Körperjäger - Spencer Kope - E-Book

Körperjäger E-Book

Spencer Kope

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Beschreibung

Eine Serie grausamer Morde, Körperteile in einer Kühlbox und keine Spur vom Mörder. FBI-Agent »Steps« nimmt es in seinem zweiten Fall mit dem kaltblütigsten Killer auf, dem er je begegnet ist ...

Jemand wurde ermordet, doch über die Identität des Opfers ist nichts bekannt. Denn es wurden lediglich die abgetrennten Füße der Leiche gefunden - im Haus eines Richters, in einer Kühlbox verstaut. Obwohl die Ermittlungen noch ganz am Anfang stehen, ist eines klar: Das kann nicht das erste Opfer dieses Mörders sein - und schon gar nicht das letzte. Der brisante Fall schockiert sogar den erfahrenen FBI-Agenten Magnus »Steps« Craig. Wird ihm seine besondere Gabe, die Spuren eines Mörders zu sehen, dabei helfen, den bislang schwierigsten Fall seiner Karriere zu lösen?

Ebooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

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Körpersammler

Über dieses Buch

Eine Serie grausamer Morde, Körperteile in einer Kühlbox und keine Spur vom Mörder. FBI-Agent »Steps« nimmt es in seinem zweiten Fall mit dem kaltblütigsten Killer auf, dem er je begegnet ist …

Jemand wurde ermordet, doch über die Identität des Opfers ist nichts bekannt. Denn es wurden lediglich die abgetrennten Füße der Leiche gefunden – im Haus eines Richters, in einer Kühlbox verstaut. Obwohl die Ermittlungen noch ganz am Anfang stehen, ist eines klar: Das kann nicht das erste Opfer dieses Mörders sein – und schon gar nicht das letzte. Der brisante Fall schockiert sogar den erfahrenen FBI-Agenten Magnus »Steps« Craig. Wird ihm seine besondere Gabe, die Spuren eines Mörders zu sehen, dabei helfen, den bislang schwierigsten Fall seiner Karriere zu lösen?

Über den Autor

Spencer Kope, geboren in Bellingham/Washington, studierte Russisch und arbeitete lange Zeit für die Navy. Er reiste zwei Jahre lang durch Spanien, England, Pakistan, Marokko und lebte ein Jahr in der Türkei. Seit einigen Jahren arbeitet er in der Abteilung »Crime Analyse«, was ihm Ideen und gute Dialoge für neue Krimis und Thriller liefert.

SPENCER KOPE

KÖPERJÄGER

THRILLER

Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Krug

beTHRILLED

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Deutsche Erstausgabe

Die Originalausgabe WHISPERS OF THE DEAD: A SPECIAL TRACKING UNIT NOVELerschien 2018 bei Minotaur Books, New York

Copyright © 2018 by Spencer Kope

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin´s Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Übersetzung: Michael Krug

Textredaktion: Natalie Röllig

Thomas Krämer unter Verwendung von Motiven © shutterstock: llaszlo | gordan | nullplus

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5375-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für meine Mutter, Mary Joan Kope (Hogan).Danke für den Tanz.

Prolog

Dunkelheit. Nahezu vollständige Dunkelheit.

Überwältigt und umzingelt kämpft eine einzige Glühbirne trotzig gegen die pechschwarze Finsternis an. Ihr schwaches Licht durchdringt kaum die Leere. Aber was sie an Helligkeit zu bieten vermag, offenbart den Körper eines Mannes in der Horizontalen, mit Lederriemen und Fesseln auf einer niedrigen Bank fixiert.

Die panischen Augen des Mannes zucken hin und her. Seine Finger ballen und strecken sich ruckartig. Sonst rührt sich nichts, denn er ist zu umfassend fixiert.

Die weitläufige Kammer hat etwas Höhlenartiges. Ihre Decke und die Wände verschwinden in der Düsternis. Abgesehen von dem Licht und dessen Aureole ist kaum etwas erkennbar. Nur der Mann, die Bank, darüber eine bedrohlich wirkende schwarze Vorrichtung … und ein flüsterleiser Schatten, der sich unbekümmert und wortlos umherbewegt.

Der Schatten gleitet bald hierhin, bald dorthin, überprüft Fesseln, hantiert an Gerätschaften, kümmert sich um seine Angelegenheiten. Der Geruch von Blut und Angst durchwirkt die Luft.

Als alles bereit ist – alles außer einer Kleinigkeit –, hält der Schatten inne und mustert sein Opfer mit unsichtbaren Augen. Er kommt näher, dreht eine langsame, rituelle Runde um die Fesselbank, hält inne und überprüft ein letztes Mal einen Riemen. Der Blick des Opfers folgt jeder Bewegung mit vor blankem Grauen geweiteten Augen. Undeutliche Laute dringen tief aus seiner Kehle, zweifellos ein Flehen, ein Betteln um Gnade.

Eine lange Weile verharrt der Schatten regungslos. Dann nähert er sich langsam, und ein Gesicht löst sich aus der Düsternis. Zum ersten Mal wird der Schatten als menschlich erkennbar – bis auf die Augen; die haben ihre Menschlichkeit schon vor langer Zeit verloren. Langsam öffnet der Schatten den Mund und haucht im Flüsterton vier Worte: »Du sollst nicht töten.«

Stille tritt ein, und der Schatten lächelt. Plötzlich ertönt in der Dunkelheit ein metallisches Klicken, ein einzelner Laut, gefolgt von einem schabenden Zischen – Stahl, der zum Leben erwacht. Das Geräusch dauert nur einen Moment lang an. Das Schreien … wesentlich länger.

Was eben noch ein auf der Bank gefesselter Mensch war, verwandelt sich in ein Geschöpf, das sich vor Qualen windet, das vor Schmerzen heult und kreischt, das sich gegen Fesseln aufbäumt, die einfach nicht nachgeben.

Der Schatten beobachtet.

Unerträgliche Sekunden werden zu albtraumhaften Minuten. Das Geschöpf wird schwächer, verfällt ins Delirium. Die Schreie werden leiser und leiser, bis nur noch ein letzter Luftstoß aus der verausgabten Lunge seufzt … dann kehrt wieder Stille ein.

Du sollst nicht töten.

In der höhlenartigen Dunkelheit verbleiben nur zwei Geräusche: das stete Tropf-tropf-tropf von der besudelten Bank und das regelmäßige Atmen des Schattens.

1

Interstate 5 Richtung Süden aus Bellingham – 2. September, 11:47 Uhr

Die Sirene heult ihr einsames Klagelied.

Es ist eine schwermütige an- und abschwellende Melodie, und ich kenne jede Note auswendig. Das Blaulicht blinkt dazu, wird von Schildern und Fenstern reflektiert, aber bei diesem oft wiederholten Schauspiel gibt es keine Synchronisation. Die Lichter und die Sirene existieren nebeneinander, weil sie müssen, obwohl sie nicht immer zusammen tanzen.

Sie sind die Vorboten – der Rabe und der Blitz, die Überbringer schlechter Neuigkeiten oder die Verkünder böser Taten. Heute trifft beides zu.

Jimmy – mein Partner, FBI Special Agent James Donovan – schlängelt den schwarzen Ford Expedition gekonnt durch den sich teilenden Verkehr, als wir uns den Weg in südlicher Richtung auf der Interstate 5 bahnen, vorbei am Lake Samish und schließlich hinein in das flache Farmland von Skagit County. Der Tachometer zeigt hundertsechsundfünfzig Stundenkilometer an. Ich bemühe mich, nicht darauf zu achten.

Mittlerweile fährt Jimmy auf dem linken Randstreifen.

Die Bahn vor uns ist frei, so weit das Auge reicht. Zu unserer Rechten starren uns Fahrer und Passagiere aus ihren Fahrzeugen heraus an, als wir sie passieren, und der Luftzug des SUV lässt die kleineren Autos erzittern. Als wir den Weg Richtung Süden fortsetzen und das Geheul der Sirene allmählich verhallt, erfasst die Menschen, die wir hinter uns zurücklassen, ein kollektives Gefühl: Erleichterung.

Der Rabe ist an ihnen vorbeigezogen. Der Blitz hat sie nicht getroffen. Jemand anders hatte nicht so viel Glück.

Vor drei Stunden hat die Polizei von Burlington auf einen Notruf aus einem Wohnhaus im Ash Way reagiert und die Leiche von Krystal Ballard auf dem Wohnzimmerboden gefunden. Das Leben war förmlich aus ihr herausgeflossen und hatte eine Reihe roter Flecken auf dem beigen Teppich hinterlassen. Todesursache: Stichverletzungen. Allerdings nicht die üblichen zwei, drei Einstiche. Elf Mal war ihr in die Brust gestochen worden.

Elf Mal!

Zwei oder drei Mal sticht man zu, um zu töten. Elf Mal – das ist blanker Overkill.

Ein Overkill zeugt von Wut oder Eifersucht oder Rache und spricht Bände über den Mörder. Ich habe das schon erlebt – die plötzliche Entladung von Emotionen vermittels einer Klinge, strafend und unerbittlich. Bis der Täter genug davon hat, das schmatzende Eindringen von Stahl in Fleisch zu hören, einen Schritt zurücktritt und die Sauerei betrachtet, die er angerichtet hat.

Es ist fast immer ein Er.

Messerattacken erfordern Kraft. Sie erfolgen aus nächster Nähe, sind persönlich.

Es überrascht nicht weiter, dass der Exmann bereits in Gewahrsam ist – das kommt davon, wenn man das Handy fallen lässt, während man ein Verbrechen begeht. Die Spurensicherung hat es halb unter der Couch auf dem Wohnzimmerboden gefunden. Ist verblüffend, wie oft so etwas passiert: Jemand lässt ein Mobiltelefon, eine Brieftasche, sogar Gerichtsunterlagen fallen.

»Warum genau fahren wir noch mal zu einem Verbrechen, das bereits gelöst ist?«, frage ich Jimmy, als wir die Schnellstraße entlangrasen. Vom Geheul der Sirene und vom Tosen der am SUV vorbeirauschenden Luft kriege ich Kopfschmerzen; Jimmy scheint das nichts anzuhaben.

»Ist kompliziert«, erwidert er nach einer Weile.

»Echt jetzt? Das ist deine beste Antwort?«

Kurz sieht er mich gereizt an, bevor er die Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtet. »Hab ’nen Anruf von ’nem Freund erhalten«, verrät er mir. »Er ist Ermittler beim Büro des Sheriffs von Skagit County.«

Ich warte auf mehr.

Auf den Namen des Freunds, die besonderen Umstände des Falls, den Grund, warum der namenslose Freund einen Fährtensucher braucht, obwohl die Leiche bereits gefunden wurde und ein Verdächtiger in Haft ist. Aber auf dem Fahrersitz herrscht hartnäckiges Schweigen.

»Und?«, platze ich schließlich hervor, als ich es nicht länger aushalte.

Jimmy spannt den Körper an, sagt aber nichts. Normalerweise kann er hundertsechsundfünfzig Stundenkilometer auf einer stark frequentierten Schnellstraße fahren und dabei aussehen, als relaxe er in einem Whirlpool. Doch nun, da ich ihn um mehr Informationen bitte, versteift er sich schlagartig, und seine Knöchel zeichnen sich am Lenkrad weiß ab.

Das ist verräterisch.

Jetzt weiß ich, dass etwas im Busch ist. Jimmy ist an sich kein Geheimniskrämer, schon gar nicht, wenn’s ums Fährtensuchen geht. Was immer auf uns wartet, muss übel sein, vielleicht sogar richtig übel. Ich öffne den Mund, will ihn weiter bedrängen, aber noch ehe die Worte heraussprudeln, kommt mir Jimmy zuvor.

»Lass es einfach, Steps«, knurrt er. »Ich weiß noch nicht genug, um dich umfassend zu informieren, klar? Ich weiß gerade genug, um dich sauer werden zu lassen, und das kann ich im Moment nicht brauchen. Wir sind in ein paar Minuten da, dann erfahren wir beide mehr.« Nachdem er das losgeworden ist, entspannt er sich ein wenig, schenkt mir ein gezwungenes Lächeln und fügt hinzu: »Hand aufs Herz.«

Hand aufs Herz!

Ich habe mich geirrt – uns erwartet eine Katastrophe.

***

Die zweigeschossigen Häuser reihen sich wie Dominosteine zu beiden Seiten der stillen Straße aneinander. Jedes gleicht dem daneben und dem gegenüber, abgesehen vom Anstrich und vom persönlichen Dekor, das sich auf die Blumenbeete und Vorgärten beschränkt.

Vierundzwanzig Durchschnittshäuser auf vierundzwanzig Mini-Grundstücken mit vierundzwanzig Doppelgaragen, die auf zwei Gassen weisen, eine hinter jeder Häuserzeile.

Die streng eingehaltene Gleichförmigkeit des Wohngebiets besitzt ihren eigenen kleinen Reiz – Betonung auf klein. In solchen Gegenden ist ein Grill hinter dem Haus Standard. Kinder spielen auf der Straße so lange in den Abend hinein Ball, dass es störend für die Nachbarn wird. Ein aufgebocktes Auto in der Einfahrt für mehr als einen Tag gilt als einer Steinigung würdiges Vergehen.

Kaum biegen wir in die Straße, sichte ich unser Ziel. Es ist das zehnte Durchschnittshaus auf der rechten Seite, ein bezaubernder Klon in Waldgrün mit hellbraunen Einfassungen, die wirken, als wäre ein Hauch von Olivgrün hineingemischt.

Das gelbe Absperrband der Polizei ist nicht Bestandteil des Dekors.

Genauso wenig wie der Einsatzleitwagen, der davor parkt. Oder wie das Dutzend ziviler Polizeiautos und Streifenwagen entlang der Straße und der Gasse dahinter. Sie hüllen den Tatort in ein schwindelerregendes Kaleidoskop blinkender Lichter.

Jimmy lenkt den schwarzen Ford Expedition, ein Dienstfahrzeug des FBI, an den Straßenrand und legt den Parkgang ein. Einige der Nachbarn schauen flüchtig in unsere Richtung, bevor der Tatort sie wieder in seinen Bann zieht. Obwohl es nicht viel zu sehen gibt, stehen sie auf ihren Rasen und beobachten das traurige, grüne Haus am Ende der Straße.

Ich will aussteigen. Jimmy packt mich am Arm und zieht mich zurück in den SUV. »Was ist?«, frage ich und blicke auf die vier Finger und den Daumen hinab, die meinen Unterarm wie ein Schraubstock umklammern.

»Geh es … dezent an«, sagt Jimmy.

»Ich soll es dezent angehen?« Mit halb geschlossenen Augen mustere ich Jimmy. Mit in den Nacken gelegtem Kopf starre ich ihn an. »Warum spüre ich plötzlich ein leichtes Kribbeln an der Schädelbasis? Ist es vielleicht an der Zeit, mir die eine oder andere Einzelheit mitzuteilen?«

Jimmys Mund bildet eine verkniffene, leicht schiefe Linie. Seine Worte ertönen in trägen, verhaltenen Blöcken. »Na schön. Du musst zwei Dinge wissen. Erstens: Diese Suche … ist nicht unbedingt … offiziell.«

»Was soll das heißen, nicht unbedingt?«

»Wir wurden nicht eingeladen«, platzt Jimmy hervor. »Nicht offiziell.«

Ein Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus. »Wir wurden nicht eingeladen.« Ich nicke leicht, während Jimmy bereits den Kopf schüttelt. Er weiß, was kommt. »Ja, das ist interessant«, fahre ich fort. »Was also, Mr. Protokoll, Mr. Streng-nach-FBI-Vorschriften, machen wir dann hier, wenn es nicht offiziell ist und wir nicht eingeladen wurden?«

»Ist ’ne lange Geschichte.«

»Ich bin viel dezenter, wenn ich die Fakten kenne«, winke ich mit dem Zaunpfahl.

Jimmy dreht sich mir zu. »Du kannst echt eine Nervensäge sein, wenn …« Unvermittelt verstummt er und deutet durch die Windschutzscheibe. »Da kommt er ja; er kann es dir selbst sagen.«

»Warte, was ist mit der zweiten Sache? Du hast gesagt, ich müsste zwei Dinge wissen.«

Jimmy ist bereits ausgestiegen. Er zögert. Einen Moment lang sieht es so aus, als würde er die Tür zuschlagen und so tun, als hätte er mich nicht gehört. Dann jedoch steckt er noch mal den Kopf herein und redet so schnell, dass er wie der Sprecher der rechtlichen Mitteilung am Ende einer Medikamentenwerbung klingt: »Hector Pastori ist der Einsatzleiter. Er ist im Einsatzleitwagen und weiß nicht, dass wir hier sind. Also verhalte dich leise und mach schnell.«

Damit wird die Tür zugeknallt.

Hector Pastori!

Ich sitze da und starre durch die Windschutzscheibe. Ein Zucken beginnt an meinem linken Auge und bahnt sich den Weg weiter zum rechten. War schlau von Jimmy, mir das nicht eher zu sagen. Hätte ich das vorher gewusst, säße ich jetzt in Hangar 7 und würde mir im Pausenraum einen Film reinziehen.

Hector fehlt nichts, was sich nicht mit einer mehrtägigen Darmspiegelung beseitigen ließe. Er leidet an chronischem Neid der verstopfenden Art, die man nicht so einfach los wird. Zum ersten Mal begegnet sind wir uns vor Jahren im Mount Rainer Nationalpark bei einer Such- und Rettungsmission, die landesweit in den Schlagzeilen war. Er ist ein guter Fährtensucher, das muss ich ihm lassen, und bevor ich am Schauplatz eintraf, hatte er die gesamte Medienaufmerksamkeit für sich.

Seither ist unsere Beziehung … nun ja, angespannt. Ist allerdings nicht meine Schuld, dass er durch mich dumm ausgesehen hat.

Je höher Hector aufsteigt und je mehr Befehlsgewalt er besitzt, desto mehr scheint er sich auf mich einzuschießen, wann immer sich unsere Wege kreuzen. Was zum Glück nicht oft der Fall ist.

Ich beobachte, wie Jimmy zur Beifahrerseite geht, wo er sich an den Kotflügel lehnt. Ein Mann in gestärktem weißem Hemd, burgunderroter Krawatte, dunkelgrauer Hose und schwarzen, vom Regen nassen Schuhen überquert den Rasen in unsere Richtung. An seinem Gürtel ist das goldene Abzeichen eines Ermittlers befestigt, aber die braune Papiertüte, die er am Tragegriff hält, sieht weniger dienstlich aus.

Als er sich nähert, späht er nervös über die rechte Schulter zum Einsatzleitwagen, und mir wird klar, dass der Typ mit zu der inoffiziellen Nicht-Einladung gehört. Neugierig steige ich aus dem SUV und stelle mich zu Jimmy an den Kotflügel, als der Ermittler eintrifft und zum Gruß die Hand ausstreckt.

»Schön, dich zu sehen, Kevin«. Jimmy ergreift die Hand und schüttelt sie kräftig.

»Danke fürs Kommen«, gibt der Ermittler zurück. »Das bedeutet mir viel.«

Jimmy deutet mit dem Daumen in meine Richtung. »Kevin, das ist Operations Specialist Magnus Craig. Er ist unser leitender Fährtensucher.«

»Magnus.« Kevin wiederholt den Namen, damit er ihn nicht vergisst. Ist ein guter Gedächtnistrick, vor allem für einen Ermittler. »Danke fürs Kommen«, sagt er auch zu mir und streckt erneut die Hand aus.

»Nennen Sie mich Steps«, fordere ich ihn auf, als ich seine Hand ergreife.

»Steps?« Er bedenkt mich mit einem fragenden Blick.

Ich zucke mit den Schultern. »Ist ’ne lange Geschichte.«

»Detective Kevin Mueller ist ein alter Freund von mir, «, erklärt mir Jimmy. »Er ist schon länger beim Büro des Sheriffs von Skagit County, als er’s wahrscheinlich wahrhaben will. Wir waren früher im selben Softball-Team.«

»Softball? Wann warst du denn in einem Softball-Team?«

»In einem anderen Leben«, antwortet Jimmy trocken. Mit verkniffener Miene betrachtet er kurz den hässlichen weinenden Himmel, bevor er den Blick auf den Tatort richtet. »Klär uns doch auf, warum wir hier sind, Kevin.«

Der Ermittler kommt der Aufforderung nach.

Es ist dieselbe alte Leier: betrogene Liebe, geklautes Geld und ein abscheulicher Mord. Nur auf eine andere Weise erzählt – und Kevin spart nicht mit Einzelheiten. Wie sich herausstellt, ist der Verdächtige – Archie Everard – ein Highschool-Freund von ihm und seiner Ansicht nach unfähig, einer Fliege was zuleide zu tun, obwohl er mit einer Körpergröße von knapp zwei Metern die Statur eines Linebackers besitzt.

»Er ist ein sanfter Riese«, bemüht Kevin ein überstrapaziertes Klischee.

Das habe ich alles schon gehört, dieselbe Einschätzung, dieselbe Überzeugung. Aber wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass man nie die Dunkelheit unterschätzen darf, die ihre Schatten auf jedes menschliche Herz wirft. Manchmal ist sie kaum wahrnehmbar, weil tief vergraben, manchmal indes ist sie allumfassend.

Jeder sogenannte sanfte Riese ist nur einen Schritt davon entfernt, zu einem tobenden Berserker zu mutieren.

Und Archie Everard hätte jeden Grund, sich wie ein tobender Berserker aufzuführen. Vor vier Jahren hat er Krystal Moon Beam geheiratet — ja, ganz recht, ihre Eltern waren Hippies. Und im ersten Jahr dachte er, das Leben könne unmöglich noch schöner werden.

Dann überredete ihn Krystal zum Verkauf eines sechzehn Hektar großen Heidelbeerfelds für eine stattliche Summe. Archie besaß noch andere Felder, insgesamt fünfundneunzig Hektar, daher hätte sein landwirtschaftlicher Betrieb den Verlust der kleineren Parzelle gut verschmerzen können. Aber es war Land, das sich seit acht Jahrzehnten in Familienbesitz befunden hatte. Der Verkauf löste bei Archie eine Menge persönlicher Schuldgefühle aus.

Es dauerte nicht lange, da verschwand das Geld in Fünftausend- und Zehntausend-Dollar-Tranchen vom Investmentfonds des glücklichen Paars. Als Archie den Verlust bemerkte, waren bereits 655.000 Dollar abgezweigt worden. Er stellte Krystal wegen der Abhebungen zur Rede, doch die zuckte mit keiner Wimper.

»Sie hat ihm das Herz gebrochen«, sagt Kevin. »Wollte von Archie die Scheidung, in die er unter der mündlichen Bedingung eingewilligt hat, dass sie die Hälfte des Gelds zurückzahlt. Hat sie natürlich nicht. Sie ist hierhergezogen« – er deutet mit dem Kinn zum Haus – »und hat sechs Monate später diesen Kerl namens John Ballard aus Seattle geheiratet.«

»Ballard?« Jimmy grübelt über den Namen. »Wo ist er?«

»Laut der Nachbarin hat er die vergangene Nacht in seiner Wohnung in Seattle verbracht, weil er heute früh ein Vorsprechen hatte.«

»Ein Vorsprechen?«

»Er ist Schauspieler«, erklärt Kevin.

»Also ist er arbeitslos«, kommentiere ich.

Kevin lacht – ein kurzes Lachen, aber es kommt aus dem Bauch. Es ist ein gutes Lachen, ein Lachen der Art, bei dem man unwillkürlich lächelt. »Ja«, pflichtet mir der Ermittler bei, »ich glaube, das lässt sich mit arbeitslos gleichsetzen. Früher hat er als Blackjack-Dealer im Kasino gearbeitet. Hat aber nicht lange gehalten. Wir haben die Polizei in Seattle vor ein paar Stunden gebeten, ihn über ihren Tod zu benachrichtigen. Zuletzt hieß es, dass ihn ein Betreuungsbeamter hierher fährt.« Er sieht auf die Uhr. »Sie sollten jeden Moment hier eintreffen.«

»Wie können wir helfen, Kevin?« fragt Jimmy. »Archie ist bereits verhaftet. Was mich stark vermuten lässt, dass man mehr als nur das Handy gegen ihn in der Hand hat.«

»Stimmt.« Das Wort scheint Kevin wie Galle in den Mund zu steigen. Er schüttelt den Kopf. Man merkt ihm an, wie sehr ihn die Sache quält. Sein Gesichtsausdruck wechselt zu Skepsis, als er fortfährt: »Man hat seine Fingerabdrücke am Knauf der Hintertür gefunden.« Der Ermittler scheint zu schrumpfen, als er die Worte förmlich haucht. Danach breitet sich Stille zwischen uns aus.

»Hat er Krystal besucht, seit sie hierhergezogen ist?«, fragt Jimmy schließlich in sanftem Ton.

»Nein«, antwortet Kevin. »Das beteuert er standhaft.«

Jimmy und ich wechseln einen besorgten Blick. Wenn sich Archie bereits auf die Aussage festgelegt hat, dass er noch nie in dem Haus gewesen ist, dann wird es nahezu unmöglich, seine Fingerabdrücke zu erklären.

»Er ist unschuldig«, beharrt Kevin. »Sollte ich mich irren, gebe ich auf der Stelle mein Abzeichen zurück und quittiere den Dienst. Letztes Jahr hast du mir erzählt, wie super dein Partner an Mordtatorten ist.« Er sieht mich an, mustert mich von oben bis unten. »Ich bitte euch lediglich, dass ihr euch mal umschaut, ob wir vielleicht was übersehen haben.«

Kevin senkt den Blick. Sein Finger schnippt gegen den Griff der Papiertüte. »Archie darf nicht ins Gefängnis. Das ist einfach nicht richtig.« Er reicht mir die Tüte. »Jimmy hat gesagt, das brauchen Sie.«

***

Es gibt immer einen Schuh.

Das ist zu einem Teil unseres Suchrituals geworden. Nicht, weil wir das Muster der Sohle oder die Größe des Fußes überprüfen müssen. Das sind nur einige der Vorwände, die wir benutzen. Der wahre Grund ist komplizierter.

Seit meinem achten Lebensjahr, seit dem Tag, an dem ich starb und wiederbelebt wurde, besitze ich die Fähigkeit, etwas zu sehen, das ich den Schein nenne. Andere würden ihn vielleicht als menschliche Aura oder sogar als Lebensenergie bezeichnen, aber ich bevorzuge die Bezeichnung Schein. Das klingt weniger bizarr, und es ist tatsächlich ein Fährtensuchbegriff, wenngleich sich das, was Fährtensucher sehen, völlig von dem unterscheidet, was ich sehe.

Für mich ist der Schein neonfarben, und es gibt ihn in jeder erdenklichen Schattierung. Oft setzt sich der Schein aus mehreren Farben zusammen, wenngleich es immer eine gibt, die vorherrscht. Ich nenne diese Farbe oder Farbkombination die Essenz des Scheins. Jeder Schein besitzt auch eine Textur. Sie kann sandig, rau, glasig, rostig, blasig, schlammig, stofflich, flaumig sein oder Tausende andere Beschaffenheiten aufweisen.

Und jeder Schein ist einzigartig.

Wie Fingerabdrücke oder DNA: Mir ist noch nie ein Schein untergekommen, der einem anderen völlig gleicht. Dadurch kann ich einen Tatort betreten und sehen, wohin wer gegangen ist, was von wem angefasst wurde und wo von wem Blut, Sperma oder Speichel zurückgelassen wurde. Manchmal weiß ich, zu wem ein Schein gehört, weil ich einen Schuh habe oder weil die Person anwesend ist. Andere Male offenbart sich der Besitzer eines Scheins erst im weiteren Verlauf eines Falls.

Schräg, ich weiß.

Noch seltsamer wird es dadurch, dass niemand davon erfahren darf, und das hat einen guten Grund. Man stelle sich vor, die Geschworenen bei einem Mordprozess würden einen sogenannten Experten für Fährtensuche über irgendein magisches Leuchten reden hören, das nur er sehen kann. Es würde nicht nur der Fall abgeschmettert, der Richter würde zudem wahrscheinlich die Erstellung eines psychologischen Gutachtens anordnen.

Also spiele ich der Welt etwas vor.

Ich habe die Kunst der »echten« Fährtensuche erlernt, um mein Geheimnis zu verschleiern. Wenn wir im Einsatz sind, studiere ich eingehend den Boden und suche entlang des Pfads des Scheins nach realen Hinweisen. Wenn der Verdächtige irgendwo eine Pflanze streift und einen Halm oder Zweig knickt, weist mir der Schein die Richtung, und ich kann auf den Schaden hinweisen und ihn als Spur darstellen.

Nur drei Menschen kennen mein Geheimnis: Jimmy, mein Vater und mein Boss, FBI-Direktor Robert Carlson. Dad und Carlson waren beste Freunde und Kameraden bei der US-Army in Westdeutschland in den späten 1970ern. Seit frühester Kindheit nenne ich ihn Onkel Robert … und tue es heute noch. Jimmy bekommt dabei jedes Mal fast einen Herzinfarkt; es ist zum Brüllen komisch.

Ich schätze, in Anbetracht der Umstände sollte es nicht weiter überraschen, dass mein Vater Onkel Robert von meiner speziellen Fähigkeit erzählt hat. Nicht mal meine Mutter weiß davon, aber der Direktor des FBI schon – ist das zu fassen? Und nun stehe ich auf nassem Asphalt unter einem bewölkten Himmel und starre auf einen blau-weißen Nike Größe 45 aus Archie Everards Schrank.

»Jimmy hat gesagt, Sie müssen ihn untersuchen, bevor Sie mit der Fährtensuche beginnen können.« Detective Mueller deutet auf den Schuh.

»Jimmy … hat … recht«, erwidere ich stockend, während ich den Schuh langsam in den Händen drehe. »Sieht so aus, als hätte Archie hohe Fußgewölbe«, sage ich und fahre mit dem Finger die Außenkante der Sohle nach. »Sehen Sie das Verschleißmuster? Das zeugt von Supination; er dreht die Füße beim Gehen nicht ausreichend nach innen. Darauf sollten Sie ihn aufmerksam machen. Er könnte Knieprobleme oder Plantarfasziitis davon bekommen. Ist schon irgendwie komisch – da ragt jemand so hoch auf wie dieser Archie und hat zu allem Überfluss auch noch hohe Fußgewölbe.« Ich lege eine kurze Kunstpause ein. »Hoher Kerl … hohe Fußgewölbe, klar?«

»Ich denke, Archie hat im Augenblick andere Probleme, Steps«, sagt Jimmy.

Niemand kapiert meine Witze.

»Dann machen wir uns mal an die Arbeit«, schlage ich vor.

Den Nike holen zu lassen, war bloß ein Vorwand, um Archies Schein zu identifizieren. Da Menschen ungern die verschwitzten Treter von jemand anderem tragen, eignen sich Schuhe hervorragend, um den Schein des Besitzers zu bestimmen, sofern der nicht gerade vor einem steht. Ich konnte ihn sehen, sobald ich meine Brille abgenommen hatte. Archie besitzt nicht nur hohe Fußgewölbe, sondern auch einen Schein, der in einem satten Türkis strahlt. Die Textur ähnelt einem Hitzeflimmern. Eine interessante Kombination.

»Nimm«, sage ich und reiche Jimmy den Schuh.

Als ich jung war, habe ich gelernt, die pulsierende Masse überflüssiger Scheine, die ständig meine Sicht zumüllen, herunterzuregeln und so herauzufiltern, dass nur die für mich interessante Essenz zurückbleibt. Klappt ziemlich effektiv, nur bekomme ich höllische Kopfschmerzen davon. Mit der Brille noch in der Hand sperre ich alles bis auf Archies einzigartigen türkisen Schein aus und lasse den Blick langsam über die Vorderseite des Hauses wandern.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragt Jimmy.

Ich bin mir nicht sicher, ob er Zeit zu schinden versucht oder bloß neugierig ist. So oder so, ich bin dankbar für die Ablenkung.

»Die Nachbarin.« Detective Mueller zeigt mit dem Daumen in Richtung des Reihenhauses nebenan. »Hat hyperventiliert und war ziemlich verstört, als wir hier eingetroffen sind. Ihrer Aussage nach stand die Hintertür ungefähr eine Stunde lang einen Spalt offen, also ist sie rübergekommen, um sie zu schließen. Dachte, der Wind hätte sie aufgedrückt. Als sie dabei in den Flur geschaut hat, sah sie einen Fuß aus dem Durchgang zum Wohnzimmer ragen.«

»Woher hat sie gewusst, dass Krystal tot war? Ist sie reingegangen?«

»Musste sie nicht. Da war überall Blut.«

Als ich auf der Straße, im Vorgarten und auf den Stufen zur Eingangstür keine Anzeichen von Archies einzigartigem türkisem Schein entdecke, wende ich mich Kevin zu. »Können wir uns hinten umsehen?«

»Gehen Sie voraus«, erwidert er.

Wir folgen dem Bürgersteig zum Ende des Blocks, dann biegen wir nach rechts und erreichen bald die Gasse, die hinter der Häuserzeile verläuft. Sie ist mit gelbem Polizeiabsperrband abgeriegelt und wird von einem Deputy des Sheriff-Büros von Skagit County bewacht.

Wir halten an, und Kevin verbürgt sich für uns. Wir zeigen unsere FBI-Ausweise. Unsere Namen werden ordnungsgemäß auf dem Protokollblatt für Personen notiert, die den Tatort betreten. Dann hebt Kevin das Band an, und wir ducken uns darunter hindurch.

Das Haus befindet sich ein Stück vor uns auf der rechten Seite.

Ich passiere das Tor in den Hinterhof, halte auf die offene Hintertür zu – und werde fündig: ein Tupfen Türkis. Die Farbe schimmert auf dem Türknauf. Archies Schein, daran besteht kein Zweifel. Nur ergibt das keinen Sinn. Ich ziehe Jimmy beiseite außer Hörweite.

»Ich hab einen Treffer.«

Jimmys Schultern sacken herab. »Das war’s dann wohl. Archie ist unser Täter.«

»Vielleicht auch nicht.«

Jimmys Kopf schnellt herum. »Wie meinst du das?«

»Der Schein ist auf dem Türknauf«, erkläre ich.

»Das ergibt Sinn. Dort haben sie den Fingerabdruck gefunden.«

»Nur auf dem Türknauf«, betone ich.

Es dauert einen Moment, bis die Information einsickert. »Wie ist das möglich?«

»Gar nicht«, antworte ich. »Es sei denn, er ist mit einem fliegenden Teppich angereist. Ich sehe keine Spuren, die zur Tür führen, keine mit dem Ellbogen gestreiften Pflanzen, keine Handabdrücke auf der Tür, keine Fußabdrücke ins Haus. Das ergibt keinerlei S…«

Plötzlich stimmt Jimmys Handy ein Lied an.

Es ist Diane – ich erkenne es am Klingelton. Sie ist das dritte und letzte Mitglied der Special Tracking Unit des FBI, kurz STU, und ein Anruf von ihr kann zweierlei bedeuten: Entweder hat sie für uns Informationen oder eine neue Mission.

Das Gespräch dauert weniger als eine Minute, bevor Jimmy es beendet und das Telefon zurück in die Tasche steckt.

»Les und Marty tanken gerade Betsy auf«, teilt er mir mit. Damit meint er die Gulfstream G100, den in unserem Büro – Hangar 7 – am Bellingham International Airport geparkten Privatjet. »Wir fliegen nach El Paso.«

»El Paso? Hat man eine Leiche gefunden?«

»Nicht ganz.«

»Was soll das heißen?«

»Es heißt nicht ganz. Ich erklär’s dir unterwegs. Wir müssen hier schnell fertig werden.« Er senkt die Stimme auf ein Flüstern. »Kannst du überhaupt irgendwas tun?«

»Weiß ich nicht«, räume ich resignierend ein. »Ich müsste das Opfer sehen.«

Wir bahnen uns den Weg ins Haus. Obwohl es erst vor drei Jahren gebaut wurde, ist es nun von Mord besudelt, und das ist ein anhaltender Makel. Kevin hält uns den Rücken frei, als Beamte von drei verschiedenen Zuständigkeiten neugierige, teilweise verärgerte Blicke in unsere Richtung werfen. Ein Spurensicherungsexperte schießt gerade Fotos, als wir das Wohnzimmer betreten.

Mich schaudert, und ich schlinge die Arme um meine Brust.

Wenn es um Leichen geht, ziehe ich frische jederzeit solchen vor, die seit Tagen oder gar Wochen vor sich hin gären. Dieser Leichnam ist erst wenige Stunden alt, daher ist es nicht der Geruch – der Hauch von Eisen in der Luft –, der das Schaudern verursacht.

Der Körper gleicht einem blutigen Chaos.

Nein, blutiges Chaos reicht nicht aus, um zu beschreiben, was wir vorfinden. Krystal Ballard liegt ausgestreckt auf dem Teppich, rot von Kopf bis Fuß, als wäre sie im Rahmen eines bizarren Kunstprojekts mit einem dicken Pinsel bemalt worden. Ihre Kleidung ist rot, ihr Haar ist rot, ihr Schatten ist rot.

Trotzdem kann ich den Schein des Verdächtigen durchschimmern sehen. Und er ist nicht Türkis.

***

Einen Moment später spüre ich Jimmys Hand auf der Schulter. »Wir retten diejenigen, die wir retten können«, sagt er leise. Das ist unser Mantra, unser Aufruf zum Handeln – Worte, die uns daran erinnern sollen, dass wir eine Aufgabe zu erledigen haben. Worte, die uns trotz des vor uns liegenden Grauens auf Trab bringen sollen.

»Für sie kommen wir vielleicht zu spät«, sage ich zu Jimmy, »aber Archie können wir immer noch retten.« Dann richte ich den Blick auf Detective Mueller. »Sie hatten recht, er hat das hier nicht getan.«

Jetzt ist mir alles klar – kristallklar. Nur wird das, was ich weiß, ohne handfeste Beweise nur schwer zu belegen sein. In der Zwischenzeit wird Pastori mit aller Härte gegen Archie vorgehen. Wer könnte ihm einen Vorwurf daraus machen? Die physischen Beweise sind überwältigend.

»Ich brauche ein Blatt Papier und einen Stift«, verkünde ich und schnippe ungeduldig mit den Fingern. Jimmy reicht mir einen Stift, Kevin seinen Notizblock. Ich gehe in die Küche, ziehe einen Barhocker zu mir und kritzle einige Anmerkungen und Anweisungen. Zwei Minuten später reiße ich das Blatt vom Block ab, falte es in der Hälfte und gebe es Kevin.

»Alles, was Sie brauchen, steht da drin: der Verdächtige, wie er es gemacht hat und wie Sie es beweisen können. An Ihrer Stelle würde ich sofort anfangen, bevor Pastori Sie zu Wachdienst einteilt oder die nächsten zwei Tage Beweismittel registrieren lässt.«

Kevin faltet den Zettel auseinander. Ich beobachte, wie seine Augen über die Zeilen wandern. Zuerst runzelt er die Stirn, dann jedoch verändert sich sein gesamtes Gebaren, und er lächelt sogar. Schließlich ergreift er meine Hand und schüttelt sie enthusiastisch. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Als Nächstes schüttelt er Jimmys Rechte, klopft ihm auf die Schulter und eilt zur Tür hinaus, um ein Rätsel zu lösen.

Jimmy ist perplex. »Was hast du geschrieben?«

Ich zucke mit den Schultern und gebe ihm seinen Stift zurück.

»Nein im Ernst, was hast du geschrieben?«

»Wirst du sehen, wenn er fertig ist.«

Jimmy starrt mich an. »Echt jetzt? Du sagst es mir nicht?«

Ich schüttle den Kopf und grinse ihn an. »Das kommt davon, dass du mich nicht wegen Pastori gewarnt hast.« Jimmy steht noch mit den Händen an den Hüften in der Küche, als ich zur Vordertür hinausgehe und den Weg zurück zum Expedition antrete.

Ich habe den Rasen halb überquert, als ich spüre, wie sich in der Nähe ein übler Wind regt. Mein Blick schwenkt in dem Moment zum Einsatzleitwagen, als Hector Pastori herausstolpert und flucht, weil seine Füße zu groß und tollpatschig für die Metallstufen sind. Rasch schaue ich weg und ziehe den Kopf so weit wie möglich zwischen die Schultern ein.

Wenig später erreiche ich den Expedition. Ich bin in Sicherheit, habe die Hand schon auf dem Türgriff, brauche nur noch ein, zwei Sekunden … da stolziert Jimmy durch die Eingangstür heraus. Er schaut nicht mal auf, als er den Fußweg entlangmarschiert. Was bedauerlich ist, denn auch Pastori schaut nicht auf. Fünf Meter von der Tür entfernt stoßen sie beinah zusammen.

»Siiie«, entfährt es Pastori. Das ist seine Imitation eines feuerspeienden Drachen – er spricht ein Wort endlos gedehnt aus und legt jedes Quäntchen seines Atems hinein.

»Siiie«, äfft ihn Jimmy nach, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Was haben Sie hier verloren, Donovan?«, verlangt Pastori zu erfahren. »Habe ich Sie etwa angefordert? Kann mich nicht erinnern, Sie angerufen zu haben. Und doch treiben Sie sich mitten in meinem Tatort herum.«

»Entspannen Sie sich, ich geh ja schon. Klingt, als hätten Sie ohnehin bereits einen Verdächtigen in Gewahrsam.« Als Jimmy an Hector vorbei will, hält er noch einmal inne und beugt sich zu ihm. »Sind Sie sicher, dass er der Täter ist?«

»Er ist doch verhaftet worden, oder? Ich brauche vom FBI keine Nachhilfe. Apropos, wo ist denn dieser Möchtegern-Fährtensucher, den Sie als Partner bezeichnen?«

Seine Augen suchen bereits die Umgebung ab. Er weiß, wenn Jimmy hier ist, kann ich nicht weit sein. Statt ihm die Befriedigung zu gönnen, mich kauernd neben dem Auto zu sichten, setze ich mich über den Rasen in seine Richtung in Bewegung.

»Sieh mal einer an, da ist ja Pastrami«, sage ich laut, als ich mich nähere, dann lege ich Hector einen Arm um die Schultern.

»Es heißt Pastori, Sie Dämlack.« Er schüttelt meinen Arm ab.

»Was für ein ungewöhnlicher Name – Pastori Siedämlack. Suchen Sie immer noch auf der falschen Seite des Bergs nach Vermissten?«

»SERGEANT!«, brüllt Pastori und zeigt mit einem Finger auf einen Beamten in der Nähe der Eingangstür. »Entfernen Sie diese Mistkerle von meinem Tatort, und zwar sofort! Wenn sie wiederkommen, verhaften Sie die beiden wegen Justizbehinderung.«

Als er davonstürmt, rufe ich ihm nach: »Herrje, Hector, machen Sie sich locker, Kumpel.«

Er hält mitten im Schritt inne, strafft die Schultern und wirbelt mit verblüffender Geschwindigkeit zu uns herum. »Wissen Sie, Sie sind nicht die Einzigen mit guten Verbindungen.«

»Ja«, kontere ich. »Unsere ist der Direktor des FBI. Ihre ist WLAN. Glückwunsch.«

Er schäumt vor unterdrückter Wut. Sein Gesicht läuft hochrot an, und er bebt am ganzen Leib. Mit den Augen reißt er mir die Haare einzeln aus. Nach einem Atemzug kehrt er uns den Rücken zu und stapft ohne einen weiteren Blick zurück davon.

Ich zucke mit den Schultern.

Ist doch noch ein guter Tag geworden.

Nachdem ich die Tür des Expedition hinter mir zugezogen habe, schnalle ich mich an, hole meine Brille aus ihrem Etui und setze sie auf. »Du hast mir eben nicht zu Ende geantwortet«, wende ich mich an Jimmy.

»Inwiefern?«

»Der Anruf von Diane. Wegen El Paso. Ich hab dich gefragt, ob man eine Leiche gefunden hat, und du hast nur gesagt: ›Nicht ganz‹. Schon vergessen?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Und? Hat man jetzt eine Leiche gefunden oder nicht?«

»Nicht ganz.«

2

El Paso, Texas – 2. September, 17:52 Uhr

Der Abend senkt sich über El Paso, als Les und Marty – unser Pilot und Kopilot – die Gulfstream der Special Tracking Unit am internationalen Flughafen der Stadt landen. Die Gulfstream mit dem Spitznamen Betsy mag wie eine Verschwendung von Steuergeldern anmuten, aber das scheint nur so. Die Zeit ist ein kritischer Faktor, wenn man zu Zwischenfällen gerufen wird. Manchmal entscheidet sie über Leben und Tod. Deshalb bemühen wir uns, so schnell und reibungslos wie möglich von A nach B zu gelangen.

Was uns Betsy ermöglicht.

Vor sechs Stunden waren wir noch in Bellingham, jetzt sind wir in El Paso – eine Reise von über dreitausend Kilometern an einem Nachmittag. Abgesehen davon ist das Herumfliegen in der schnittigen Gulfstream mein Lieblingsaspekt des Jobs.

***

Es ist noch eine Stunde bis Sonnenuntergang, aber der Himmel über El Paso strotzt bereits vor Farben. Hundert Schattierungen von Gelb vermengen sich vor dem unterbrochenen, blaugrünen Hintergrund mit tausend Schattierungen von Orange. Es ist ein atemberaubendes Farbenspiel, das sich in jedem Fenster spiegelt und die Stadt schimmern lässt.

Die Luft ist glühend heiß, als Jimmy vor dem Gerichtsmedizinischen Institut von El Paso in der Alberta Avenue an den Randstein rollt. Hitze steigt in Wellen von der Straße auf, die zu beiden Seiten von medizinischen Einrichtungen gesäumt wird: das Texas Tech Health Science Center, das University Medical Center von El Paso, das Kinderkrankenhaus von El Paso, das Thomason Regional Laboratory und andere mehr. Ironischerweise grenzt ans Ende der Straße ein großer, von einem Maschendrahtzaun umgebener Friedhof.

Sicher bloß ein Zufall.

Als wir aus dem gemieteten grauen Ford Focus steigen, schlägt uns eine unbarmherzige Hitzewand entgegen. Fühlt sich stark nach einem brutalen Schwinger in den Bauch an, der einem die Luft aus der Lunge presst. Wenn man nicht gerade ein Wärmefanatiker ist, gehört El Paso zu den Orten, an denen man aus dem klimatisierten Zuhause ins klimatisierte Auto steigt, um ins klimatisierte Büro zu fahren, ohne sich irgendwo dazwischen allzu lange aufzuhalten.

Es ist bereits nach Dienstschluss, also drückt Jimmy auf den Klingelknopf neben der Tür, und wir schwitzen mehrere Minuten lang unter dem verbrannten Himmel, bevor ein Gesicht an der Tür auftaucht. Jimmy sagt kein Wort, drückt nur sein Abzeichen und seinen Ausweis gegen das Fenster. Wir hören ein lautes Klicken. Mr. Gesicht öffnet die Tür und hält sie gerade lange genug für uns auf, damit wir hineinhuschen können.

»Man hat mir gesagt, dass Sie unterwegs sind«, erklärt Mr. Gesicht. »Nur nicht, wann Sie hier sein würden.« Er wischt sich die feuchten Fingerspitzen am abgewetzten Kittel ab und streckt uns eine Hand entgegen. »Ich bin Dr. Jimenez … Paul. Nennen Sie mich einfach Paul.« Als es weder Jimmy noch ich eilig haben, seine Hand zu ergreifen, grinst er plötzlich und hält sie mit der Handfläche zu uns hoch. »Ist bloß Senf und ein bisschen Gurkensaft«, erklärt er. »War gerade dabei, ein Sandwich zu essen, als es klingelte …«

Lachend schütteln wir uns abwechselnd die Hände. Paul besitzt ein ansteckendes Grinsen, ein herzhaftes Lachen und einen Sinn für Humor, der in einem Leichenschauhaus fehl am Platz zu sein scheint, doch dann wird mir klar, dass sich das alles nicht wesentlich von Polizistenhumor unterscheidet. Als wir ihm einen makellos weißen Flur hinunter folgen, gibt er einen Leichenbeschauerwitz zum Besten und lacht, als hätte ein anderer ihn erzählt.

Man muss den Kerl einfach mögen.

Paul führt uns in einen großen Autopsiesaal, schlüpft, ohne den Kittel abzulegen, in einen weißen Mantel und zieht Handschuhe an. »Ich hol die Überreste aus der Kühlbox«, verkündet er, als er den Raum verlässt. An der Tür hält er inne, zeigt mit einem Finger erst auf Jimmy, dann auf mich und meint: »Wo ich schon auf dem Weg zur Kühlbox bin: Will jemand ein Bier?«

Wir starren ihn an.

Plötzlich bricht er in Gelächter aus und winkt ab. »Ihr Jungs seid echt leicht dranzukriegen.« Damit verschwindet er, und wir hören, wie er auf dem Weg den Flur hinunter vor sich hin pfeift.

Der Autopsiesaal ähnelt den hundert anderen, die ich schon kennengelernt habe. Untersuchungstisch, Spülbecken, Hängewaagen, bewegliche Beleuchtung, Spülschläuche und einiges mehr. Die zwei dominanten Farben – eigentlich fast die einzigen Farben – sind Weiß und Edelstahl.

Es dauert nicht lange, bis wir Paul wieder im Flur pfeifen hören, begleitet vom metallischen Rattern einer Transportliege. Als Paul das Ding in den Raum schiebt, verwirrt mich auf Anhieb, was sich darauf befindet – oder vielmehr, was fehlt.

»Oh Mann, das kann nicht gut sein«, murmle ich bei mir.

Die Transportliege ist nahezu leer.

Ein weißes Laken ist darüber ausgebreitet. Aber statt der Umrisse eines Leichnams bedeckt es ein ungefähr sechzig mal sechzig Zentimeter großes Behältnis in der Mitte der Edelstahloberfläche.

»Lassen Sie mich raten«, sage ich. »Ein Kopf?«

»Nein«, antwortet Paul mit einem Grinsen. »Dann wäre unser Job ja zu einfach, nicht wahr?« Schwungvoll zieht er das Laken weg wie ein Magier, der ein Tischtuch unter einer gedeckten Tafel mit halbvollen Weingläsern wegreißt, ohne dass etwas zu Bruch geht.

In dem Behältnis befinden sich zwei Füße, die noch in ihren grauen Converse Größe 42 und weißen Socken stecken.

»Okay, Sie haben meine volle Aufmerksamkeit«, sage ich.

Dr. Jimenez fasst unter die Transportliege und bringt eine weiße Kühlbox aus Styropor zum Vorschein, eines dieser billigen Dinger, die man im Sommer fast überall zu kaufen bekommt. Er stellt sie neben die Füße.

»Was ist das?«, erkundigt sich Jimmy.

»Darin«, antwortet Paul, »wurden sie gefunden. Mitten im Wohnzimmer von Kreisrichter Jonathan Ehrlich.« Er kichert. »Hätte keinem netteren Kerl passieren können.« Er grinst uns an. »Von mir haben Sie das nicht gehört.«

Jimmy zeigt sich neugierig. »Erzählen Sie uns von ihm.«

Paul späht über die Schulter zur Tür, bevor er sich in unsere Richtung vorbeugt. »Er ist der Teil der Vorhaut, den man nach einer Beschneidung wegwirft. Verstehen Sie, was ich meine? Der Typ ist so nutzlos wie ein Warnhinweis auf der Spritze eines Junkies. Aber er hat politische Verbindungen und wurde irgendwie als Bundesrichter nominiert, ob Sie’s glauben oder nicht. Das war letzten Monat. Es muss zwar noch durch die Anhörung, wird aber wahrscheinlich abgesegnet – Gott steh uns bei.«

»Meinen Sie, es könnte eine Botschaft sein, die etwas mit der Nominierung zu tun hat?« Jimmy beugt sich vor und blickt in die Kühlbox. Mich interessiert die Kühlbox nicht. Ich bewahre Abstand. Styropor ist mir unheimlich. Keine Ahnung, warum, ist einfach so. Ich habe Probleme, okay?

Das Einzige, was mir noch mehr zusetzt als Styropor, ist jeder stinknormale Wald. Jedes Mal, wenn sich eine größere Anzahl von Laub- und Nadelbäumen zusammenrottet, weiß man, dass es nicht gut enden wird.

»Ich schätze, es könnte schon eine Art Botschaft sein«, meint Dr. Jimenez. »Andererseits sind wir in El Paso. Da ist praktisch alles möglich.«

»Was ist mit den Kartellen?«, frage ich.

»Das ist eine Möglichkeit«, erwidert Paul mit Nachdruck. »Obwohl die tendenziell eher Köpfe benutzen, wenn sie eine Botschaft schicken wollen. Aber wer weiß? Erst vor Kurzem haben die mexikanischen Behörden in der Wüste ein paar Kilometer südlich der Grenze, östlich von Juárez, einen zurückgelassenen Van gefunden. Die Federales haben vierzehn Leichen daraus geborgen. Dass es vierzehn Leichen waren, wussten sie nur, weil sich genauso viele Rümpfe im Wagen befanden. Trotzdem hatten sie am Ende fünfzehn linke Arme.« Er kratzt sich am Kinn und schüttelt den Kopf. »Wie kann das sein? Fünfzehn linke Arme, vierzehn Rümpfe?«

»Wie viel Aufwand wäre es, die Schuhe und Socken zu entfernen?«, frage ich. »Eigentlich muss ich gar nicht beide Füße sehen, einer würde schon reichen.«

»Überhaupt kein Aufwand«, antwortet Paul. »Ich hab sie schon flüchtig auf Spuren untersucht, aber nichts gefunden.« Er entfernt beide Schuhe aus dem Behältnis und stellt sie auf den Untersuchungstisch, wo sich unter ihnen sofort eine kleine Lache bildet. »Habe ich schon erwähnt, dass sie gefroren waren?«

»Gefroren?«, hakt Jimmy nach.

»Ja. Nach der Taurate zu urteilen, waren sie seit ungefähr zwei Tagen aus dem Gefrierschrank, als wir sie gefunden haben – sie hatten auch schon ein bisschen zu müffeln begonnen.« Er rümpft die Nase, dann beginnt er, den linken Schuh aufzuschnüren. Mit leichter Krafteinwirkung zieht er ihn vom Fuß, indem er den Stumpen am Gelenk hält. »Das Gefrieren verkompliziert die Dinge ein wenig«, erklärt er dabei. »Zum einen wird es dadurch unmöglich, den Zeitpunkt des Todeseintritts oder des Verbrechens abzuschätzen. Das Opfer könnte vor sechs Monaten oder sechs Tagen gestorben sein. Ich habe keine Möglichkeit, es mit Sicherheit zu sagen.«

Als Nächstes verschwindet die linke Socke, und ich erhalte einen ersten guten Blick auf den Fuß. Dabei muss ich gar nicht wirklich den Fuß sehen, sondern den Schein: mokkabraun mit lindgrünen Einsprengseln. Die Textur erinnert an Bimsstein, porös, blasig, hässlich.

Ich weiß zwar nicht, wo der Rest des Mannes ist, aber ich weiß, er ist tot. Das ist einer der merkwürdigen Aspekte des Scheins: Er vibriert und pulsiert vor Energie, wenn der Besitzer lebt, andernfalls ist er stumpf und inaktiv.

Natürlich ist auch anderer Schein vorhanden.

Wahrscheinlich von den Fabrikarbeitern, die Schuhe, Socken und Kühlbox hergestellt haben, von den Angestellten, die sie in Regale gepackt und verkauft haben, vom Mörder, der dem Opfer die Füße abgetrennt hat, und von den Spurensicherungsexperten, die sie sichergestellt haben. Der Großteil davon ist älter, und ich kann ihn mühelos herausfiltern. Zurück bleiben drei eindeutige Spuren von Schein an den Schuhen und vier an der Kühlbox. Ein Schein gehört zu Dr. Jimenez – eine sehr angenehme Schattierung von Violett, schlicht und sauber.

Von den verbleibenden Scheinen befindet sich nur einer sowohl an den Schuhen als auch an der Styroporbox. Er ist grell, stechend – eisblau mit schwarzen Pünktchen – und besitzt die Textur von glattem Plastik. Ein Schein so kalt, dass mir bei dem Anblick ein Schauder durch die Knochen kriecht.

»Irgendeine Ahnung, was zum Abtrennen der Füße benutzt wurde?«, fragt Jimmy und zeigt auf das Gewebe und den Knochen am unvollständigen Fußgelenk.

Paul nickt anerkennend. »Ist ein sauberer Schnitt, nicht wahr? Ich vermute, irgendeine industrielle Gerätschaft, vielleicht für die Nahrungsmittelverarbeitung oder etwas in der Richtung. Was immer es war, es hat den Knochen mühelos durchschnitten.«

»Hätte ein Metzger dafür geeignete Ausrüstung?«

»Das weiß ich echt nicht«, antwortet Paul mit einem Schulterzucken. »Allerdings gibt es keine Anzeichen auf Sägespuren. Sieht eher sauber durchgehackt aus.«

»Was ist mit DNA?«

»Ich hab eine Probe ins Labor geschickt. Wird aber ein Weilchen dauern, bis wir Ergebnisse bekommen – vorausgesetzt, sie ist überhaupt in CODIS erfasst«, sagt Paul und spielt damit auf das sogenannte Combined DNA Index System an. Diese Datenbank beherbergt die DNA von Sexualstraftätern und Personen, die wegen verschiedener anderer Delikte verhaftet oder verurteilt wurden. In CODIS befindet sich auch DNA von ungelösten Vergewaltigungen und Morden. Die vorhandenen Profile werden täglich mit neuen Einträgen in der Datenbank abgeglichen.

»Hätten Sie was dagegen, auch ans FBI-Labor eine Probe zu schicken?«, fragt Jimmy.

»Haben eure Jungs nicht einen noch größeren Rückstand als unsere?«

»Wahrscheinlich, aber wir bekommen eine Vorzugsbehandlung.«

Jimmy schreibt Anweisungen und eine Adresse auf einen Zettel und reicht ihn dem Gerichtsmediziner. »Schreiben Sie unbedingt Zu Händen: Janet Burlingame dazu. Sie ist die Labortechnikerin, die für sämtliche unserer Proben zuständig ist. Sie kümmert sich dann darum.«

»Okey-dokey«, sagt Paul und steckt sich den Zettel in die Tasche.

Wir haben alles, weswegen wir hergekommen sind, nämlich zwei Dinge: den Schein des bislang nicht identifizierten Opfers und den Schein des dazugehörigen Mörders. Wir danken Dr. Jimenez, verabschieden uns und lassen ihn im Autopsiesaal zurück. Als wir das Gebäude gerade durch die Vordertür verlassen wollen, eilt er hinter uns her.

»Sie geben mir doch Bescheid, falls Sie den Rest von ihm finden, oder?«, sagt er, als er die Tür für uns aufhält. »Ob die DNA nun einen Treffer ergibt oder nicht. Ich muss diesen Kerl so bald wie möglich identifizieren, sonst stehen die Füße weiter in der Kühlanlage rum und nehmen wertvollen Platz in Beschlag.«

»Wir rufen Sie an, falls wir ihn aufspüren oder zumindest herausfinden, wer er war«, verspricht Jimmy und schüttelt Paul ein zweites Mal die Hand.

»Nächstes Mal gehen die Biere auf mich«, erwidert Paul. Dann kichert er, als Jimmy und ich einen Blick wechseln. »Nein, ehrlich. Ich kenne da eine tolle kleine Kneipe.«

Er lächelt noch immer, als wir den Parkplatz verlassen.

***

Der Vista Hermosa Drive wird seiner Übersetzung gerecht: wunderschöne Aussicht.

Es ist eine ziemlich gerade Straße aus gut gewartetem Asphalt, und sie verläuft direkt in den Westhang der Franklin Mountains in der Nähe der Südspitze. Eine Straße mit hochwertigen Häusern, hochwertigen Autos und hochwertigen Profis auf ihrem jeweiligen Gebiet – die Heimat der Wohlhabenden in El Paso. Richter Jonathan Ehrlichs Haus liegt in einer Sackgasse am Ende der Straße unmittelbar am Fuß eines Bergs.

Der Tatort wurde immer noch nicht freigegeben, und der Anblick des gelben Absperrbands der Polizei ist eine für die Bewohner des Vista Hermosa Drive ungewohnte Unerfreulichkeit. Dasselbe gilt für den Anblick des Streifenwagens in der Einfahrt. Wir sehen Gesichter, die durch Fenster nach draußen spähen, als wir uns nähern – weiteres Futter für die via SMS und Twitter befeuerte Gerüchteküche.

Als Jimmy den Ford vorsichtig an den Bordstein lenkt, sichten wir beide einen jungen Stadtpolizisten, vermutlich frisch von der Polizeischule, der an der offenen Eingangstür Wache hält. Er fällt uns auf, weil er gerade eine unerfreuliche Standpauke von einem kleinen, rundlichen Burschen um die Mitte fünfzig bekommt.

»Richter Ehrlich, vermute ich«, murmelt Jimmy, als er den Parkgang des Ford einlegt und den Zündschlüssel abzieht.

»Scheint ein echt netter Kerl zu sein«, meine ich in vergnügtem Ton, bevor ich mich abschnalle und mich aus dem Gurt befreie. Ich nehme meine Spezialbrille ab und verstaue sie in ihrem Lederetui, das ich in der Mittelkonsole zurücklasse. In meiner Reisetasche im Kofferraum habe ich ein identisches Paar, zwei weitere zu Hause. Die Bleikristallgläser der Brille blockieren als bisher einzige Substanz, die ich gefunden habe, den Schein vollkommen. Von daher sind diese Brillen das Einzige, wodurch ich mir meine geistige Gesundheit bewahre.

Allerdings kann ich sie nur sechs bis sieben Stunden am Stück tragen, bevor rasende Kopfschmerzen einsetzen – dasselbe passiert, wenn ich zu lange auf Schein starre. Also wechsle ich ab: Zwei bis drei Stunden trage ich die Brille, dann nehme ich sie für eine halbe Stunde ab.

Während Ehrlich weiter keift und gelegentlich sogar brüllt, schweigt der Stadtpolizist tapfer und zeigt keine Reaktion. Das ist der Haken daran, wenn man im Gesetzesvollzug arbeitet: Irgendjemand ist immer wütend auf einen. Irgendjemand will sich immer mit einem anlegen, mit einem streiten oder einen anschreien. Ein weiterer Aspekt im Gesetzesvollzug ist, dass man immer von jemandem die Schuld für etwas aufgebürdet kriegt, das man nicht getan hat oder für das man nicht verantwortlich ist.

Der Stadtpolizist bekommt gerade eine Wagenladung von beidem ab. Ein Polizist braucht jede Menge Geduld.

Als wir uns auf dem Bürgersteig nähern, sichtet uns der Hochrotgesichtige und tobt sofort in unsere Richtung los. Das Bild einer Safari in Afrika kommt mir in den Sinn, bei der man aus irgendeinem lächerlichen Grund zu Fuß unterwegs ist und einer Herde wildgewordener Elefanten über den Weg läuft. Woraufhin die aufgescheuchten Tiere sodann wild trompetend auf einen zustürmen …

Der Hochrotgesichtige macht indes einen noch viel beängstigenderen Eindruck auf mich.