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Seitenzahl: 389
Ullstein-Bücher
Eine Sammlung zeitgenössischer Romane
Ullstein & Co / Berlin und Wien
Komödiantinnen
Roman vonWalter Bloem
Ullstein & Co / Berlin und Wien
Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung vorbehalten. — Copyright 1914 by Ullstein & Co
Aus tiefdunklem Jugendschlummer fuhr Hans Thumser mit einem Ruck in die Höhe. Teufel auch! das nenn' ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem Korpsdiener hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein? Uhr steht natürlich — Skandal! schon wieder mal das Aufziehen verbummelt! Und schon ganz hell! Jeden Augenblick muß der Wagen kommen mit Pilgram, dem gestrengen Senior, der so verdammt ungemütlich werden kann ... und mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten eines wohllöblichen C. C. der Franconia ... und dann warten lassen?! Herrgottsakra — rin' in die Buchsen —!
Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel in das schummrige Studentenbudchen. Matt flimmerten an den Wänden die dreifarbenen Wappenschilde, die gekreuzten Schläger, die langsam einstaubenden Mützen und Bänder — weit matter noch vom Schreibtisch her die Goldtitel des corpus iuris, der spärlichen Lehrbücher der Rechtswissenschaft ... Und weiß blinkte nun der gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten: Hals und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt, und dann wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune Haar mit schäumendem Bay-Rum durch, um alle septischen Stoffe zu entfernen und der Säuberungsarbeit des Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben. Herr Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster ad interim war der S. C. Fechter ... gegen den konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht an. Da galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren, solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade der Borgmann sein mußte, der einen unterkriegte — dieser üble Geselle, den man nicht riechen konnte, mit seinem suffisanten Gesicht, seinem fatzkigen Lächeln, den frostigen Froschaugen — dem mal einen Streicher über die Ohrfeigenvisage ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn — aber nee, nich dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte!
So — die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick in den Spiegel — ade, du große schmale Nase, vielleicht auf Nimmerwiedersehen — na, und auf Stirn und Wange ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen den alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer, und nun statt der grünen Mütze für heute den weichen Knockabout auf die Stirn gestülpt — denn in jener Stadt, in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete Körperschaft, welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit tödlichen Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt hatte — im guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft und Polizei nach der Mahnung jenes schönen Würzburger Studentenverses tätig:
Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt in die Tasche — erst draußen im braunen Herbstwalde bei Knauthain würde es sich um die junge Brust schlingen dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt Mutter Ach, stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem keuschen Witwenbette ...
Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür zu der Nachbarbude vorüberschritt — der Nachbarbude, die dies Semester zu Mutter Achs bittrem Schmerz unvermietet geblieben war — da stolperte er plötzlich über etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel — also doch noch Nachbarschaft gekommen —?!
Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur ... ein Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ... mit knisternder Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll irritierender Duft entstieg ihm ... Hans Thumser trat mit seinem seltsamen Fund an die Mattscheibe der Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ, und betrachtete mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen stieg empor aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ... Mit einem tiefen Seufzer, von fröstelnden Schauern überrieselt setzte der Jüngling seine Beute sacht und herzklopfend wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden barg. Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers nun gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu seiner ganzen Länge aufgerichtet ... in unzähmbarer Neugierde tastete er nach seiner Zündholzschachtel und las im zuckenden Flackerlichte die lithographischen Schriftzüge:
Asta Thöny Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin
Was ... war das?!
Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten, die sich wohl bisweilen im Quartier latin einnisteten, um Jugendglut und Monatswechsel der akademischen Bürger zu brandschatzen ... und nun —?!
Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten Komödiantengilde, deren Siegeszug dem staunenden Deutschland, nein der Kulturwelt erst erschlossen die ganze Herrlichkeit des klassischen deutschen, des klassischen germanischen Dramas —?!
Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem Platze des zweiten Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert, abgebettelt dem gütigen Vater, der so schlecht nein sagen konnte — sah sich sitzen als ahnungsvollen Primaner und lauschen — lauschen in Verzückung und Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da alle seine Träume die Erfüllung fanden ... und sah sich am andern Tage auf der Schulbank, stumm und stumpf bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren Zorn und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten, was mit dem Primus vorgegangen ... was ihm die flinke Zunge, das unfehlbare Gedächtnis lähmte ...
Und nun —?! Eine Meiningerin — und seine Zimmernachbarin?
Was konnte das bedeuten —?
Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären — gastierten drüben im Carolatheater —?
Und davon — davon hatte man nichts erfahren?
Freilich — unmöglich wär's nicht — wie man so dahinlebte, das Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ...
Asta Thöny? Nein — den Namen Asta Thöny verzeichnete seine Erinnerung nicht — das mußte wohl ein neues Mitglied sein, schlank und ... duftig wie die Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht, ein paar Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer des Korridors ...
Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes Mädchenbild tauchte glorienumstrahlt aus der Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner, die kaum Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ...
Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im finstern Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in einen faltenstarren rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben die weiße Gestalt vom riesigen Fenster, durch dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt, die Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen, so angstumschauert hatte das junge Weib seine schmachtende Weise vor sich hingelallt:
O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige Weckerin, Vorschule des Lebens, Tummelplatz der werdenden, in Werdeschauern erzitternden Seele —!
Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im finstern Korridor — aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen glitzern von Asta Thönys Lackschuhchen — —?!
Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als hätte er aus weiter Ferne, ungeduldig, seinen Namen rufen gehört ...
Und richtig:
»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du jetzt nicht kommst, fahren wir ohne Dich!«
Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ... die Stunde des Burschenkampfes ...
Hans Thumser fuhr auf, reckte sich — kein Abschiedsblick mehr zurück zu den Lichtpünktchen drunten, dem weißen Kärtchen an der Pforte des Geheimnisses — fort — hinaus —!
Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige Haustürschlüssel knarrte im Schloß — und draußen auf der morgenstillen, morgenleeren Sophienstraße empfing ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf —
»Na, Du Schlafratze — endlich ausgepennt?« zürnte der Senior vom Rücksitz aus. Und:
»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch unter den Lebenden begrüßen zu dürfen!« schnarrte der Major von Gorczynski, dessen kantige Reiterfigur sich noch immer nicht in das elegante Zivil des Prinzenbegleiters eingewöhnen mochte.
Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant der Franken, zog nur stumm und mit indignierter Miene den steifen grauen Filzhut. Also man ließ warten! na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert der Betrieb nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ...
Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem Korpsbruder auf dem Rücksitz, dem Prinzen gegenüber, der ihn durch sein Monokel mit kühl-durchdringendem Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich nicht gelang.
»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!« sagte Valentin Pilgram mit korrektem Gesicht. Er war auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen prinzlichen Mitkneipanten im Korps durch das Semester schleppen zu müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht warm wurde unter den Kommilitonen, deren Mütze er wie zum Maskenscherz die wenigen Male aufsetzte, wenn er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen Veranstaltungen des Korps teilnahm ... indessen das gehörte nun einmal dazu ...
»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die Gäule loofen, sonst fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen sind!«
»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja gar nich passier'n — de Allererschten wär'n mer sein am Platze, da genn' Se sich drauf verlass'n!« ...
Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden auf eine lange Kolonne riesiger Möbeltransportwagen — drüben waren sie aufgefahren vor der nüchternen Häuserfront, deren Erdgeschoß die Einfahrt zum Carolatheater durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber sammelte sich eine Rotte herkulischer Blusenmänner und begann sie zu entladen. Was kam da alles zum Vorschein!
Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte, war der riesige Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender Stellung, in der Stellung des Todes ausgestopft ... Unter derben Späßen hoben die untersetzten Arbeiter die Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in die Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen des Wagens erfaßte der Blick der Enteilenden noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits ausgepackt an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und noch allerhand Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung: einen prunkvollen gotischen Altar, einen mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene Blätter im Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten — und endlich ein kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf den ersten Blick wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal des Grafen Terzky gestanden, der Zecherrausch der Friedländischen Generale hatte es umbrandet — damals, im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern den »Wallenstein« erlebte ...
»Die reine Trödelbude —« sagte Valentin Pilgram, der Senior, und zog die Winkel des schmalen Mundes verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft, sich Abend für Abend die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen hinzustellen und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...«
Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich plötzlich belebt. »Sie vergessen, lieber Pilgram, daß diese Fuchtelei mit Armen und Beinen doch manchmal ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese Arme und Beine — halten Sie sich mal die Ohren zu, Herr Major! — na also, wenn sie schlank, jung und ... feminini generi sind ...«
»— generis, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher zu bemerken.
»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major — als Sprachlehrer sind Sie nicht engagiert — Sie haben nur für meine Moral zu sorgen — wenn's auch schwer fällt ... aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser — was bedeutet denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?«
»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen ein vierwöchiges Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major.
»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie Cerberus?«
»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für ernste Kunst interessieren ...«
»Ah bah — Theater ist Theater ... und wo kann der Thronfolger eines — na sagen wir mal eines Staates von mäßigem Umfang — wo kann ich mich besser auf meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater? Mein Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich später ... gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen haben werde ...«
»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der Major ein.
»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der Erbprinz, »— können Sie meinetwillen nach Dillingen berichten! Und das bitte ich mir aus, Herr Major: bei den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die vorderste Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ... gern aus der nächsten Nähe an! Lieber Pilgram — zur Eröffnungsvorstellung sind Sie mein Gast, nicht wahr?«
»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram und sann nach. »Das wäre, soviel ich weiß, am nächsten Mittwoch ... da haben wir allerdings offizielle Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte eigentlich nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs Theater übrig ...«
»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser — wie wär's mit Ihnen?«
Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück, halb in Befangenheit ... er hatte sich bereits schmerzlich bewegt ausgerechnet, daß es gegen Ende des Monats gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten würde ... also das fiel ja geradezu vom Himmel ... andererseits ... mit diesem blasierten, schwunglosen Menschen zusammen — wie würde er's ertragen, in seine Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig lauschen zu müssen?
Dennoch ... besser als gar nichts ...
»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...«
»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?«
»Jungfrau von Orleans ...«
»Ausgerechnet —!« schnarrte der Prinz — »Schiller —! Gymnasium in Wiesbaden — verfluchten Angedenkens! Schiller! Was ist Schiller? Eine Serie von Aufsatzthemen —!!«
»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen mich ins Theater, wenn Schiller gespielt wird! 'Die tragische Schuld der Maria Stuart' — 'Wallenstein, ein tragischer Charakter' — 'Die poetische Gerechtigkeit in der Braut von Messina' — pfui Deuwel! um junge Hunde zu kriegen —!«
Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte Hans Thumser. Warum trage ich die gleiche Mütze und die gleichen Farben wie sie? Kein Takt des Herzschlags, kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ...
Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die nüchternen, morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt, dem fernen Kampfplatz entgegen, wo Hans wieder einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen Korpsbrüdern, seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit seinem Herzblut besiegeln sollte ...
»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda Buchner die Jungfrau spielt ...«
»Jucunda Buchner? Ist — wer?«
»Nun, der jugendliche Stern der Meininger — einfach Sehenswürdigkeit — gewissermaßen das deutsche Mädchen in Reinkultur —«
»Schön — also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber halten Sie mich fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...«
»Buchner?« sagte der Senior, »hm — da fällt mir was ein. Mein Hauswirt, der Kanzleirat Buchner, der hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne Tochter beim Theater ... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde ihre Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig spielen sollte, hätte die Alte erzählt — ich hab' aber nicht recht hingehört — was geht mich das Theater an ...«
»Herrgott, Mensch — das Theater!« platzte Thumser heraus. — »Hier handelt sich's doch um die Meininger! Hast Du davon überhaupt eine Ahnung, was dieses — dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der Klassiker, ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung all der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im Drama unserer Großen schlummern — bist Du denn solch ein Barbar, solch ein Banause, daß Du von all dem nichts weißt — daß all das für Dich nicht existiert?«
»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte der Erste. »Ne wirklich, teures Thumserherz, das alles ist mir schnuppe, schnupper, am schnuppesten! Ich halt's mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins Theater gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht in Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein Endchen weiter kommen wird im Leben, eh er Schluß macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose Müßiggänger — unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere — Männer, verstehste?!«
»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz. »Sie sind zum Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber Pilgram ...«
»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch — Landtagsabgeordnete geben! Ne, lieber Thumser, lauf Du nur immer ins Theater und laß Dir — wie hast Du so schön gesagt? — laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten entbinden — mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und Windscheids Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!«
»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner unter einem Dache zu wohnen ...« seufzte Erbprinz Heribert.
»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung von mir, Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich ohne Interesse für mich. Mit einer Komödiantin möcht' ich noch nicht mal eine Poussage haben ... man kann ja doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt und einen innerlich auslacht ...«
»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!« schmunzelte der Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu wirklich nischt — det haben Sie noch nich gehabt!«
»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte der Major und blinzelte seinem jungen Herrn unter grimmig zusammengezogenen Brauen verschmitzt zu. Und Erzieher und Zögling wechselten ein Augurnlächeln ...
Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die beiderseits die Connewitzer Landstraße umsäumten. Und bald wurde die Bebauung offener, ländlicher. Dann bog die Fahrt nach rechts, und in die braunen Schattenhaine des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde überschritten auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die gelben Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von den ersten Herbstregen, welche die vergangene Woche gebracht. Aber heut rang sich aus Nebelbrodem die verschlafene Morgensonne mühsam durch, umgoldete das rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden, verhieß einen lustig blanken Fechtertag, den letzten unter freiem Himmel für dies Jahr: der nächste würde schon im benachbarten Halle, richtiger im Vorort Cröllwitz, steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber den reckenhaften Trümmern des Giebichenstein.
Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen Thema des Theaters zum minder kontroversenreichen des nahen Bestimmtages hinüber. Daß der Fuchsmajor der Franken heute seine todsichern Senge bekommen würde, galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu verlieren brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser auf seine notorische vielgeprüfte Quartblöße oder auf Borgmanns allgefürchteten Durchzieher abgestochen werden würde — von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im Gesicht bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen und Mundwinkel mit einem linealgraden breiten Strich verband ...
Aber während man also über Hans Thumsers nächste Zukunft verhandelte, das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte sachverständig abtaxierte — — war Hans Thumsers Inneres auf geheimnisvolle Weise in Gleichgültigkeit und Fernsein untergetaucht.
Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen ... Jucunda Buchner ... das war wie eine leuchtende, gnadenvolle Nähe, wie ein offener Himmel, aus dem eine lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch unnahbar, bekannt und doch undurchdringlich ...
Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien, welche das Heiligenbild umschauerten, kicherte und schwirrte es hinein wie Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati:
Asta Thöny ... Asta Thöny ...
Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten auf und nieder, aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte Knöchel guckten — was darüber war, verschwand in rosigen Schleiern, aus denen es lachte und girrte wie Taubengurren:
Asta Thöny ... Asta Thöny ...
Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge Senior des Korps Franconia. Als läge die Regierungslast eines Millionenstaates auf seinen Schultern, so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig, das muntre, taprige, ewig korkende Füchslein, wohl heute endlich eine einwandfreie Mensur liefern würde und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden könnte? Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf, dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen war — ob er wohl sein unstätes Musikantentemperament heute so weit im Zaume halten würde, um sich herausreißen zu können?
Und was sollte der C. C. auf den merkwürdig schnoddrigen Brief unseres lieben Kartellkorps Pomerania zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch besser war, das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein frisch-fröhliches P. P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen Alten Herren sagen?
Und ob man den Rektor zur C. C.-Antrittskneipe einladen mußte — anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender Prinz und Thronfolger zu den Konkneipanten des Korps zählte?
Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler war am Ende auch nicht viel schlimmer dran als der Erste Franconiae-Leipzig ...
Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft ... noch war der alte Herr ja ... hm, hm! — erheblich rüstig ... und seine Altersgenossen, die Leutnants des Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der Distanz ein wenig gemildert hatte — na ja, dann hatten sie ihm gelegentlich etwas gesteckt von all dem Gemunkel, das in der Residenzstadt umlief über die zarten Beziehungen des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des Hoftheaters ...
Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte Vorbild seines gnädigsten Vaters zum Muster nehmen, wenn er einmal als Heribert XIV. das Thrönchen seiner Väter bestiegen haben würde.
Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und würde auch da auf seine Rechnung zu kommen wissen ...
Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll ... und Jungfrau von Orleans ... Himmel, es gibt allerhand Arten von Jungfrauen ...
Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen Buchenwald ein wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem Dämmerfrieden umwirkt, heut umbraust von einem bunten, farbentollen Leben. Die wilden Völkerschaften, die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang und schäumenden Kannen, die Franken und die Neo-Borussen, die Westfalen und Meißner und Thüringer, hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur allwöchentlichen feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener Stimmung. Die alten Bekannten in den verschiedenen Korps begrüßten sich hinüber und herüber, mit besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder gar mehrmals die Klinge gekreuzt hatten — wesentlich zeremonieller schon jene, denen heute der blutige Gang bevorstand. Alles war in Wagen gekommen, die nun als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren, stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen, wenn die weithin aufgestellten Schnarrposten die Annäherung von Pickelhauben und grünen Waffenröcken melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen, das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche; nun wurden schleunigst Mützen und Bänder angelegt: gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch, der dreifarben-gestreiften Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste Paar bereit: Pilgram, Franconiae Erster, gegen den stämmigen Zweitchargierten der Meißner.
Und nun — heiho! Gellende Kommandorufe hinein in die lauschende Stille, widerhallend an den schlanken, weißleuchtenden Buchenstämmen ... und nun: klirr, klirr der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die über Stulp und Schädel krachten — heiho! uralte Reckenlust am tollen Raufen, am harten Widereinander der jugendlichen Kräfte ...
Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend hüben über die schmalen, herrischen Züge des Frankenseniors, drüben über die feisten Speckbacken des Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos, hageldichte Hiebe, Stahl auf Stahl ...
Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine Abfuhr weg, eine lange Quart, fast unpariert, überm linken Ohr. Und in die blutbeschmierte Bandage mußte nun Hans Thumser hinein.
Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber, schon faßten die Gegner einander fest ins Auge, schon flogen die Klingen in die Auslage, kauerten die Sekundanten wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer Seiten — da entstand eine Bewegung unter der lauschenden Korona. Auf dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes Klackern wie von Huftritten, und auf dem schmalen Pfade, der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten zwei Reiter heran — aber nicht die Grünröcke der Gendarmen — Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans Thumser sah, wie alle Köpfe sich wandten — doch ihm blieb nicht Zeit — nur einen grauen Schleier sah er wehen von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah etwas Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden Waldgrund — und dann —
»Auf die Mensur — bindet die Klingen!«
»Gebunden sind —!«
»Los!«
Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein sich krampfend — und ein Wille nur — sich wehren — und treffen! treffen —!!
»Halt!«
»Halt —!!«
Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote Bäche rinnend über weiße Stirnen, zernarbte Wangen ...
Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in Hansens klaffende Stirnwunde tupft, vernimmt des Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte der Umstehenden die Worte:
»Das ist die Buchner!«
Und eine andere Stimme fragt:
»Und der Herr — wer ist das?«
»Das ist Franz Burg — der Heldenspieler ...«
Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt; er lächelt:
»Weiter!«
»Herr Unparteiischer — von unserer Seite kann's weitergehen ...«
Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch nicht so recht im Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch schließlich wird dran glauben müssen: auch Herr Borgmann hat sein Teil bekommen, scheint's!
Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm Eichbaum und spähen neugierig hinüber ... Ja, das glaub' ich, ihr Komödianten — so etwas bekommt ihr nicht alle Tage zu sehen — hier schwingt man die Waffe nicht nur zum Spiel — und was hier Stirn und Wange färbt, ist wirkliches Blut, nicht Schminke ...
Und dies schmale, feine junge Gesichtchen — das ist ... Thekla — das ist Johanna von Arc?!
Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter:
»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!«
»Silentium — Pause ex!«
»Auf die Mensur — bindet die Klingen!«
Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele. Er fühlt, wie alle Sehnen sich straffen.
»Gebunden sind!«
»Los!«
Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb — und:
»Halt!«
»Halt!«
»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und einen Blutigen zu konstatieren!« ruft Valentin Pilgram, Hansens Sekundant, wilden Triumph in der Stimme — sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr:
»Du — das ist Rest!!«
»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser ganz verdutzt.
»Ne — da drüben — bei Borgmann! Teufel auch, Thumser — der Durchzieher — so was darfste öfters schlagen!«
Was? Er — Hans Thumser — er hätte den S. C. Fechter — —? Donnerwetter!
An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt, aus dem zwei feine warme Strahlen spritzten —
»'raus!« sagt drüben der Paukarzt.
»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!«
Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der Paukarzt von hinten mit kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte und ihn herumdrehte. Was half's?
»Silentium — Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach anderthalb Minuten!«
Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche seiner Korpsbrüder losmachte und Ausschau hielt — war das Reiterpaar verschwunden.
»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft, lieber Thumser, meine vollste Bewunderung! Haben Sie übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen tadelloses Mädchen ...«
Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte die Ungeduld ihn krank, verdarb ihm jede Minute mit zehrender Sehnsucht. So war es schon immer gewesen, solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten Wochen vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische waren ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... Und als er später begonnen hatte zu empfinden, daß nur die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in denen er mit einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen Stunden lag, nur wie ein unermeßlich langer, böser, dumpfer Traum und Alpdruck gewesen ...
Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch die Tage dahin, die Hansens Mensurtriumph noch von der Eröffnungsvorstellung des Meininger Gastspiels schieden. Er saß inmitten seiner Korpsbrüder, schwatzte und trank mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit der gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften Spott der Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, daß er den S. C. Fechter hinabgetan habe ... Er ließ auf offizieller Kneipe seine Füchse in die Kanne steigen, daß sie quietschten, und schrieb morgens bei Windscheid und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten, krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen los — — und all dies Tun blieb seiner Seele so fern, so fern ...
Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem Verstande sei — ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes Wahngebilde sei, das ihn so grenzenlos hungern ließ nach — nach einem Nichts, einem Spiel, dem flüchtigen Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann wieder genoß er mit einer phantastischen Seligkeit sein Wesen, das ihn vom wachen Leben hinweg so unwiderstehlich in luftige Spukwelten drängte ...
Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am Fenster seiner Bude verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen Front jener Gebäude an der langweiligen Sophienstraße, hinter denen der kahle Bau des Carolatheaters sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein lebhaftes Kommen und Gehen. Früh um neun begannen die Proben, natürlich nur für die neuangeworbene Statisterie, denn für die Solo-Rollen »standen« selbstverständlich alle Stücke des Repertoires. Aber die stattliche Schar des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue zusammengebracht und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, füllte die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... braunäugige Töchter kleiner Bürgersleute, stellungslose Ladenfräulein und Kommis, Stadtreisende und Konservatoristen — vor allem aber Studenten, Studenten von jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht mitrechnete, und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl der akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, auch »Bummler« genannt, obwohl sie natürlich weit weniger bummelten als die jungen Herren in Mützen und Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit ins Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder »Friedländischer Soldat« oder als römischer Quirite sich an den großen, festlichen Unternehmungen zu beteiligen, die da drüben vorbereitet wurden ... Und eines Tages hatte er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der Bitte:
»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze Menge Studenten in den Vorstellungen der Meininger als Statisten mit — hättest Du was dagegen, wenn ich da ebenfalls mittäte?«
Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als bäte dieser um Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.
»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert wohl nach innen, he?!«
Also damit war es nichts ... und so mußte man sich denn begnügen, von weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren Kommilitonen, frei des korpsstudentischen Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit glühenden Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des Theaters entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, in denen sie nach eigener Wahl und entsprechend der Rücksicht auf die Dimensionen ihres Monatswechsels verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen auch die Helden und Heldinnen aus der Probe — natürlich mußten ja auch sie wenigstens die Massenszenen immer wieder aufs neue mit probieren ...
Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans Thumser innerhalb seiner bescheidenen vier Wände, die glücklicherweise so dünn waren, daß sie manch ein Geräusch durchließen von jener geheimnisvoll lockenden Welt, die hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen, das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen und halblautes Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben zum Besuch kamen ... Aber noch immer war's ihm nicht geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam Kirchlein auf: droben war ein feierliches gotisches Heiligtum, in dem Jucunda Buchners weiße Gestalt auf ernstem Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker umspielt ... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich eine dämmrige romanische Krypta, in der tolle Orgien verbotener, heidnischer Kulte nächtens gefeiert wurden vor einem üppig lächelnden Götzenbild — seine Züge waren nicht genau erkennbar — verschwammen im hüpfenden Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...
Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des tatenlosen Zuwartens. Es mußte etwas geschehen, die dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu verkürzen. Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen — und eine Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht anders vorstellen als jung und verwöhnt, nicht wahr? — daß man solch einem Liebling der Götter und Menschen nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine Hände waren leer ... der Monatswechsel heidt — knapp noch das Nötigste für die letzten Tage vorhanden ...
Auf einmal — welch glorreicher Gedanke! Hänschen Thumser konnte ja etwas, das am Ende doch nur die wenigsten unter Asta Thönys Verehrern — gewiß hatte sie unzählige — reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants und — na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies — aber gewiß konnten solche Leute meistens eines nicht, oder wenigstens nicht so gut wie Hänschen Thumser — nämlich dichten!
Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle Blumenarrangements zu kaufen — aber wunderschöne Verse kann er machen! — Also los! ein Blatt aus dem Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!
lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der Haken.
So — immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, dann weiß Asta auch gleich, wie sie mit mir dran ist — was sie von mir zu erwarten hat — und was nicht ...
(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)
Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:
Nun ein zweites offenes Bekenntnis:
Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:
Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' ich dir gar nicht zugetraut — aber freilich: auf dem Papier, und mit einer schützenden Scheidewand dazwischen — — Aug' in Auge würde das Debüt wohl etwas kümmerlicher ausfallen, wie? — Aber weiter, weiter — einen Reim auf »elegant« — pah, Spielerei!
— nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:
Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am besten, wenn man ganz geradezu ausspricht, was wirklich passiert ist:
Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach was, mehr wie hauen kann sie schließlich nicht!
— ne, das ist ein falscher Ton — von der Sorte sind wir doch nicht! —
Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das schnurrig, wenn's auf einmal so in einem zu dichten anfängt! Ein ganz andrer Mensch kommt da plötzlich zum Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...
Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene Beamtensohn, der geschniegelte, korrekte Korpsstudent, der künftige Richter des Volkes?!
Ach, und es gefiel ihm so gut — daß er's ganz hastig und mit fliegenden Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte ... dann stülpte er die grüne Mütze auf, lauschte, ob seine Nachbarin daheim sei ... und da er keinerlei Geräusch hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum Nebenstübchen auf und sah —
Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in weißem Unterrock und weißem Frisiermantel schlafend aufs Sofa hingestreckt ... ein schwarzes Wuschelköpfchen ... und über den Rand des Sofas guckten ein paar schwarzbestrumpfte Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen baumelten ...
Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag mit seinen unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, die Tür mit hartem Knall zugeklinkt — und flog nun die Stufen hinunter — die grüne Mütze war ihm in den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und draußen zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch die Luft, daß es nur so pfiff.
Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war auch in Valentin Pilgrams korrekter Chargiertenseele Revolution ausgebrochen, und auch die um einer Zimmernachbarschaft willen. Aber diese Revolution war doch von einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, die der Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat Buchner abgab: er kündige hiermit seine Bude und werde sofort ein andres Quartier suchen, wenn man den ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht abzustellen die Mittel finden würde ...
Und das war so gekommen:
Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war bereits zwei Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur nach Leipzig zurückgekehrt, weil er als Königlich sächsischer Untertan sein Referendarexamen in Sachsen ablegen mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden und hatte die erste Charge interimistisch übernommen, weil kein anderer geeigneter Korpsbursch für diesen Posten da war, und der Vertreter des Marburger Kartellkorps, der die erste Charge später definitiv bekommen sollte, doch erst einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte. Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite Charge. Und so teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen Gewissenhaftigkeit seine Zeit zwischen dem Korps und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der letzteren war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden durch ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer in seinen Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, in der, wie er gelegentlich mit halbem Ohr vernommen hatte, die Tochter seiner Hauswirte, die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda Buchner, für die Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert worden war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit war da plötzlich eine sonore Altstimme hineingeklungen, zunächst in sachtem, murmelndem Repetieren, dann aber in selbstvergessen wildem Ausbruch:
Da war der reckenhafte candidatus iuris mit einem Wutknurren aufgefahren ... aber umsonst: die sonore Stimme drinnen grollte weiter — sänftigte sich nun zu herzbeklommener Klage:
Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, daß sich vor Wut und Entsetzen dem Rechtskandidaten die Gedärme umkehrten.
Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln von den Füßen und pfefferte ihn krachend gegen die Nachbartür.
Einen Augenblick verblüffte Stille — doch o weh — sein Warnsignal war offenbar nicht verstanden worden — schon nach wenigen Sekunden setzte das Gegroll und Gewimmer drüben wieder ein:
»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene Sinde nich! Haben Sie ruhig Mitleid mit mir und halten Sie den Mund — ich muß lernen!!«
Einen Augenblick war drüben alles stumm — todesstarres Schweigen. Und plötzlich fauchte ... ja fauchte, anders war's nicht zu nennen — keifte — ja man muß schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:
»So? Lernen müssen Sie? Na — ich auch ... stopfen Sie sich Watte in die Ohren!« Und noch dreimal mächtiger und markerschütternder grollte nun der majestätische Alt:
Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den Klingelzug, daß es schrill durch den Flur gellte, und als die stattliche runde Frau Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer schoß, schnauzte er sie an:
»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? Wenn das nicht in fünf Sekunden aufhört, zieh' ich!«
»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete sich die behäbige Dame im geblümten Morgenrock sehr energisch. »Se wissen, scheint's, nich so recht, mit wäm Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich meine Tochter, die große Jucunda Buchner von die Meininger — die Jungfrau von Orleans!«
»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' — hier verlang' ich meine Ruhe, versteh'n Se mich, Frau Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude gefälligst zum Studieren gemietet — versteh'n Se? Wir sind Se hier nich im Theater!!«
»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich mal kenn'n bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener gottbegnadeten Ginstlerin, wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«
»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, dann hört die Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. »Ich muß ooch studieren, aber mei Studium is wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen Schkandal macht, wo die Mauern von Jericho von könnten einstürzen, dann vermieten Se gefälligst keene Buden an Studenten nich!«
»Herr Pilgram — wenn ich gewußt hätte, was für e ungeschliffener Mensch Sie sein kenn' — nie wär'n Se mir ieber de Schwell gekomm', weeß Knebbchen!«
»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem Nebenzimmer, »rege Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! Der Herr mag ruhig ziehen — ich komme Deiner Haushaltungskasse für den Schaden auf!«
Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben bis unten mit einem Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n Se's, Herr Pilgram! So benimmt sich e wahrhaft vornähmer Mensch! — Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab Sie nich das mindeste dagegen — lieber heut als morgen! Adieu, Herr Pilgram — ziehen Se glicklich!«
Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde einer Königin. Die Schleppe des geblümten, nicht mehr ganz saubern Morgenrockes waberte hinter ihr drein.
Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an seinem einsamen Studiertisch. Es war doch höchst fatal, nun so mitten in den Examensvorbereitungen das lieb gewordene Quartier gegen ein noch unbekanntes eintauschen zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen weniger hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das machte diese verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen vor diesem fahlen Gespenst, das am Ende der Studentenzeit hockte mit stieren Augen und sich ganz, ganz unmerklich immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge fertiggebracht hatte: das Schreckbild der drei Männer hinterm grünen Tisch hatte es erreicht: Valentin Pilgram hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so unmöglich, der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er sich ja doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es waren doch weibliche Wesen, beinahe Damen, mit denen er so gröblich umgesprungen ... zwar ein Kanzleirat war ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber wenn auch ... wenn auch ... Valentin Pilgram, ich glaube, dein Benehmen war durchaus nicht auf der Höhe der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ...
Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da drinnen wieder der dunkeltönige Alt mit dröhnendem Jambenschwall einsetzen würde ... er wartete mit Spannung und Verlangen ... das Fortdauern der Störung wäre wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner Hitze gewesen ... aber er wartete umsonst. Alles blieb still darinnen. Er hätt' also triumphieren, den ertrotzten Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen können ... aber seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht wiederkommen ...
Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa einen »Moralischen«?
Franconias Senior stand langsam auf und räumte Drogenweltlehrbuch und Repetitorien zusammen. Er stülpte die grüne Mütze auf den strohblonden Schädel und stieg sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die »Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des »Cafébaums« winkte über dem in Sandstein gemeißelten Amor, der schon seit Jahrhunderten einem gleichfalls sandsteinernen Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte, winkte Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich geöffneten Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde sich bauschend, das grün-gold-rote Banner ... aber der Erste stieg nicht hinauf. Er ging auch nicht auf Wohnungsuche: er tat etwas, was er im Leben noch nicht getan hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen Nichtinkorporierten, um ein Studentenbillett zur morgigen Eröffnungsvorstellung der Meininger — zur »Jungfrau von Orleans« ...
Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, in dessen erstem Stockwerk der studiosus iuris et cameralium Heribert Hans Herwig Erbprinz von Nassau-Dillingen mit seinem militärischen Begleiter und seiner Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront inne hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte in Livree mit drei prächtigen Gäulen. Sie plauderten mit dem galonierten Portier.
»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? Ihr seid ja Frühuffsteher geworden uff eemal?«
»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich nassauischen Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat widder mal e funkelnagelneies Veegelche g'fange ...«
»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das nur zu bedeiten hat? Das is doch ganz unnatierlich fier so 'n jungen Herrn — Morgen fier Morgen drei Stunden durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die Ohr'n zu schlagen ...«
»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« meinte der jüngere Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's uffg'schnappt, wie se beim Reite g'sproche habe. Er und der Major!«
»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« kicherte der Portier und schob sich von seiner Treppe hinunter auf den Bürgersteig.
»Nu — e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte der Reitknecht. »Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: Lasse mer heemreite, hat der Major g'sagt — heit morge finne mer se doch nit — hat er g'sagt!«
»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind se wärklich alle zwee heemgeritten?«
»Ja — ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«
»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. »Gewiß ganz was Vornähmes — sonst tät der gnädige Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann machen um so e Weibsbild!«
»Pscht — die Herre komme!«
Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung seiner einundzwanzig Jahre in den Sattel — der Major mit der wohlkonservierten, doch immerhin etwas gewollteren Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden Großstadt hinab, am massiven Bau und klobigen Rundturm der Pleißenburg vorüber bis zu den Anlagen jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.
»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen die Maske eines schmachtenden Toggenburg steht — Sie würden sich selber erheblich auslachen!« meinte Herr von Gorczynski.
»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major — lassen Sie mir schon den kindlichen Spaß!«
»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht — Sie benehmen sich wie ein Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und nicht wie ein Fürst ... So'n Theatermädel ... der schickt man doch einfach ein Rosenarrangement und seine Visitenkarte — und das Weitere findet sich!«
Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog ein flüchtiges Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner ginge das auch so, dann pfiff' ich auf das ganze Abenteuer. Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die Weiber, die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte einmal ein Erlebnis haben — ein richtiggehendes Erlebnis!«
»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu einem richtiggehenden Korbe bringen!« meinte der Major. »Ein Mann, der schmachtet, hat von vornherein alle Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von Nassau-Dillingen wäre!«
»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz von Nassau-Dillingen sein! Versteh'n Sie mich, Herr Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf das Prinzenkonto geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? Sehen Sie — und das möcht' ich mal ausprobieren! Ich hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt! Und gestern hab' ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit einem Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: Herbert von Dillingen, studiosus iuris et cameralium!«
»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem besten Wege, einen hahnebüchenen Unsinn aufzustecken! Aber was ich Ihnen sage: Ich habe Ihnen viel durch die Finger gesehen — aus unerschütterlicher Liebe zu Ihnen —«
»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und weil Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt, daß Sie aller Voraussicht nach unter Bernhard dem Sechzehnten noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, will's Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten haben werden!«