Kompass politischer Kultur - Ulrich Müller - E-Book

Kompass politischer Kultur E-Book

Ulrich Müller

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Beschreibung

Unsere demokratische Ordnung gerät zunehmend unter Druck, der gesellschaftliche Zusammenhalt ist in Gefahr. Um diese Herausforderungen zu bewältigen, ist ein umfassender Konsens nötig, der sich vor allem darauf konzentriert, wie Politik gemacht wird; und nicht: welche. Die gemeinsame Klammer sind Ganzheitlichkeit, Rationalität, Ethik und praktische Verantwortlichkeit. Ulrich Müllers Buch richtet sich an alle, die Politik verstehen, erklären, betreiben oder sie verbessern wollen. Es bietet einen breiten Überblick über die verschiedensten Themen und ist insofern ein Kompass zur praktischen Politik, wie sie sich auf den unterschiedlichen Ebenen der Republik vollzieht.

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Seitenzahl: 928

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Ulrich Müller

Kompass politischer Kultur

Verantwortlich handeln in verwirrenden Zeiten

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder GmbH

Umschlagmotiv: © bgblue, GettyImages

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara

ISBN (Print): 978-3-451-39791-2

ISBN (EPUB): 978-3-451-83443-1

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen.

J. W. Goethe

Inhalt

Vorwort

A. Zum Einstieg in Problem und Lösung

I. Verwirrende Zeiten?

II. Politische Kultur – was ist das?

B. Ganzheitlichkeit – Breite versus Tiefe

I. Worum es geht

II. Breite versus Tiefe – die Schlüsselfrage für Systeme und Strukturen

III. Detaillierungstrends

Selbstverwirklichung als weiterer Kontrapunkt

IV. Schattenseiten der Detaillierung

V. Die politische Dimension: Es geht nicht ohne das Ganze

VI. Die Wirtschaft hat’s kapiert

VII. Was tun? Den Blick fürs Ganze mit der Detailkompetenz verbinden

Des Lebens ganze Fülle erfahren ...

C. Ein Blick auf drei Schlüsselbegriffe

I. Das Ganze

Ganzheitlichkeit – ein Begriff, der seine Tücken hat

Politik – ganzheitlich, aber nicht total

Konservativ, professionell und progressiv!

Gesinnung oder Verantwortung?

Verdrängt „Fast Food“ unsere „Esskultur“?

II. Die Mitte

III. Das rechte Maß

Weniger ist mehr

D. Wenn Ganzheitlichkeit, Mitte und Maß verloren gehen

I. Absinkendes Diskussionsniveau

II. Verminderte Lernfähigkeit

III. Verlust an Bindungen

E. Abgegriffen, aber wahr: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit

I. Ist die Realität nur ein Konstrukt?

II. Was hilft beim Sehen: Nähe oder Distanz?

III. Folgen haben Ursachen – Ursachen haben Folgen

IV. Was wir über unser Nichtwissen wissen sollten

V. Nichtwissen als Geschenk, das man sich gönnen sollte

VI. Der Beipackzettel als Navigator für die Wirklichkeit?

VII. Realpolitik – der Pakt mit dem Teufel

Von der Diagnose zur Therapie

F. Entscheidungsmethoden und Entscheidungsstrukturen als Beiträge zu politischer Kultur

I. Tatendrang oder Gedankenblässe?

II. Politische Verantwortung – ein schillernder Begriff

III. Entscheiden – was tun, wenn es ernst wird?

Jetzt ist’s eh’ wurscht

IV. Das Proportionalitätsprinzip

V. Bedingte und unbedingte Entscheidungen

VI. Prioritär – keine (!) zeitliche Dimension

VII. „Alle Tiere sind gleich...

... aber einige sind gleicher.“

VIII. Pragmatismus versus Populismus

IX. Pi mal Daumen – deutlich besser als nichts

X. Es gibt nichts Gutes – außer man tut es

XI. Wie gewonnen, so zerronnen

G. Kommunikative Aspekte als Beiträge zu politischer Kultur

I. Rolle – Symbol – Person

Politik als darstellende Kunst

II. Bekanntheit ist kein Selbstzweck

III. Der Ton macht die Musik

Sprache – mehr als Worte

IV. In der Kontaktzone zwischen Bürger und Politik

V. Irgendwas mit Medien

VI. Auf der Suche nach positiver Resonanz

VII. Beifall von der falschen Seite?

VIII. Multitasking: Selbstbetrug und Betrug

IX. Mit Kommunikation in die Sackgasse

X. Weder Klarheit noch Wahrheit

H. Ratio und Qualität statt Show und Emotionen

I. In Metaebenen vorstoßen

Think big!

II. Ein Gespür für Relationen entwickeln

Gewichtung ist gewichtig

Wesentliches über das Wesentliche

III. Alles ist eine Frage des Maßes

IV. Auf den Inhalt kommt es an

Der Unfehlbarkeitsirrtum als Preis des Erfolges

Ziele haben und Lösungen suchen

V. Die Führungsfiguren nicht überschätzen

Inhalte personifizieren, aber nicht ersetzen

BSW – die Probe aufs Exempel

VI. Eine Mahnung an alle „Fortschrittlichen“

VII. Die Apokalypse als ultimative Rechtfertigung

VIII. Mehrheit und Wahrheit

I. Die handfesten Konsequenzen

I. Akteure politisch-gesellschaftlicher Debatten

II. Ein nachdrückliches Plädoyer für die repräsentative Demokratie

Sonderrechte für Kampagnen?

III. Im Zweifel für die Freiheit

Nur Ziele, nicht Wege

Gut und Böse als Freiheitsproblem

Vom Wert ungeschriebener Regeln

Macht, Freiheit und Verantwortung

IV. Sehen und Handeln mit Vernunft

Praktische Vernunft – vernünftige Praxis

V. Einige erprobte Regeln politischer Klugheit

Methoden dosieren und variieren

Und was, wenn nicht?

Wo Licht ist, ist auch Schatten

Reflexe – gut für Boxer, schlecht für Politiker

VI. Policy-making: Ein Griff in den Instrumentenkasten

Priorität

Kreativität

Proportionalität

Seriosität

VII. König der Spiele – Spiel der Könige

VIII. Die tragische Rolle des kleinen David

IX. Es ist nichts so erfolgreich wie der Erfolg

X. Paradox: Probleme sind Erfolgsgaranten

XI. Unreflektierte „Erfolgsfaktoren“

XII. Was lehren uns unverdiente Erfolge?

XIII. Erfolg – alles nur relativ?

XIV. Erfolge und Glücksgefühle sind nicht dasselbe

J. Politikern die Chance geben, verantwortlich zu handeln und erfolgreich zu sein

I. Der Wahlerfolg – die Krone der Schöpfung?

II. Die Logik der Macht

K. Mit Hölderlin in die Zukunft

I. Am Lagerfeuer auf Schloss Bellevue

II. Die praktische Vernunft als 17. Bundesland

III. Die Folgenverfolgung befolgen

IV. Politische Kultur implementieren

Exkurs 1: Das Internet als die fünfte Gewalt im Staat

Exkurs 2: Vertrauen – die Währung der Wissensgesellschaft

... oder ist Skepsis die erste Bürgerpflicht?

Exkurs 3: Politik als Quadratur des Kreises

Differenzierungen zum Begriff der Politik

Die fast unmögliche Kunst des Möglichen

Exkurs 4: Das Thema aus anderen Blickwinkeln

Exkurs 5: Politik ist allzuständig, nicht aber die Politiker

Exkurs 6: Über den Wert der Retrospektive

Exkurs 7: Krisenmanagement oder Krisenvorsorge

Exkurs 8: Politische Stimmungen – kollektive Emotionen

The German Angst

Erwartungsmanagement – ein Spiel mit dem Feuer

Exkurs 9: Zwanzig Wahrnehmungsfehler – wie man (sich) doch täuschen kann

Exkurs 10: Entscheidungsstrukturen als Grundlagen des Handelns

I. Merci, Monsieur Montesquieu

II. Institutionelles – aus dem Möbelhaus der Politik

III. Parteien – hässliche Entlein oder stolze Schwäne?

IV. Manifeste Macht – latente Schwäche

V. Wie „beautiful“ ist „small“?

VI. Wenn Standards sich verselbständigen

VII. Ordnungspolitik – ein Kompass zur Kursbestimmung

Bittere und süße Medizin

Kleine Schwester – große Schwester ... und Dornröschen?

VIII. Vom politischen Handwerk

IX. Staat oder privat?

X. Die Qual der Wahl

Exkurs 11: Verantwortlich vereinfachen – so schwierig

Exkurs 12: Omerta, Wurstküche oder „gläserne Produktion“: Über die Grenzen der Transparenz

Exkurs 13: Lokal denken – global handeln

Exkurs 14: Weder blenden noch sich blenden lassen

Exkurs 15: Ad rem – zur Sache kommen, aber zu welcher eigentlich?

Wer etwas sagt – was jemand sagt

Was ist wessen Sache?

Unser aller Sache

Exkurs 16: Hundert Jahre nach Max Weber: Politik als Beruf

I. Der Kampf ums Dasein – und was es dazu braucht

II. Die Guten ins Töpfchen...

III. Weder privilegiert noch vogelfrei

IV. ‚A Hund isser scho‘

V. Ich mach’ mal den Palmer

VI. Politik als Egotrip

VII. Was uns das Hebelgesetz in der Politik lehrt

VIII. Loyalität oder Qualität?

IX. Respice finem – auch in eigener Sache

Exkurs 17: Facetten eines Kulturkampfes

I. Bürgerliches und linkes Politikverständnis

II. Der Kampf um die Sprache

III. Über Diskriminierung, Diversität und Diskreditierung

IV. Religion und Kirche

V. Radikales Ausradieren?

VI. Zusammenhalt predigen und zugleich spalten?

Exkurs 18: Vox populi – vox Dei – vox Rindvieh

Exkurs 19: Über die Grausamkeit von Bruderkriegen

Exkurs 20: Corona, die Ukraine, Israel und das politische Handwerk

Corona - (k)ein Beispiel für Ganzheitlichkeit?

Der Ukrainekrieg als objektive und subjektive Zeitenwende

Über den schwierigen Umgang mit Freunden

Exkurs 21: Verantwortlich handeln – das Notwendige tun

Germany first – ebenso richtig wie falsch

Staatsversagen als Lernprozess

Falscher Perfektionismus – ein toxischer Cocktail

Exkurs 22: Naive und berechtigte Erwartungen an die politische Kultur

I. Das freie Mandat

II. Das Lob der zentralen Lösung

III. Leere Versprechungen – eine schwer widerlegbare Vermutung

IV. Seid einig, einig, einig – die Harmonieerwartung

V. Die Arroganz der Macht, oder: Man muss auch gönnen können

VI. „Net schwätze – sondern schaffe“

VII. Politik mit sauberen Fingern

VIII. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass

IX. Erwartungen der Politiker gegenüber Medien und Bürgern

Nachhall: Prüfet alles, das Gute aber behaltet

Über den Autor

Vorwort

In einer Zeit von Short Messages, Twitter-Botschaften mit begrenzter Zeilenzahl und spartanisch kurzen E-Mails einen Wälzer des vorliegenden Umfangs zu schreiben und zu verlegen, könnte man vielleicht erklären, entschuldigen kann man das nicht. Die Rechtfertigung, die Legitimation gegenüber dem Leser, kann allein im Inhalt liegen, den Erkenntnissen, dem Nutzen, der Bereicherung und dem Unterhaltungswert für ihn. Leider lässt sich das erst am Ende einer längeren Lektüre überprüfen. Diese kann erleichtert werden durch punktuelles Lesen anhand eines differenzierten Inhaltsverzeichnisses. Sie kann aber auch belastet sein durch den Umstand, dass ein Buch über Politik bei allem Bemühen des Autors um Neutralität dessen Standort gelegentlich durchschimmern lässt und dass der Leser sich an den zu Veranschaulichungszwecken gewählten oft aktuellen Beispielen festbeißen könnte. Dazu lässt sich nur empfehlen, sich entweder über Inhaltliches zu freuen oder darüber hinwegzusehen oder sich gar (zur klammheimlichen Freude des Autors) überzeugen zu lassen. Aber eigentlich geht es gar nicht um Inhalte.

An wen richtet sich der nachstehende Text? Da es im Kern um ein „how to do“ der Politik geht, natürlich in erster Linie an alle, die in diesem Metier – von der kommunalen bis zur europäischen Ebene – tätig sind, über kurz oder lang dort tätig sein wollen, beruflich in Kontakt zur Politik stehen, oder einer politischen Partei angehören. Sodann an alle, die das politische Geschäft verstehen wollen – als junger Mensch, Lehrer oder Dozent, als jemand, der über Politik in den Medien berichtet, als Staatsbürger. In der Demokratie ist Politik nicht nur – in unterschiedlichem Maß – eine Sache aller, vielmehr setzt die politische Kultur, für die hier plädiert wird, bestimmte Einstellungen „der Politiker“ ebenso voraus, wie auch Medien und Bürgern eine wesentliche Rolle für das politische Klima zukommt, in dem verantwortliche Politik gedeiht oder verdirbt.

Im herkömmlichen Sprachgebrauch wird der Begriff „Politik“ auch in vielen anderen Gebieten verwendet: Unternehmenspolitik, Geschäftspolitik, Verbandspolitik, Politik des Hauses usw. Allgemeiner formuliert geht es dabei um Führung, Management und die Kultur eines Unternehmens, Verbandes usw. Auch wer vor solchen Aufgaben steht, kann mit einer gewissen Fähigkeit zu Anpassung und Transfer in seinen Lebensbereich hinein, aus vielen methodischen und prozeduralen Überlegungen dieses Textes Schlussfolgerungen für seine Rolle ableiten – bis hin dazu, dass auch für die persönliche Einstellung zu den Aufgaben, die das Leben so mit sich bringt, Rat bezogen werden kann.

Noch ein Wort zum Autor: Auch wenn der Text keinerlei autobiografische Elemente enthält, ist er doch Ergebnis jahrzehntelanger reflektierter politischer Praxis. Daraus ist eine Navigationskunde, ein Logbuch entstanden, das unabhängig davon, welchen Hafen man ansteuert, hilfreich sein will. Der Autor war dabei auf keinem fiktiven Geisterschiff unterwegs, er kennt seinen politischen Heimathafen sehr wohl. Gelegentlich merkt man das am vertrauten Kurs, gelegentlich werden aber auch die Untiefen besonders eindringlich beschrieben, in denen das Schulschiff unterwegs ist. Wie dem auch sei: Die Kunst, ein Schiff zu lenken, gilt unabhängig davon, welches sein Heimathafen ist. Es wäre gut, wenn alle Schiffe nach denselben Regeln unterwegs wären.

Drei Dinge sollte man über den Autor noch wissen, um die Entstehung des Textes nachvollziehen zu können: Erstens ist er – neben seiner Herkunft aus der politischen Praxis – geprägt durch sein rechtswissenschaftliches Studium. Das findet seinen Niederschlag in einer gewissen Denkmethodik. Zweitens sieht sich der Autor nicht in der Lage, Rechts- oder Politikwissenschaft zu betreiben, er wollte aufgrund seines Naturells vielmehr ernsthafte und schwierige Sachverhalte bildhaft, locker, unterhaltsam und essayistisch mit Redewendungen und Wortspielen vermitteln. Und drittens entstand das Manuskript im Ruhestand – mit Abstand, Überblick, Gelassenheit und Muße – und jenem Rest an Sendungsbewusstsein, das jeden politisch Tätigen mehr oder weniger einmal motiviert hat.

Doch die ganze Motivation würde nicht ausreichen, um von der Welt der Gedanken zu einem fertigen Buch zu kommen. Da bedarf es der Hilfe vieler, denen – Achtung: kurzer Wechsel von der dritten in die erste Person – ich danken möchte. An erster Stelle will ich Dr. Fritz Kemmler dankend erwähnen, der über den größten Teil der Entstehungszeit – immerhin drei Jahre – mit mir zusammen die Bändigung des Manuskripts, sprachliche Verbesserungen, unzählige Nachträge und Korrekturen auf sich genommen hat. Ohne ihn würde ich heute noch über Bergen von Papier brüten.

Sodann hatte ich zur eigenen Absicherung Kontakt zu einer Reihe von Professoren, von denen ich zwei hier namentlich erwähnen möchte: Den früheren Direktor des Deutschen Bundestags, Prof. Dr. Wolfgang Zeh, der mich darin bestärkte, so geschrieben zu haben, wie der Hase läuft. Und den Politik- und Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Frank Brettschneider, der mir manchen politologischen Rat gab, wie der Hase laufen sollte, und mich motivierte, dranzubleiben.

Dankbar bin ich Prof. Dr. Werner Weidenfeld und meinem Wegbegleiter aus früheren Tagen, OB Boris Palmer, für die freundlichen Worte auf der letzten Umschlagseite.

Dank schulde ich meiner Familie für Hilfe, Entbehrung und Geduld. Vor allem letztere wurde auf eine harte Probe gestellt. „Rom wurde auch nicht…“

Dankbar bin ich Dr. Rolf Mohr und Präsident Peter Schneider, Sparkassenverband Baden-Württemberg für die Sparkassen, dass sie dem Werk in Sorge um die politische Kultur unseres Landes finanziell auf die Sprünge geholfen haben.

Und ich danke dem Verlag Herder, vor allem Dr. Patrick Oelze, der das publizistisch-unternehmerische Risiko übernimmt, ein Manuskript zu veröffentlichen, es sich in gewisser Weise zu eigen zu machen, aber auch zu finanzieren und zu vertreiben, dessen verlegerischer Erfolg nicht so ohne weiteres auf Anhieb erkennbar ist. Sagen wir mal: Noch nicht.

Ravensburg im April 2024

Ulrich Müller

A Zum Einstieg in Problem und Lösung

I Verwirrende Zeiten?

Über seine Mitmenschen konnte man schon immer den Kopf schütteln. Insofern waren die Zeiten noch nie „normal“. Ist es da gerechtfertigt, gerade gegenwärtig von „verwirrenden Zeiten“ zu sprechen, und wenn ja: Was lehrt uns die Diagnose?

Vier ein Gemeinwesen belastende gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich in den letzten Jahren belegen:

dass ein Teil der Bevölkerung, irgendwo bei 10–20 Prozent, mit Informationen und Fakten schlicht nicht zu erreichen ist, und zwar bemerkenswerterweise nicht aus Mangel an Bildung, sondern wegen einer wohl nur psychologisch zu erklärenden Voreingenommenheit,

dass die Zustimmung zu unserer Staatsordnung (u. a. Demokratie) und unserer politischen Ordnung (u. a. Parteiensystem) abnimmt, vor allem im Osten Deutschlands, und dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung seine Unzufriedenheit nur in Protest, Protestparteien, Verweigerung (Wahlenthaltung) und Kritik ohne Alternative zum Ausdruck bringt,

dass das Aggressionspotential gegenüber Mitmenschen, vor allem solchen, die das Gemeinwesen ausmachen, seit zwei Jahrzehnten zunimmt und sich auf vielerlei Weise in unangemessenem Verhalten ausdrückt und dass die Neigung, seine Meinung aggressiv öffentlich darzutun bis hin zu Gewalttätigkeiten und Verfassungsfeindlichkeit, sich immer wieder Bahn bricht,

dass der Umgangston von Menschen untereinander, sei es verbal, im persönlichen Umgang, schriftlich oder vor allem virtuell (die berüchtigten „Shitstorms“) rauer und zügelloser wird.

Bei allen vier Entwicklungen fragt man sich: Warum? Warum ist in einer Zeit höherer Durchschnittsbildung, jederzeit verfügbarer Informationen und wachsenden Gewichts wissenschaftlicher Erkenntnis die Realitätsverweigerung mit einer trotzig-selbstbewussten Attitude so ausgeprägt, dass man auch von verwirrten Zeitgenossen sprechen könnte? Warum sind ausgerechnet die Helfer ihrer Mitmenschen, Polizei, Feuerwehr, Sanitäts- und ärztliches Personal Ziel besonderer Angriffe? Warum sind auch Kommunalpolitiker, Beamte, Lehrer zu Hassobjekten geworden? Und warum pflanzt sich die Entwicklung in einem hässlicher werdenden Umgangston fort – trotz aller wohlfeilen Appelle zu „Toleranz, Respekt und Offenheit“ gegenüber Andersdenkenden, aber auch gegenüber Verkäufern, Dienstleistern, Kollegen und Mitschülern? Anspruchshaltung, Mobbing, Ellbogenmentalität, Hass und Hetze nehmen zu. Vor allem ist in Umgang, Ton, Stil, Formen, Sprache eine Radikalisierung und Primitivisierung zu beklagen – jenseits aller (politischen) Inhalte. Der zunehmend schlimmer werdende Umgang miteinander (für den die Politik gerne als Sündenbock in Anspruch genommen wird) macht die Beteiligten zunehmend unglücklich. Seneca hat es trefflich formuliert: „Die Bosheit trinkt den größten Teil ihres Giftes selber.“ Nur schade, dass weise Gedanken gerade dann verkannt werden, wenn sie am nötigsten wären.

Besonders verwirrend und besorgniserregend ist die Distanzierung von unserer politischen Kultur, z. T. auch dem ökonomischen (soziale Marktwirtschaft) und gesellschaftlichen System (Bürgergesellschaft freier, verantwortlicher und aktiver Bürger). Diese Trends sind messbar (z. Zt. hat sich gut ein Drittel von unserer politischen Ordnung distanziert/absentiert), und sie sind selbstverständlich hochrelevant für die Zukunft unseres Landes.

Auch hier die Frage: Warum? Warum verliert eine Ordnung an Zustimmung, die in unserer Geschichte wie keine und im globalen Maßstab wie kaum eine andere nach Diktatur, Krieg, Niederlage, Vertreibung und Teilung so viel an Positivem für die Menschen erreicht hat? Warum verliert eine Ordnung ausgerechnet bei den Hauptbetroffenen in einem Erosionsprozess so sehr an Zustimmung, die eine kommunistische Diktatur abgelöst und die Menschen von ihren Folgen erlöst hat? Dabei ist es nicht tröstlich, sondern im Gegenteil Indiz für einen tiefgreifenden Wandel, wenn man feststellt, dass die eben beschriebenen Entwicklungen keine deutschen Besonderheiten sind, sondern praktisch alle westlichen Industrieländer erfasst haben.

Stand die bisherige Akzeptanz nur auf den tönernen Füßen einer guten wirtschaftlich-sozialen Entwicklung ohne eine Überzeugung, die auch in schlechten Zeiten tragfähig ist? Hat alle politische Aufklärung, alles Wirken von Bildung und Medien, alles an Angeboten, sich einzubringen, nicht verhindern können, dass bei einem beträchtlichen Teil des Publikums die mal nachvollziehbare, mal diffuse Kritik an der jeweils aktuellen Politik nicht einfach den Regierenden, sondern gleich unserer Verfasstheit in Staat und Gesellschaft ohne weitere Differenzierung entgegengehalten wird?

Warum funktioniert das Wechselspiel von Regierung und Opposition als einem System kommunizierender Röhren nicht mehr, sondern kommt es zum Exodus: Weder das eine noch das andere? „Exodus“, das kann man wörtlich nehmen, wenn man sich die Ergebnisse der Studie des Rheingold-Instituts anschaut, die nicht nur einen verbreiteten Rückzug ins Private als Flucht vor den schlechten Nachrichten feststellt, sondern auch eine Abschottung von 60 Prozent der Menschen gegenüber den Informationen über das Weltgeschehen. Die Mehrheit ist damit für vieles unerreichbar geworden. Und was soll man mit einer platten Pauschalkritik anfangen, die nur in ihren Unmutsäußerungen zu mobilisieren versteht, aber keine Alternative zu bieten hat, die sich nicht einmal in ihrer Kritik einig ist, sondern nur ein Sammelbecken derer ist, die wirklich Probleme haben, aber auch derer, die glauben, unter die Räder gekommen zu sein, und derer, die sich marginalisiert fühlen? Geht es dabei nur um eine enttäuschte Erwartung an staatliche und wirtschaftlich-soziale Funktionserfüllung oder vielleicht auch um das Gefühl, aus den politischen Debatten unserer Tage mit ihren Political-Correctness-Standards ausgegrenzt worden zu sein, weder zu verstehen noch verstanden zu werden?

Wie stabil ist unsere Ordnung, wenn sie zunehmend Belastungen und Herausforderungen unterliegt, aktuelle und strukturelle Krisen bewältigen muss, Belastungen auch auferlegen und verteilen muss und Fehler gemacht werden? Speziell in Ostdeutschland vollziehen sich viele dieser Erosionsprozesse sehr viel stärker als im Westen Deutschlands – erstaunlicherweise je weiter von 1990 entfernt desto mehr. Die soziale und ökonomische Angleichung hat keine mentale Assimilation zur Folge. Die Entwicklung – ausgedrückt z. B. im Protest und in Fruststimmen für die AfD – schadet der politischen Kultur, der Einheit unseres Landes und vor allem den deprimierten Menschen. Vielleicht lässt sich nachholen, was nach 1990 versäumt wurde: Ein breit angelegter demokratischer Bildungsprozess, der zwar überall nötig ist, aber nicht überall gleich dringlich. Nicht nur Menschen ist Resilienz zu wünschen, sondern auch dem System, das durch die Abwendung eines erheblichen Teils seiner Bürger an innerer Stabilität verliert – verwirrende Zeiten.

Wir sollten vermeiden, diese Beobachtungen so zu deuten, dass alle unsere Mitbürger oder auch nur ein großer Teil die genannten Fehlhaltungen an den Tag legen. Aber schon eine relevante Minderheit genügt, um sich Sorgen zu machen – wegen einer möglichen sich selbst tragenden Eskalation, wegen der Vergiftung des Klimas bis hin zur Unlösbarkeit von Sachfragen und einfach auch im Interesse derer, die unter solchem Fehlverhalten leiden.

Von Bedeutung sind diese immer wieder aufflackernden und sich vertiefenden Trends auch deshalb, weil der Einzelne, die Gesellschaft, Medien, Politik und Staat ihnen ratlos und erfolglos gegenüberstehen. Ist erst einmal weder klar noch verhaltensbestimmend und verbindlich, „was man tut und was man nicht tut“, wird es schwierig, solche ungeschriebenen und internalisierten Regeln zum gesellschaftlichen Zusammenleben aufzustellen und „einzupflanzen“. Wie kommt man wieder zu ihnen, sofern man sie verloren hat?

Auch ist festzuhalten, dass es sich hier eigentlich „nur“ um Stil-, Verfahrens-, Methoden- und Verhaltensfragen handelt. Aber was heißt schon „nur“? Ihr Gewicht kann man an der Eigendynamik und den Folgen für das Zusammenleben und die Politik erkennen. Und schon mit der bloßen Feststellung inhaltlicher Austauschbarkeit solcher Fehlhaltungen zeigt sich, dass auch deren Überwindung ganz wesentlich auf der Ebene von Stil-, Verfahrens-, Methoden- und Verhaltensfragen liegen muss, soll eine Korrektur gelingen. Natürlich haben Veränderungen auf diesem Feld dann auch inhaltliche Konsequenzen. Um beides – Verfahrensfragen wie inhaltliche Folgen – wird es in dieser Abhandlung gehen.

Welches sind die Fugen, aus denen die Welt geraten ist? Teils als Erklärung, teils als Ergänzung der vier oben genannten Phänomene muss man darüber hinaus konstatieren:

Wir befinden uns in einer (statistisch leicht belegbaren) Phase abnehmender religiöser und kirchlicher Bindung.

Auch die Bindungskraft der politischen Parteien lässt nach. Weltweit verlieren die Parteien in der politischen Mitte, werden die Ränder stärker und bleiben oft nur noch lagerübergreifende, durch Mehrheitsverhältnisse erzwungene und damit ungeliebte Koalitionen, was den Frust der Wähler weiter befördert.

Social Media spielen eine beschleunigende, den Stil verändernde und manipulationssteigernde verhängnisvolle Rolle in unserer individuellen und kollektiven Kommunikation.

Die klassische Familie ist zwar immer noch die vorherrschende Lebensform, welche viele (z. B. sozialpsychologische und wertevermittelnde) Funktionen erfüllt, aber von einer Wertschätzung und Rollenzuweisung, wie sie sich in dem Satz ausdrückt, sie sei die Keimzelle des Staates, ist die öffentliche Debatte mittlerweile weit entfernt.

Seelische Krankheiten belasten einen immer größeren Teil der Bevölkerung.

In ethischen Fragen herrscht vielfach Ignoranz und Verwirrung.

Der Gesellschaft fehlen zunehmend Leitbilder, eine Identität, von einer Identität als Staat und Nation ganz zu schweigen.

Untersuchungen belegen, dass ein Teil der Bevölkerung (je nach Fragestellung 15–30 Prozent) seine Loyalität und sein Grundvertrauen zu unserem politischen System aufgekündigt hat, gegenüber dem Staat, der Demokratie, den Medien, den Führungsschichten unseres Landes. Dabei spielt z. T. in einer merkwürdigen Verschränkung ausgeprägt rechtes Gedankengut eine Rolle, Verschwörungsmythen jedweder Art und/oder ein Negieren von – durchaus auch naturwissenschaftlichen – Fakten. „Durchgeknallte“ aller Sparten und vieler Länder hegen dabei eine kaum nachvollziehbare Sympathie füreinander (Trump – Putin, AfD – Putin, Impfverweigerer – AfD, Esoteriker, Reichsbürger, Sekten). Putin eignet sich übrigens als Lackmustest, um verrückte Rechtsaußen zu identifizieren, siehe Orbán, Berlusconi, Bolsonaro; mit geringerer Zuverlässigkeit gilt das auch für Linksaußen.

Befeuert wird die Entwicklung durch die tolle Rolle der Trolle, also Internetakteuren, deren Mission es ist, Verunsicherung, Verwirrung, Hassbotschaften, Desinformationen zur Destabilisierung von Lebensformen, Ländern und Regierungen, oft im Auftrag anderer Staaten, vor allem Russlands, zu bewirken.

Neue Denkweisen rund um die Begriffe von Diskriminierung und Vielfalt versuchen, mit jakobinischer Intoleranz im Namen der Toleranz die normativen Leerstellen in gesellschaftsverändernder Absicht neu zu besetzen und neue Diskriminierung zu bewirken.

Egoismus, Materialismus, Oberflächlichkeit müssten in einer Wohlstandsgesellschaft gemäß Maslows Bedürfnispyramide eigentlich sinken, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Und niemand stört sich daran – im Gegenteil: Das Ego ist das neue Maß aller Dinge. Ob sich mit der Mentalität einer Generation Z ein Gemeinwesen gestalten lässt, in dem verantwortlich gehandelt wird? Ob die Erosion unseres Arbeitsethos, die selbst die Präsidentin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, beklagt, und dem Deutschland wirtschaftlich und sozial bisher seine Sonderstellung verdankt, längerfristig dazu führt, dass unsere Gesellschaft unter Stress gerät und wir zurückfallen?

Leistungsorientierung, Leistungsmessung, Anstrengungsbereitschaft nehmen ab – ausgerechnet in einer Zeit globaler Herausforderungen und ausgerechnet auch propagiert durch Teile der Politik. Das wird in den Schulen (Noten), bei der Berufswahl (Fachkräftemangel), in der Berufsausübung (Arbeitszeit) und im gesellschaftlichen Engagement (Ehrenamt) sichtbar. Im europäischen Vergleich liegen wir mit 34,1 Stunden Wochenarbeitszeit an drittletzter Stelle, diskutieren aber fröhlich die Vier-Tage-Woche. Arbeitskräfte sind ein knappes Gut geworden, Unternehmen müssen nehmen, was sie bekommen. Die Politik nivelliert Leistungsunterschiede zusätzlich durch großzügige Sozialleistungen (Bürgergeld, Mindestlohn). Eine der Konsequenzen, die sich abzeichnen: Leistungsträger und Investoren verlassen das Land, Geringqualifizierte und Transfergeldempfänger kommen ins Land, was unsere Gesellschaft verändert und unseren Platz in der Welt ebenso. Die Menschen sehen und spüren das und sind zu Recht besorgt, wie Demoskopien zeigen.

Es gibt zahlreiche Spaltungen in unserer Gesellschaft, angefangen bei der ökonomisch-sozialen über die sich kaum berührenden verschiedenen Lebensstile und Lebenswelten, welche im „günstigsten“ Fall durch Gleichgültigkeit untereinander verträglich gemacht werden, bis hin zu weltanschaulichen Differenzen, die für sich genommen kein Problem sind, aber zum Problem werden, wenn es nicht wenigstens in Stil, Verfahren, Methodik von Denken, Reden und Verhalten einen Minimalkonsens gibt.

Was sich hierzulande an verwirrenden Entwicklungen beobachten lässt, ist keine deutsche Spezialität. In anderen entwickelten Ländern geschieht Vergleichbares. Nur ist das Ausgangsniveau in unserem Land vielleicht ein besseres gewesen, sodass die Defizite schwerer wiegen, während andere Länder relative Fortschritte machten. Allen Ländern aber ist gemeinsam, dass sie zunehmend vor Aufgaben stehen, die sie zu überfordern drohen – ein Systemversagen mit Orientierungsmangel und Kontrollverlust, das Krisen verschärft: Klima, Hunger, Flüchtlinge, internationale Konflikte, Konzernherrschaft, Finanzkrisen, soziale Konflikte, Pandemien, um nur die offenkundigen Krisen exemplarisch zu erwähnen. Verantwortliche in Staat und Gesellschaft, bei Medien und Bürgern müssten eigentlich in guter Verfassung sein, um auf der Basis eines Grundkonsenses mit klarem Kopf, kluger Verantwortung und vernünftigen, fairen Verfahren die großen nationalen und internationalen Gegenwartsprobleme und Zukunftsfragen näherungsweise lösen zu können. Doch es steht zu fürchten, dass sich da eine Schere öffnet: Die Herausforderungen nehmen zu, während die Kapazitäten, sie zu bewältigen, abnehmen.

Menschliches Zusammenleben braucht Normen: innere, die einem sagen, was „man tut“, oder äußere, die einem auferlegt werden. So nimmt es nicht wunder, dass der Normenverfall zu einem interventionistischen Staat führt, zu Bürokratie, Umverteilung, Regulierung – was natürlich dann wiederum zu Kritik führt. Aber der Preis einer gott-, norm-, bindungslosen Gesellschaft, in der sich ein jeder selbst verwirklicht, keine ungeschriebenen Regeln gelten lässt, hedonistisch und anspruchsvoll ist, der Preis einer schwachen Gesellschaft ist ein starker Staat. Freiheit geht verloren, wo Verantwortung versagt.

Diese Problemskizze soll nicht vergessen machen, auf wie viele unserer Mitbürger das alles nicht zutrifft und welche Institutionen und Mechanismen es in unserem Land gibt, um gut miteinander auszukommen und Herausforderungen zu bewältigen. Aber der Trend ist besorgniserregend und auch der internationale Vergleich. Wie gehen die Menschen in verschiedenen Ländern z B. mit der Coronapandemie um? Diese Bewährungsprobe bestehen weder unser Staat noch unsere Gesellschaft sonderlich überzeugend. Verwirrt und verwirrend – unser Land war schon in besserer Verfassung als heute.

Daraus lässt sich eine eher vorsichtige, dafür aber grundsätzlich umsetzbare Schlussfolgerung ableiten: Wenn alles mehr oder weniger aus den Fugen gerät, unklar ist und umstritten, dann geht es bei gesellschaftlichen Einrichtungen, bei Intellektuellen und Medien und natürlich auch in der Politik um die Suche nach einem Minimalkonsens, der aus Vernunft und Verantwortung besteht und sich in Sachlichkeit und Konsenssuche ausdrückt. Wir bewältigen damit Aufgaben besser und bekommen auch die Chance, dass sich daraus mehr als ein Minimalkonsens entwickelt, nämlich etwas mehr Verantwortung und etwas weniger Verwirrung. Dazu will diese Abhandlung beitragen.

II Politische Kultur – was ist das?

Was im Konkreten unter dem Begriff der Politischen Kultur als Antwort auf die Situation in unserem Land zu verstehen ist, wird Gegenstand dieses Buches sein. Aber wie soll man politische Kultur abstrakt und generell verstehen? Die Antwort darauf beantwortet ansatzweise auch die Frage, warum gerade das, was mit diesem Begriff verbunden ist, zur Problemlösung tauglich ist.

Zunächst kann man den Begriff Kultur deskriptiv oder normativ benutzen. Im ersten Fall ist einfach die Summe aller (überwiegend ungeschriebenen) Regeln gemeint, die allgemein anerkannt sind, (oft unbewusst) übereinstimmend gehandhabt werden und ein Repertoire von Routinen zur Lösung von Aufgaben in einem Sektor des gesellschaftlichen Lebens zur Verfügung stellen, ohne dass damit ein Qualitätsanspruch verbunden wäre.

Genau im Letzteren liegt der Unterschied zur Verwendung des Kulturbegriffs im normativen Sinne, wobei alle übrigen obigen Definitionsmerkmale unverändert bleiben. Kultur normativ gemeint fügt also eine Erwartungshaltung (und bei Nichterfüllung entsprechende Kritik) an das Niveau, den Stil, die Ergebnisse hinzu, ist kritisch, kreativ und auf ständige Verbesserung bedacht. Der nachstehende Text verwendet den Begriff der politischen Kultur überwiegend im normativen Sinne, wie gerade im Folgenden unmittelbar deutlich wird.

Kultur – noch ohne das Adjektiv politisch – ist ein systemischer Ansatz, der einen fortschreitenden Entwicklungsprozess beschreibt, um zu höherwertigen Resultaten zu gelangen.

Systemisch meint nicht die Kunstfertigkeit oder gar das Kunststück einzelner Akteure oder Fortschritte nur bei einzelnen Teilbereichen des Geisteslebens, sondern allgemein verbreitete Grundeinstellungen und Fähigkeiten, um das Gesamtniveau einer Gesellschaft zu kennzeichnen und zu verbessern.

Kulturbildende „Entwicklungsprozesse“ haben etwas mit einem Set von Formen, Stil, Gestalt, Verfahren, Methoden, Kompetenzen und dem steten Bemühen zu tun, dieses „Kunsthandwerk“ gezielt zu trainieren und zu optimieren. Auf welche „Produkte“, Richtungen, Inhalte und Aussagen sich diese hochwertigen und bewusstgemachten Verfertigungselemente beziehen, ist damit noch nicht gesagt. Kultur kann im Dienste vieler Disziplinen und Inhalte stehen, allerdings nicht solcher, die per se „Unkultur“ sind.

Was die „höherwertigen Resultate“ anbelangt, so sind sie gekennzeichnet von niveauvollen Ergebnissen, vor allem in einem kulturgeschichtlichen oder kulturgeografischen Vergleich, bei dem zumindest die Kenner kulturellen Geschehens, oft aber auch ein breites Publikum bei allem Streit im Einzelnen respektvoll von „Kunstwerken“, von kultivierten Beiträgen zur Zivilisation sprechen würden, von handfest-beeindruckenden wie von feinsinnig-artifiziellen Hervorbringungen.

Eine Stufe konkreter wäre zunächst das Wesen der Politik zu beschreiben. Sie ist darauf angelegt, öffentliche Angelegenheiten in ihrer ganzen Komplexität real so zu gestalten, dass sich die Situation möglichst vieler Menschen auch längerfristig möglichst weitgehend verbessert.

Komponenten politischer Kultur sind Institutionen, Verfahren und Methoden, die zu diesem kontinuierlichen Verbesserungsprozess beitragen, ebenso wie handlungsleitende Normen, Werte, Ziele und gedankliche Konzepte und schließlich persönliche Bildung, Kompetenzen, Tugenden. Gerade Letztere spielen eine besondere Rolle als verinnerlichte und verhaltensbestimmende Normen, die zugleich sozial nützliche Wirkungen entfalten. Man erzählt gewiss nichts Neues, wenn man hier exemplarisch die vier klassischen Kardinaltugenden erwähnt, also Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung, aber es muss doch immer wieder neu erzählt, erinnert und propagiert werden. Auch könnte man bezüglich der Frage, was verantwortungsvolle und verantwortungslose Führung ausmacht, 2600 Jahre zurückgehen und im Alten Testament beim Propheten Ezechiel im 34. Kapitel über schlechte und gute Hirten etwas lesen. Die Sprache ist alttestamentarisch, der Inhalt ist zeitlos.

Erkenntnisse und Erfahrungen, die lange Zeiträume überdauern, darf man als kulturbildend auch für die Zukunft betrachten. Deshalb wird in dieser Abhandlung im Querschnitt vieler Wissensgebiete und Ländervergleiche, wie im Längsschnitt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nach politisch relevanten Quellen unserer Kultur gesucht, und demgemäß spielen die Antike, das Christentum und die Aufklärung eine Rolle, wie auch immer wieder der Praxistest – was sich denn für möglichst viele Menschen als möglichst weitgehende Verbesserung bewährt hat.

Kultur spielt vor allem da eine Rolle, wo es etwas zu pflanzen, zu hegen und zu fördern gilt, noch mehr aber da, wo Widerstände zu überwinden oder Konflikte auszutragen sind oder Verführungen zu widerstehen ist. Ein primitiver Utilitarismus, eine simple Programmatik oder eine zügellose Auseinandersetzung sind Varianten mangelnder Kultur. Politische Kultur muss sich vielmehr in Problemlagen als niveauvolles und niveausteigerndes Mittel bewähren. Mit dem Begriff der Streitkultur verbinden wir z. B. Umgangsweisen, die zu fairen und zielführenden Ergebnissen bei Auseinandersetzungen beitragen. Einmal ganz pauschal formuliert, könnte man sagen: Sich um politische Kultur zu kümmern, heißt oft, Dinge zu tun, die erst auf den zweiten Blick richtig sind.

So weit, so gut. Ist bei diesen hohen Ansprüchen nun die Ergänzung um das Politische zur „politischen Kultur“ nicht ein Widerspruch in sich? Kann es politische Kultur überhaupt geben? In dieser kritischen Frage kreuzt sich das Vorurteil, dass Politik mit Kompetenz und Niveau ohnehin nichts zu tun habe, mit dem Zweifel, ob das Etablieren und Einüben von Regeln de lege artis (also nach den Regeln der Kunst) in der Politik überhaupt seinen Platz hat oder ob dieses Metier so urwüchsig-dschungelhaft ist, dass es sich jeder Kultivierung letztlich entzieht.

Ein Blick auf den Status quo der politischen Kultur bei uns und in anderen Ländern bietet aber sowohl für pessimistische wie auch für andere (realistische, appellative oder optimistische) Antworten Anschauungsbeispiele. Zumindest taugen Analysen und Ratschläge zur politischen Kultur als Idealbild und Messlatte zu Sensibilisierung und Sanktionierung von Fehlgriffen in Methodik und Ergebnissen der Politik, im günstigsten Fall als Bildungs- und Ausbildungsprogramm für Bürger, Gesellschaft, Medienleute und Politiker und als Plattform des Verstehens wie der Verständigung aller Beteiligten, wie und zu welchem Zweck Politik klugerweise zu machen sei. Es wäre doch erstaunlich, wenn wir uns als Kulturnation mit Tradition und Fortschrittsanspruch verstünden, das Kulturelle dann aber auf alles Mögliche bezögen, von der hohen Kultur, der Esskultur, der Unternehmenskultur und den vielen Fällen einer „Kultur des …“, aber ausgerechnet den Bereich der Politik ausklammerten, in dem so viel auf dem Spiel steht und dem eine Niveau- und Ergebnisverbesserung sicher guttäte.

Der Begriff politische Kultur weist der Politik nur die Rolle des Adjektivs im Verhältnis zum Substantiv Kultur zu. Das ist bewusst so formuliert, weil eine „Kultur der Politik“ hier nicht gemeint ist – aus der Überzeugung heraus, dass es keine autonome Kultur der Politik gibt, sondern auch die Politik nur ein Areal, ein Anwendungsfall allgemeiner kultureller Entwicklungen und Vorstellungen ist. Dieses Vorverständnis, dass Politik eingebettet ist in die Geschichte, Ideengeschichte, Philosophie, das Geistesleben, die Psychologie und viele weitere Wissenschaften bis hin zu Alltagserfahrungen und -weisheiten und kein mit alledem unverbundener, selbständiger Faktor ist, wird an vielen Stellen dieser Abhandlung noch eine Rolle spielen. Wer auf alles einwirkt, wird auch von allem geprägt.

Und ein weiteres weichenstellendes Vorverständnis sei hier offengelegt: „Politische Kultur“ bezieht sich nicht nur auf die engere Sphäre der Politik, in der Politiker tätig sind, sondern denkt immer die politischen Prozesse und Interaktionen zwischen Politik, Gesellschaft, Medien, Verbänden und Bürgern mit – und zwar in beiden Richtungen. Appelle für mehr politische Kultur wenden sich deshalb insgesamt an sämtliche Beteiligte politischer Prozesse – Verantwortung in der Demokratie haben nicht nur die Gewählten. Eine Delegierung der Anforderungen politischer Kultur nur an die Politiker wäre zwar bequem, aber zugleich ein vordemokratisches Fehlverständnis. Auch wenn es etwas oberflächlich und pauschal klingt, aber jedes Land hat die Politiker, die es verdient.

So, wie man gerne in einem Atemzug von Kunst und Kultur spricht, ließe sich auch hier in Bezug auf Fragen der politischen Kultur eine Differenzierung vornehmen, welche die Kunst der Politik betrachtet. Das Wort von der „Regierungskunst“ lässt ahnen (merkwürdigerweise begrenzt auf die Exekutive), dass Kunst ein spezifischer Teil von Kultur ist. Allgemein formuliert könnte man Kultur als kollektives Qualitätsbewusstsein bezeichnen, während Kunst eine individuelle Befähigung zu qualitätsorientiertem Handeln meint. Auch die Aussage „Politik ist die Kunst des Möglichen“ oder die Etikettierung eines Politikers als „Überlebenskünstler“ oder gar der teils ehrfurchtsvoll, teils ironisch gemeinte Begriff von der „hohen Kunst der Politik“ deuten das an, was auch die etwas platte Redewendung „Kunst kommt von Können“ ausdrücken will, was hier aber nicht vertieft werden soll: nämlich, dass politische Kunst ein Ausdruck ganz besonderer Professionalität, Genialität, Begabung und Exklusivität ist, eine magische Fähigkeit, die man letztlich nicht lernen kann. Im Rahmen dieser Abhandlung erscheint es richtiger, wichtiger, machbarer und demokratischer, einen demgegenüber eher bescheidenen Beitrag zu leisten, um politische Kultur in ihrer ganzen Breite zu mehren, anstatt sich am Ziel politischer Kunst zu verheben.

Ob mit oder ohne Zusatz „politische“ (Kultur), ein Blick auf andere Länder und in andere Zeiten ist stets lehrreich – zur Abschreckung wie zur Orientierung. Und dabei lässt sich – nicht überraschend – feststellen, dass es regionale, nationale, epochale Besonderheiten einerseits, aber doch auch – zumindest in den Fragestellungen – universelle Prinzipien der (politischen) Kultur gibt. In der Regel handelt es sich im interkulturellen Vergleich um verinnerlichte und damit nahezu unbewusste Spezifika politischer Kultur, aber auch um prägende institutionelle oder prozedurale Grundentscheidungen, die die politische Kultur eines Landes kennzeichnen.

In den USA z. B. wird das Gewaltmonopol des Staates im Verhältnis zum privaten Waffenbesitz oder etwa die Rolle des Kapitals auch in politischen Prozessen markant anders gesehen als bei uns. Frankreich ist laizistisch, etatistisch, zentralistisch (und gelegentlich anarchisch) geprägt. Das Vereinigte Königreich liebt die Splendid Isolation, den Traditionalismus, hat eine gewisse Klassengesellschaft und leidet am Mehrheitswahlrecht. Skandinavische Länder sind bewusst Wohlfahrtsstaaten. Russland versteht sich seit zwei Jahrhunderten als unterschätzte und ungeliebte Großmacht, wobei die Neigung zur Gewaltherrschaft im Interesse Moskaus in außen- und innenpolitischen Angelegenheiten eine stabile Konstante ist. China will mit politischer Repression und ökonomischer Strategie an die Spitze. Arabische Staaten verstehen sich zum Teil als Gottesstaaten. Länder Afrikas als zu entwickelnde Staaten. Generell sind in der Mehrzahl aller Länder Korruption und Defizite bei Good Governance belastende Randbedingungen, und zu Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten gibt es höchst unterschiedliche Positionen. Die Landkarte der politischen Kulturen ist also sehr bunt.

Und wo steht Deutschland? Geprägt durch die Erfahrungen und Lehren aus dem 20. Jahrhundert und einige „typisch deutsche“ Mentalitäten sind wir im globalen Maßstab mit unserer politischen Kultur und unserem Grundgesetz in einer „guten Verfassung“. Gemessen freilich an dem, was auch bei uns möglich und nötig ist, kann es nur ein Motto geben: Mehr politische Kultur! Nun denn …

Nach dem Versuch einer Klärung, was unter politischer Kultur zu verstehen ist, sollte auch noch geklärt werden, welches Gewicht politische Kultur zur Beschreibung und Verbesserung der politischen Realität hat. Der Begriff löst auf Anhieb erst einmal so etwas wie ein mitleidiges Lächeln bei denen aus, die glauben, mit beiden Beinen im politischen Leben zu stehen, und die die Beschäftigung mit politischer Kultur großzügig dem Bildungsbürgertum überlassen, dessen Vorstellung von feinsinniger Interpretation des politischen Geschehens in irgendwelchen Akademien gut aufgehoben ist, wobei die Kulturbeflissenen und die Praktiker sich letztlich nichts zu sagen haben. Politische Kultur – nice to have, aber ohne geht’s genauso gut.

In Wahrheit ist es ganz anders. Es gibt für das Wohl und Wehe eines Landes nichts Relevanteres als die Frage, über welche politische Kultur es verfügt. Die Summe aller grundlegenden Werte, Überzeugungen und Institutionen, aller unbewusst verinnerlichten Verhaltensweisen und Regeln – ob „hoch“ oder „niedrig“, ob freiwillig oder unter dem Zwang von Verhältnissen – bildet die politische Kultur, wobei in dem Begriff noch ein wesentliches Element steckt: das der Kultivierung, der Verbesserung als Daueraufgabe.

Um es exemplarisch klarzumachen: Ex-Präsident Trump ist mit seiner Rücksichtslosigkeit, Unwahrhaftigkeit, seinem Narzissmus und seiner Irrationalität einfach gefährlich. Und trotzdem ist er nicht das eigentliche Problem. Dieses sind vielmehr die mehreren zig Millionen Amerikaner, die eigentlich genug von Trump erlebt haben müssten, die ihm aber aufgrund ihres Wissensstandes, ihres Kommunikationsverhaltens und ihrer Pauschalurteile die Treue halten. Welche politische Kultur liegt dieser Gefolgschaftstreue zugrunde? Was geht in diesen Köpfen vor sich?

Um die Augen zu öffnen, noch einige weitere Beobachtungen zum politischen System der USA – immerhin der westlichen Führungsmacht: Ist es ein Problem der amerikanischen Verfassung, des Rechtswesens, der Judikative, oder ist es nicht vielmehr eine Frage der Politischen Kultur, wenn bei einer Bevölkerung von 340 Millionen Menschen die eine Partei nur einen nicht mehr ganz taufrischen Amtsinhaber ins Rennen um den wichtigsten Posten der demokratischen Welt schicken will, während der durch die Justiz mehrfach verurteilte Herausforderer der anderen Partei die Konkurrenten plattmacht? Ist es nicht eine Frage der Politischen Kultur, wenn über den drittwichtigsten Repräsentanten der USA, den Speaker des Repräsentantenhauses, so intrigant gestritten wird, dass die Legislative wochenlang ausfällt und anschließend die Handlungsfähigkeit der USA im Blick auf zwei Kriege kaum mehr gegeben ist? Dies nur als die offenkundigsten Mängel einer hoch problematisch gewordenen Kultur, ohne weitere Aspekte und tiefere Gründe zu betrachten.

Das Beispiel USA zeigt auch, dass Vergleiche zwischen Ländern (denn in vielen anderen Ländern wäre Trump längst am Ende) und zwischen anderen Zeiten sehr viel lernen lassen über die spezifische Kultur eines Landes. Und es ist auch ein Beleg dafür, dass die Menschen insgesamt (nicht nur die Politiker) sowie die generelle kulturelle Verfassung eines Landes wesentliche Bestimmungsgrößen politischer (Un-)Kultur sind. Auf die USA nun deswegen herabzusehen besteht aber kein Anlass. Wie war die politische Kultur der USA in einer langen Nachkriegszeit, wie diejenige in Deutschland in den Jahrzehnten vor dem Krieg und welche kulturkämpferischen, ideologischen und emotionalen Verirrungen von der APO bis zur AfD gibt es hierzulande, die seriöse Politik belasten?

Das drastische Beispiel politischer Unkultur, das sich in Trump und seinen Anhängern manifestiert, dient hier nur dem Nachweis der Relevanz von Fragen der politischen Kultur für das Schicksal eines Landes. Politische Kultur nur als schöngeistige Garnitur der Politik? Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Summe aller relevanten Faktoren vereinigt sich zu einem Konzentrat, das man als politische Kultur bezeichnen kann. Sich mit ihr zu befassen heißt damit nichts anderes, als sich auf die Suche nach den wirklich wichtigen Weichenstellungen für das Schicksal eines Landes zu begeben. Ein langer und mühseliger Aufstieg steht uns bevor. Gelingt er, haben wir einen fantastischen Gipfelrundblick.

B Ganzheitlichkeit – Breite versus Tiefe

I Worum es geht

Das Dilemma zwischen Quantität und Qualität ist ein universelles, das tausend Gesichter hat: Ob ich z. B. schnell unterwegs bin und von der Landschaft nichts mitbekomme, oder langsam. Ob ich vielen Menschen begegne und sie allenfalls flüchtig kontaktiere, oder wenige. Ob ich viele Nachrichten konsumiere, in denen ich ertrinke, oder nur die relevanten. Ob ich so viel Geld besitze, dass ich an nichts mehr Freude habe, oder das Wenige mich erfreut. Immer ist es derselbe Wirkungsmechanismus: Das „Zuviel“ führt zum abnehmenden Grenznutzen (ökonomisch gesprochen), ja zu kontraproduktiven Effekten. Das drückt die etwas altväterliche Redewendung aus (die aber ebenso universell ist wie das Problem, das hier beschrieben wird): „Weniger ist mehr“, weil eben das „Mehr“ ein „Weniger“ zur Folge hat. Maß und Mitte sind somit Ausdruck von Klugheit, nicht von Zögerlichkeit oder Verzicht.

Kein Mensch, keine Gesellschaft, keine Regierung kann alles perfekt bewältigen. Das war noch nie so, aber die Gewichte verschieben sich: Wir kommen aus einer eher universalistischen Zeit, in der man „ein Nichts über alles“ wusste, und gehen in eine detaillistische Ära, in der man „alles über ein Nichts“ weiß. Hier der Universalgelehrte, die überwölbende Rolle von Religion und Ethik, die Allgemeinbildung, das Denken in Systemen und Zusammenhängen, aber auch der Dilettantismus, die Flucht ins Allgemeine und Unverbindliche. Dort der „Fachidiot“, der Spezialist, der Egoist, der Extremist oder der Sektierer, aber eben auch der Fachmann, der Forschende, der Leistungsträger auf seinem Gebiet. Die Dilemmata zwischen Breite und Tiefe, zwischen Quantität und Qualität (z. B. allein schon beim Aufnahmevermögen von Informationen), zwischen Betrachten und Bewegen (will ich alles verstehen oder wenigstens punktuell etwas verändern) sind unauflöslich und seit jeher gegeben. Aber was ist – mit Blick auf die Zukunft – das jeweils richtige Maß vom einen wie vom anderen?

Sich dieser eher methodisch verfahrensmäßigen Frage zuzuwenden, befördert Antworten auch auf inhaltlicher Ebene: Es geht nicht nur um Generelles/Abstraktes versus Spezielles/Konkretes, sondern auch um die Frage, welche Inhalte, Verhaltens- und Denkweisen eine fruchtbare Symbiose zwischen diesen beiden Polen bewirken können, die gleichermaßen berechtigt sind, wie sie sich eigentlich auch ausschließen. Was wir in inhaltlicher Hinsicht dabei lernen, geht sogar über die Versöhnung der beiden Pole weit hinaus, weil moderates Denken auch als Beitrag zu Konfliktreduzierung, der Balance von Bewahren und Fortschritt und der Förderung gesicherter neuer Erkenntnisse dient. Hier schimmert bereits der Grundgedanke der nachstehenden Ausführungen durch: Es geht darum, ein „Gewissen für das Ganze“ zu entwickeln, womit auch ein ethischer Appell („Gewissen“) verbunden ist, den Erwin Teufel in seinem autobiografischen Buch gleichen Titels in diesem normativen Sinne verwendet hat. Und er bezog sich dabei auf Eduard Spranger, der diese Formulierung wohl erstmals im Rahmen seiner Analysen von Epochen verwandte. Dass „das Ganze“ einen positiven Klang hat – im Unterschied zu Einzelheiten, Subjektivismen und Egoismen –, liegt auf der Hand, und so nimmt es nicht wunder, dass der grüne Epigone Teufels, Winfried Kretschmann, seinen Wahlkampf 2021 unter das Motto stellte: „Er denkt ans Ganze“ – er steht also über den Dingen und will es möglichst allen recht machen.

Ganz allgemein ist der Begriff ganzheitlich weit verbreitet und positiv besetzt, aber auch nicht selten Ersatz für das nicht näher durchdachte Gute, Wahre und Schöne, was man gerne hätte. Faszination und Präzision stehen so im Widerspruch, der im Folgenden überwunden werden soll. Wenn „das Ganze“ so beliebt ist, wie kommt es dann, dass unsere Zeit sich genau in die entgegengesetzte Richtung entwickelt?

II Breite versus Tiefe – die Schlüsselfrage für Systeme und Strukturen

Das Dilemma zwischen Breite und Tiefe bezieht sich zunächst auf die Welt der Gedanken und Informationen und berührt Fragen von Fassungsvermögen und Komplexität. Aber was nur als geistige Herausforderung erscheint, hat auch eine ungemein praktische, institutionelle, systematische Dimension.

Dazu zunächst eine simple Modellsituation: Wer schon einmal versucht hat, einen Text von nur drei Sätzen in einem Gremium mit nur fünf Beteiligten zu Papier zu bringen, hat sehr schnell die Erfahrung gemacht, wie beschwerlich das ist; dass es Konflikte auslösen kann und nicht unbedingt ein gutes Produkt, sondern vielleicht nur einen verqueren Kompromiss hervorbringt. Die Alternativen zu diesem Vorgehen bestehen darin, einem der Akteure zu vertrauen (oder sich ihm zu unterwerfen) und ihn den Text schreiben lassen oder einen der Akteure zu bitten, einen Entwurf (vielleicht auf der Basis einiger Maßgaben) zu erstellen, über den dann abgestimmt wird – was übrigens zu einer weiteren Verfahrensschleife führen kann.

In der besagten Modellsituation (die man natürlich beliebig zuspitzen kann, wenn es um mehr als drei Sätze und um mehr als fünf Personen geht) stehen die einzelnen Akteure für unterschiedliche Positionen, also: viele Beteiligte – viele Meinungen. Das Gedankenmodell macht sofort deutlich: Handelt nur einer (ein Synonym für die Tiefe), geht die Sache schnell und klar und ist in sich stimmig. Aber ob auch richtig und zur allgemeinen oder überwiegenden Zufriedenheit gehandelt wird, ist damit nicht sicher. Wollen alle handeln (ein Synonym für die Breite), kann das quälend sein, aber auch vielerlei Aspekte berücksichtigen, ein fauler Kompromiss sein oder allgemeine Zustimmung ernten.

Die Konzentration auf einen Gedanken oder eine Person hat weder nur Vor- noch nur Nachteile, und das gilt spiegelbildlich für eine breit angelegte Vorgehensweise. Wie soll man dieses Dilemma lösen?

Lässt man Sondersituationen außer Betracht (wie z. B. Notstandssituationen oder umgekehrt einen breiten, stabilen Konsens), so ist im Zweifel die breite Willensbildung vorzuziehen, aber ohne sie zu Tode zu reiten, denn sie hat eben auch ihre Schattenseiten. Warum im Zweifel für die Breite? Weil mehr Köpfe, mehr Ideen, mehr Interessen, mehr Aspekte, mehr Fakten wahrscheinlich ein stimmigeres, richtigeres Ergebnis bewirken. Weil diese Vielfalt und Breite einen „gruppenbedingten Fehlerausgleich“ bewirken kann. Weil die Mitwirkung auch Kontrolle von Machtmissbrauch, Machtfehlgebrauch, Einseitigkeit, Subjektivismus bedeuten kann. Weil Innovationen zustande kommen können. Weil Akzeptanz mit größerer Wahrscheinlichkeit erreicht wird, was über die konkrete Entscheidung hinaus bedeutsam sein kann (z. B. macht Vertrauen dann Kontrolle weniger notwendig). Weil Reformen und Korrekturen eher möglich sind.

Aber dieses Plädoyer für einen gedanklich, personell oder verfahrensmäßig breiten Ansatz wäre unvollständig, wenn auf der Basis dieser Grundentscheidung nicht auch Elemente der gegenteiligen Vorgehensweise Eingang in eine Gesamtverfassung finden würden. Man muss „zu Potte kommen“, kann sich nicht bis zur Erschöpfung streiten, kann Evidenzen, Sachverstand und Fakten nicht durch beliebige Meinungen ersetzen, muss das Nötige, statt nur das Akzeptierte/Beliebte tun können, muss Qualität und Kompetenz zu ihrem Recht kommen lassen. Die Genialität eines Nobelpreisträgers verträgt keine inkompetenten Interventionen, Forschung braucht Wettbewerb, aber keine Demokratisierung.

Um auch diesen Aspekten Raum zu geben (ohne das oben dargestellte dominante Prinzip breiter Willensbildung und Machtausübung an den Rand zu drängen), bedarf es eines sehr ausgeklügelten, differenzierten Systems, und zwar in der Verfassung dieses Systems (also seinen rechtlichen Grundprinzipien) wie auch bezüglich tauglicher Institutionen, Prozesse, Personen und Grundhaltungen. Und es spricht viel dafür, immer wieder einmal zu überprüfen, ob das Pendel nicht mal in die eine, mal in die andere Richtung stärker ausschlagen sollte. Am liebsten wäre uns die eine Idee, die eine Person, die alles richtig macht, so könnten wir uns viele Umwege sparen. Aber die gibt es erfahrungsgemäß und denknotwendig nicht.

Und so gelangt man in relativ wenigen Schritten von dem zunächst scheinbar rein erkenntnistheoretischen Problem, ob eine ganzheitliche oder eine spezialisierte Denkweise den Einzelnen oder die Gesellschaft weiterbringt, zu der Frage von Demokratie und Diktatur, zu den grundsätzlichen wie auch differenzierten Spielregeln, wie Staaten strukturiert sein sollten, zu einem Blick in die Geschichte und auf andere Länder, wie sie diese Ordnungs- und Machtfragen mit welchen inhaltlichen Ergebnissen gelöst haben.

Da kommt man nicht umhin, China eine bemerkenswerte Effizienz als Entwicklungsdiktatur zu bescheinigen und zugleich den Preis vehement zu kritisieren, den die Menschen dort und anderswo zu bezahlen haben. Man kann darüber sinnieren, wie Staat und Gesellschaft in Frankreich organisiert sein müssten, um die Selbstverständlichkeit einer Rentenreform ohne bürgerkriegsähnliche Konflikte durchzusetzen. Wie konnte es zum Tabubruch in der israelischen Verfassungsdebatte kommen? Mit welchen Verfahren gelangen wir in Deutschland zu einer rationalen und effektiven Klimaschutzpolitik? Wie konnten Trump und Johnson ihre Länder so in die Irre führen? Welche Struktur- und Systemmängel haben Russland in eine gefährlich ausweglose Situation gebracht?

Die Beispiele dieser Tage mögen verdeutlichen, wie sehr Sachfragen und Systemfragen miteinander verwoben sind, und auch, dass die Sachfragen richtig und verträglich nur auf der Basis breiter Mitwirkung mit zugleich effektiven Instrumenten gelöst werden können. Ganzheitliches Denken und demokratische Strukturen gehören zusammen, in denen aber auch das Spezielle, Singuläre, Vertiefte, Machtvolle seinen Platz braucht.

III Detaillierungstrends

Vor allem drei Geschichtsepochen brachten – einige wenige, aber immerhin – Universalgenies hervor, die Antike, die Renaissance und die Aufklärung. Die letzten drei Personen, die in Deutschland dem unbestrittenen Idealbild des vollkommenen Menschen mit umfassender Bildung und Befähigung entsprachen, waren wohl Leibniz, Humboldt und Goethe. In ihre Köpfe passte noch das Wissen ihrer Zeit. Der seitherige Wissens- und Erkenntnisfortschritt ist so exorbitant, dass es schon lange niemanden mehr gibt, der überall auf der Höhe der Zeit ist.

In der Forschung wie in der beruflichen Entwicklung ist es im Gegenteil so, dass Spitzenleistungen (für die Gesellschaft oder für den eigenen Geldbeutel) zunehmend nur um den Preis immer weitergehender Spezialisierung zu erreichen sind. Jeder Betroffene, der vor einer etwas außergewöhnlichen Operation steht, ist froh über den chirurgischen Spezialisten, der seit Jahrzehnten genau diese Operation durchführt und dessen Leistung inhaltlich nur von den weltweit wenigen weiteren Spezialisten fachlich beurteilt werden kann.

Doch zugleich macht dieses Beispiel aus der Medizin deutlich, dass auch der beste Chirurg vielleicht doch nicht der Richtige war, wenn nämlich die Krankheit des Patienten mangels von vornherein ganzheitlicher Betrachtung falsch diagnostiziert war. Mit dem Begriff der ganzheitlichen Medizin wird zwar viel Scharlatanerie betrieben, aber gerade der medizinische Fortschritt lehrt uns zugleich, dass breitere Ansätze – einschließlich der Prävention – insbesondere auch zwischen Somatik und Psychosomatik, um des Patienten willen nicht unterschätzt werden dürfen. So gesehen wird auch der Hausarzt bei allen bewundernswerten Fortschritten medizinischer Teildisziplinen als Lotse kein Auslaufmodell sein (eine ähnliche Rollenverteilung besteht übrigens auch zwischen Spitzen- und Breitensport. Das eine kann nicht ohne das andere sein und beides hat für die je verschiedenen Menschen sein Recht und seine Funktion).

Auch im außerberuflichen Sektor ist die (frühe und intensive) Spezialisierung der Weg zur „Selbstverwirklichung“ (allein in ihr steckt bereits ein Abkoppeln von Allgemeingültigem): Sei es bei Musik oder Sport, Hobbys und Vorlieben, sei es bei den Lebensentwürfen, Lebensstilen, Präferenzen, Orientierungen: Alles Außergewöhnliche oder Überdurchschnittliche (der Durchschnitt ist negativ konnotiert) erfordert besondere Schwerpunktsetzungen und dementsprechend die Vernachlässigung anderer Lebensbereiche.

Dem entspricht auch unsere ökonomische Entwicklung – die grenzenlose Entfesselung der Produktivkräfte – wie auch das Selbstverständnis unserer Wirtschaft. Nichts ist unmöglich, zumindest ist vieles heute eher als früher möglich, erstrebt, erworben oder ausgelebt zu werden. Und: Eine Marktwirtschaft will ja Bedürfnisse befriedigen (… on demand), Bedürfnisse auch schaffen, sie ist an einem more of the same interessiert, an Stammkunden, Junkies, Fans, die sich in eine bestimmte Warenwelt und ein möglichst hohes Preissegment begeben. Konsumenten werden an ihren Vorlieben festgehalten, quasi auf diese reduziert (personalisierte Werbung).

Zu den Detaillierungstrends kann man umgekehrt auch den Umstand zählen, dass viele größere oder auch kleinere Entscheidungen bereits im Alltag von uns allen vor dem Hintergrund einer großen Zahl möglicher Optionen getroffen werden müssen. Das fängt bereits beim Einrichten irgendwelcher Geräte mit tausend Varianten an, geht aber weit darüber hinaus. Dieser aufwändige Multioptionalismus, der aus technischen wie wirtschaftlichen Gründen ständig steigt, kann in seiner Fülle den Entscheider überfordern – „was soll ich denn noch alles bedenken, auswählen, tun?“ Routine, Gewohnheiten, Traditionen, Normen könnten eine vielleicht zunehmend wichtiger werdende entlastende Funktion haben, um dem berechtigten Rat simplify your life zu folgen, nachdem nichts mehr übersichtlich, selbstverständlich, normal und klar ist.

Die Segmentierung unserer Gesellschaft hat durch das Internet – speziell Social Media – einen rasanten und massiven Schub erfahren. Das muss mittlerweile nicht mehr näher ausgeführt werden. Und doch gilt es, sich die Paradoxie vor Augen zu führen, dass gerade durch die Kommunikation mithilfe eines Mediums, das umfassender, globaler und differenzierter nicht sein könnte, genau umgekehrt sich Regression, Rückzug, Isolation, Filterblasen einstellen. Die ganze Konstruktion von Algorithmen und künstlicher Intelligenz zielt auf die Selektion und Reduktion auf der Basis gewohnter Präferenzen angesichts eines Überangebotes von Möglichkeiten. Je größer das Angebot, desto größer ist auch die Notwendigkeit und das Bedürfnis nach Selektion. Nur knappe Ressourcen werden aktiv gesucht. Gegen den Overkill an Informationen muss und will man sich wehren. Das Medium Internet könnte der Horizonterweiterung dienen – und tut es bei richtigem Gebrauch auch –, überwiegend lebt es aber von der Verengung des Horizonts auf das bisher Präferierte. Dahingehende Wahlforschung (Lazarsfeld u. a.) und die Konsistenztheorie (Festinger) gibt es zwar schon seit Jahrzehnten, aber das Internet verstärkt den affirmativen, konservierenden Charakter von persönlichen Voreinstellungen des Nutzers ganz massiv, einfach deswegen, weil die Voreinstellungen der Algorithmen, die für ihn auswählen, was er zur Kenntnis nehmen soll, darauf angelegt sind, ihn zu bestätigen und damit zu fesseln.

» Zu weiteren Paradoxien der „sozialen Medien“ und anderen Aspekten des Internets siehe Exkurs 1: Das Internet als die fünfte Gewalt im Staat.

Schließlich ist, nicht zum ersten Mal, ein „Verlust der Mitte“ zu beklagen. Die Kirchen nehmen ihre traditionelle Rolle der Lebensbegleitung, Weltdeutung und Erinnerung an Verantwortung vor Gott und den Menschen nicht mehr in der gewohnten Selbstverständlichkeit und Überzeugungskraft wahr, es gibt den Pluralismus der Meinungen und Kulturen, den die Mobilität zudem befördert, jeder wird nach seiner Façon selig (oder auch nicht), an die Stelle eines „Lebens nach Prinzipien“ tritt ein solches nach fremdbestimmten oder selbstgewählten Präferenzen und Optionen. Der Narzissmus mit seinen vielen Gesichtern (vom Selfie-Wahn über den Schönheitswahn bis zu den zahllosen übersteigerten Skurrilitäten, an denen Menschen in wohlhabenden Ländern ihr Leben ausrichten) ist Ausdruck einer übersteigerten Selbstbezüglichkeit, die sich noch dazu als überlegen wähnt.

Mehrere Trends weisen also gleichzeitig in die gleiche Richtung: in Richtung auf Segmentierung und Spezialisierung, Vertiefung und Verengung. Diese Trends sind nur zum Teil frei gewählt, sie unterliegen ebenso einer unausweichlichen Entwicklungslogik. Sie beschleunigen sich, und gegenläufige Faktoren sind kaum erkennbar. Und sie bieten dem Einzelnen, Gruppen von Menschen, der ganzen Gesellschaft auch handfeste Vorteile: Wer heute Spitzensportler oder Spitzenmusiker werden will, muss im Grundschulalter konzentriert und fokussiert trainieren. Aber vielleicht ist er dann eben sehr erfolgreich. Unser wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Fortschritt basiert auf Expertentum. Freilich gibt es im Zuge der Individualisierung auch Experten, bei denen sich die Frage stellt, ob ihre hochspezifische Expertise der Gesellschaft nützt, wenn man an die Profession von Fußballstatistikern oder Wasser-Sommeliers denkt. Spezialisierung kann nicht nur im Skurrilitäten-Friedhof eines Guiness-Buchs der Rekorde, sondern auch in sonstigen Sackgassen enden. Individualisierung ist aber jedenfalls ein Ausdruck von Freiheit und kann Menschen glücklich machen. Die Professionalisierung vieler Lebensbereiche kann zu mehr Qualität, Effizienz und Rationalität führen.

Wo liegt dann das Problem? Erstens darin, dass es eben auch Schattenseiten der Zersplitterung unserer geistigen und materiellen Welt gibt. Zweitens, dass sich eine Balance zwischen einer sich segmentierenden und einer ganzheitlichen Welt zu Lasten der ganzheitlichen nicht von allein einstellt, sondern immer schwieriger zu finden sein wird, vor allem, wenn man die Vorteile der Segmentierung nicht preisgeben will. Und drittens, weil es nicht einfach ist, Wege zu finden und zu gehen, um diese Balance zu erreichen.

Selbstverwirklichung als weiterer Kontrapunkt

Dass Ganzheitlichkeit in einem Widerspruch zu Spezialisierung steht, liegt auf der Hand. Es gibt aber auch noch eine zweite Herausforderung für ganzheitliches Denken und Handeln, die etwas schwieriger ausfindig zu machen ist, dafür aber über die qualitative und kognitive Frage, ob man mehr oder weniger wissen müsse, hinausweist und quantitative sowie praktische Konsequenzen mitumfasst: die Problematik der Selbstverwirklichung. Eine solch merkwürdige These will hergeleitet sein, um akzeptiert zu werden – zunächst mit Beobachtungen:

Der Demokratie liegt die Souveränität des Wahlvolkes zugrunde – die Leute sollen sagen, was sie wollen.

Der Marktwirtschaft liegt die Konsumentensouveränität zugrunde.

Unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung liegt die freie Entfaltung der Persönlichkeit zugrunde.

Die Pädagogik wird von der Leitidee bestimmt, „Kinder sich entfalten zu lassen“.

In zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen gilt die Nachfrageorientierung (… on demand), die ein

more of the same

bewirkt.

Erhebliche Teile der Internetkommunikation und vor allem die KI basieren auf einer Steuerung des künftigen Angebots durch die bisherige Nachfrage (deswegen sind Datenspuren so wichtig und Filterblasen so häufig).

Bei den verhaltensbestimmenden Werten haben die Akzeptanzwerte (also die selbstgewählten) die Pflichtwerte (also die auferlegten) abgelöst.

Führt man sich das alles vor Augen, dann wird man bei den meisten dieser Feststellungen hinzufügen können „Und das ist auch gut so“ – sie sind Ausdruck der Freiheit und Antwort auf vergangene Jahrzehnte und Jahrhunderte voll Unterdrückung, Not, Krieg und Entbehrung. Was soll daran schlecht sein, und was hat das mit dem Thema der Ganzheitlichkeit zu tun? Die Antwort in einem Satz: Weil es neben diesen Freiheiten auch andere Aspekte gibt und geben sollte, und wenn diese verkannt oder verachtet werden, dann geht das Ganze oder etwas für das Ganze verloren.

Keine dieser Freiheiten ist grenzenlos, weder faktisch noch normativ. Ein alter Bekannter tritt uns gegenüber: Der Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung, aber auch der Solidargedanke, die Erkenntnis, dass Wollen das eine ist, aber Können das andere. An jedem der obenstehenden Punkte ließe sich das nun durchspielen, und wir finden dabei auch den ironischen Satz, dem zufolge eben nicht an alle gedacht ist, wenn jeder nur an sich selber denkt.

Und damit sind wir bei der Ganzheitlichkeit: Ein geradezu kindliches „Das will ich aber“ reicht nicht, um alle darüber hinausweisenden Erkenntnisse von der Begrenztheit der Freiheit, vom Wert der Einsicht in die Notwendigkeit und von der Reifung des Menschen durch das Ungewollte zu gewinnen. Natürlich bleibt es dabei, dass die Freiheit in ihren vielen Facetten der Grundton ist, aber schon allein um sie zu bewahren, anderen zu ermöglichen, sie zu verantworten, muss z. B. das Wissen um Gefahren, Nachteile, Lasten und ethische Maßstäbe hinzutreten. Nicht von ungefähr hat unsere Verfassung solche Vorkehrungen in ihren staatsorganisatorischen Teil und solche Grenzen in ihren Grundrechtsteil aufgenommen und durch die Staatsziele festgelegt, dass der Mensch eben nicht des Menschen Wolf sein soll.

Nun klingt das alles so restriktiv und bedauernswert, die Effekte, die ein Denken jenseits der bloßen Selbstverwirklichung auslöst, sind aber durchaus auch erfreulich. Geistige Bereicherung, neue Erfahrungen, Mitmenschlichkeit, Kreativität, Vorsorge und vieles mehr lassen sich gewinnen, wenn wir uns bewusst in größere Zusammenhänge stellen, offen für Ungewohntes und Unbekanntes sind, aktiv nach der Vielfalt des Lebens statt nur der Einfalt unserer Wünsche suchen, nicht nur Gewolltes anstreben, sondern auch Gesolltes. Der eindimensionale Mensch, der nur an sich denkt, nur um das kreist, was ihn schon immer bestimmt hat, empfindet die Mangelhaftigkeit seiner Mängel gar nicht („Das interessiert mich nicht, das ist nicht mein Ding“). Er ist blind aus Egozentrik. Umso wichtiger ist es, die Messlatte der Ganzheitlichkeit in unserer Gesellschaft, wo immer es geht (dazu siehe später), zu verankern.

Dass die Beschränktheit, die in der egozentrischen Beschränkung liegt, gerade auch in der Politik und bei Politikern überwunden werden muss, versteht sich von selbst – sind sie doch für das Ganze und das Gemeinwohl verantwortlich. Aber es würde die Politik und das demokratische System überfordern, das gesamthafte Denken nur an sie zu delegieren, während die Bürger in plattem Subjektivismus und Egoismus verbleiben könnten. Gerade weil wir in der Demokratie leben, die letztlich nichts anderes hervorbringen kann als das mehrheitlich Gedachte, sollte ganzheitliches Denken jedermanns Sache sein. Erkenntnistheoretisch formuliert: Das von dir Erkannte ist gewiss geringer als das Erkennbare. Und als Appell formuliert: Nimm dich nicht so wichtig. Denke an mehr als nur an dich selbst.

Vielleicht wird der Gedankengang des vorstehenden Abschnitts an einem Beispiel aus dem Alltag anschaulich versinnbildlicht: Der berufliche Weg eines Menschen sollte grundsätzlich seinen Wünschen, aber auch Fähigkeiten entsprechen. Wenn nun die ganze Bildungs- und Berufskarriere stromlinienförmig, schmalspurig, nicht nach links oder rechts blickend, ausschließlich erfolgsorientiert ist, dann haben wir es mit einem ebenso beschränkten wie vermutlich auch unangenehmen Zeitgenossen zu tun, der aalglatt seine Karriere verfolgt. (Der umgekehrte Fall des verwöhnten Minimalisten aus der Generation Z, der nur das Nötigste tut, wäre auch nicht besser.) Wer aber ein wenig über das Leben, sich selbst, die Welt und seine Mitmenschen nachdenkt, unterschiedliche Erfahrungen sammelt, auch mal Umwege geht, seine Fähigkeiten einbringt, der nimmt aus jeder seiner Stationen etwas mit, ist zufriedener und im Übrigen als Führungskraft geeigneter. Die Mischung macht’s, diese Erkenntnis vermittelt ganzheitliches Denken.

IV Schattenseiten der Detaillierung

Gesetzt den noch ganz harmlosen Fall, dass wir es auf allen jeweiligen Gebieten mit selbstlosen, nur ihrer Sache verpflichteten Spezialisten zu tun haben: Wie kommunizieren sie untereinander, tauschen sich aus, kooperieren, verstehen sich, haben Verständnis füreinander? Werden wir sprachlos, wenn wir nurmehr mit unseresgleichen sprechen können – gefangen in einem engen Korsett, isoliert und begrenzt, verständnislos und unverstanden bezüglich aller Angelegenheiten außerhalb unseres Fachgebiets, das ja gerade wegen seiner Grenzen der Erweiterung und Ergänzung bedarf?