Kopanski kehrt zurück - Jan Turovski - E-Book

Kopanski kehrt zurück E-Book

Jan Turovski

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Beschreibung

Fünfzehn Jahre hat Kopanski wegen Mordes gesessen. Mit nichts als einem alten Schweinslederkoffer seines Vaters und dem im Gefängnis erworbenen Verdienst steht er nun plötzlich draußen. Was soll er tun? Schnell kehrt er seiner Heimatstadt, der er vieles nicht verzeihen kann, den Rücken und fährt in die nächstgrößere Stadt Richtung Süden. Schon als Kind hatte er davon geträumt, dort zu leben. Frauen hat Kopanski satt. Doch plötzlich trifft er auf Nadine, die ohne Bleibe aber voller Geheimnisse ist. Wie wird er zurechtkommen, gibt es für Mord nach der Strafe so etwas wie ein gelingendes Leben? "Jan Turovski erzählt mit der gleichen sprachlichen Brillanz und Fertigkeit die Fortsetzung seines Erstlings von 1988, Die Sonntage des Herrn Kopanski. Zwischen lakonischem und poetischem Duktus entsteht ein Bild heutiger Wirklichkeit, in der Scheitern und Gelingen gleichermaßen möglich scheinen. Jan Turovski überrascht von Buch zu Buch mit völlig neuen dramaturgischen Mitteln und Themen, die die erstaunliche Bandbreite seines Könnens abbilden." Rumjana Zacharieva, Autorin, Übersetzerin und Publizistin, Mitglied im PEN. "Der in Bonn lebende Jan Turovski gehört zu jenen Autoren, die bemerkenswert gute Literatur schreiben, ohne großes Aufheben von sich zu machen." Mannheimer Morgen

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Kopanski kehrt zurück ist ein eigenständiges, fiktionales Werk. Es kann jedoch auch als Fortsetzung meines Romans Die Sonntage des Herrn Kopanski gelesen werden. Der Ort der Handlung, eine fiktive Stadt in Deutschland, liegt mit einem Teil des Personals beiden Büchern zu Grunde. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.

Jan Turovski

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreissig

Kapitel Einunddreissig

Kapitel Zweiunddreissig

Kapitel Dreiunddreissig

Kapitel Vierunddreissig

Kapitel Fünfunddreissig

Kapitel Sechsunddreissig

Kapitel Siebenunddreissig

Kapitel Achtunddreissig

Kapitel Neununddreissig

Kapitel Vierzig

EINS

Kopanski stand im Jetzt und hatte keine Vorstellung von der Zukunft. Die Zukunft war kurzfristig schmutziges Wasser im Rinnstein, schwerfällig aufkeimende Helligkeit, ein Schneerest auf einem schwarzen Dach, wächserne Trübe, ein Rinnsal an einem entfernten Fenster. Obwohl er Jahre damit gerechnet hatte, erlebte Kopanski eine höchst plötzliche Geschichte. Achter Februar. Hinter ihm galoppierte die Gefängnismauer. Das Wetter schlug um. Frei.

Das Tor hatten sie zugemacht. Es lag dicht hinter ihm. In den Augenwinkeln erkannte er nur Mauern, schwarzrot. Der Asphalt glänzte teilnahmslos. Alles was Kopanski besaß, war der Schweinslederkoffer seines Vaters, sechs Bücher, Kleidungsstücke ohne Alter und den Rest. Kleinteile wie er es nannte, darunter ein Füller, bordeauxfarben. Das Geld hatte er in der Gesäßtasche. Ungefähr zehntausend Euro. Der Lohn aus den Jahren hinter den Linien. Fünf Euro pro Tag. Den Rest hatte er ausgegeben. Kopanski war nun fünfzehn Jahre älter.

Er stand noch immer da, weil er nicht wusste wohin er gehen sollte. Seine Uhr hatte keine Batterie. Es mochte gegen zehn sein. Auf der Straße nichts als Wasser. Die Welt lag vor ihm. Doch Kopanski fühlte sich am Rande des Geschehens. Nirgendwo ein Geräusch. Mit dem Wort Aufbruch hatte er sich nächtelang herumgeschlagen. Erst als dieser dunkelgrüne Kleinlaster, mit Schlitzen im oberen Drittel, forsch in die Einfahrt bog, wandte er sich ab, ging nach rechts. Er ging zufällig nach rechts, bis er sich erinnerte vom überwiegenden Rechtsdrang der Menschen gelesen zu haben. Nichts ist Zufall, sagte er sich. Nichts.

Kopanski hatte keine Verwandten, keine Bleibe. Wiedereingliederungsmaßnahmen hatte er abgelehnt. Ich wurde niemals ausgegliedert, hatte er sich gesagt. Und war die Welt nicht überall gewesen, auch hinter den Linien? Außerdem hasste er das Wort Maßnahmen. Er dachte mit Wärme an seine Zelle, die er stets Zimmer genannt hatte.

Die Straße war ein langer Schlauch. Auch links eine Mauer, aber niedriger. Dahinter Kleinbetriebe, flache Lagerhäuser, ein verwaister Maschinenpark. Allmählich würde er sich den Menschen nähern. Er vermied es herumzustreifen. Die Welt lag vor ihm, jedoch mit zu Fäusten geschlossenen Fingern. Er ging zielstrebig, aber ohne entsprechendes Ziel. Kopanski übernahm eine Rolle, ohne es wirklich zu wollen. Praktizierte die Einübung ins Unvermeidliche.

Welches vorstellbare Ende hat diese Welt?, fragte sich Kopanski, der sich solche Fragen über Jahre nicht gestellt hatte. Wo er heute schliefe, daran dachte er noch nicht. Es kam ihm so vor, dass der Horizont beliebig wechselte. Er erkannte nichts wieder, denn in diese Gegend war er vor seinem Rückzug nie gekommen. Er hatte die Freiheit, hinzugehen wohin er wollte. Doch das Wort Freiheit band er nirgendwo an. Das Wort Rückzug schon. Er hatte sich jahrelang zurückgezogen. Das Wort Freiheit bildete keinen Kontrast dazu. Gefängnis, was für ein unangebrachtes Wort.

Er blieb stehen, erkannte in einem Hauseingang seine Mutter, die seit langem tot war. Sie stand heiter unter dem Rundbogen, lächelte wie ein Abziehbild. Sein Vater kam eilig im schwarzen Opel P4 vorgefahren, stellte den Schweinslederkoffer hin, mit dem er schon vor dem Krieg seine Knopfkollektion bis hinauf nach Königsberg transportiert hatte. Damals jedoch mit dem Zug. Kopanski schaute wohlwollend. Diese Geschichte kannte er nur aus Erzählungen. Auch sein Vater konnte nichts mehr erzählen.

Wir können jetzt essen, sagte seine Mutter im Garten, komm rein, Josef, die Kinder sind allein. Es musste kurz nach dem Krieg gewesen sein. Abends saßen die Eltern und hörten La Bohème vom Grammophon.

Kopanski stierte noch auf den Hauseingang. Die Fenster der Parterre-Wohnung waren auch mit Ziegelsteinen eingefasst. Wie zu Hause. Weiße, horizontale Linien bleckten stumpf die Zähne. Die Tür glänzte mit zu viel Klarlack aufgemöbelt. Seine Eltern waren verschwunden.

Weitere Details sah Kopanski nicht. Er ging wieder betont zielstrebig. Ich lasse mich treiben, sagte er sich gleichwohl, und niemand ahnt es. Er käme in die Stadt, in seine Stadt. Merkwürdig, dass er sie nun erst wieder entdecken müsste. Große Fragen hatte er nicht. Noch war er nicht nah genug. Er könnte abbiegen, die Ausfallstraße wegwandern, die Stadt ausmerzen, eine neue annehmen, hier gar nicht erst anfangen. Doch schon befand er sich in den ersten neonglühenden Schläuchen. Schmutzgraue, kahl zerfetzte Kreise säumten mittelgroße Bäume. Blasse Schneewunden klafften. Wagen parkten querbeet. Von fern hörte er Straßenbahnen und fühlte einen Stich. Später kreischte die Bahn sogar, und Kopanski blickte vorwurfsvoll.

Er dachte an Schwierigkeiten, die er gehabt hatte. Mit dem Schlaf, der Ernährung. Doch was waren das letztendlich für Schwierigkeiten, verglichen mit denen, die noch kommen würden. Er dachte es nicht wirklich. Es waren eher verdeckte Ahnungen. Die Welt war laut. Er benahm sich wie ein empfindliches Radar. Und es waren nicht nur die Geräusche, die laut waren.

Er betrat ein Uhrengeschäft. Niedrig hängende Halogenscheinwerfer ließen kein Geheimnis zu. Kopanski glaubte hier ungebeten einzudringen.

Ich brauche bitte eine Batterie, sagte er, und legte die Uhr vorsichtig hin.

Die muss gereinigt werden, sagte der Mann.

Ich will nur eine Batterie, sagte Kopanski.

Zwölf Euro, sagte der Mann.

Er legte das verschweißte Päckchen hin. Auch sein Mund war verschweißt.

Zwölf Euro, sagte Kopanski. Und soll ich die jetzt vielleicht selbst ...

Sonst gehen Sie doch zu Hertie, sagte der Mann.

Ein guter Tipp, nickte Kopanski, und ging.

Und mein Vater fuhr hinauf bis nach Königsberg um Knöpfe zu verkaufen, sagte er, als er draußen war. Er bog nach links ab, in eine abschüssige Straße, die auf Umwegen das Zentrum erreichen würde. Das Theater aus der Gründerzeit. Hohe Sockel hielten den Winterdreck fest.

Die Geschäftsstraße saß ihm im Nacken. Am oberen Ende köchelte sie weiter. Er hielt sich an einem rotweißen Pfahl fest, der eine Einfahrt teilte.

Ist Ihnen nicht gut, hörte er jemanden von rechts, fehlt Ihnen vielleicht was?

Das kann man wohl sagen, sagte Kopanski. Mir fehlen Batterien, ein Zimmer, eine Dusche, ein Job, ein Fernseher. Sonst fehlt mir nichts. Ja, und Stille fehlt mir, Stille ist was Wesentliches.

Aha, sagte der Mann gedehnt, und machte eine hilflose Handbewegung. Autobatterie?, fragte er.

Nee, sagte Kopanski, wenn ich die hätte, fehlte mir ja auch noch das Auto, er tippte auf seine Uhr.

Halb elf, sagte der Mann, na ja, also dann.

Also dann, brummte Kopanski, er setzte den Weg fort. An der nächsten Querstraße ging er abrupt nach rechts.

Die Häuser hier hatten drei, vier Treppen ins Innere. Sie hatten fatale Ähnlichkeit mit seiner vorletzten Bleibe. Das Gesicht seiner Wirtin wollte ihm aber nicht einfallen. Kopanski hatte nicht die geringste Lust, die Häuser zu betreten. Er sah auch eine große Chance darin, nirgendwo aufzuschließen, wo allzu vertraute Geräusche auf ihn warten konnten.

Weißt du was null ist?, hatte ein Kommilitone gefragt, (er nannte die Männer im Gefängnis Kommilitonen), null ist nicht nur nichts. Es kann auch alles sein. Alles Neue. Alles bisher Unbekannte, verstehst du. Was bisher war, ist ausradiert. Du bist dein erster Buchstabe auf einem weißen Blatt Papier. Das ist das Einzige was mich reizt und aufrecht erhält. Die Null, Kopanski, die Null ist alles. Nie mehr eine Wirtin, dachte er.

Aus der Reinigung kam eine entschlossene Frau mit gelber Lacktüte, schwang die Tür eines schwarzen Golf auf, warf die Tüte auf den Rücksitz, startete. Ihre Hand schob wie eine Forke das Haar nach hinten. Null, dachte Kopanski. Einfach null. Du bist jetzt eine Null, egal was du auch fühlst.

In seinen Augen klirrten grelle Zahlen von der Fensterscheibe der Reinigung. Rot, gelb, grün. Schrien sich an, hinterließen schwarze und weiße Löcher, die sich kreisend weich veränderten. Bei Tchibo stellte er sich an den einbeinigen Tisch und bestellte Kaffee.

Sonntags, bei seinen Eltern, hatte stets ein intensiver Kaffeegeruch das ganze Haus durchzogen. Lange bevor der angekündigte Besuch eingetroffen war, hatte seine Mutter alles fertig. Parat, wie sie das nannte. Sie war singend durch die Räume geglitten, hatte hier und da etwas geglättet oder justiert. Küchenglanz im Gegenlicht. Bis er zwölf war hatte Mutter seinen Scheitel stets feucht nachgezogen. Das hatte er über sich ergehen lassen. Am meisten hatte er die Höflichkeitsverbeugungen vor den Erwachsenen gehasst, Diener genannt, die er und sein Bruder machen mussten. Später hatte er sich dagegen gewehrt, ungefähr in der Zeit, als er auch die obligatorische, katholische Christenlehre zu schwänzen begann.

Er kam zu einem Fernsehladen, er musste sich wundern. Zig Apparate rangen wie kühle Models um Aufmerksamkeit. An der Rückwand blühten 25 gleich große Monitore, fünfundzwanzig, vielfarbig tonlos. Einer davon galoppierte. Streifenblöcke verfolgten sich und holten sich nicht ein. Kopanski wurde übel. Massive Fronten waren in Habachtstellung. Vereinzelt suchten lustlose Kunden in Sonderangeboten. Es war wie Strafe, unter all den tropfenden Markisen zu gehen. Immer wieder blieb er stehen, brachte es nicht fertig, die Fülle in den Schaufenstern zu übersehen, dreimal passierte er noch den Fernsehladen. Gegen Mittag hatte er bereits starke Kopfschmerzen. Er musste zur Apotheke.

Jetzt kam er in Straßen, die er genau kannte. Manche Gebäude waren verschwunden. Neue eingefügt, wie aufgemotzte Zwerge. Kopanski konnte sich mit nichts identifizieren. Für nichts hegte er leidenschaftliche Gefühle, nicht einmal Sympathie. Vielfach erkannte er Moden, die ihm neu waren. In einer Eck-Apotheke kaufte er ein Kopfschmerzmittel, ließ sich ein Glas Wasser geben. Die früher üblichen alten Möbel waren verschwunden. Es gab weiße, schmale Zugschubladen, die alles sehr anonym machten. Vor dem Schaufenster redeten Jugendliche heftig, vollführten erschreckende Bewegungen. Ihre Sprache war kantig, gebrochen, hektisch. Während des Streits wurden Zigaretten ausgetauscht, entzündet; Bierflaschen, kurz und bündig, kreisten feucht. Einige flogen in den Rinnstein. Zufällig trafen sie niemanden. Man verstand die Worte nicht. Es waren Wortreste, für die man kompatibel sein musste. Einer, blass und kahl, bis auf eine in der Mitte des Kopfes verlaufende lila Haarbürste, hatte eine frische Wunde über der rechten Schläfe. Auf einem Autodach deponierten andere ungeniert ihre Flaschen. Er selbst hatte der Gewalt in den Jahren hinter den Linien stets entgehen können. Etwas schien ihn zu schützen, andere traf es unentwegt.

Eine Reihe von Automodellen kannte Kopanski nicht. Das war ihm ziemlich gleichgültig. Einigen Autos schien es besser zu gehen als vielen Menschen. Von fern sah er den Bahnhof und bekam Magendrücken. Die riesige Uhr drohte streng. Man hetzte, als ginge morgen die Welt unter. Er hatte viel gelesen in den letzten Jahren. Hatte sich mit Thoreau beschäftigt, moosbewachsene Eichen gehörten inzwischen fest zur Bildergalerie seiner Sehnsucht. Stark leuchtendes Laub fiel in sein Bewusstsein. Schluchten sogen ihn ein, in denen er wanderte, und die sich ganz allmählich öffneten. Einzelne Gehöfte tauchten auf, wahre Einödhöfe, Flecken, Dörfer, immer war der Wald nah. Und jetzt dies. Die vierspurige Straße zum Bahnhof war auch noch großspurig aufgerissen. Am Kiosk kaufte er West Lights, Zigaretten, die er nur aus dem Fernsehen kannte. Sie waren die billigsten. Er musste sich einteilen. Er blieb auf einer Bank und rauchte.

Er saß einfach da, im gläsernen, zur Frontseite offenen Kasten der Bushaltestelle, schüttelte den Kopf. Es war mild. Ein feiner Überzug auf Menschen und Gebäuden schien ihn täuschen zu wollen. Aus was der war, konnte er nicht verstehen. Es ist nicht zu fassen, dachte er, ich sitze tatsächlich hier.

Taxi?, fragte ein Mann, und griff nach Kopanskis Koffer.

Nein, sagte er, ich sitze hier nur so. Ich warte.

Er saß, er schloss die Augen. Die Stadt war ein einziges Dröhnen. Ein diffuses Orchester. Helles Lachen, das er gelegentlich hörte, hielt er glatt für Fälschung. Die Uhr schlug ein Mal.

Ich bleibe einfach sitzen, dachte er.

Wenn er ging, verwirrten ihn die Entfernungen. Ich komme ins Ausland, wenn ich so weiter gehe, sagte er zu sich selbst. Noch aber saß er, die Geräusche stauten sich in ihm. Sie liefen schließlich durch und hinterließen ein Kratzen im Ohr. Oh Gott, dachte er, nichts endet in mir. Den Koffer fühlte er am Bein wie einen alten Hund.

ZWEI

Kopanski döste im konturlosen Morgen. Noch war alles grauweiß. Er kannte das. Doch etwas war auch anders. Ein schmerzvolles Gesicht an der Wand, von blaurosa Frömmigkeit durchströmt, suchte duldend nach anderen Farben. Und dieser müde Rahmen. Wo werde ich wach?, dachte er, und war schon auf dem Weg. Er ahnte, der Raum war eng. Ohne Ton umgaben ihn Schritte. Ich bin immer schon da, bevor die Welt anbricht, sagte er sich. Und die Welt wäre wie immer 2 mal 4 Meter. Er fühlte sich klein, abgetrennt vom Rest. Er musste träumen. Denn ein Bestandteil der Welt war eine großblumige Tapete. Und dieses Gesicht an der Wand, von verirrten Farben nachträglich koloriert, sah aus wie ein säkularisierter Dürer.

Sein Kopf war jetzt schwer, als könne er ihn nicht ablegen. Es roch nach Geräuchertem. Ganz klar, er träumte, wurde nicht wach. Auf dem Nachttisch, über ihm, spielte Licht in einem hochgebogenen, silbern aufgerissenen Rechteck, in dem drei kreisrunde Krater durchschienen. Er stützte sich auf, sank wieder nach. Vor ihm, orangefarben, auf flacher Seitenkante stehend, die schmale Schachtel, der weiße Schriftzug. Gegen Schmerzen. Das lichtarme, kleine, billige Gasthofzimmer schien zu schweben. Im Hof, hinter den Ritzen der Jalousie, tummelten sich Geräusche. Kopanski ahnte, dass das Leben kompliziert werden würde.

Im Vorbeigehen streichelte er seinen Koffer, erkannte sich mühsam im Spiegel. Über dem Stuhl hingen nicht die blaue Arbeitshose, das graue kurzärmelige Polohemd. Überall trieben Geräusche, selbst in den Farben. Umständlich stieg er in die nachträglich installierte Dusche. Hinter hohem Sockel arbeitete die Pumpe. In seiner Unterwäsche harrte er am winzigen Tisch, wartete auf das Frühstück. Doch das Frühstück kam nicht. Es kam nicht von selbst. Er lachte. Auf dem Gang kam niemand mit dem Wagen.

Kopanski fühlte sich unjung. Melancholie machte sich breit. Er war tatsächlich hier. In einer unauffindbaren Freiheit. Hinter ihm lagen beigefarbene Wände, Ölsockel, metallgraue Treppen, verzinkte Drahtnetze zwischen den Etagen, lichte Öde über den Gängen. Sein früheres Leben, die Zeit vor der großen Verlangsamung, war in ihm noch anwesend, und zwangsläufig war auch er in seinem früheren Leben noch anwesend. Jemand mochte sich dort an ihn erinnern. Doch was sollte ihn das kümmern. Greifbar waren nur der Raum in dem er sich jetzt bewegte und der Block von fünfzehn Jahren, hinter ihm als Geruch, in dem das Sedativum Zeit ihn hergerichtet hatte.

Er öffnete das Fenster. Kühle loderte. Im Hof belud ein Mann einen grünen PKW mit Anhänger. Plastikwannen mit Fleisch fleckten die Öde. Ein Holzbalkon, dunkel gestrichen, rannte sich im Viereck tot. Hinter einem fernen, unterbeleuchteten Fenster gab eine Frau ihrem Kind die Flasche. Die Gummistiefel des Mannes quietschten auf schwarzem Noppenbelag unter dem Vordach. Der graue Kittel eilte stereotyp hin und her. Hände brachten steif zwei Stangen mit Würsten. Auf dem Rücksitz, grün ausgelegt wie mit Operationstuch, kamen sie zur Ruhe. Grün schlappte auch der Hut.

Kopanski stierte ins Zimmer. Niemand wusste etwas von ihm. Seinen Pass hatte er nicht zeigen brauchen. Zweieinhalb mal vier Meter. Ein Schrank, ein Bett, das Waschbecken, Duschkabine. Großblumige Tapete. Nachttischlampe. Das Bild mit kitschigem Christuskopf. Der Druck, das ölig-pastose Haar, als habe man mit einem Metallkamm Strähnen ins Grau gezogen.

Liebevoll sah er seinen Koffer an. Sah sich wieder am Bahnhof sitzen. Saß unter der großen Uhr, rauchte. Hatte drei Jahre nicht geraucht. Die Uhr kam ihm bekannt vor. Er nahm seinen Koffer, den Mantel, machte sich auf den Weg zum Frühstück hinunter. Er löschte das Licht, sah Fingerabdrücke auf der Tapete, die lose linke Klammer, die die Glasplatte unterm Spiegel nicht mehr hielt. Kopanski lachte, er schloss noch einmal auf. War es nicht komisch, dass er selbst von innen aufschloss um einen Raum zu verlassen? Kurz und schnell neigte er den Kopf nach links, schmunzelte und schnalzte dezent mit der Zunge.

Unter dem Fenster zur Straße war für ihn gedeckt. Er war der einzige Gast. Es war, als habe sich dieses Gasthaus auf seine besondere Befindlichkeit eingestellt. Er brauchte wenig, vor allem wenige Menschen. Jetzt.

In der Küche, hinter blank gewetzter Theke, dudelte das Radio. Was ihn irritierte waren Reklameeinspieler, mit deren marktschreierischem Getöse er nicht gerechnet hatte. In seiner kahlen Abgeschiedenheit hatte er nahezu ausschließlich klassische Kultursender gehört, eine Radiowelt jenseits des Lauten genossen. Von Anfang an hatte er sich bemüht, nicht mehr hinter den Mauern zu entdecken, als er wirklich brauchte. Kopanski hatte eines verstanden: Der Mensch informiert sich zu Tode und verkürzt dadurch sein Leben.

Und keinmal in diesen vielen und langen Jahren hatte er sich gewünscht, nicht mehr da zu sein, hatte immer leben wollen, stand jetzt vor einem Leben, das ihm allerdings auch Angst machte. Er musste es sich rundheraus eingestehen: Auch dort, abgetaucht in mönchischer Stille, hatte er gut gelebt.

Und das Leben an sich, wusste Kopanski nach all den stillen Tagen und Nächten, war überall die einzige Form der Existenz, der man darum auch nachhängen sollte. Natürlich gab es im Block auch einiges zu vermissen. So hatten ihm beispielsweise Som-merfelder mit erwachsenem Korn gefehlt. Und dass nun die stillen Bilder von einst ihn erreichen würden, aquarellistisch hingehauchte Striche aus seinem fünfzehnjährigen Alltag, war nicht zu vermeiden.

Die Tischdecke auf dem Frühstückstisch ließ lächerlich viel Holz frei. Ein peinlicher, kleiner Müllcontainer auf dem Tisch gähnte weiß. Alles was ihm klein und hässlich erschien, war doch gleichzeitig bunter, lebendiger als gewohnt. Das Leben selbst ist die Schule des Lebens, sagte er sich, wer kann das bezweifeln?

Kaffee oder Tee?, fragte der Mann. Guten Morgen, fuhr er fort, geschäftlich unterwegs? Er rieb seine Hände verlegen und einseitig.

Kaffee, sagte Kopanski, etwas Wurst und ein Ei, ebenfalls Guten Morgen. Geschäftlich, ja, ja, so ähnlich.

Der Mann verschwand in der Küche, Kopanski zögerte kurz wegen des Eies, denn es war ja nicht Sonntag heute. Im Flur, hinter Glas, wischte eine Frau zügig die Fliesen. Es begann zu regnen. Ich habe keinen Schirm, dachte er. Topfpflanzen grünten ermüdet gegen das Glas. Drüben, auf der anderen Straßenseite, leerte ein Postbeamter den Kasten und knallte die gelbe VW-Bus-Tür. Kopanski ging zum Klo, war drauf und dran den Koffer mitzunehmen. Es fiel ihm schwer ihn loszulassen. Er genoss das Frühstück.

Wollen Sie nicht noch ‘ne Tasse?, rief der Mann aus der Küche, ohne sichtbar zu sein.

Kopanski nickte ganz beifällig, er musste es vermeiden euphorisch zu werden. Wollen Sie noch eine Tasse?

Gern!, rief er.

Er hatte verstanden, dass er die Tasse nicht extra bezahlen musste. Eine junge Frau in Rock und Pulli stellte ihm das kleine Tablett hin.

Es wird nichts mit der Vorhersage, sagte sie, und zeigte ins Fensterglas.

Nee, sagte Kopanski, aber ..., aber Sie sind ja wie der Frühling, hätte er gern gesagt.

Doch er traute sich nicht. Vermutlich hatte er so etwas verlernt. Und er wagte es nicht, tief Atem zu holen. Schon war sie verschwunden. Lässig schob er Teller, Tasse und Brotkorb weg, lehnte sich zurück, griff nach der Zeitung, legte sie schnell wieder ab, suchte in der Schachtel nach einer Zigarette, obwohl sie doch fast voll war.

Wollen Sie eine?, fragte er.

Sie begann weitere Tische für das Mittagessen herzurichten.

Ich bin hier angestellt, winkte sie ab.

Kopanski begann zu träumen. Glich nicht seine Zukunft diesem graublauen, fast nachdenklich wirkenden Zigarettenrauch, der vollkommen bedeutungslos abdriftete? Er seufzte. Es war nur eine vorübergehende Überlegung. Seine Augen tränten. Schwerfällig erhob er sich, starrte an die Decke, griff in die Gesäßtasche und zog sein Portemonnaie hervor. Als der Mann kam, tat Kopanski geschäftsmäßig.

Hab einen Termin, murmelte er.

Dann also bis nächstes Mal, sagte der Mann, wenn Sie mal wieder in der Gegend sind, steckte achtlos das Geld ein, wischte mit gespreizten Fingern über Fleischspuren auf seinem weißlichen Kittel.

Kopanski stand zögerlich in der Tür. Er hatte auch hinter den Linien gelebt. Ganz ohne Zweifel. Ein richtiges Leben. Etwas Sonne dünnte auf den Fassaden aus. Er ging. Er suchte seinen Weg. Hier in der Vorstadt kannte er niemanden.

Niemand würde ihn erkennen. Mit ihm rechnete keiner. Er war noch nie hier gewesen. Das war ihm angenehm. Wieder sah er in zwei mögliche Richtungen. Diesmal ging er nach links. Er ging zwanzig Minuten.

In einer Kaufhausfiliale ersetzte man ihm die Batterie seiner Uhr für sechs Euro. Umständlich holte er auch sein kleines Radio aus dem Koffer, kaufte zwei 1,5 Volt Batterien. Es kam ihm vor, als ahme er Bewegungen nach. Er wollte nicht auffallen, hatte sein Leben hinter den Linien als große, graue Beruhigung erfahren. Was war nachteilig daran? Musste er sich jetzt mit dem Rest der Welt identifizieren? Jetzt, nachdem sein eben vergangenes Leben ihn so gelebt hatte. Musste er zum Komplizen aller anderen werden?

Danke, sagte die Verkäuferin, sie kassierte, während er sich zum Koffer hinabbeugte und das Radio verstaute, die Verpackung können Sie gern auch hier lassen.

Oh, sagte Kopanski erstaunt, einen schönen Tag noch.

Er nahm den Koffer hoch, sah sich um. In seinem früheren Leben, vor der langen Zeit hinter der Linie, war er Kaufhausdetektiv gewesen. In solch einem Haus könnte er trotzdem nie wieder arbeiten.

Am Ausgang blieb er kurz stehen, kaufte zwei Taschenbücher. Das eine wegen der schattenhaften Frau auf dem Umschlag, das andere wegen des einsam leuchtenden Fensters. Er blätterte wahllos. Es waren wohl keine sehr literarischen Bücher, seine Ansprüche waren gewachsen, doch die Geschichten wollten an ihm haften bleiben. Zufrieden sog Kopanski jetzt die frische Luft ein. Der Stadt kehrte er den Rücken.

Ich kehre der Stadt den Rücken, sagte er laut, als könnte er dadurch erreichen, nicht eingeholt zu werden.

Er sehnte sich nach einem warmen, klaren, moosbewachsenen Herbst, nach dem Wald. Doch er wusste, ohne die Stadt käme er nicht aus, und dass er Arbeit finden müsste. Immer wieder erschrak er über die Preise. Jahrelang würden seine Ersparnisse nicht reichen. Er saß unter der Bahnhofsuhr, die ihm vertraut war, die ihn beunruhigte. Eine Kindergartengruppe zockelte aus der Halle direkt an ihm vorüber. Er lächelte.

Er hatte gelernt, dass ein Plan für das Leben unsinnig war, eine Täuschung, ein Beschäftigungsprogramm, ein Alibi anderen gegenüber. Das Leben lebt einen. Und doch war ein strenges Tagesprogramm wichtig. Es war, als wäre die Zeit in Beschäftigungszonen eingeteilt. Als hungere sein Körper nach Abläufen.

Wo sollte er hinfahren? Er kannte niemanden der ihn aufgenommen hätte. Der Duft der Frauen war längst verflogen. Merkwürdig, wie leicht ihm Trennungen gefallen waren, damals. Und als ihm das Leben eine Trance angeboten hatte, einen Winterschlaf, der alles verlangsamte und die Temperaturen selbst in langen Sommern absenkte, da hatte er sich begierig fallen lassen. Kopanski spielte die Frühstücksvariationen durch. Noch bis gestern immer der gleiche Kaffee, sonntags Kakao, das gleiche Brot, die Margarine, der Schmelzkäse, Marmelade, zuweilen ein Ei. Er hatte fast nie die Krankenkost, kurz KK, meist mit Weißbrot, genommen. Das Rattern des Küchenwagens, sein Blick an die Zellendecke, auf der Suche nach dem neuen Morgen.

Er war etwas zu schwer geworden. Abgesehen vom täglichen Hofgang hatte er sich nur hin und wieder in der Handballgruppe bewegt. Pläne hatte er nur wenige: Einen Job finden und ein Zimmer, in dem er abtauchen konnte. Über die hochfliegenden Pläne einiger seiner früheren Kommilitonen musste er lächeln. Sie wussten wohl nicht, dass die Welt voller leerer Hände war. Darüber könnte man glatt ein Buch schreiben.

DREI

Seine Stadt ließ er nun hinter sich. Den Zentralplatz, das Theater. Das Zugfenster riss ganze Viertel ab, radierte aus, wischte weg. Krampfhaft schloss Kopanski die Augen, er fühlte körperlichen Schmerz. Die Stadt, in die er gerade fuhr, lag eine Zugstunde südlich seiner Geburtsstadt. Als er ein Junge war, wollte er oft dorthin. Dort lagen Geheimnisse, die er sich nicht hatte erklären können. Dort hoffte er schon früher auf die Erfüllung unbestimmbarer Sehnsüchte. Die Stadt hingegen, die er zurückließ, war wie eine Person, zu der er kein Vertrauen besaß. Sie hatte ihn wie ein Mensch enttäuscht. Er konnte es nicht erklären. Es war, als könnte er sie nicht mehr berühren, als ertrüge er ihren Geruch nicht, als böte sie keine erfahrbaren Grenzen. Er hatte dort einfach nichts mehr zu suchen, ja, sie war für ihn schon beinahe abgestorben.

Mehr und mehr hatte er sich von den Menschen gelöst. Hatte die Dinge entdeckt, ihnen vertraut. Hatte die Zelle nicht gehasst. Hatte das Wenige dort als Gegenüber akzeptiert. Dinge waren verlässlich. Nur zu wenigen ‘Kommilitonen’ hatte er beim Hofgang Kontakt gehabt. Jetzt müsste er sich den Menschen wieder nähern. Zwangsweise. Ohne Menschen würde es nicht gehen. Kopanski sah ein hartes Stück Arbeit vor sich. Schließlich war er von dieser Welt entleert. Stück für Stück hätte er sich wieder zu füllen, aber nicht bis zum Rand.

Achtundvierzig Jahre Leben. Vage erinnerte er sich an Bilder, die fast gleichzeitig wieder zerrissen. Südlich der Stadtgrenze beruhigte er sich. Seine Augen schmerzten vom krampfhaften Schließen. Zeit war ein höchst trügerisches Phänomen. Achtundvierzig Jahre Leben, bevor er ausgeglitten war. Mehr als drei Mal so lange, wie sein Zurücknehmen aus dem Geflecht der Welt gedauert hatte. Fünfzehn Jahre, die ihm länger erschienen als alles was vorher gewesen war. Doch diese Jahre hatten ihm gedient, ein verlässliches Universum aus ihm gemacht. Gleichzeitig fühlte er, er war entkommen. Er hatte in der Druckerei gearbeitet. Er war nun 63 Jahre alt. Was erwartete ihn?

Es war muffig im Zug. Kopanskis Linke umschloss die Zigarettenpackung. Vermutlich hatte er sie gekauft weil sie nicht laut war, ein feines Grau. Die Zigaretten waren wie Verbündete. Man fiel weniger auf. Er hatte das Abteil gewählt, den offenen Wagen gemieden. Nur ein Mann saß am Fenster, links, mit Aktenkoffer und Rechner. Immer wieder schüttelte er ungläubig den Kopf, löschte die Zahlen. Die schienen über ihn zu kommen wie Verhängnisse. Die Anwesenheit des Mannes war für Kopanski wie ungebetener Besuch.

Auf Zwischenbahnhöfen warteten wenige Menschen. Der Nahschnellverkehr ermüdete bald. Leere Postwagen lungerten in der Leere. Kurzfristig zweifelte Kopanski ob er aussteigen würde. Doch seine Fahrkarte reichte nur bis H. Auffallen durfte er nicht. Konnte nicht einfach sitzen bleiben. Kopanski fand es schwierig, dennoch eine Wahl zu haben. Öde Zimmer und gelbe Gardinen schoben vorbei. Doch jede erkannte Öde erschien ihm vergleichsweise bunt. Menschen und Farben sind bemerkenswert anwesend, sagte er zu sich, du wirst dich abfinden müssen. Die Welt ist vorerst ein Ungemach. Und ein Wunder zugleich. Ruckartig kam der Zug zum Stehen. Als er stand, kreischten die Bremsen giftig nach. Du rastest ein, dachte er. Irgendwo wirst du schon bleiben.

Vorm Bahnhof raffte er den Mantel, setzte sich unter die große Uhr. Er konnte nicht anders. Diese Art Bahnhofsuhr fror ihn ein. Die Stadt war fremd. Niemals war er hier gewesen. Er suchte nach Begründungen für seine Sehnsucht, presste den Koffer zwischen seinen Beinen. Sinnend rauchte er die dritte Zigarette. Es war ihm nicht egal, welches Bild er vermittelte. Die einzige Wahrheit war: Er wollte um keinen Preis auffallen. Das jedoch war schon immer so gewesen.

In einem Schaufenster sah er ein Großfoto einer Baumschule und Werbung für nachwachsende Gehölze. Der Wald ist ein deutsches Unterfangen, hatte der Intellektuelle gesagt. So hieß er allgemein. Kopanski hatte gerätselt was dieses Intellektuelle ausmachte. Der hatte Sprüche drauf am Stück. Jeder wie ewige Wahrheit. Doch der Mann war kalt, sezierend. Hatte zwei Menschen auf dem Gewissen. Lebenslänglich bis zum Abwinken. Im Hof, in der Theatergruppe, im Lesekreis hatte er ihm zugehört. Immer zwei Mann dazwischen. Der deckte alles auf, auch die Untiefen des Lebens. Ließ hinter keiner Wand ein Geheimnis. War intellektuell zu sein gleich kein Gefühl zu haben, keinerlei Respekt vor irgendwas?

Kopanski, der den Wald liebte wie ein Haus, einen guten Freund, hatte sich persönlich getroffen gefühlt. Obwohl der Mann vielleicht Recht hatte. War Chirurg gewesen. Die Frau und deren Liebhaber, einfach weg. Liebe, wusste Kopanski, ist fast immer auch Krieg. Aber so! Zerlegt und im See abgesenkt! Vielleicht, dachte er, wird das Wesentliche eines Menschen nicht erkannt, weil dem, mit dem man zu tun hat, gerade die Antennen für diese Besonderheiten fehlen. Ein Freund, eine Geliebte, müsste auch Zuflucht bieten. Der Wald war Kopanskis latente Sehnsucht. Er bot Zuflucht und Stille. Doch er hätte sich dem Leben zu stellen. Der Wald käme später. Einstweilen hätte er zu überleben.

Der Intellektuelle kam über den Hof. Morgen, sagte er, der Morgen aber ist kein Anfang. Man hat nur den Abend vergessen. Der Morgen macht da weiter, wo der Abend schon war. Schon wahr, hatte Kopanski gesagt, doch jeder Morgen hat auch ...

Ach was, der Morgen bohrt weiter im Brett. Irgendwann hast du nur noch Löcher. Hm, hatte Kopanski von sich gegeben, und nachgedacht. Vielleicht ist das Brett die dunkle Seite des Lebens, die weg muss? Dunkel oder hell, sagte der Intellektuelle und der Rauch aus der Lunge nahm kein Ende, es gibt nur das Leben. Dunkel und hell kannst du nicht trennen. Da liegt die Crux.