer Zeit endlich einmal rundherum glücklich. Und dieses Gefühl wollte sie festhalten.
Peter Hartmann lehnte sich im Sessel zurück. Nur langsam wich der Druck, der ihn seit Wochen umgab. Er hatte getan, was notwendig war. Jetzt, wo er den Kontakt zu Margrit Brinkmann hergestellt hatte, fühlte er sich wesentlich ruhiger. Sie war entzückend, aber sehr naiv und er hatte nicht erwartet, dass es so leicht sein würde, sie zu beeindrucken. Sie würde bereitwillig wieder mit ihm ausgehen, dessen war er sich sicher. Sein Herz klopfte etwas schneller, wenn er an sie dachte. Diese zauberhaften Grübchen, wenn sie lachte und die strahlenden grünen Augen hatten ihn bezaubert. Aber sie kennenzulernen war ja nur der erste Schritt. Er hatte noch viel Arbeit vor sich, bis er seine Aufgabe erledigt hätte. Gut, dass ihn hier in Werne niemand kannte. Überhaupt hatte Peter Hartmann weder Freunde noch Menschen, die ihm nahestanden. Den Kontakt zur eigenen Familie hatte er schon vor Jahren vollständig aufgegeben. Das Gefühl der sozialen Isolation hatte ihn nie belastet. Er musste eine Aufgabe erfüllen und weder familiäre noch freundschaftliche oder materielle Bindungen durften ihn von diesem Ziel abbringen. Seine Aufgabe hieß Margrit Brinkmann und er freute sich darauf. Er fühlte sich lebendig in ihrer Gegenwart, lebendiger, als in all den Jahren zuvor. Offensichtlich störte es sie nicht, dass er wesentlich älter war. Das war auch gut so. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie den Kontakt aufgrund des Altersunterschiedes gleich wieder abgebrochen hätte. Er musste ihr nämlich nahe sein, so nahe, wie möglich.
Peter Hartmann ging mit gesenktem Kopf über den Gefängnishof. Er fühlte sich vollkommen leer und sehr einsam. Vier Jahre hatte er bekommen, vier Jahre, die er nun in völliger Isolation von der Außenwelt in diesem Gefängnis zubringen musste. Peter Hartmann war ein sehr sensibler Mensch und er war intelligent. Wie es trotzdem passiert war, dass er sich an einem Überfall beteiligt hatte, konnte er heute gar nicht mehr verstehen. Und ausgerechnet ihn hatten sie geschnappt. Vorsichtig sah er sich um. Die anderen Gefängnisinsassen betrachteten ihn mit unverhohlener Neugier. Sie tuschelten und lachten, sodass Peter den Kopf noch tiefer zwischen seine Schultern zog. Bisher hatte er jeden direkten Kontakt vermeiden können, aber damit war ab morgen Schluss. Dann begann nämlich seine Arbeit in der Gefängniswerkstatt, acht Stunden jeden Tag. Er hatte Angst davor, wollte lieber für sich bleiben, aber das war natürlich nicht möglich.
Als sich am nächsten Morgen um 7.30 Uhr die Zellentüren in Trakt B öffneten, trat Peter Hartmann etwas unsicher auf den Flur.
»Hartmann!«
Es war der Schließer, der ihn anbrüllte. Peter Hartmann zuckte zusammen.
»Was stehen Sie da so rum? Machen Sie, dass Sie in die Werkstatt kommen. Arbeitsbeginn ist in fünf Minuten.«
Peter drehte sich um und ging hastig den Gang hinunter. Eine Treppe tiefer, vor der Werkstatt, erwarteten ihn etwa 15 andere Insassen. Alle standen zusammen und redeten, bis auf einen Mann. Interessiert schaute Hartmann ihn an. Wieso mochte er so allein da stehen? Und wieso kümmerten die anderen sich nicht um ihn? Und jetzt, gerade als die Werkstatttür aufging, bildeten sie sogar eine Gasse und ließen ihm den Vortritt. Hartmann seufzte. So viel Respekt, wie man sich den hier drin wohl verdiente? Dass man ihn bei Weitem nicht so respektierte, spürte er schon Sekunden später. Er wurde angerempelt, hin und her geschubst und ausgelacht.
»Na, neu hier? Dann musst du erst mal die Hackordnung lernen. Also drängel dich hier nicht vor. Erst geht Kopirowski, dann gehen wir und dann kannst du gehen. Verstanden?«
Peter Hartmann nickte. Er wollte keinen Ärger. Vorsichtig schaute er nach dem Einzelgänger. Kopirowski hieß der also. Irgendwie faszinierte ihn dieser Mann, der allerdings ein so finsteres Gesicht zog, dass es sicher besser war, ihn in Ruhe zu lassen. Aber ausgerechnet dieser Kopirowski wurde von dem Aufsichtsbeamten dazu verdonnert, Peter Hartmann die Werkstatt zu zeigen und ihm seine Arbeit zuzuweisen. Vorsichtig ging Peter auf ihn zu. Walter Kopirowski musterte den Neuen von oben bis unten. Schmales Bürschchen, dachte er. Irgendwie gehört der gar nicht hierhin. Aber wer weiß, vielleicht ist das genau der Typ, auf den ich hier schon so lange gewartet habe. Dann nahm er Hartmann mit an eine Werkbank, erklärte ihm die Werkzeuge und deutete auf das seitlich vom Tisch gelagerte Holz.
»Am Besten, du schneidest die Formteile aus. Wie man die zusammensetzt, zeige ich dir später. Wieso bist du eigentlich hier und für wie lange?«
»Raubüberfall, vier Jahre habe ich gekriegt.«
»Vier Jahre. Lange Zeit, mein Junge, besonders, wenn man hier drin keine Freunde hat. Halt dich mal an mich, wir kriegen das schon hin.«
Die anderen Mitgefangenen sahen erstaunt, wie sich Kopirowski mit dem Neuen unterhielt. Das war ungewöhnlich. Kopirowski hatte mit jedem von ihnen noch nicht mehr als zehn Worte gewechselt, seit er hier war. Aber er hatte sich mit wenigen Handgriffen Respekt verschafft und dem stechenden Blick seiner stahlblauen Augen wich jeder hier aus, jeder, bis auf den Neuen. Der schien förmlich an Kopirowskis Lippen zu hängen und hörte überaus interessiert zu, was Kopirowski ihm auch immer erzählte.
So ging es ungefähr eine Woche lang. Walter Kopirowski war inzwischen davon überzeugt, dass Peter Hartmann genau der Mann war, den er unbedingt brauchte. Er hatte lebenslänglich aufgebrummt bekommen, mit anschließender Sicherungsverwahrung. Das bedeutete, Walter Kopirowski würde das Gefängnis zu seinen Lebzeiten nicht mehr verlassen. Aber er hatte da draußen noch etwas zu erledigen, etwas, für das er Hilfe brauchte. Und Peter Hartmann, dessen war sich Kopirowski sicher, war genau der Mann, der ihm helfen konnte und auch helfen würde. Allerdings würde der Junge davon rein gar nichts mitbekommen. Ein Jahr lang hatte er gesucht und mit diesem Neuzugang hatte er endlich das gefunden, was er brauchte. Einen Menschen, den er sich vollständig unterwerfen konnte. Je eher er damit anfing, umso rascher würden sich erste Erfolge zeigen.
Schon eine geraume Zeit hatte sich Walter Kopirowski mit der hypnotischen Programmierung anderer Menschen befasst. Es gab einige Fälle in Europa, die in den 30er und 40er Jahren Aufsehen erregt hatten. Kopirowski war fasziniert von der Möglichkeit, andere Menschen auch über große Entfernungen hinweg so beeinflussen zu können, dass sie genau taten, was man selbst wollte. Er war beseelt von dem Gedanken nach Rache an denjenigen, die ihn hinter Gitter gebracht hatten. Und wenn er selbst diese Rache nicht ausführen konnte, musste es jemand anderes für ihn tun. Jemand wie Peter Hartmann, den er von diesem Tag an genau darauf vorbereiten würde.
Als Kommissar Jens Wischkamp in den Garten trat, schaute seine Frau Silvie ihn erstaunt an.
»Was machst du denn schon hier, ich dachte, du hast Wochenenddienst?«
Sie küsste ihn zärtlich und lächelte.
»Ich kann ja wieder gehen, wenn ich dich störe«, antwortete Jens lachend, aber Silvie schüttelte energisch den Kopf.
.»Du störst mich überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ich wollte heute Nachmittag ein wenig durch die Stadt bummeln und ein paar Fotos machen. Das Licht ist so wunderbar, das muss ich einfach ausnutzen. Und du kommst mit!«
Jens nickte lächelnd. Er freute sich auf einen freien Nachmittag und die Straßencafés waren bei diesem schönen Wetter sicher alle geöffnet. Schon kurze Zeit später gingen die beiden die Fußgängerzone hinauf zum Marktplatz. Silvie knipste einfach drauflos, sortieren konnte sie die Aufnahmen später.
»Lass uns im Rathauscafé einen Kaffee trinken und ein wenig die Leute beobachten«, schlug Jens gut gelaunt vor. Als sie den Marktplatz betraten, stutzte er jedoch. Gerade verließ ein Pärchen das STILVOLL und Jens war sich sicher, das Mädchen zu kennen. Irgendetwas aber störte ihn an dem an sich so harmonischen Bild. Leise bat er Silvie, ein paar Fotos von den Beiden zu schießen. Stirnrunzelnd sah sie ihn an.
»Du weißt schon, dass ich das so einfach gar nicht darf, oder? Was ist denn mit den Beiden?«
Jens zuckte mit den Schultern.
»Weiß ich noch nicht. Wir werden die Fotos wieder löschen, wenn ich sie mir angesehen habe, versprochen.«
Also knipste Silvie das junge rothaarige Mädchen und den deutlich älteren Mann, wie sie sich voneinander verabschiedeten. Jeder der beiden ging in eine andere Richtung davon. Wenig später saßen sie und Jens gemeinsam an einem der Tische unter den Rathausarkaden.
»Zeig mir mal die Fotos. Ich weiß nicht warum, aber ich habe so ein komisches Gefühl. Ich kenne das Mädchen«, murmelte er nachdenklich. Dann betrachtete er das junge Gesicht auf dem Display von Silvies Kamera. Und plötzlich war ihm klar, wen er da vor sich hatte.
»Ich erinnere mich, aber es ist nicht sie, die ich kenne, sondern ihre ältere Schwester. Tragischer Fall, damals.«
Fragend sah Silvie ihn an. Sie hatten beide inzwischen einen Milchkaffee vor sich stehen.