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Aktive Schülerinnen und Schüler sowie bessere Leistungen bei gleichzeitig hohem Wohlbefinden und guten sozialen Beziehungen sind berechtigte Erwartungen an kooperative Lehr-Lernformen. Frank Borsch erläutert in leicht verständlicher Weise Theorie und Praxis kooperativen Lernens. Es werden verschiedene Methoden beschrieben, bei denen Schülerinnen und Schüler Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen und sich gegenseitig unterstützen. Den Lehrpersonen kommt dabei eine neue Rolle zu. Auch hierzu gibt das Buch Anregungen. Anschauliche Beispiele aus dem Unterricht und Forschungsergebnisse unterstützen die Ausführungen und liefern starke Argumente für den Einsatz kooperativer Methoden. Berücksichtigt werden auch Dimensionen der Unterrichtsqualität sowie das kooperative Lernen im inklusiven Unterricht und an der Hochschule.
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Seitenzahl: 237
Der Autor
Dr. Frank Borsch ist Dozent am Institut für Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main mit den Schwerpunkten Kooperatives Lernen und Inklusion.
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Die Abbildungen 2.1, 2.2, 2.3, 3.1, 4.1 und 4.6 wurden von Moritz Grimm, Absolvent der Städelschule Frankfurt, gezeichnet.
3., aktualisierte Auflage 2019
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-034136-4
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Vorwort zur dritten Auflage
1 Einleitung
2 Soziale Interdependenzen beim schulischen Lernen
3 Kooperatives Lernen
3.1 Basiselemente kooperativen Lernens
3.2 Förderung kooperativer Fähigkeiten
3.3 Dimensionen der Unterrichtsqualität
3.4 Inklusion
3.5 Hochschule
4 Methoden
4.1 Gruppenrallye
4.2 Gruppenturnier
4.3 Gruppenpuzzle
4.4 Gruppenpuzzle II
4.5 Gruppenrecherche
4.6 Konstruktive Kontroverse
4.7 Reziprokes Lehren und Lernen
4.8 Skriptkooperation
4.9 Lautlese-Tandems
4.10 Kooperatives Lesen
5 Effektivität
5.1 Wissenserwerb
5.2 Soziale, motivationale und emotionale Lernziele
6 Rolle und Aufgaben der Lehrenden beim kooperativen Lernen
Literatur
Stichwortverzeichnis
Mittlerweile sind acht Jahre seit der ersten Auflage vergangen, die im Jahr 2015 grundlegend überarbeitet wurde. Die Überarbeitung war zum einen notwendig geworden, weil neuere Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung den Blick auf das Lehren und Lernen verändert haben. Zudem sind die Anforderungen an Schulen und Hochschulen einem steten Wandel unterworfen. Insbesondere bei der Diskussion über die schulische Inklusion geht es immer wieder um die Frage, wie ein effizienter Unterricht in stark heterogenen Lerngruppen gestaltet werden kann und auch Kinder und Jugendliche mit Schwierigkeiten beim Lernen bestmögliche Förderung erfahren. Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftler verweisen dabei nach wie vor auf die Potenziale des kooperativen Lernens, um die Basis für effektive Lernprozesse zu schaffen. Kooperatives Lernen wirkt aber auch sozialintegrativ und unterstützt so gleichzeitig ein friedliches Miteinander im inklusiven Klassenzimmer. Deshalb wurde die zweite Auflage vor allen Dingen um Ausführungen zur Unterrichtsqualität, zur Leseförderung und zur schulischen Inklusion erweitert. Die erste Auflage war zudem stark am schulischen Unterricht ausgerichtet und es fehlten Hinweise auf Möglichkeiten, Hochschulseminare kooperativ zu organisieren. Dem wurde in der zweiten Auflage ebenfalls durch ein eigenes Kapitel abgeholfen. Ich selbst nutze das Buch als Literaturgrundlage in – selbstverständlich kooperativ organisierten – bildungswissenschaftlichen Seminaren für angehende Lehrerinnen und Lehrer und auch als Prüfungsliteratur für das Erste Staatsexamen. So erfahre ich durch die Rückmeldungen der Studierenden unmittelbar, wo und wie ich die Inhalte anders darstellen könnte, um die Lesefreundlichkeit und das Textverständnis zu erhöhen. Neben weiteren Aktualisierungen wurden deshalb für die dritte Auflage an der einen oder anderen Stelle Textteile neu formuliert oder angeordnet. Die grundlegende Struktur des Buches ist jedoch gleichgeblieben. Danken möchte ich Andreas Gold für die vielfältige Unterstützung.
Frankfurt am Main im Oktober 2018
Frank Borsch
Dieses Buch beschäftigt sich mit kooperativem Lernen in wissenschaftlicher Theorie und unterrichtlicher Praxis aus Sicht der Pädagogischen Psychologie. Es richtet sich sowohl an Lehrerinnen und Lehrer in Schule und Hochschule, die an einer wissenschaftlichen Fundierung ihres pädagogischen Handelns interessiert sind, als auch an Studentinnen und Studenten, die theoretische Kenntnisse erwerben und in der pädagogischen Praxis anwenden möchten. Es richtet sich selbstverständlich auch an alle anderen Personen, die an Bildungsfragen interessiert sind und erkannt haben, dass Erziehungsprogramme und -praktiken auf wissenschaftlichen Kenntnissen beruhen müssen. Der Spagat zwischen praktischer Anleitung und wissenschaftlicher Auseinandersetzung ist in der Darstellung nicht immer leicht. Dieses Buch wählt einen Mittelweg, der im Zweifelsfall eher zugunsten der leichteren Verständlichkeit für die nicht in der Wissenschaft Tätigen, die an der praktischen Umsetzung interessierten Pädagogen, beschritten wurde. Detaillierte Anleitungen zur Umsetzung kooperativen Lernens, praktische Unterrichtsbeispiele und zusätzliche Erläuterungen zu einem neuen Rollenverhalten der Lehrenden beim kooperativen Unterrichten sind Beispiele dafür.
Alle in diesem Buch vorgestellten kooperativen Methoden sind wissenschaftlich erprobt. Wissenschaftliche Erprobung bedeutet aus Sicht der Pädagogischen Psychologie, dass systematische Beobachtungen und kontrollierte Untersuchungsanordnungen zum Einsatz kommen, um mit objektiven und angemessenen Erhebungs- und Auswertungsverfahren zu replizierbaren Aussagen über die Effektivität von Prozessen des Lehrens und Lernens zu gelangen. Die meisten in diesem Buch zitierten Forschungsarbeiten stammen aus den USA und aus Israel, aus Ländern, in denen kooperative Methoden bereits weit verbreitet sind. Sie belegen die Effektivität kooperativen Lernens, denn sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Erwachsene lernen mehr als im herkömmlichen, lehrergeleiteten Unterricht, wenn sie kooperativ lernen. Zudem hat kooperatives Lernen auch positive Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen zwischen den Lernenden und steigert sogar deren Wohlbefinden. Im deutschen Sprachraum sind kooperative Methoden, obwohl heutzutage nicht unbekannt, noch nicht weit verbreitet. Doch nach dem mäßigen Abschneiden deutscher Jugendlicher in internationalen Schulvergleichsstudien wird auch bei uns eine Bildungsdebatte geführt, welche die Unterrichtspraxis miteinbezieht. Die Erfordernisse eines inklusiven Schulsystems beleben die Debatte erneut. Es wird nach innovativen Unterrichtsansätzen verlangt, in denen Lernen nicht bloße Belehrung, sondern aktive Auseinandersetzung mit den Lerninhalten bedeutet und wo Lernfreude und Interesse gefördert werden und in denen die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler nicht als Hindernis, sondern als Ressource verstanden wird. Kooperatives Lernen ist eine Antwort darauf. Die Schülerinnen und Schüler lernen sich gegenseitig zu respektieren, einander zuzuhören, Kritik zu üben, ohne sich dabei zu verletzen, und Kompromisse einzugehen. Dabei ist es auch nötig, Perspektivwechsel vornehmen zu können, sich in die Lage des Mitschülers bzw. der Mitschülerin zu versetzen und Empathie zu verspüren. Das sind wichtige Voraussetzungen für die Gewährleistung eines friedlichen Miteinanders im Klassenzimmer. Der Anspruch an kooperatives Lernen ist demnach hoch. Kooperatives Lernen ist jedoch kein Patentrezept für einen gelingenden Unterricht, das alle Probleme in Luft auflöst. Mit dem vorliegenden Buch sollen interessierte Leserinnen und Leser angeregt werden, über Lehren und Lernen nachzudenken, und sie sollen dazu motiviert werden, die eine oder andere kooperative Methode auch im eigenen Unterricht einzusetzen. Manche der beschriebenen Methoden sind in erster Linie auf den Grundschulbereich ausgerichtet, einige Methoden sind – wenn nicht sogar besser –, für die weiterführende Schule oder Hochschule geeignet.
Die Suche nach innovativen Unterrichtskonzepten für die Hochschule war für uns, eine Arbeitsgruppe zum kooperativen Lernen an der Goethe-Universität Frankfurt, der Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit kooperativen Lernformen. Als Lehrende selbst unzufrieden mit der Situation in überfüllten Seminaren, in denen sich nur wenige Studierende an Diskussionen beteiligten, und in Kenntnis der empirischen Belege zu den besseren Lernleistungen beim kooperativen Lernen haben wir vor bald 20 Jahren damit begonnen, Seminare der Pädagogischen Psychologie, die überwiegend von Lehramtsstudierenden besucht werden, nach einer kooperativen Methode, dem Gruppenpuzzle, zu organisieren. Das war anfangs gar nicht so leicht. Wir kannten die Methode zwar aus der Theorie, waren mit der organisatorisch-praktischen Umsetzung jedoch völlig unvertraut und mussten im Laufe der Zeit eine Vielzahl an neuen Erfahrungen sammeln. Letztlich bestätigte jedoch der Erfolg, dass sich die Mühen gelohnt haben. Die Studierenden schätzten die kooperativen Seminare am Ende positiver und interessanter ein und sagten von sich selbst, dass sie dort mehr gearbeitet und sich häufiger an Diskussionen beteiligt hätten und auch, dass sie sich insgesamt mehr zum Nachdenken angeregt fühlten als in herkömmlich organisierten Seminaren, in denen (nur) Referate vorgetragen werden. Mit einigen Studierenden der kooperativen Seminare entstand so eine fruchtbare Zusammenarbeit über das Seminar hinaus. Gemeinsam entwarfen wir kooperative Unterrichtseinheiten für den Sach- und Mathematikunterricht der Grundschule und erprobten diese in verschiedenen Schulen. So konnten wir neben empirischen Daten vor allem auch praktische Erfahrungen zum kooperativen Lernen sammeln, die in diesem Buch weitergegeben werden sollen – wohl wissend, dass aller Anfang schwer ist und dass die Umsetzung neuer Methoden viel Engagement und einen langen Atem der Lehrerinnen und Lehrer erfordert. Gelegentlich bedarf es tatsächlich einigen Durchhaltevermögens, bis sich die ersten Erfolge einstellen und die Potentiale kooperativen Lernens voll ausgeschöpft werden können. Für die Lernenden sind kooperative Methoden eine neue Chance, sich zu beweisen. Und für die Lehrenden auch eine Herausforderung, die nicht immer leicht zu bewältigen ist. Aber: Seien wir ins Gelingen verliebt.
Sicherlich haben Sie es selbst schon einmal erlebt: Sie haben ein Problem, z. B. finden Sie partout nicht den richtigen Weg, einen Text mit Ihrem Textverarbeitungsprogramm in einer bestimmten Weise zu formatieren, und bitten eine Kollegin oder einen Kollegen um Hilfe. Doch schon während Sie das Problem beschreiben, kommen Sie selbst auf die richtige Lösung. War es die Beschreibung bzw. Erklärung Ihrer Problemlage, die Sie auf den richtigen Weg gebracht hat? Manchmal ist es jedoch nicht so einfach und Sie müssen noch weitere Personen miteinbeziehen. Gemeinsam finden Sie dann vielleicht die richtige Lösung. Wieso, werden Sie sich in diesem Fall fragen, bin ich nicht selbst darauf gekommen? Wissen drei Personen mehr als eine?
Ein anderes Beispiel: Eigentlich haben Sie sich vorgenommen, im Park zu joggen. Ein Blick in den wolkenverhangenen Himmel genügt, und Sie beschließen, zu Hause zu bleiben. Eine Woche später befinden Sie sich in derselben Situation, nur diesmal sind Sie mit Freunden zum Laufen verabredet. Werden Sie wieder zu Hause bleiben? Vermutlich nicht und letztlich haben Sie wahrscheinlich großen Spaß am gemeinsamen Laufen, obwohl es tatsächlich angefangen hat zu regnen. Und mehr noch, trotz Regens war die Zeit, die Sie für die gelaufene Runde benötigten, möglicherweise sogar besser, als wenn Sie alleine gelaufen wären. Lag das alles am Laufen in der Gruppe? Diese Beispiele zeigen, dass gemeinsames Problemlösen und Handeln Spaß machen und zu besseren Leistungen führen können. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch Situationen gibt, in denen es besser ist, sich alleine mit einem Problem auseinanderzusetzen und eigenständig eine Lösung zu suchen. Aber kooperatives Handeln birgt große Potentiale. Wahrscheinlich fallen Ihnen aber auch Beispiele ein, bei denen die Bilanz nicht so positiv ausfällt. Wie beispielsweise bei der Gruppenarbeit in einem Seminar an der Universität: Die meisten Kommilitonen Ihrer Gruppe haben gut mitgearbeitet, andere sind aber erst zur Präsentation der Gruppenarbeit wieder erwacht. Die engagierten Studierenden waren verärgert über die mangelnde Mitarbeit der anderen und auch enttäuscht, weil am Ende auch diese ihre Credit Points bekommen haben. Auch wenn es solche Probleme gibt, ist kooperatives Lernen und Arbeiten ein wichtiges, ja zentrales Prinzip unserer Gesellschaft, in unseren Familien und in der Arbeitswelt. Wie Gruppenarbeit auch in Schule und Hochschule fruchtbar und zur erfolgreichen Kooperation werden kann, soll in diesem Buch vermittelt werden.
Kooperation bedeutet zusammenzuarbeiten, um gemeinsam Ziele zu erreichen und ein zufriedenes Leben zu führen. Gerade in wirtschaftlich und politisch schwierigen und konfliktreichen Zeiten kommt der Kooperationsfähigkeit und der Bereitschaft zur Verständigung eine besondere Bedeutung zu – sie sollten deshalb in besonderem Maße gefördert werden. Die Schule scheint dafür der richtige Ort zu sein, kommen hier doch die Kinder aus den unterschiedlichsten Familien und mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen zusammen. Aufgabe der Schule ist es, alle Kinder zu fördern, um ihnen die bestmöglichen Bildungschancen zu eröffnen. Aufgabe der Schule ist es deshalb auch, den Kindern kooperative Kompetenzen zu vermitteln, um trotz oder gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit ein friedliches und erfolgreiches Miteinander zu ermöglichen. Das mag nach pädagogischem Idealismus klingen, der die empirisch abgesicherte Erkenntniswelt der Pädagogischen Psychologie verlässt. Gleichwohl spielen solche Bildungsziele neben der notwendigerweise nachzuweisenden Effektivität auch eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für die Anwendung kooperativer Unterrichtsmethoden. Entscheidend ist, dass die Methoden der Zielerreichung einer empirischen Überprüfung unterzogen werden.
Kooperatives Lernen ist keine neue Erfindung, sondern war schon in verschiedenen reformpädagogischen Ansätzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und noch viel früher ein Thema, wie beispielsweise bei Johann Amos Comenius (1592–1670). Die neuerlichen Begründungen für den verstärkten Einsatz kooperativen Lernens setzen nach Hasselhorn und Gold (2017, S. 301) auf drei Ebenen an:
1. Das kooperative Lernen soll helfen, dass im Unterricht nicht nur kognitive, sondern auch motivationale und emotionale Lernziele erreicht werden.
2. Durch kooperative Lehr-Lern-Formen sollen die Qualität und die Anwendbarkeit des erworbenen Wissens verbessert werden.
3. Der Einsatz kooperativer Lehr-Lern-Formen soll sozialintegrative Wirkungen entfalten.
Ob sich Schülerinnen und Schüler oder Studierende kooperativ verhalten und wechselseitig beim Lernen unterstützen, hängt in erster Linie von der Organisationsform des Unterrichts ab. Welche unterschiedlichen Organisationsformen des Unterrichts es gibt, wird in Kapitel 2 anhand der Theorie zur sozialen Interdependenz erläutert. Damit wird der Boden für eine theoretische Einbettung kooperativen Lernens bereitet.
In Kapitel 3 wird kooperatives Lernen näher beschrieben und deutlich gemacht, dass nicht jede Form der Gruppenarbeit mit kooperativem Lernen gleichgesetzt werden kann. Gruppenarbeit enthält nämlich viele Fallstricke, die dazu führen können, dass sich nicht alle Gruppenmitglieder in gleicher Weise für das Lernen verantwortlich fühlen. Dies kann zu Motivationsproblemen und zu schlechten Lernergebnissen führen sowie ein schlechtes Gruppenklima und eine Abneigung gegen Formen des gemeinsamen Lernens nach sich ziehen. Echtes kooperatives Lernen hingegen basiert auf den zwei zentralen Elementen einer kooperativen Organisationsform – auf der wechselseitigen Abhängigkeit und auf der individuellen Verantwortlichkeit unter den Lernenden. Damit schließt sich der Kreis zur Theorie der sozialen Interdependenz, in der diese beiden kooperativen Kernelemente definiert wurden. Es kommt jedoch auch darauf an, dass die Lehrperson die Arbeitsaufträge und Zielsetzungen des Unterrichts wohlüberlegt plant, den Lernenden verständlich vermittelt und ihre Erfüllung auch nachdrücklich einfordert. Damit dies gelingt, muss sie für einen störungsfreien Ablauf des Unterrichts sorgen. Dies alles gehört zu einer effizienten Klassenführung, die für einen erfolgreichen Unterricht unabdingbar ist. Ebenso müssen sich die Lernenden von den zu bewältigenden Aufgaben kognitiv herausgefordert fühlen und bei Problemen zuverlässig mit der konstruktiven Unterstützung durch die Lehrperson rechnen können. Nur wenn diese drei Dimensionen der Unterrichtsqualität berücksichtigt werden, kann kooperatives Lernen sein Potential voll entfalten. Deshalb wird der kognitiven Aktivierung, der konstruktiven Unterstützung und der Klassenführung ein eigener Gliederungspunkt in Kapitel 3 gewidmet. Zwei weitere Gliederungspunkte beziehen sich auf das kooperative Lernen im inklusiven Unterricht und in der Hochschule. Das ist notwendig, um auf einige Besonderheiten des kooperativen Lernens in diesen Bereichen hinzuweisen.
Nach den theoretischen Grundlagen zum kooperativen Lernen werden in Kapitel 4 spezifische Methoden kooperativen Lernens für die unterrichtliche Praxis beschrieben. Allen vorgestellten Methoden ist gemeinsam, dass sie auf den Basiselementen kooperativen Lernens beruhen und wissenschaftlich erprobt sind. Die Methoden unterscheiden sich jedoch in der Art ihrer praktischen Umsetzung und hinsichtlich ihrer Eignung in den unterschiedlichen Anwendungsbereichen. Lehrerinnen und Lehrer an Schule und Hochschule finden hier die nötigen Informationen, um zu entscheiden, welche Methode für ihre Lerngruppe und die intendierten Unterrichtsziele die jeweils geeignete ist. Deshalb wird auch an manchen Stellen von Schülerinnen und Schülern und an anderen eher von Studierenden gesprochen und es werden entsprechende Beispiele angeführt. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass die Methode für die jeweils andere Zielgruppe gänzlich ungeeignet ist. Darum wird auch häufig einfach von den Lernenden oder Gruppenmitgliedern gesprochen. Im gewissen Sinne sind somit alle Personenbezeichnungen mehr oder weniger synonym zu verstehen. Mit Unterricht ist sowohl der schulische als auch der Unterricht an der Hochschule gemeint. Die praktische Vorgehensweise bei der Umsetzung der Methoden im Unterricht wird systematisch beschrieben und anhand von Unterrichtsbeispielen veranschaulicht. Auch wenn die Methoden in einzelnen Schritten wie in einem Skript beschrieben sind, lassen sie sich nicht immer genauso für die eigene Lerngruppe und die eigenen Unterrichtsinhalte umsetzen. Hier sind Eigenleistungen und Kreativität der Lehrerinnen und Lehrer gefordert, die kooperatives Lernen aufwändiger machen als herkömmlichen, lehrergeleiteten Unterricht. Um diesen Lehrerinnen und Lehrern Mut zu machen und ihnen Argumente für die Anwendung kooperativer Methoden an die Hand zu geben, werden Forschungsergebnisse zur Effektivität der jeweiligen Methode leicht verständlich beschrieben. Methoden, die nachweislich wirksam sind, werden eher den (anfänglichen) Mehraufwand rechtfertigen, der mit dem kooperativen Lernen meist verbunden ist.
Empirische Forschungsergebnisse sind auch Gegenstand des fünften Kapitels. Es wird über den Lernzuwachs ( Kap. 5.1) und über die Wirkung auf soziale, motivationale und emotionale Erlebens- und Verhaltensweisen ( Kap. 5.2) beim kooperativen Lernen berichtet. Zwei Dinge sind in diesem Kapitel ungewöhnlich und damit erklärungsbedürftig. Zum einen wird zunächst dargelegt, wie kooperatives Lernen in empirischen Studien überhaupt untersucht wird und wie die gewonnenen Daten verständlich dargestellt und interpretiert werden können. Wissenschaftliche Methoden und Statistik sollen jedoch nicht abschrecken, sondern es Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen, ihr eigenes praktisches Handeln auf wissenschaftlicher Basis zu reflektieren. Zum anderen wird noch einmal auf die Theorien zum kooperativen Lernen Bezug genommen, um die Lernerfolge beim kooperativen Lernen zu erklären. Diese Theorien sind aufgrund des im vorherigen Kapitel gewonnenen Wissens über die verschiedenen kooperativen Methoden nun leichter einzuordnen.
Kooperatives Unterrichten bedeutet nicht nur die Anwendung bestimmter Methoden – es weist auch der Lehrerin bzw. dem Lehrer eine gänzlich andere Rolle im Unterricht zu. Steht die Lehrperson im herkömmlichen Unterricht gewöhnlich im Mittelpunkt des Geschehens und ist auch ständig aktiv, indem sie erklärt, anleitet und unterstützt, muss sie sich im kooperativen Unterricht eher zurücknehmen und einen großen Teil der Verantwortung an die Lernenden übertragen. Welche Aufgaben sie stattdessen übernehmen muss, wird in Kapitel 6 beschrieben.
Obwohl sich die Kapitel stark aufeinander beziehen, können sie je nach Interesse und Vorkenntnissen der Leserinnen und Leser durchaus auch für sich oder in anderer Reihenfolge gelesen werden. Um das Leseverständnis zu erleichtern, sind die inhaltlichen Ausführungen innerhalb der Kapitel einheitlich strukturiert. Jedes Kapitel der ersten Gliederungsebene beginnt mit einer kurzen, kursiv formatierten Vorausschau über die behandelten Themen und endet mit einer grau unterlegten Zusammenfassung der zentralen inhaltlichen Aussagen. Neben der Vorschau und der Zusammenfassung gibt es insgesamt vier weitere, strukturierende Elemente:
Eine grundlegende psychologische Theorie wird erläutert.
Ein anschauliches Beispiel aus dem Unterricht wird gegeben.
Exemplarisch wird eine empirische Untersuchung vorgestellt.
Merke: Eine inhaltliche Kernaussage wird beschrieben.
Selbstverständlich kann und will dieses Buch nicht alle Fragen zum kooperativen Lernen erschöpfend klären. Wenn Ihr Interesse am kooperativen Lernen geweckt werden konnte und Sie weitere Informationen zum kooperativen Lernen wünschen, sei Ihnen das Literaturverzeichnis mit weiterführender Literatur am Ende des Buches empfohlen.
Wichtigste Grundlage echter Kooperation ist, dass unter den Mitgliedern einer Gruppe, die ein gemeinsames Ziel verfolgen, eine positive wechselseitige Abhängigkeit, auch positive Interdependenz genannt, besteht. Das gilt nicht nur für das Lernen in Schule und Hochschule, sondern auch für alle anderen Lebensbereiche, in denen Menschen zusammenkommen, um gemeinsam Ziele zu erreichen oder Probleme zu lösen. Dass Schülerinnen und Schüler bzw. Studierende erfolgreich gemeinsam lernen und sich wechselseitig unterstützen, setzt voraus, dass der Unterricht in einer Form organisiert wird, die Kooperation überhaupt möglich, ja sogar notwendig macht. Auf Grundlage der Theorie der sozialen Interdependenz werden verschiedene Organisationsformen des Unterrichts beschrieben und die besonderen Potentiale einer kooperativen Organisationsform erläutert.
Positive Interdependenz ist das grundlegende Prinzip jeglicher Kooperation, auf dem auch alle im Folgenden beschriebenen spezifischen kooperativen Unterrichtsmethoden aufbauen. Man kann die positive Interdependenz mit der wechselseitigen Abhängigkeit und dem »Aufeinander-Angewiesen-Sein« einer Seilschaft beim Bergsteigen vergleichen: Der Einzelne einer Seilschaft kann den Gipfel nur erreichen, wenn es allen anderen auch gelingt.
Abb. 2.1
Es gibt aber auch Situationen, in denen Mitglieder einer Gruppe nicht in einem positiven Sinne voneinander abhängig sind, so beispielsweise Wettbewerbssituationen. Bei einem 100-Meter-Lauf, den man gewinnen möchte, herrscht negative Interdependenz. Um mein persönliches Ziel zu erreichen, muss ich alle anderen hinter mir lassen. Der Erfolg des einen bedeutet zugleich den Misserfolg der anderen.
Abb. 2.2
Was hat das alles mit dem Unterricht zu tun? Nach der Theorie der sozialen Interdependenz lassen sich im Unterricht grundsätzlich drei Organisationsformen unterscheiden, die die Art und die Richtung der sozialen Interdependenz zwischen den Schülerinnen und Schülern bestimmen:
1. kompetitive,
2. individualistische,
3. kooperative.
Wenn Sie sich in Ihre Schulzeit zurückversetzen, können Sie sich vielleicht erinnern, wie man mit unerlaubtem Fingerschnipsen nach einer Lehrerfrage auf sich aufmerksam macht, weil man sicher ist, die richtige Antwort zu wissen. Man möchte die eigene Leistung aufzeigen, selbst wenn es mit dem Risiko verbunden ist, als Streber zu gelten. Mit der richtigen Antwort nimmt man allen anderen die Möglichkeit, ebenfalls ihre Leistungen und Kenntnisse zu demonstrieren. Solche Unterrichtssituationen unterliegen einer kompetitiven Organisationsform. Die Schülerinnen und Schüler konkurrieren um die Aufmerksamkeit und um die positive Bewertung durch die Lehrperson und jeder Einzelne kann sein Ziel nur erreichen, wenn er alle anderen wie bei einem 100-Meter-Sprint, den es zu gewinnen gilt, hinter sich lässt. Hier besteht demnach eine negative Interdependenz: Der Erfolg des einen bedeutet den Misserfolg der anderen. Im herkömmlichen Unterricht ist eine kompetitive Organisationsform häufig zu beobachten. Das verwundert, kann es doch nach Johnson und Johnson (1999) zu erheblichen Nachteilen und Problemen führen: Bei den leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern kommt es – wenn sie in ihrem Bemühen erfolglos bleiben – nicht selten zu Resignation und zur Verringerung der Lernmotivation. Bei den Leistungsstarken besteht die Gefahr, dass sie sich nicht mehr anstrengen, da ihr Erfolg ohnehin gesichert erscheint. Die durch den Wettbewerb induzierte Konkurrenzsituation in der Klasse verschlechtert zudem die sozialen Beziehungen zwischen den Schülerinnen und Schülern.
Anders verhält es sich bei einem Unterricht mit individualistischer Organisationsform, wenn die Lehrerin z. B. eine Stillarbeit vergibt, die alle Schülerinnen und Schüler unabhängig voneinander für sich bearbeiten sollen. Für das Ergebnis eines Lernenden spielen die Ergebnisse der anderen keine Rolle. Jede und jeder kann zeigen, was sie oder er kann, da die Konkurrenz innerhalb der Lerngruppe nicht mehr gegeben ist.
Abb. 2.3
Die Bewertung schulischer Leistungen erfolgt hier üblicherweise anhand eines absoluten Gütemaßstabs. Beispielsweise sollen im Mathematikunterricht mindestens fünf von acht Aufgaben eines Arbeitsblatts selbstständig richtig bearbeitet werden oder im Sachunterricht soll mit einem Experimentierkasten ein funktionierender Stromkreis aufgebaut werden. Zwischen den Schülerinnen und Schülern besteht keine Interdependenz, es gibt keine Notwendigkeit miteinander zu interagieren, ganz im Gegenteil, dies würde eher als störend empfunden werden. In der Hochschule finden individualisierte Formen des Unterrichts beispielsweise auf e-learning-Plattformen statt, wenn die Studierenden Arbeitsaufträge individuell bearbeiten und die Ergebnisse hochladen.
In einem Unterricht mit kooperativer Organisationsform ist den einzelnen Lernenden hingegen bewusst, dass sie ihr individuelles Ziel nur erreichen, wenn auch alle anderen das Ziel erreichen. Im schulischen Unterricht kann positive Interdependenz beispielsweise durch eine Aufgabenverteilung realisiert und erzwungen werden. Jedes Kind bearbeitet z. B. für das Rahmenthema »Wetter« nur einen Teilbereich des Themas, wie etwa Niederschläge, Wolken oder Gewitter. Anschließend tauschen sich die Kinder über die verschiedenen Teilbereiche aus, die sie sich arbeitsteilig erarbeitet haben, um so alle Aspekte zum Thema »Wetter« kennenzulernen. Nach dem gleichen Prinzip kann auch mit erwachsenen Lernern gearbeitet werden. Es gibt neben der arbeitsteiligen Aufgabenzuweisung auch noch andere Möglichkeiten, um positive Interdependenz im Unterricht zu erzeugen. Sie werden im dritten Kapitel, beziehungsweise bei der Beschreibung der verschiedenen kooperativen Methoden in Kapitel 4, näher erläutert.
Zentrales Merkmal eines Unterrichts mit kooperativer Organisationsform ist also eine positive Interdependenz unter den Lernenden, bei der sich eine Atmosphäre gegenseitiger Unterstützung und Verantwortung bei der Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe entwickeln kann. Mit der positiven Interdependenz ist es aber nicht getan. Hinzu kommt notwendigerweise das Erzeugen einer individuellen Verantwortlichkeit der Lernenden. Individuelle Verantwortlichkeit bedeutet, dass die Lernenden sowohl für ihr eigenes Lernverhalten als auch für die Lernprozesse ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler bzw. Kommilitoninnen und Kommilitonen verantwortlich sind ( Kap. 3.1 Basiselemente kooperativen Lernens). In Tabelle 2.1 sind die zentralen Aspekte der drei Organisationsformen zusammengefasst.
Tab. 2.1: Organisationsformen schulischen Unterrichts nach Johnson und Johnson (1999)
Organisationsformen von Unterrichtkooperativkompetitivindividualistisch
Für die Lehrpersonen ist es wichtig zu beachten, dass es sich bei Lerngruppen immer um soziale Gefüge handelt und dass immer eine Form der sozialen Interdependenz im Unterricht besteht. Sie sollten sich der verschiedenen Formen der sozialen Interdependenz und ihrer Effekte bewusst sein, um die Folgen für das soziale Miteinander einschätzen zu können. Natürlich macht es Kindern auch Spaß, sich untereinander zu messen und zu zeigen, was sie im Wettbewerb leisten können. In anderen Situationen und zur Erreichung anderer Lernziele ist es jedoch hilfreich, dass die Schülerinnen und Schüler eine Aufgabe still für sich alleine bearbeiten, um ihre individuellen Fähigkeiten und Lernfortschritte zu erkennen. Aber in den beiden unterrichtlichen Situationen mit einer kompetitiven bzw. mit einer individualistischen Organisationsform bleiben die sozialen Lernziele auf der Strecke. Unterricht mit kooperativer Zielsetzung beansprucht hingegen, soziale, kognitive, motivationale und emotionale Lernziele gleichermaßen zu erreichen.
Merke: Ob Lernende im Unterricht kooperieren, hängt entscheidend von der Organisationsform des schulischen Unterrichts ab. Wichtigste Kennzeichen einer kooperativen Organisationsform sind die positive Interdependenz und die individuelle Verantwortlichkeit.
Die Theorie der sozialen Interdependenz baut auf den gestalttheoretischen Arbeiten von Kurt Koffka und Kurt Lewin aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf (vgl. Johnson, 2003). Eine Grundannahme der Gestalttheorie, zu deren Mitbegründern Koffka zählt, besagt, dass das Ganze stets mehr ist als die Summe seiner Teile. Gegenstand gestaltpsychologischer Untersuchungen waren zunächst die Qualitäten sensorischer Erfahrungen – später wurden gestaltpsychologische Prinzipien auch auf andere Aspekte menschlichen Verhaltens und Erlebens bezogen. Ein Beispiel der Gestaltbildung ist, dass im Zusammenwirken einzelner Töne eine Melodie als Ganzheit wahrgenommen wird. Lewin hat gestalttheoretische Prinzipien im Rahmen seiner sogenannten Feldtheorie auf die Dynamik und das Verhalten von Mitgliedern in Gruppen ausgeweitet. Die Gruppe (z. B. eine Lerngruppe) wird von Lewin als Gestalt aufgefasst, die dem Einfluss verschiedener äußerer und innerer Kräfte ausgesetzt ist. Die Mitglieder einer Gruppe sind in einer Weise wechselseitig voneinander abhängig, dass eine Veränderung des Status oder des Verhaltens eines einzelnen Gruppenmitglieds immer auch eine Veränderung bei allen anderen nach sich zieht, was als soziale Interdependenz bezeichnet wird. Morton Deutsch erweiterte Lewins Theorie und beschrieb zwei unterschiedliche Formen der sozialen Interdependenz in Gruppen – eine positive und eine negative.
Zur Theorie der sozialen Interdependenz liegt mittlerweile eine Vielzahl von Untersuchungen aus ganz unterschiedlichen Anwendungsfeldern vor. Johnson (2003) fasst in einer Metaanalyse insgesamt 754 wissenschaftliche Studien zum Arbeiten und Lernen in Gruppen zusammen (zum besseren Verständnis der methodologischen Terminologie wird auf Kapitel 5 verwiesen). Er stellt dabei kooperative Arbeits- und Lernbedingungen den kompetitiven bzw. individualistischen gegenüber und berücksichtigt nur Studien, die in Sozial- und Bildungseinrichtungen sowie in Betrieben durchgeführt wurden. In Bezug auf das Alter der Personen, Art und Dauer der Lernmaßnahme und in Bezug auf die wissenschaftliche Qualität der Studie waren die Studien sehr unterschiedlich. Untersucht wurden Effekte (1) auf die Lern- und Arbeitsleistungen, (2) auf die sozialen Beziehungen in der Gruppe und (3) auf die psychische Gesundheit der Gruppenmitglieder. Es hat sich gezeigt, dass kooperative Bedingungen zu besseren Lernleistungen führen, einen positiven Effekt auf die interpersonalen Beziehungen und auf das soziale Unterstützungsverhalten haben und sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirken. In kompetitiven Lernsituationen gab es sowohl negative als auch positive Zusammenhänge mit der psychischen Gesundheit, in individualistischen Lernsituationen überwiegend negative. Ein wichtiger Aspekt der psychischen Gesundheit ist das Selbstwertgefühl. Kooperative Lernsituationen führen häufiger zu einem höheren Selbstwertgefühl als kompetitive oder individualistische Situationen.
Es gibt drei mögliche Organisationsformen von Unterricht. Besser als die kompetitive und die individualistische Organisationsform ist die kooperative Organisationsform geeignet, Lernerfolge auf unterschiedlichen Ebenen zu gewährleisten. Wenn kompetitive Organisationsformen im Unterricht überwiegen, kann sich das ungünstig auf die Lernmotivation und auf das soziale Klima in der Lerngruppe auswirken. Von einer kooperativen Organisationsform erhofft man sich hingegen positive Auswirkungen auf die kognitive, motivationale und emotionale Entwicklung der Lernenden. Die Realisierung kooperativer Organisationsformen setzt auf die Elemente der individuellen Verantwortlichkeit und der wechselseitigen (positiven) Interdependenz. Damit die sozialen Interaktionen in einer Lerngruppe gelingen, bedarf es besonderer sozialer Fähigkeiten.
Was ist kooperatives Lernen? Um diese Frage zu beantworten, werden zunächst verschiedene Auffassungen vom Lehren und Lernen vorgestellt und gezeigt, dass es nicht genügt, die Schülerinnen und Schüler oder die Studierenden anzuweisen, in Gruppen zu arbeiten und sich kooperativ zu verhalten. Damit in Gruppenarbeit tatsächlich kooperativ gelernt wird, müssen positive Interdependenz und individuelle Verantwortlichkeit sichergestellt werden. Beide Prinzipien sind als grundlegende Basiselemente kooperativen Lernens unerlässlich. Weitere fördernde Elemente sind die unterstützenden Interaktionen, die Reflexionen über den Gruppenprozess und die kooperativen Fertigkeiten.
Eine typische Situation beim Blick in ein Klassenzimmer: Die Lehrperson steht vor der Klasse und erläutert Unterrichtsinhalte oder diskutiert mit den Schülerinnen und Schülern. Ein solch lehrergeleiteter Unterricht, folgt meist einer kognitivistisch-rationalistische