Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein unauffälliger Mann Ende Vierzig. Ein Warenhausdetektiv, der in seiner Freizeit ein Buch über Ladendiebstahl schreiben will, aber nicht über die ersten Sätze hinauskommt. Ein Untermieter, den die eindeutigen Angebote seiner Wirtin irritieren. Ein eigenbrötlerischer Einzelgänger, der sonntags mit Hilfe von Polaroidaufnahmen ein Inventar seiner Stadt anfertigt: Das ist Kopanski, als er "die Frau" kennenlernt, eine Frau, die seine Fantasie nicht mehr loslässt. Doch je mehr er ihr nachspürt, je mehr er versucht, sie in sein Leben einzuplanen, desto unverständlicher wird sie ihm. Je verzweifelter er sich bemüht, eine eindeutige Wahrheit zu finden, desto unausweichlicher treibt er in die Katastrophe. Stimmen zur Erstausgabe 1988: "Es ist eine Geschichte von Einsamkeit, Realitätsverlust und zunehmend wahnhafter Verzerrung der Wirklichkeit, die der in Bonn lebende Jan Turovski in seinem ersten Roman erzählt. In einer seltsam kurzatmigen Kunstsprache folgt Turovski seinem namensähnlichen Helden stets beklemmend dicht, so dass der Leser ganz auf die eingeschränkte Weltsicht des zugleich bedauernswerten und gefährlichen Kopanski verwiesen bleibt." Die Zeit, Karl-Markus Gauß "In Die Sonntage des Herrn Kopanski schildert Turovski in eindringlicher Sprache, wie der Realitätsverlust des Mannes alle Hoffnung auf Liebe und Wärme in einer Katastrophe enden lässt." Hörzu "Jan Turovski erzählt die Geschichte Kopanskis mit großer Sprachdisziplin. Akribische Genauigkeit in der Charakteristik, spannende Handlungsabfolge und eine zeitnahe Thematik machen Jan Turovskis Roman zur fesselnden Suche nach der Lebenswahrheit." Kölnische / Bonner Rundschau
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 375
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Sonntage des Herrn Kopanski ist ein Roman, eine erfundene Geschichte. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre daher rein zufällig. Der Roman erschien erstmals als gebundene Ausgabe im Jahre 1988 im Benziger Verlag Zürich. Die hier vorgestellte Neuausgabe wurde vom Autor vollständig durchgesehen und leicht überarbeitet.
Jan Turovski
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kopanski stellte sich vor, dass er tot sei. Nicht richtig tot natürlich. Er wäre einfach weg. Käme nicht mehr zur Arbeit, wäre unauffindbar. Sowas kam ihm in den Sinn, als er am zehnten Juli, bei großer Hitze, auf die Straßenbahn wartete.
Das Kopfsteinpflaster buckelte wie alt gewordene Rücken. Schatten leckten an den Rändern, und der Staub tat ganz unschuldig. Ein Mann schrubbt einen Balkon. Graue Brühe fällt klatschend in den Garten. Die Borsten krächzen auf dem Stein. Rechts neben Kopanski ein Türke mit zwei weißgekleideten Kindern. Links niemand. Die Bahn dazwischen mit ihrem Geräusch. Das Geräusch ist schon da. Die Bahn noch nicht. Die ist in Sichtweite.
Er war durch die Altstadt gestreift. Das Wort streifen war ihm peinlich. Außerdem: Je länger man es vor sich hin sagte, desto unglaubwürdiger wurde es. Schließlich verstand man es überhaupt nicht mehr. Was der Mensch nicht auf Anhieb versteht, schloss Kopanski, das bringt ihm keiner mehr bei.
Er hatte sich die Hauseingänge vorgenommen. Die tiefen dunklen Schläuche, an deren Ende das Licht aufschrie. Man musste sich die Sache einteilen. Schließlich bestand die Stadt aus so vielen Details. Er hatte manche dieser Gänge durchwandert, hatte in ihnen haltgemacht und gehorcht. Manche Torbögen hatten ihn hereingezogen und feucht und kühl befragt. Sie waren nahe, greifbare Horizonte, bei denen man sich an Felder erinnern wollte, die da draußen irgendwo wogten. Könnte er, Kopanski, etwas anderes tun, als die Stadt am Sonntag systematisch zu entdecken? Als würde er sie in sich aufzeichnen wollen?
Könnte er sich beispielsweise von Schmidt das Fahrrad ausleihen und heimlich an dieser Haltestelle vorbeifahren? Könnte er draußen die weiten Horizonte aufnehmen? Das Licht und das flutende Farbspiel? Würde er den Fahrtwind fühlen? Oder war er der Stadt verfallen, bis er sie gänzlich aufgenommen hätte in einen inneren Plan? Und würden sich aus der Tiefe der Speicher in ihm die Bilder zusammenfügen lassen zu einem gültigen, verlässlichen Kartenwerk?
Zugegeben, die Altstadt war überschaubar. Aber hatte das alles überhaupt ein Ende? Er hatte aus Langeweile angefangen. Ich kann nicht aufhören, dachte er. Waren ihm deshalb diese Gedanken gekommen, vorhin, er, Kopanski, könne tot sein oder wenigstens nicht mehr da?
Die Bahn sprang unwillig in den Schienen. An den Scheiben klebte der Nachmittag. Sicher fuhr die Bahn langsamer als sonst. Trotzig. Dennoch, dachte er, sie fährt, als wäre drinnen und draußen alles in Ordnung. In den Kurven kreischt sie. Das heiße Metall und die verbrauchte Luft wallen gegen das Gesicht. Kopanski wohnte am inneren Stadtrand. Dort, wo Häuser aus der Gründerzeit auf- und absteigen am Berg. Sie haben muffige Keller, und manche sehen aus wie unfrisierte Frauen. Selten ein Schmuckstück dazwischen. Die Farben sind graugrün von den Jahren. Oder milchig wie Spucke.
Die Hunde pinkeln regelmäßig an die öligen Sockel, und samstags werden die Außentreppen überflutet. Eimer scheppern, und die Aufnehmer quatschen laut. Kleine Beamte wohnen da. Fernfahrer oder Monteure. Alte Lehrer und alleinstehende Frauen. Verkäuferinnen. Und er, Kopanski, wohnt da.
Die Straßenbahn quietscht turnusmäßig um die Ecke und signalisiert Verbindungen zur Außenwelt. Unten am Berg lagert die Grundschule. Morgens hört Kopanski beim Rasieren die Kinderstimmen durch das offene Dachfenster und denkt: Sie lernen, damit sie irgendwann groß sind und in solchen Häusern wohnen.
Jetzt schloss er auf und hörte die Geräusche, die von oben herabfielen und sich unter ihm wieder zusammensetzten. Seine Wirtin hatte im Sommer die Korridortür offen, damit die kleine Wohnung besser belüftet wurde. Schon unten erfuhr Kopanski, dass sie zu Hause war. Entweder hantierte sie mit Geschirr, oder sie sang oder beides. Wenn sie beides nicht tat, saß sie vorm Fernseher oder war zum Einkaufen oder beim Friseur. Kopanski hatte die Mansarde eine kleine Stiege höher und die Dusche mit dem Klo, die man später eingebaut hatte. Seine Wirtin war nicht die Hauswirtin. Seine Wirtin hatte untervermietet. Der Hauswirt wohnte in Bochum.
Im zweiten Stock machte Kopanski eine Pause, zog am Geländer und überlegte, was er nun zu Hause zuerst täte. Irgendwie war alles festgelegt. Er würde duschen. Immer war er zunächst wie gelähmt, wenn er das Haus betreten hatte, als sonderten die Wände eine Substanz ab, die ihn veränderte. Mein Körper gewöhnt sich an das Haus, dachte er. Mein Kopf kommt später nach.
Aha, der Herr Kopanski, sagte seine Wirtin. Sonntags immer um dieselbe Zeit. Sicher hat er irgendwo eine Freundin, der Herr Kopanski, von der er nicht spricht.
Viele Freundinnen, lachte Kopanski. Ich komme gar nicht durch. Jeden Sonntag eine andere. Aber alle müssen sich an meinen Zeitplan halten, Frau Wirtin.
Sie ging in den dunklen Flur und redete weiter. Kopanski ging kurz hinein. Bei Ihnen riecht‘s aber wieder gut, würde er sagen. Und sie: Soll ich Ihnen was machen? Nein, nein, würde er antworten, ich habe ja alles im Haus.
Sie stände gegen das Küchenfenster, rührte irgendetwas tot, die Frisur frisch vom Samstag, der weiße Kittel, der nie schmutzig wurde, mit den weiten Armlöchern, in die man hineinschauen konnte. Große, weiße Brust, dachte Kopanski, rötliche Härchen, Duft nach Seife aus dem Supermarkt und um acht die Tagesschau.
So, dann will ich mal, sagte er. Ist Ihr Mann nicht da?
Auf Montage in Südfrankreich, sagte sie, seit Freitag, und ihre Hand bewegte sich, als sei sie an diese Worte gewöhnt. Sie wissen ja, Herr Kopanski, mehr weg als hier. Sie seufzte. Sie macht alle Bewegungen wie im Schlaf, dachte Kopanski. Ich beobachte sie also quasi im Schlaf, und er lachte in sich hinein. Wusste er eigentlich, wie alt sie war?
Fünfundvierzig, nicht jünger und nicht älter, sagte er fest.
Wie bitte?, hörte er sie sagen. Er sah ihren Rücken. Ihren Kopf nicht. Der steckte in der Speisekammer.
Mir kam sowas in den Kopf, sagte Kopanski.
Ach so, rief sie, wollen Sie ein paar Himbeeren?
Sie hantierte, ging, klappte etwas auf. Etwas zu.
Wollen Sie zum Fernsehen kommen?, fragte sie.
Was gibt‘s denn?, fragte er spröde.
Da liegt die Zeitung, gucken Sie mal.
Sie zeigte über die Schulter auf den Küchentisch. Die Sonne langweilte sich da auf der grauen Platte. Brotkrümel knisterten.
Kopanski hatte keine Lust fernzusehen. Er nahm die Zeitung nicht, sah aus dem Fenster, als könne er da unten eine Entscheidung erwarten. Schräg gegenüber, am Ende des Schulhofes, saß eine Frau im weißen Hosenanzug auf einer Bank und rauchte. Ein Knie hatte sie angezogen. Ein dunkelhaariger Mann kam hinzu, setzte sich, redete mit ihr und machte ständig wegwerfende Handbewegungen, die sie hin und wieder nachvollzog, als seien sie nicht alle nachahmenswert. Kannten die sich? In der Hemdentasche des Mannes steckten Zigaretten und ein Feuerzeug.
Also ich identifiziere mich immer mit den Personen im Film, sagte seine Wirtin vom Herd.
Es kam so etwas wie infizieren heraus.
Wie ich manchmal leide.
Man muss da aufpassen, sagte Kopanski und sah weiter hinaus. Sonst wird man zu ihren Komplizen, zu ihren Abbildern, sonst hat man ihre Gefühle und wohnt in ihren Häusern. Möglicherweise wird man noch zum Verbrecher.
Wie Sie so reden, sagte sie.
Ja, sagte er, der Mensch ahmt nach. Das ist so.
Der Mann draußen bot der Frau eine Zigarette an. Sie wollte nicht. Ob sie überhaupt nicht wollte? Stritten die, oder im Gegenteil? Man müsste Worte zu ihren Mundbewegungen erfinden, dachte Kopanski und stellte sich vor, die da draußen würden das gleiche reden wie er hier drinnen mit seiner Wirtin.
Die zweite Zigarette des Mannes fiel dann durch die Maschen der Drahtbank. Wieder eine wegwerfende Bewegung. Ach, was ist das schon, die eine Zigarette! Schweigen. Die Zigarette blieb liegen.
Selbstverständliches in der Nacht gesprochen wird zur Zauberei, dachte Kopanski und schloss sein Zimmer auf. Hier ist es hell und geräumig, erkannte er und öffnete das Fenster. Die grauen Fensterschenkel glichen ausgebleichten Knochen. Die Sonne schoss vom gegenüberliegenden Dach auf die Wand und schreckte die Blümchentapete auf.
Er sah auf die Fotos. Ich fotografiere Hauseingänge, dachte er, aber ich bin da gar nicht anwesend. Ich war gar nicht da. Er müsste auf jedem Foto selbst drauf sein. Abends müsste man eine andere Sprache sprechen, überlegte er. Die Sender eines anderen Landes hören. Sich gänzlich aus dieser Welt stehlen. Linguistischer Rausch, dachte Kopanski, er könnte anfangen, eine andere Sprache zu lernen. Oder eine alte aufgreifen, die Reste aufwärmen, die in einem waren. Von unten hörte Kopanski die Stimme des Kommentators. Er hatte allerlei Vermutungen, hörte genauer hin, als müssten die Stimmen der Sprecher stets mit den Themen identisch sein. Er öffnete die Tür und schob sich drei Stufen tiefer. Kopanski hörte, dass es um Schmetterlinge ging. Schmetterlinge, murmelte er. Darauf wäre ich nicht gekommen.
Er ging an den kleinen Eisschrank und nahm sich ein Glas Milch. Er roch daran. Appetit hatte er nicht bei der Hitze, aß dann aber eine ganze Packung Hüttenkäse auf. Manche sammeln Schmetterlinge, dachte er, und spießen sie auf.
Er zog das Hemd aus und die Hose und setzte sich. Ich sitze hier in meiner Unterwäsche, stellte er fest. Er saß einfach so da. Das Radio übertrug Harfenmusik. Variationen Beethovens über ein Schweizer Lied, erfuhr er. Das Radio überträgt etwas, was schon auf Platte oder Band übertragen worden ist, dachte Kopanski. Es überträgt es in mich, in mein Ohr. Da endet alles. Nein, vielmehr, da geht es verloren. Und produziert schließlich den Gedanken, dass ich unfähig bin, im Moment selbst zu leben. Ich bin unfähig zu denken, dass dieser Moment, mit dieser Musik eigentlich ein Glücksmoment sein muss, ohne jede weitere Erklärung. Ich bin verrückt, dachte er. Aber wer ist es nicht? Dieser ganze Moment liegt eigentlich außerhalb meiner selbst. Ja, so ist es. Ich lege mich hin und lese, beschloss er.
Am Nasenflügel entstand ein Schweißtropfen. Ein Schweißtropfen wird geboren, sagte Kopanski und schüttelte den Kopf. Er wusch sich das Gesicht und nahm ein Buch vom Bord. Man musste sich weiterbilden. Ladendiebstahl heute, las er und seufzte. Kopanski war Detektiv in einem Warenhaus. Das war er seit zehn Jahren. Morgen würde er wieder acht Stunden lang in vier Etagen Stichproben machen.
Kopanski erwachte mühsam. Ich erwache nicht, dachte er. Mein letzter Morgen bricht an. Im Zimmer tuckerte die Hitze, und das Betttuch klebte. Er fühlte, dass es klebte, wusste aber noch nicht wo. Er hörte Kinderstimmen und dachte, dass er spät dran sei. Waren denn nicht Schulferien? Auf seinem Gesicht schichtete sich Schweiß. Das Salz entwich ihm, und er stellte sich vor, dass sein Gesicht mit der Zeit weiß würde vom Salz. Vielleicht grauweiß, denn es wäre doch gebrauchtes Salz.
Ich komme Jahre zu spät, überlegte er. Ich bin ein Verlorener. Aber das Buch werde ich schreiben. Theorie des Ladendiebstahls. Schließlich machte er täglich Stichproben, wie er es nannte. Er kannte alle Höhen und Tiefen dieses Berufes. Er würde das Buch schreiben. Wenn einer, dann er. Die Stichprobe ist wahrscheinlich eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, die der Zufall diktiert, schrieb er auf. Dann schien ihm das irgendwie eckig. Er strich das Wort wahrscheinlich weg und begann zu dösen.
Kopanski hatte gelernt, dass irgendein Glück oder Unglück benötigt wird, damit der Mensch ganz in Anspruch genommen ist. Wie war das bei ihm? Über die Zinkabdeckung kroch Hitze ins Zimmer. Stieß sich an den Möbeln, befiel die Gegenstände und ihn selbst. Siebzehnter Juli. Kopanski riss das Kalenderblatt hinter dem Fensterflügel ab und vermutete, dass es heute besonders heiß würde. Wird es heiß, hab ich recht gehabt, wenn nicht, hab ich mich geirrt, flötete er. So geht‘s mit allem.
Unten hörte er das Badewasser laufen. Sie badet, dachte er. Ich laufe hier nackt herum. Sie vielleicht auch. Die Frau interessiert mich sowieso nicht. Vielleicht verhinderte aber nur die Zwischendecke, dass Kopanski heute Morgen, am siebzehnten Juli, mit einer fremden Frau badete. Alles Zufälle, sinnierte er.
Alles Zufälle. Machte ihn das Alleinsein melancholisch? War er überhaupt allein? Oder beschäftigte ihn im Gegenteil das Gefühl, möglicherweise einmal nicht mehr allein, nicht so unabhängig zu sein? Die Hitze flackerte schnell hoch. In der Distanz hockte Dunst. Frauen verwechseln an uns oft Vernunft mit Härte, sagte sich Kopanski, als er unter der Dusche stand. Er sagte sich manchmal solche Worte vor. Manche Worte mussten gesagt werden. Sie kamen ganz unverlangt.
Er ging an den Eisschrank und stierte hinein. Er trank etwas. Wassertropfen verschwanden im Teppich. Hier oben war er für sich. In seinem Sonntagszimmer. Da konnten sie ihn nicht erreichen. Telefon hatte er nicht. Auch die Nummer seiner Wirtin hatte er niemandem gegeben. Das mit den Frauen war früher. Seit Jahren konnte er niemanden ständig um sich haben. Menschen, schien es ihm, sind oft so übernatürlich anwesend. Selbst wenn sie schweigen. Schmidt, ja. Mit dem sprach er manchmal unten im Hof. Seine Wirtin. Die paar Worte, die wie Erkennungsmelodien und Rituale waren. Als taste man blind ein Paket ab, bei dessen Größe man sich nicht irren kann. Die Leute im Warenhaus natürlich. Sein Chef. Aber das hatte ja mit seinem Leben wenig zu tun.
Er ging an den Wandschrank und öffnete Schubladen. Die Fotos waren aufrecht gestellt und bildeten lange Reihen. Fein gerippt und weiß. Aus Karteikarten geschnittene Rechtecke steckten dazwischen. Kirchen, las er. Schulen. Ämter. Straßenzüge. Firmenschilder. Giebel.
Was ist Zeit?, dachte er bei sich. Eine bestimmte Schnelligkeit? Oder eine unbestimmte? Ich habe wenig Wäsche und viele Fotos. Die Fotos lagen jedenfalls ordentlicher da als die Wäsche. Abstinenz von Dingen kann die Zeit verlängern oder verkürzen, überlegte er. Da lebst du länger oder kürzer. Es war vertrackt. Beides war möglich. Würde er die Stadt wieder los? Sechs Schubladen zog er auf. Eingänge, las er. Die waren seine letzte Beute gewesen. Eingänge, wiederholte er. Ausgänge! Das Wort dachte sich praktisch von selbst. Hat das Leben Ausgänge?, dachte er und beschloss, sich ein Spiegelei mit Schinken zu braten. Unten gurgelte das Badewasser, und Kopanski steckte den letzten Bissen in den Mund. Ich spüle jetzt nicht, sagte er. Ich spüle einfach nicht. Er wischte den Tisch ab und sah die freie Fläche. Der Tisch ist eine Herausforderung, entschied er. Lege ich mir Fotos auf? Nach dem Stadtplan? Haus für Haus. Welches Detail würde er nehmen? Auf der freien Fläche lagerte aber auch als Verlockung die Stadt. Die Sonne war halbwach. Kopanski erhob sich und überlegte. Gehe ich oder bleibe ich? Das Buch Theorie des Ladendiebstahls würde er ja sowieso schreiben. Damit könnten die Menschen etwas anfangen. Aber solche Worte. Solche wie vorhin. Er dachte: Was würde wohl passieren, wenn er einfach am Tisch stehen bliebe. Zu was würde er sich entscheiden? Wer oder was würde ihn entscheiden? Ein Geräusch? Ein Gedanke?
Sie müssen sich entscheiden, hatte vor drei Jahren der neue Chef gesagt. Entweder, Kopanski, ihre Erfolgsquote wird größer oder ihre Chancen hier werden kleiner. Er hatte einwenden wollen, dass er schon viel darüber nachdächte und ob nicht doch die strikte Verfolgung der Delikte der Firma schade?
Zweiundfünfzig Millionen haben denen da drüben letztes Jahr konzernbezogen gefehlt, und sein Chef hatte verächtlich durch die Gardine auf ein Filialunternehmen gewiesen, ohne hinzusehen. Was, Kopanski, glauben Sie, ist denn nun ein Schaden? Solche Summen oder Worte? Müssten wir nicht die Verluste einkalkulieren, wenn wir sie nicht bekämpfen? Und dann schaden sie doch vielen. Seither hatte Kopanski seine Methoden verfeinert, und er hatte mehr Erfolg vorzuweisen gehabt.
Er stand da am Tisch und versuchte, ein Wort für das Muster der Linolplatte zu finden. Sie war beige gesprenkelt. Aber das war ja nicht alles. Das genügte doch nicht. Wie konnte man es genauer sagen? Manchmal betrachtete er die Dinge seines Zimmers. Je länger er hinsah, desto übermächtiger wurden sie. Wurden selbst zu merkwürdigen Personen, die handelten. So drohend in ihrem Eigenleben, dass er ihnen entkommen wollte. Das Wort entkommen gefiel ihm. Seine Augen wollten dann gerinnen vor solchen Bildern. Die Gegenstände wurden Personen, obgleich er doch in ihnen die Zeit ohne Zeit gesucht hatte, die Zeitlosigkeit, die ihm nötig schien, am Wochenende wieder zur Person zu werden.
Kopanski nahm die Kamera und den Packen der Fotos, die er über den Personalkauf billiger bekam, und legte alles auf den Tisch. Er zog sich an, ließ seine Augen einmal kreisen, sah nach der kleinen Herdplatte und schloss die Tür. Bei mir bricht kein Brand aus, dachte er noch. Im Treppenhaus begleitete ihn Kaffeeduft. Er fühlte, wie die Luft nach unten hin kühler wurde.
An der Haltestelle wartete niemand. Da lagerte zähe Ungeduld und Sonntagsunlust. In manchen Fenstern wogten die Gardinen öde. Jemand versuchte sich am Klavier. Die Bahn kam und kam nicht. Kopanski schaute die Straße hinauf und wieder hinunter. Das machte sein Blick ganz allein. Wie lange machte er das schon? Elf Minuten sollte es durchschnittlich dauern, bis jemand, der nicht hinhörte, merkte, dass keine Musik mehr im Radio lief, sondern geredet wurde. War es nun wichtig, das zu wissen? All die Magazine. All die nutzlosen Details, die da obduziert wurden. Kopanski fand, dass im Radio viel zu viel geredet wurde.
Manchmal nannte Kopanski sich selbst Kopanski. Sicher, er hieß so. Er sprach sich förmlich an, wenn er ernste Dinge zu bereden hatte. Da war ja auch niemand. Kopanski lebte allein. Seine Eltern waren lange tot. Geschwister hatte er nicht mehr. Freunde auch nicht, und die Frauen waren Teil der Vergangenheit. Es war schon komisch, wenn er sich selbst ermahnte. Hör mal, Kopanski, sagte er beispielsweise, du hast zugenommen. Du isst ja auch nicht regelmäßig. Und vor allem nicht richtig. Was richtig ist, das hatte jetzt wieder jemand klargestellt. Das musst du in die Hand nehmen, sagte er sich. Fünfundsiebzig Kilo bei einsfünfundsiebzig Körpergröße. Und kein Pfund mehr. Wenn er die Regel aus dem Radio hätte, würde er sie nicht befolgen. Aber er erinnerte sich nicht. Und Kopanski, das mit deinem Pass, das musst du melden. Da steht nämlich einsneunundsiebzig. Kein Mensch weiß warum. Aber das steht da. So groß bist du nie gewesen. Sonst bist du, Kopanski, eines Tages nicht Kopanski. Und was dann?
Manchmal wünschte er sich, dass das, was ihm selbst als unwesentlich an seiner Person erschien, von anderen als bedeutend erkannt würde. Er konnte es nicht erklären. Denn Kopanski liebte es eigentlich, verschwunden zu sein und zu bleiben. Gleichzeitig stellte er sich vor, wie es wäre, wenn es über ihn Sekundärliteratur gäbe.
Schmidt kam über die Straße und lächelte. Er lief ein wenig schräg. Das Kopfsteinpflaster hallte. Der trug Eisen unter den Absätzen. Selbstbewusstsein hat der, dachte Kopanski. Schmidt hatte nun die Hände ausgebreitet, die Arme standen vom Körper weg, fragend. Er zog die Schultern hoch wie hängende Flügel. Schmidt sieht aus wie ein Pinguin, dachte Kopanski. Es kam ihm unerklärlich vor, dass er ihn am Sonntag sah. Sonntags hatte er Schmidt noch nie gesehen. Und ohne Fahrrad, das war ganz undenkbar. Immer hielt er sich im Hof auf und putzte, reparierte, experimentierte am Rad herum. Zehn Gänge hatte es, und es blinkte unaufhörlich. Kopanski fragte sich, wohin Schmidt wohl ginge. Heute und ohne Fahrrad. Und ob etwas passiert sei. Und was der Mensch mit zehn Gängen anfangen könnte. Dieses Fahrrad kam Kopanski vor wie ein unbegreifliches Instrument. Er, Kopanski, kannte nur die Dreigangschaltung mit Rücktritt.
Die bauen Dinge, die keiner braucht, dachte er. Aber damit hatte er sich bei seinem Chef auch schon einmal den Mund verbrannt. Das waren nämlich die Dinge, die am häufigsten geklaut wurden. Solche, die angeblich keiner brauchte. Philosophen, hatte sein Chef gesagt, Philosophen, die brauchen wir hier nicht, Kopanski. Philosophie muss auch anwendbar sein, mein Lieber.
Morjen, sagte Schmidt und rieb sich die Hände.
Er hatte nichts bei sich und sah unternehmungslustig aus. Er verhielt sich so, als seien sie verabredet. Kopanski versuchte sich zu erinnern, wann er Schmidt zuletzt gesehen und was sie geredet hatten. Hatten sie sich etwa verabredet?
Na, ohne Fahrrad?, fragte Kopanski schließlich unsicher, und es tat ihm gleich wieder leid.
Möglicherweise dachte nun Schmidt, er, Schmidt, bestände in der Vorstellung Kopanskis nur aus Fahrradteilen. Aber der schien sich zu freuen, wie wenn Kopanski nach einem Kind gefragt hätte, das Fortschritte machen kann. Dann legte er los. Er redete, bis die Bahn kam. Über ein neues Modell.
Ohne Kette, sagte Schmidt. Stellen Sie sich das mal vor, ohne Kette! Ist wie‘n Wunder. Das ist die Revolution an sich.
Kopanski entwertete den Fahrschein und setzte sich auf das grüne Polster. Ein Loch zog den Blick ins Füllmaterial. Das sah unappetitlich aus, und er stellte sich vor, wie es darin röche. Seine Beine klebten auf dem Sitz. Was da schon alles geklebt hat, dachte er.
Na, wohin fahren wir denn?, fragte Schmidt.
Meinte der das vertraulich? Wie man halt so sprach? Oder meinte er tatsächlich sie beide? Ich fahre bis zum Altmarkt, sagte Kopanski, der eine merkwürdige, lästige Müdigkeit fühlte.
Da hab ich‘s dreimal weiter, sagte Schmidt, und Kopanski war erleichtert.
Der Fahrer der Straßenbahn saß starr an seinem Platz. Graues Haar klebte am Kopf. Die beschäftigen schon Puppen, dachte Kopanski. Das Licht zuckte von der Seite in die Scheiben. Auf dem Boden entstanden geometrische Lichtspiele. Die Räder grumbelten in den Kurven, und an zwei Stationen hielt der Fahrer nicht.
Sie gehen auf Jagd?, fragte Schmidt, und er zeigte auf die Sofortbildkamera.
Na ja, sagte Kopanski und fühlte sich ertappt. Man sieht sofort, was man gemacht hat. Und mit der Zeit ...
Er hatte keine Lust, den Satz zu vollenden.
Teuer, nicht wahr?, fragte Schmidt.
Die Kamera nicht, sagte Kopanski. Aber bei den Filmen nehmen sie einen aus. Ich krieg sie aber billiger.
Ich versteh nichts vom Fotografieren, sagte Schmidt. Ich seh‘ was ich seh‘. Sie sind da, sagte er und zeigte auf den Altmarkt.
Und was soll ich Ihnen wünschen?, fragte Kopanski.
Auch gute Jagd, sagte Schmidt. Ich fahre zu meinen Eltern. Die beladen mich immer mit Fressalien.
Er entfaltete blitzschnell ein winziges, dunkles Paket, das eine größere Tasche aus Nylon wurde. Die ging auf wie ein Fallschirm.
Die ist immer voll, wenn ich zurückkomme, rief Schmidt.
Es schien Kopanski wie Zauberei. Du kennst die Menschen nur vom Sehen, dachte er. Sprichst du mal mit ihnen außer der Reihe, dann bauen sie hier an und da an und werden immer umfangreicher. Kopanski fand, dass er seine Sonntage jedenfalls sinnvoll verbrachte. Er sah Schmidt nach, der hinter Glas fortglitt. Schmidt hatte dieses quirlige Äußere, das man bei gewissen Korpulenten sieht. Unter seinem Kinn quaddelte es, wenn er lachte oder sprach. Kopanski sah noch, wie Schmidt den Kopf anhob und wie der Wulst unter dem Kinn sich glatt zog. Er stützte den Arm am Fenster auf und schob den Zeigefinger in die rechte graue Kotelette.
In der Nacht hatte Kopanski ein Bild von sich selbst gesehen, das er nicht kannte. Gestuftes Grauweiß in seinen Haaren. Nicht durchgängig. Mehr so meliert, erinnerte er sich. War er, Kopanski, nun interessant gewesen oder nur alt? Diese Wertungen konnte er nachträglich nicht mehr einordnen. Er blieb vor einem verspiegelten Pfeiler stehen und sah nach. Da gab es aber nur wenige graue Haare. Wie alt ist Schmidt?, überlegte er. Älter als ich. Wie alt bin ich? Jünger als Schmidt. Ich stelle mir hier Fragen vor einem verspiegelten Pfeiler, sagte er laut. Und Kopanski dachte, dass man ihn vermutlich aus einem Sonntagsfenster heraus beobachtete. Ich stelle mir Fragen! Selbst wenn ich sie laut stelle, muss ich sie mir selbst beantworten. Alle. Das ist mein Zustand.
Am Parkplatz hinter dem Altmarkt kam Lärm aus einem Kiosk. Niemand war zu sehen. Ein Laden öffnete sich pfeifend. Metall klapperte unwirsch. Auf dem Asphaltstück klebten Schritte. Kopanski kam näher und sah zwischen den Rädern ein öliges Rinnsal, das nach vorne drängte. Der Mann pinkelt, dachte Kopanski. Sowas entsteht doch nicht von selbst. Kommt gerade von zu Hause und pinkelt. Jetzt wollte Kopanski unbedingt wissen, ob der Mann sich die Hände wüsche, bevor er etwas verkaufte.
Erst erschien der Kopf im Wagen, dann der Rest bis zum Gürtel. Der Mann grinste und hantierte mit Geräten. Der wäscht sich tatsächlich nicht die Hände, dachte Kopanski. Der fängt gleich an.
Fritten und Bratwurst dauert noch!, rief der Mann ihm zu.
Kopanski kam es vor, als rede und pfiffe der Mann gleichzeitig. Als ob er dem jetzt noch eine Wurst abgekauft hätte. Er zeigte auf eine Flasche mit gelblichem Inhalt.
Ich öffne die Flasche selbst, sagte Kopanski.
Er wollte sicher gehen. Er nahm sich schnell einen Strohhalm und verschwand in Richtung Altmarkt. Das Wechselgeld ließ er liegen.
Vor dem Brunnen sah Kopanski eine Bank. Die Bank steht ganz einfach da, dachte Kopanski. Sieht lächerlich aus. Steht da Tag und Nacht. Niemand zweifelt an ihr. Er setzte sich, legte seine Sachen in den Schattenfleck und öffnete die Flasche. Einen Öffner hatte er am Schlüsselbund. Vermutet niemand, dachte er langsam. Ich hab sowas bei mir. Und das Messer mit all den kleinen und großen Möglichkeiten lagerte in der anderen Hosentasche. Ihm, Kopanski, konnte so schnell nichts passieren. Er war vorbereitet. Ich hab mich falsch angezogen, dachte er nach einer Weile in die Muster des Altmarktpflasters. Er stierte manchmal etwas an, ohne es zu erkennen.
Hitze kroch wie Schleim über ihn hin, bedeckte den Boden, schien zu trocknen, auszutrocknen und zu knirschen. Der heißeste Tag des Jahres. Morgen würden die Zeitungen wieder dankbar berichten. Wie viele Unfälle, Herztote, Brände und unter welchen Umständen. Ihm machte die Hitze an sich nichts aus. Doch er hätte sich leichter kleiden sollen. Sätze seiner Mutter fielen ihm ein, von der nur noch Worte wie Fundstücke, Fotos und Briefe geblieben waren. Du bist einerseits so penibel, hatte sie immer gesagt. Andererseits tust du oft das Gegenteil von dem, was richtig ist. Was ist schon richtig?, dachte er. Und was ist nun noch für sie richtig oder von ihr, wo sie gar nicht mehr da ist?
Mein Gott, Mutter, hatte er einmal geantwortet, du vererbst dich doch nicht allein. Das ist doch eine endlose Kette. Keiner weiß, wo sie endet und was von wem stammt. Und der Anfang weiß nicht was das Ende tut. Von uns hast du das jedenfalls nicht, hatte sie wieder gesagt. Wir sind alle nicht so. Wie war er, Kopanski? Naja, Mutter, wie gesagt, du allein hast doch da gar nichts zu sagen. In dem Prozess. Vielleicht hab ich das von irgendeinem Bauern in Südpolen, der nicht lesen und schreiben konnte. Liegt zweihundert Jahre zurück. Du bist doch nicht für alles verantwortlich. Aber du bist doch unser Sohn. Und Südpolen, wieso? Natürlich, hatte Kopanski gesagt, bin ich. Sie: Du meinst also, du hast Dinge, die nicht von mir sind! Sicher Mutter, wir haben doch viele Mütter und Väter. Wer das alles aufdecken will. Dann hatte sie nur noch geschwiegen und darüber nachgedacht, dass Kinder eben grundsätzlich undankbar sind.
Vor Kopanski liefen einige Menschen hin und her. Ein Pärchen mit Rucksack stand da wie ein Kunstwerk. Hatten die in letzter Zeit überhaupt richtig geschlafen? Sie sahen aus wie im Rentenalter schockartig verjüngt und in einem wirren Grau fixiert. Eine alte Frau ging, mit hackenden Absätzen, das Gebetbuch fest in der Hand. Die Knöchel weiß, als wolle sie es um jeden Preis verteidigen. Aber niemand machte es ihr streitig. Ein junges Mädchen mit türkisfarbenem, dünnem Jerseykleid, an der Seite wie ein Theatervorhang hochgerafft. Kopanski fand, dass das schon eine starke Vorstellung war. Im Oberteil bewegte sich ein gelber, breiter, V-förmiger Einsatz. Die trägt keinen BH, dachte Kopanski.
Wenn ich mich nicht bewege ... Er sah dem Kleid nach und konnte den Satz nicht zu Ende bringen. In Filmen hatte Kopanski gesehen, dass man Frauen ganz leicht zu etwas bewegen konnte. Warmes Wetter war da förderlich. Man musste nur ein wenig unverschämt sein. Die Hitze stand ihm nicht im Weg. Ihm nicht. Nicht mal dazu hat man Lust, versicherten die Angestellten seiner Firma in diesem Sommer. Er fand das nicht. Was war mit ihm los? Waren Frauen nicht Teil der Vergangenheit?
Die junge Frau hatte vielleicht aus den Augenwinkeln nach ihm gesehen. Wie hatte er da nur gewirkt mit der Flasche? Er, Kopanski, so etwas wie ein Limo-Penner? Hoffentlich verwischten sich solche Einteilungen bei diesen Temperaturen.
Er döste vor sich hin, stellte die Flasche unter die Bank, hob den einen Fuß über das Knie hinauf und überlegte, wie das mit den Fotos wäre. Ein Thema ließ sich immer finden. Das Pflaster löste sich auf und setzte sich wieder zusammen zu neuen Mustern. Geometrien zerfielen und stiegen neu auf. Das ging ihm oft so, wenn er unentschlossen war. Er tat eigentlich nichts. Alles geschah, als habe es seiner Person oder seiner Gedanken nicht bedurft. Müsste jetzt nicht jeder, der hier säße und döste, die gleichen Muster sehen? Das war es eben. Jeder sähe sie in der gleichen Situation anders. Das war es, was Kopanski dem Leben übelnahm. Was das Leben so kompliziert machte. Sollte er die Muster fotografieren?
Er war beruhigt, dass die Bewegungen, die sein Kopf bewirkte, die geistigen Bewegungen, die ihm wie Aktivitäten vorkamen, niemandem direkt helfen oder schaden konnten. Dass sie nicht unmittelbar für jemanden ein Problem lösten. Das Wort blanker Zynismus fiel in ihn, und er stellte es sich wie einen polierten Gegenstand vor. Hatte das mit seinem Zustand hier zu tun? So wie er saß und dachte und doch nicht dachte oder gedacht wurde? Wenn jemand mich dächte, dachte er, wäre ich dann eine künstliche Figur?
Er prüfte, ob das Filmpaket eingelegt war. Rechts im weißen Feld stand die Zahl zehn. Ich bin am Anfang, stellte Kopanski fest. Von weitem erkannte er das türkisfarbene Minikleid, das näherschwankte. Ich werde sie fotografieren, beschloss er. Er stand auf, ging ziemlich nah heran und drückte auf den Auslöser. Gleich käme das aufwändige Geräusch nach, dachte er, als es schon vorüber war. Die junge Frau wehrte ab, als sie näher kam, stellte sich aber doch sekundenlang in Positur, als könne sie das Foto noch beeinflussen. Muss Instinkt sein, sagte sich Kopanski, oder ich habe das bewirkt.
Es dauert einen Moment, sagte er laut.
Ich will aber kein Bild kaufen, sagte sie.
Der Satz stieg am Ende an. Schon bin ich im Gespräch, dachte Kopanski. Es war wohl lohnender, Menschen zu fotografieren als tote Objekte. Er wedelte mit dem Foto und sagte: Die verkaufe ich nicht.
Wie, sagte sie, Sie fotografieren Fremde, ohne zu fragen, und sammeln die Bilder?
Gut, sagte er, ich schenke es Ihnen. Im Übrigen fotografiere ich nur Menschen, bei denen ich glaube, dass ich sie schon immer gekannt habe. Sie reagierte nicht darauf. Beide sahen nun auf die blanke Schicht und warteten. Wenn ich die ansehe, dachte er, weiß ich nicht, was ich nun weiter sagen soll. Während die Farben aufquollen, versuchte er ihre Gedanken zu erraten. Wir treffen immer Frauen, die uns nicht richtig erkennen, dachte er.
Wird gut, sagte sie, drehen Sie‘s mal um!
Kopanski hatte sie gut getroffen, die Farben stimmten, und es war Bewegung im Bild.
Hier, für Sie, sagte er.
Sie nahm das Bild.
Und jetzt noch eins für mich, sagte er. Stellen Sie sich doch noch mal dahin. Nein, besser, Sie gehen an mir vorbei. Es muss nämlich ganz ähnlich werden.
Gut, sagte sie lachend, wenn Sie wollen.
Er drückte, und wieder warteten sie stumm.
Einmal während des Wartens lachte sie unvermittelt auf, als fiele ihr etwas ein, was nicht mit ihm zu tun hatte. Er hätte es gern gewusst. Kopanski fand, dass diese junge Frau gepflegt war. Ein bisschen sehr modisch, aber dennoch kein lauter Typ. Sie vibriert, dachte er. Sie vibriert mit Leben. Sie verglichen die Bilder und fanden, dass sie sich ziemlich ähnlich waren.
Kopanski sagte: Suchen Sie sich eins aus.
Sie behielt das erste Bild, lachte und zuckte die Schultern. Ihr Oberkörper geriet in Bewegung. Die Brüste beruhigten sich dann wieder unter dem dünnen Material.
Ja, dann, sagte sie.
Kopanski dachte: Jetzt wird sie gehen. Er hatte das Gefühl, seine Adresse unten auf das Bild schreiben zu müssen. Warum tat er das nicht? Sie wird gehen, dachte er noch mal. Ihr Kleid wird wippen, und das war‘s dann. Sie ging schon, ging langsam und winkte mit dem Bild, und er dachte: Junge Frauen am Altstadtmarkt, das ist ein Thema. Ein Sonderthema. Und er sah die Bilder ausgestellt in irgendeiner Sparkassenhalle. Er stand in der abgebrochenen Bewegung.
Und was machen Sie mit dem Bild?, rief sie, schon weiter weg.
Ich stecke es mir hinter den Spiegel!
Sie zuckte die Schultern, lächelte. Das war der Moment. Aber Kopanski stand da, angewurzelt, fühlte den Kugelschreiber in der Hand. Sie schüttelte amüsiert den Kopf und entfernte sich.
Er saß dann da und betrachtete das Bild, dessen Originalfigur weiter oben, ohne sich umzusehen, um eine Ecke bog und verschwunden blieb. Ich bin ein Idiot, sagte sich Kopanski. Jetzt sitze ich hier auf einer lächerlichen Bank mit einer lächerlichen Limonadenflasche darunter und weiß nicht, wohin mit dem Stift. Ich habe hier den Moment einer jungen Frau auf dem Altmarkt fixiert, habe diesen Moment bei mir, von jemandem, der nicht mehr da ist und vermutlich nicht wiederkommen wird. Hatte das was mit seinem Leben zu tun?
Ich mache eine Serie, dachte Kopanski schnell. Junge Frauen am Altmarkt. Er würde in der Hitze nur dasitzen und sich geeignete Frauen auswählen. Bald wäre die Bank im Schatten. Das Thermometer drüben beim Optiker verharrte auf 36 Grad, in der Sonne. Schon jetzt um 10:30 Uhr. Er hörte ein Geräusch. Wenig Menschen in den Straßen. Er hörte das Geräusch von Füßen. Die Beine kamen erst viel später aus der Passage, die im Halbschatten lauerte. Die Beine kamen heraus mit Füßen daran, als gehörten sie nicht dazu.
Junge Frauen am Altmarkt. Kopanski machte sich Vorwürfe, dass er heute nicht fortfuhr, die Stadt zu erfassen. Minutiös. Das war eine richtige Ausschweifung. Er steckte das Bild ein und sagte: Dabei bleibt es. Ich mache weiter. Mit der Stadt. Aber er konnte sich nicht lösen von der Bank. Eine merkwürdige Trägheit fraß sich in die Beine, fraß sich hoch, erreichte die Taille, und er ergab sich in diesen Zustand. Es erwischt mich wohl, dachte er noch. Im Rücken war ein großer, kalter Fleck fühlbar, der dann durchschlug und auf der Brust herauskam. Jetzt fehlte er hinten. In der Brust entstand eine Schwere, die wund war. Ein breiter Klebestreifen, den man ruckartig abzieht. Da bleibt dieses merkwürdige Erstaunen zurück, dies Geräusch.
Der Schmerz wie aufgeraut. Er nahm das Bild heraus und überlegte, ob er Lust auf die junge Frau gehabt hätte. Hinter ihm sprach eine alte Frau unentwegt. Kopanski drehte sich nicht um. Er versuchte, sich vorzustellen, mit wem die Alte spräche. Illustrierte sie seine Gedanken an die junge Frau? Die alte, helle Stimme, schütter, wie am Ende des Tons zerfasert, in Teile zerlegt. Er verband diese Stimme mit dem türkisfarbenen Kleid, und ihn ekelte.
Vor dem kleinen Theater hatte er eine zweite junge Frau entdeckt, die entschlossen ging. Warum takelt die sich so auf, wenn sie gleichzeitig so abweisend aussieht? Er konnte sich nicht entschließen, die Frau zu fotografieren, obwohl er sie schon durch den Sucher visierte. Er dachte an seine Dusche zu Hause.
Wenn er sich schmutzig fühlte, irgendwo an seiner Kleidung Flecken entdeckte, wollte er manchmal alles herunterreißen. Er trank die Flasche leer und warf sie in den Drahtkorb neben der Bank. Kopanski fühlte die Unterteilungen des Augenblicks wie kleine Fächer, in die man Neigungen und Abneigungen legen konnte, und er fühlte, dass ganz unangemessene Dinge sich jetzt dort wie von selbst einsortieren wollten. Ich kann nicht an die Zukunft denken, überlegte er. Hier nicht. Es ist wie mit fremden Zimmern, da geht es mir ebenso. Er konnte in den Zimmern herumgehen, die Gegenstände anfassen. Er konnte die Geräusche, die er verursachte, annehmen. Aber sie klangen fremd. Abweisend. Sie bezeugten ihm nichts. Sie lieferten kein Bild als das, dass sie fremd waren und doch sie selbst. Der Altmarkt wird auch ein Raum sein, dachte er.
Zukunft. Was ist das?, denkt Kopanski, und sein Blick bleibt am Hintern der jungen Frau kleben, die die Fotos am Theater betrachtet. Das T-Shirt-Kleid ist etwas hoch gerutscht, und eine Stofffalte überzieht das Gesäß diagonal wie eine Botschaft. Kopanski kann die Konturen des Minislips ausmachen. Sein Blick bleibt da, wandert mit den Bewegungen der Frau wie ein Bühnenlicht. Kopanski überlegt, wie er das Gefühl nennen will, das er in sich produziert. Er schließt die Augen und sagt sich: Ich bin weg. Bin nicht da. Das betrifft mich nicht. Ich schlafe in meinem Zimmer oder bin abgereist.
Zukunft. Das betrifft mich gar nicht. Der Begriff wächst nun in ihm nichtsdestoweniger zu beträchtlicher Schönheit.
Er betrachtet wieder das Foto, das er vorhin gemacht hat, und den sich jetzt nicht bewegenden Hintern im T-Shirt-Kleid. Wie würde ich bestehen, wenn ich so ein Leben da installierte?, denkt Kopanski. So mit Frau und mehreren Räumen. Bin ich neidisch auf diese Art Leben, ohne Neid zu empfinden? Eine abendliche Lampe hinter irgendeinem Vorhang, die Wärme abstrahlt. Eine Stuckdecke, die herableuchtet auf eine Dezemberstraße. Ein Frauengesicht, das an diesem Fenster im Profil wandert und den Gehsteig mit einem Teppich aus Vorstellungen überflutet.
Zukunft, denkt Kopanski schließlich, Zukunft wickelt mich nicht ein. Mich nicht. Was habe ich damit zu schaffen? Und er befühlt seine Kamera wie einen Partner. Die Kamera ist kühl und sachlich. Da war dieser Po schuld, denkt er. Er sitzt da. Tauben überfliegen ihn. Licht zittert an den Fassaden. Ein Fensterflügel klirrt, wirft blitzartig Grelle über den Platz. Er wird aufstehen und sich die Bilder ansehen, die die junge Frau betrachtet hat, die jetzt, den Po verschiebend, zum zweiten Kasten gegangen ist. Ihr Spiegelbild flimmert auf der Glasscheibe. Mischt sich mit den schwarzweißen Bühnenfotos. Collage, denkt Kopanski. Lebende Collage. Halblebendig. Die Ecken der Bilder biegen sich nach vorn und ziehen das Spiegelbild mit. Der schwarze Molton hängt träge. Unter jedem Foto der Name des Fotografen. Strahlten seine Bilder nicht mehr Ursprünglichkeit aus als diese hier? Er könnte seine Bilder ebenso gut signieren. Er hatte so einen Stift, der auf allem schrieb. Sogar auf Glas. Theater für alle, las er und dachte: alles Theater. Die junge Frau war weg.
Während er geht, übt er seinen Namenszug auf einem Stück Papier. Das K gelingt ihm großartig. Die anderen Buchstaben mit entschlossenen Abstrichen, das letzte K beinahe abstrahiert herabgezogen und das i nur noch als Ahnung vorhanden, durch einen kleinen Kreis markiert, der den verfeinerten i-Punkt darstellt. Er nähert sich dem Kiosk. Der flimmert auf Gummirädern und ächzt. Geruch von heißem Fett wölbt sich über dem Dach und reicht wie ein Dom bis auf den Asphalt herab. Kopanski trieb plötzlich etwas an. Er näherte sich, sah geschäftsmäßig aus, schrieb auffällig etwas in ein kleines Notizbuch und fotografierte den Wagen. Der Mensch drinnen bewegte sich in vorsichtigem Misstrauen. Oder posierte er? Kopanski konnte das nicht genau unterscheiden. Zunächst hatte der Mann ausgesehen wie ein Teil seines eigenen Wagens. Nun zog er die Augenbrauen hoch. Kopanski umging den Wagen wortlos, sah hinten Abfälle, löste aus auf die Abfälle, fotografierte die Rückseite des Wagens.
Haben Sie eine Lizenz?, fragte er von hinten, ohne den Mann zu sehen.
Die Spannung erhöhte sich. Er kam nach vorn. Der Mann zog die Schultern hoch. Er kam Kopanski vor wie eine Katze, die buckelt. Er zog seinen Detektivausweis heraus, den das Kaufhaus ihm ausgestellt hatte, zeigte ihn schnell und sagte:
Gesundheitsamt! Wir überprüfen alle mobilen Geschäfte.
Der Mann sagte nichts, trat zur Seite und ließ Kopanski vorbei. Kopanski stand im Wagen, sah sich um, beanstandete dies und das. Der Gewerbeschein lag auf dem Tisch. Kopanski prüfte ihn abschätzend. Er nickte wortlos, als jemand etwas bei ihm bestellen wollte. Er zeigte dabei auf den Mann im weißen Kittel, der so an der Tür stand, als wolle er jeden Moment abspringen.
Jetzt nicht, sagte der Mann im weißen Kittel und winkte unwirsch ab. Kommen Sie später wieder.
Ich mache eine Ortsbegehung, dachte Kopanski.
Sie haben keine Toilette in der Nähe!, sagte er.
Nein, sagte der Mann. Das nicht.
Sie wurden beobachtet, wie sie ihr Geschäft hinter dem Wagen erledigten.
Kopanski wog jedes Wort. Der Mann wartete nervös. Kopanski schob nach.
Das ist Erregung öffentlichen Ärgernisses, sagte er. Es wurde beobachtet, dass Sie nicht einmal die Hände danach wuschen.
Sie müssen entschuldigen, sagte der Mann.
Ich nicht, sagte Kopanski. Das Gesundheitsamt und das Gewerbeaufsichtsamt. Ich mache nur die Meldung.
Ist einmal passiert, sagte der Mann.
Na, na, sagte Kopanski, wer‘s glaubt! Waschen Sie sich die Hände jetzt sofort, sagte Kopanski, und mit Seife, sonst schließe ich den Laden.
Der Mann gehorchte wie eine Puppe. Es ist die Hitze, dachte er. Er hat keine Kunden. Die Leute stecken noch in den Häusern. Ich hab ihn erwischt, und er resigniert.
Machen Sie mir eine Bratwurst, sagte Kopanski. Und ich trinke eine Limonade, rief er hinterher.
Der Mann beeilte sich, legte eine Serviette hinzu, wischte die Glasplatte zweimal ab und wünschte Kopanski guten Appetit. Sowas klappt nur an einem so heißen Tag, dachte Kopanski. Das lähmt die Sinne. Da wehrt sich keiner.
Schmidt kam vorbei. Wieso Schmidt? Der war doch bei seinen Eltern. Das konnte nicht Schmidt sein. Aber Schmidt sprach mit Schmidts Stimme und hatte seine Gesten. Und die Tasche hatte er auch bei sich.
Tag, Herr Detektiv, scherzte er. Und kroch neben ihn auf den Hocker.
Schmidt hier! Ausgerechnet. Dann schlug er Schmidt auf die Schulter und sagte:
Sie kontrollieren also jetzt den Kontrolleur.
Er fühlte sich nun installiert und bestätigt.
Schwarze Schafe gibt‘s ja auch genug, fügte er noch an.
Schmidt lachte. Sicher verstand er gar nichts bei der Hitze.
Hier, für meinen Kollegen das gleiche, sagte Kopanski.
Der Mann bediente Schmidt automatisch.
Jetzt hätten sie alles von ihm haben können. Dann stand er da im Wagen mit einem Lappen und begann die Armaturen zu wienern.
So ist‘s recht, sagte Kopanski. So sollte es sein. Ich komme nächste Woche wieder, und das andere da hinter dem Wagen muss aufhören. Sie aßen. Und die Abfälle haben zu verschwinden, sagte er nach längerer Pause. Eine Entscheidung über die Meldung treffe ich dann nächste Woche.
Schmidt sah Kopanski fragend an.
Freiberuflich mache ich das, flüsterte Kopanski. Muss die Firma nicht wissen.
Aha, sagte Schmidt. Er kniepte. Die Eltern waren nicht da.
Sie standen auf.
Ist doch wohl alles bezahlt?, sagte Kopanski mit ansteigender Stimme.
Ja, ja, alles bezahlt, Chef.
Gut, sagte Kopanski. Dann ist es gut.
Schmidt nahm die volle Tasche an sich und ging zum Altmarkt mit.
Ich gehe noch ins Krankenhaus, sagte er. Mein Vater liegt da schon drei Tage. Darmkrebs. Bringe ihm ein paar Sachen. Die hatten mir gar nichts gesagt.
Aha, sagte Kopanski. Darmkrebs.
Er sah Schmidt in der Sternstraße verschwinden. Die Tasche schlug gegen die rechte Wade. Es sieht lächerlich aus, wie er so geht, dachte Kopanski. Die Tasche lächerlich. Die Wade lächerlich. Man kennt ihn ja auch nur auf dem Fahrrad. Aber vielleicht sind alle Bewegungen im Grunde lächerlich. Kopanski betrachtete den Lichtrest, der auf seiner Kamera spielte. Was sollte er jetzt machen? Er holte das Foto aus seiner Tasche und betrachtete die Frau in dem türkisfarbenen Kleid. Ich könnte die Leute fragen: Haben Sie diese Frau gesehen? Aber die Straßen waren leer. Vielleicht duscht sie gerade oder tut sonst etwas. Was sie auch tut, in meiner Hand hat sie keine Chance. Sie bleibt, wie sie ist.
Er gelangte zum Bahnhof und kaufte sich in der Halle ein Buch. Eigentlich hatte er es wegen des Umschlags gekauft, der eine feine Leinenprägung zeigte und auf gelbem Grund ein farbiges, kleines Haus kurz vor dem Richtfest. Dreimal war es Kopanski im Drehständer begegnet. Er kaufte es, ohne den Titel zu entschlüsseln. In der Straßenbahn begann er zu lesen. Neben der Scheibe war es unerträglich heiß, und ein Tropfen löste sich vom Nasenflügel und fiel auf die erste Seite. Der Tropfen lagerte über den Worten einzelne Schweißtropfen und Kopanski erschrak. Das hatte sicher was zu bedeuten. Er schloss das Buch. Solche Zufälle gibt es doch nicht, erläuterte er sich die Sache schnell. War eben der ganz typische Zufall. Der Zufall an sich. Er beobachtete, wie der Tropfen zunächst blank war und dann matt versickerte. Da bliebe eine Spur.
Es ist die Hitze, sagte er sich. Anders kann es nicht sein. Er fuhr und bewegte sich nicht. Die Statik seines Zimmers kam ihm schmerzlich zu Bewusstsein. Jeder Gegenstand beschrieb da auch ein besonderes Nichtleben. Er war sicher schon teilweise gestorben. Hatte er nicht in letzter Zeit so ein Abschilfern der Persönlichkeit gespürt? Ein Nachlassen, ein Absinken des Lebensgrundwasserspiegels?
Sein Zimmer war an seinem Zustand schuld. Die Summe der verschiedenen Tode erreichte da eine Stärke, die bei aller Stille die klirrende Vibration von Schmerzen im Kopf auslöste. Immer häufiger. Alles hatte so weiter existiert in seiner Abwesenheit. Lauernd. Lebte vielleicht, wenn er nicht da war. Lebte in erschütternder Ordnung, ohne zu leben. Jeder Gegenstand ein Nichts. Tot. Und doch würde jeder von ihnen ihn, Kopanski, mächtig überleben. Durfte das sein? Er stellte sich vor, dass er tot sei. Tot zwischen den toten Gegenständen, die lebendig wur