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Was Erkrankungen und Symptome wirklich über uns sagen
Viele körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen, Tinnitus oder Migräne sind ein Ausdruck seelischer Belastungen und Verletzungen. Sie alle können Spuren hinterlassen, die sich im Körper widerspiegeln. Dabei sind die Ursachen dieser Symptome ganz unterschiedlicher Natur, wie der Osteopath und Gestalttherapeut Bernhard Voss aus seiner mehr als 25-jährigen Praxiserfahrung weiß. Er führt schulmedizinische, osteopathische und psychologische Sichtweisen zu einem völlig neuen ganzheitlichen Ansatz zusammen. In diesem Buch gibt er den Lesern eine Fülle von Werkzeugen an die Hand und versetzt sie in die Lage, den wahren Ursachen ihrer Beschwerden auf den Grund zu gehen und die Symptome auf diese Weise zu heilen.
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Seitenzahl: 386
Viele körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen, Tinnitus oder Migräne sind ein Ausdruck seelischer Belastungen und Verletzungen. Sie alle können Spuren hinterlassen, die sich im Körper widerspiegeln. Dabei sind die Ursachen dieser Symptome ganz unterschiedlicher Natur, wie der Osteopath (DMOH) und Gestalttherapeut Bernhard Voss aus seiner mehr als 25-jährigen Praxiserfahrung weiß. Er führt schulmedizinische, osteopathische und psychologische Sichtweisen zu einem völlig neuen ganzheitlichen Ansatz zusammen. In diesem Buch gibt er medizinischen Laien und Profis gleichermaßen eine Fülle von Werkzeugen an die Hand und versetzt sie in die Lage, den wahren Ursachen von Beschwerden auf den Grund zu gehen und die Symptome auf diese Weise zu heilen.
Bernhard Voss (geb. 1964) ist ein gefragter Dozent an verschiedenen Ausbildungsinstituten in Deutschland und Österreich. 2003 gründete er in Hamburg außerdem sein eigenes Ausbildungsinstitut. Im Zentrum seiner Arbeit steht die Synthese von Körper und Psyche.
Bernhard Voss
Körper
spuren
Ursachen körperlicher
und psychischer
Symptome verstehen
und heilen
Kösel
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Die Ratschläge und Übungen sind vom Autor und dem Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin und jeder Leser ist für sein eigenes Handeln selbst verantwortlich. Alle Angaben in diesem Buch erfolgen daher ohne jegliche Gewährleistung oder Garantie seitens des Autors oder des Verlags. Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
Therapie unterliegt der Schweigepflicht. Deshalb sind alle Namen und einige entscheidende Details der Patientengeschichten geändert. Das betrifft Geschlecht, Alter, Orte sowie einige Szenen und Augenblicke. Gleichwohl sind alle Geschichten echt. Hinter jeder von ihnen stehen wahre Begebenheiten.
Copyright © 2020 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Weiss Werkstatt München
Covermotive: © shutterstock.com (green_01,
SilverCircle und Vector Goddes)
Illustrationen im Innenteil: Stefan Dangl
Peter Hermes Furian/Shutterstock.com
Redaktion: Antje Korsmeier
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-24190-2V003
www.koesel.de
Für Leonie
Inhalt
Einleitung
Erster Teil Die Kraft der Psyche
Kapitel 1: Die vier Fenster der Medizin
»Ich«: Das intrapersonale Fenster (individuell)
»Du«: Das interpersonale Fenster (Beziehung)
»Es«: Das extrapersonale Fenster (Wissenschaft)
»Sie«: Das transpersonale Fenster (Systeme)
Kapitel 2: Die Anatomie des Ego
Willkommen in Hollywood
Ein ganzes Leben in sieben Jahren
Die Persona
Der Schatten
Das Ego
Das Selbst
Die Angst vor Schuld
Die Angst vor Freiheit
Kapitel 3: Emotionen und Instinkte
Wut oder die Kraft der Veränderung
Trauer oder die Kraft des Mitgefühls
Aggression oder instinktsichere Entscheidungskompetenz
Sexualität oder Beziehungskompetenz
Aggression, Sex und Tod
Kapitel 4: »Spannende« Gewebe
Die Anatomie der Angst
Angst und das vegetative Nervensystem
Angst und Blut
Angst und Bindegewebe
Angst und Nerven
Angst und Muskeln
Angst und Organe
Kapitel 5: Resonanz und Heilung
Intrapersonale Resonanz
Interpersonale Resonanz
Transpersonale Resonanz
Vom Impuls zur Resonanz
Kapitel 6: Die Grundlagen des Körperlesens
Von unten nach oben
Schritt für Schritt
Das Zentrum des Hurrikans
Nicht nur Schmetterlinge …
Im Schutzraum des Herzens
»Shout, shout, let it all out«
Das sichere Oberstübchen
Ein kurzer Exkurs in die »Sprache« der Organe
Zweiter Teil Die Macht der Organe
Kapitel 7: Das Kreuz mit dem Schmerz
Die vorletzte Bandscheibe (L4/L5)
Die letzte Bandscheibe (L5/S1)
Kapitel 8: Der Zug im Nacken
Die obere Halswirbelsäule
Die Halsfaszien
Expedition in den Brustraum
Total abgespalten
Kapitel 9: Terror im Kopf
Instinktive Feuerwerke
Sound of silence
Krach aus dem Becken
Abgespaltene Töne
Mal wieder überhört
Kapitel 10: Der große Schwindel
Schwankende Diagnose
Gleichgewicht ist Teamwork
Ein kurzer Exkurs in die »Sprache« der Schwindelsinne
Schwindelalarm
Schwindel und existenzielle Krisen
Schwindel und Lebenslügen
Selbsthilfe bei Schwindel
Kapitel 11: Die geschulterten Systeme
»Ewige« Symptome
Geh weg oder komm her
Push-Pull-Schultern
Systemische Schultern
Kapitel 12: Nicht nur Sex zwischen den Ohren
Das Becken im Kopf
Der kleine Tod
Kein Kloß im Hals
Der trauernde Thorax
Eine Magenmigräne
Raum 101
Kapitel 13: Das Erwachen der Macht
Schicksal oder Statistik?
Differenzierte Rabauken
Jenseits aller Vorstellungen
Bedingungslose Größe
Burn-in oder Burn-out?
Unsterbliche Kraft
Eine Tumorstrategie
Eine Tumortaktik
Kapitel 14: Was wirklich heilt
Das DAVI-Prinzip
Anhang
Ein Körpersprachen-Test
Dank
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Einleitung
Dieses Buch soll Ihnen helfen, Ihren Körper und damit sich selbst besser zu verstehen. Es folgt dabei zwei zentralen Thesen. Die erste These lautet, dass unsere Psyche ähnlichen anatomischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt wie unser Körper. Die Psyche wird dabei als eigenständiges Organ betrachtet. Der Begriff Organ stammt aus dem Griechischen (organon) und bedeutet Werkzeug. Die inneren Organe dienen dem körperlichen Überleben, die Psyche hingegen vermittelt dem Organismus Erfahrungen mit der Welt und sich selbst. Während der Körper messbar ist, ist unsere Psyche erfahrbar. Auch in der Psyche gibt es ein Oben und Unten, ein Innen und Außen sowie verschiedene Tiefenebenen. Die psychische Anatomie ist, folgt man der These, genauso exakt beschreibbar, wie die medizinische Anatomie zum Beispiel Muskeln und Gelenke beschreibt. Wird die psychische Anatomie erst einmal verstanden, wird der Körper mit seinen Symptomen und Erkrankungen ebenfalls verstanden.
Die zweite These lautet, dass Zivilisationskrankheiten wie Rückenschmerzen, Tinnitus, Migräne etc. in der Gesellschaft zwar kollektiv zunehmen, aber nur individuell verstanden und gelöst werden können. Wenn sich jedoch physiologisches Wissen mit der Anatomie des Ego und psychodynamischen Wirkungsketten verbindet, ermöglicht diese spezielle Synthese aus osteopathischer Medizin und Psychotherapie neue Wege zum Verständnis bisher unverstandener Symptome.
Das Buch umfasst zwei Teile. Der erste Teil erläutert die Grundfunktionen der Psyche und verdeutlicht, inwiefern Körper und Psyche wirklich eine Einheit sind. So wird klar, warum die Frage, ob ein Symptom psychisch oder somatisch ist, prinzipiell falsch gestellt ist. Mit dem Resonanzprinzip erhalten Sie zudem einen Universalschlüssel, der Ihnen Zugang zu bisher möglicherweise verschlossenen Bereichen Ihres Bewusstseins öffnet und Sie in die Kunst des Körperlesens einweiht.
Der zweite Teil befasst sich mit einigen »Klassikern« gesellschaftlich weit verbreiteter Krankheiten. Die Darstellung von sogenannten osteopathischen Ketten ermöglicht Ihnen ein tiefergehendes Verständnis der Symptome. Falls es keine schulmedizinische Begründung für einen Kopfschmerz gibt, der aus dem Nacken aufsteigt und in den Hinterkopf ausstrahlt, könnte der Grund beispielsweise in einer nicht verarbeiteten Trauer liegen, die in der Lunge sitzt.
Idealerweise sollten Sie nach Abschluss der Lektüre Symptome übersetzen können und sich in Ihren körperlichen und psychologischen Räumen wie zu Hause fühlen. Um Sie dabei zu unterstützen, enthält dieses Buch viele Übungen, die Sie wie einen Erste-Hilfe-Koffer verwenden können. Manchmal braucht es zur Heilung nur eine kurze Einsicht, die wie ein Pflaster schützen kann. Ein anderes Mal können Visualisierungen und starke Ankersätze dabei helfen, Körper und Psyche, ähnlich einer Herz-LungenMassage, wiederzubeleben und zurück ins Gleichgewicht zu bringen. Entsprechend Ihrer persönlichen Geschichte können Sie die angebotenen Übungen ausprobieren und dosieren.
Entscheidend ist bei all dem die Einsicht, dass ein Symptom viele Geschichten kennt. Mit anderen Worten: Es existieren viele verschiedene ursächliche Deutungen für ein und dasselbe Symptom. Die meisten dieser Deutungen sind wahr, aber einige sind wahrer als andere.
Das Galton-Brett veranschaulicht, dass ein Symptom ganz verschiedene Ursachen haben kann – © Peter Hermes Furian/Shutterstock.com
Das ist ungefähr so wie bei einem Galton-Brett. Ein Galton Brett ist ein mechanisches Werkzeug, um die Beziehung von Zufällen und Wahrscheinlichkeiten zu veranschaulichen. Wenn Sie bei einem solchen Brett oben eine Kugel einwerfen, kann sich die Kugel an jedem Nagel des Brettes entscheiden, ob sie nach rechts oder nach links fällt. Das bedeutet, dass es unmöglich ist vorauszusagen, wo exakt die Kugel unten ankommen wird. Allerdings gibt es Wahrscheinlichkeiten. Wenn Sie mehrere Kugeln einwerfen, wird sich die Mehrzahl der Kugeln an der Basis in der Mitte des Brettes wiederfinden und wenige an dessen Rand. Das entspricht der Gaußschen Normalverteilung. Körper und Psyche interagieren nach dem gleichen Prinzip.
Stellen Sie sich vor, Sie hätten seit Jahren einen empfindlichen Magen. Infolgedessen könnten Sie nach einigen Monaten oder Jahren Symptome wie Schulterschmerzen links, Tinnitus, anfallartigen Schwindel, linksseitige Rückenschmerzen oder unklares Herzrasen entwickeln. Wie das anatomisch funktioniert, wird im zweiten Teil des Buches dargestellt. In unserem Beispiel ist die Kugel symbolisch ein Organ, das, wenn es sich verspannt, tatsächlich zu ganz verschiedenen Symptomen führen kann. Welches Symptom sich konkret entwickeln wird, ist nicht vorhersagbar. Glücklicherweise gibt es jedoch Erfahrungswerte, die empirisch aufzeigen, dass Schulterschmerzen links fast immer mit Magenproblemen in Beziehung stehen. Bei einer Magenkugel würde sich also eine linke Schultersymptomatik auf dem Galton Brett in der Mitte der Basis ansiedeln (häufig), während sich Herzprobleme eher rechts oder links der Mitte wiederfinden würden (selten).
Damit nicht genug. Organe scheinen neben ihren physiologischen Funktionen auch Resonanzkörper für verschiedene Impulse der Psyche zu sein. Die Psyche funktioniert, ähnlich wie ein Organ, nach vorhersagbaren Gesetzmäßigkeiten. So ist zum Beispiel Wut ein anatomisch beschreibbarer Anteil unserer Psyche, der in allen Menschen vorhanden ist. Trauer, Aggression und Sexualität gehören genauso zu uns wie unsere Bauchspeicheldrüse, unser Dünndarm oder unser Herz.
Nun gibt es Organe, die empirisch als fantastische Resonanzkörper für Wut fungieren. Die Leber gehört dazu, genauso die Galle und Teile des Dickdarms. Drehen wir also das Experiment um. Ersetzen wir jetzt auf dem Galton-Brett die somatische Magenkugel durch eine emotionale Wutkugel. An der Basis des Brettes werden nun Resonanzorgane auftauchen, die erfahrungsgemäß auf wütende Impulse mit Spannung reagieren: in der Mitte die Organe, die häufig und am Rand jene, die selten auf Wut reagieren.
Unterdrückte Emotionen wie Wut oder Trauer sowie nicht gelebte Instinkte wie Aggression oder Sexualität führen also zu ganz verschiedenen Organstörungen. Für eine exakte Vorhersage sind Psyche und Körper dabei zu komplex. Wahrscheinlichkeiten ja, Kausalität nein. Das Gleiche gilt für den Bewegungsapparat.
Hinzu kommt, dass ein und dieselbe Emotion natürlich durch Hunderte individuelle Geschichten ausgelöst werden kann. Konsequent weitergedacht bedeutet das: Ein Symptom ist immer mit verschiedenen Organspannungen assoziiert, deren emotionale Verspannungen jedoch auf völlig unterschiedliche Patientengeschichten zurückgehen. Eine präzise Zuordnung eines Symptoms zu nur einer Emotion oder nur einer Geschichte ist also genauso unmöglich wie die klare Zuordnung einer Emotion zu einem Organ oder zu einem Gelenk. Kurz: Ein Symptom kennt unendlich viele Geschichten.
Diese Übersicht zeigt, wie aus psychotherapeutischer und medizinischer Sicht Symptome entstehen
Hier finden Sie eine erste Übersicht, wie aus psychotherapeutischer und medizinischer Sicht gleichermaßen Symptome entstehen:
Psyche und Körper sind eine Einheit und vom Prinzip her leicht zu verstehen. Da der Körper und die Psyche ständig vom Tod bedroht sind, sichern die Instinkte Aggression und Sexualität unser Überleben. Aggression sichert das persönliche Überleben, Sexualität das Überleben unserer Gene. Die Emotionen Wut und Trauer in all ihren Spielformen gewährleisten zusätzlich Orientierung in der Welt. Wird einer oder werden alle vier dieser überlebenswichtigen Impulse aufgrund von frühkindlichen Scham-Schuld-Mechanismen als subtile innere Bedrohung wahrgenommen, entsteht Angst. Der Körper schaltet dadurch in den Überlebensmodus. Als direkte Folge davon spannen sich Bindegewebe, Organe, Blutgefäße, Muskeln, Gehirn- und Nervenhüllen in Sekundenbruchteilen an. Bleibt die Spannung über einen längeren Zeitraum bestehen, werden die Gewebe unterversorgt und erste Symptome entstehen. Insbesondere die Organe, die unmittelbar mit dem Bewegungsapparat verbunden sind, führen dann zu den klassischen Zivilisationserkrankungen wie Rückenschmerzen oder Tinnitus. Halten die Symptome an, irritieren sie Psyche und Körper gleichermaßen. Dadurch erhöhen sie den psychosomatischen Alarmstatus. Schließlich manifestiert sich der innere Daueralarm in chronischen Erkrankungen von Körper und Geist.
Das war’s schon. Eigentlich ganz einfach.
Der Tenor dieses Buches ist, dass aus den genannten Gründen einfache Links-Rechts-Deutungen von Symptomen nicht funktionieren. Solche pauschalen Deutungen bergen die reale Gefahr, dass sich eine Symptomatik durch Intellektualisieren auf Dauer verstärkt. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus aber auch eine richtig gute Nachricht: Da die Psyche genau wie der Körper nach einfach zu verstehenden Gesetzen funktioniert, kann jeder Klient seine Symptome und damit seine individuelle Geschichte verstehen, verändern und meistens auch heilen.
Die Grundfunktionen von Psyche und Körper sind somit universell und einfach zu verstehen. Auch Körpersprache hat ihre eigenen Vokabeln, eine grundlegende Grammatik und Kommaregeln. Selbst wenn Sie, so wie ich, nie besonders gut in Grammatik waren, werden Sie sicher schon einmal erlebt haben, dass Sie selbst mit sprachlichen Grundkenntnissen in einem fremden Land sehr weit kommen können. Insofern ist dieses Buch auch als eine Einladung zu verstehen, Ihr inneres Vokabelwissen wieder aufzufrischen, zu erweitern und sich auf eine Abenteuerreise ins Wunderland Ihrer eigenen Geschichte zu begeben. Sie brauchen dabei nur den Spuren Ihres Körpers zu folgen.
Erster Teil
Die Kraft der Psyche
Kapitel 1: Die vier Fenster der Medizin
Wahrheit hat vier Fenster.
Das gilt vor allem in der Medizin. Um die Wechselwirkung von Körper und Psyche integral zu verstehen, sollte ein Symptom mindestens von vier Seiten beleuchtet werden. Diese scheinbar widersprüchlichen Sichtweisen ergänzen sich und tragen so zu einem tieferen Verständnis von Erkrankungen bei.
Zumindest behauptet dies Ken Wilber, einer der führenden Vertreter eines integralen Weltbildes. Integral bedeutet in diesem Zusammenhang, dass bei der Wahrnehmung der Welt mindestens vier Blickwinkel ständig in unserem Bewusstsein aktiv sind und sich zu einer Gesamtsicht integrieren. Dementsprechend beschreibt Wilbers integrales Modell auch eine neue medizinische Sichtweise, in der das vorherrschende wissenschaftliche Denken zwar als ein wesentlicher Teilaspekt der Medizin betrachtet wird, letztlich aber nur eine von vier möglichen Wahrheiten darstellt. Erst die Synthese der vier Fenster erklärt schlüssig, wie Symptome und Erkrankungen entstehen. Neben der wissenschaftlichen Sicht berücksichtigen die drei anderen Fenster die individuelle Geschichte des Patienten, seine Beziehungen und sein gesellschaftliches Umfeld. Alle vier Fenster stehen gleichberechtigt nebeneinander und beeinflussen sich gegenseitig. Das subjektive Empfinden eines Patienten ist in diesem integralen Medizinbild genauso wertvoll wie die Analyse von Blutwerten oder sein Beziehungsstatus.
Symptome sind also weder »primär psychisch« noch »rein somatisch«. Die Wahrheit des Körpers ist umfassender als diese zwei Fensterperspektiven. Die Frage, ob die Ursache eines Symptoms in erster Linie körperlich oder psychisch ist, ist falsch gestellt. Eine Diskussion allein aus diesen beiden Perspektiven wird zu keiner befriedigenden Antwort führen. Je nach Betrachtungsweise kommt man dabei zunächst zu unterschiedlichen Ergebnissen. Erst durch die Integration der vier Blickwinkel werden Symptome aus ihrem Kontext heraus verständlich und Therapien effektiv planbar. Das Wissen um die vier Fenster der Medizin ist die unabdingbare Voraussetzung, um komplexe Krankheitsgeschichten integral zu verstehen.
Rolands Augen blitzen zornig. Der Coach und Seminarleiter leidet seit fünf Jahren unter tiefsitzenden Rückenschmerzen, die ihm nicht nur den Schlaf rauben. Mit 49 Jahren sind seine Bandscheiben natürlich nicht mehr ganz frisch. Rolands Freunde, die sich alle in seiner Altersklasse bewegen, klagen allerdings nicht über quälende Rückenschmerzen mit Ausstrahlungen ins rechte Bein. Dabei hat Roland immer die Ratschläge seiner Ärzte und Kollegen befolgt. Er ernährt sich bewusst, macht regelmäßig Sport, nimmt sich Zeit für sich selbst, meditiert, und in seiner monatlichen Männergruppe holt er sich emotionale Unterstützung und reflektiert sich selbst.
Roland sitzt mir gegenüber und ist genervt. Die neueste Kernspinuntersuchung hat nur den bekannten Befund, die Degeneration seiner letzten Bandscheibe (L5/S1), bestätigt. »Habe ich etwa für den Rest meines Lebens diese Schmerzen, oder was heißt das jetzt?«, grollt Roland mich an.
Das ist eine wirklich gute Frage. Ohne einen Blick durch die vier Fenster der Medizin lässt sie sich nur schwer beantworten. Würde man Rolands schulmedizinischer Odyssee folgen, wäre sein Fall wirklich aussichtslos: Rückenschulung, Rückengymnastik, Progressive Muskelrelaxation, Schmerzmittelgabe, Ruhigstellung für zwei Wochen, Physiotherapie mit manueller Therapie, Wärmeanwendungen. All diese Therapien entspringen dem schulmedizinischen Fenster. Aus dieser Sicht ist jede der verordneten Maßnahmen sinnvoll, nur leider hat nichts davon funktioniert. Rolands frustrierter Zorn wäre verständlich. Was also ist passiert? Wieso reagiert Rolands Rücken nicht auf die »evidence based«, also wissenschaftlich bewiesenen Methoden? Die vier Fenster der Wahrheit helfen in solchen scheinbar unlösbaren Fällen immer weiter.
»Ich«: Das intrapersonale Fenster (individuell)
Dieser Quadrant beschreibt unser inneres Erleben, das naturgemäß zutiefst subjektiv ist. In diesem Quadranten sind alle individuellen Wahrnehmungen, Vorlieben und inneren Haltungen zu Hause. Ob jemand eher Hunde oder Katzen mag, lieber Erdbeeren als Himbeeren isst, Blau oder Rot zu seiner Lieblingsfarbe erkoren hat: Darüber kann man nicht streiten. In dieser Ecke der Wahrheit ist einfach alles, zumindest subjektiv, wahr. Hier hat der Patient immer »recht«. Die Aussage »Ich glaube mein Rücken bricht durch« ist »richtig« und genauso wahr wie ein mit dem Schmerz in Verbindung stehendes Gefühl der Hilflosigkeit. Vielleicht assoziiert ein Patient als Auslöser des Symptoms Kopfschmerz seine Schreibtischhaltung. Ein anderer beschreibt den Streit mit dem Lebenspartner als Auslöser seiner Beschwerden. Beide Darstellungen entspringen einer intrapersonalen Wahrheit, die vom Therapeuten zunächst vorurteilsfrei gehört werden sollte. Integrale Medizin bezieht den Patienten aktiv mit in den Heilungsprozess ein. Die Bedeutung des emotionalen Zustands zu dem Zeitpunkt, an dem Symptome zum ersten Mal auftreten, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Genauso gehören alle im Therapeuten entstehenden Empfindungen in dieses Fenster der Medizin. Alle Resonanzen wie Assoziationen oder Bilder, die im Kontakt entstehen, sind wesentlich für den Therapieverlauf.
Jedes Symptom lässt sich aus vier verschiedenen Perspektiven betrachten (nach Ken Wilber)
Psychotherapeutische Verfahren aber auch die immer mehr Beachtung findende Psychoneuroimmunologie arbeiten in diesem Quadranten und ergänzen herkömmliche, schulmedizinische Behandlungen.
Das intrapersonale Fenster kann nur durch Innenschau erforscht werden. Zu verstehen, was ein Klient mit seinem Symptom verbindet, setzt allerdings die Bereitschaft zum (inneren) Dialog voraus. Intrapersonale Wahrheiten entfalten sich nur durch Kommunikation. Insofern ist das individuelle Fenster und, wie wir später sehen werden, auch das Beziehungs-Fenster dialogisch. Das heißt, dass der Patient hier in den Dialog mit sich selbst tritt. Gerade dadurch wird dieses Fenster der Wahrheit erfahr- und erlebbar. Gleichzeitig entzieht es sich jeder noch so feinen Messmethode. Die Antwort auf die Frage, wie Symptome und Erkrankungen entstehen, lautet in diesem Fenster etwa wie folgt: Der Klient hält starke Emotionen wie Wut oder Trauer und/oder instinktive Antriebe wie Aggression und Sexualität in sich zurück. Emotionale und körperliche Hochspannungen sind die Folgen einer inneren Impulskontrolle. Die innere Zurückhaltung führt dann früher oder später zu körperlichen und/oder psychischen Störungen. Vereinfacht gesagt: Aus dem Ich-Fenster betrachtet, befinden sich Patienten in einem (An-)Triebskonflikt, der sich in Symptomen verkörpert.
In Rolands Fall begannen die Symptome etwa ein Vierteljahr nach der schmerzlichen Trennung von seiner Frau. Sie eröffnete ihm von heute auf morgen, dass sie sich neu verliebt habe und ausziehen werde. Das gemeinsame Kind würde sie mitnehmen, den Rest erführe er über ihren Anwalt. Als geschulter Coach hat Roland auf diese Eröffnung zunächst mit Verständnis reagiert und in den nächsten Monaten nach konstruktiven Lösungen gesucht. Das konnte allerdings einen immer noch anhaltenden Sorgerechtsstreit um die gemeinsame Tochter nicht verhindern. Setzt man voraus, dass Roland kein vollkommen erleuchteter Yogi aus dem Himalaya ist, ist es mehr als wahrscheinlich, dass die unerwartete, radikale Ablehnung durch seine Ex-Partnerin in ihm auch Aggressionen ausgelöst hat. Als Coach ist er jedoch etwas zu »verkopft«: In gewohnter Manier hat er seine Aggression durch das Analysieren der Situation wegrationalisiert und intensiv nach einer kognitiven Lösung gesucht. Das hatte Folgen.
Aus körpertherapeutischer Sicht reagiert bei gestauten Aggressionen fast immer der Beckenboden samt den Beckenorganen mit einer deutlichen Spannungserhöhung. Diese Spannung wiederum hat aus osteopathischer Sicht einen unmittelbaren Einfluss auf die Funktion der untersten Wirbelsäulenbandscheibe (L5/S1). Betrachtet man Rolands Symptome also aus dem individuellen Fenster, ist sein Rückenschmerz eine bisher nicht ausgedrückte, massive Aggression gegenüber seiner Ex-Frau. Die Lösung seiner Rückenschmerzen wird also nicht ohne aktives Lösen seines Aggressionsstaus gelingen. Die Frage, warum Rolands System so sehr darauf trainiert ist, Aggressionen nicht auszudrücken, wird der Blick durch das Du-Fenster beantworten.
Nimmt man die Erklärung zur Symptomgenese des Ich-Fensters ernst, dann werden die Arbeit mit inneren Bildern, die Schulung von Körperwahrnehmung und Ausdrucksstärke zu wesentlichen therapeutischen Werkzeugen auf dem Weg zur Gesundheit. Solche Techniken nehmen in den letzten Jahren gerade in der Behandlung von chronisch erkrankten Patienten einen immer größeren Raum ein. Das Wissen um Körper- und Organsprachen ist dabei für Patienten und Therapeuten ein entscheidendes Hilfsmittel, um Symptome in ihrer Ganzheit zu verstehen. Die Einbeziehung des subjektiven Erlebens des Patienten, wird in einer modernen Medizin zunehmend zum Schlüsselfaktor für eine effektive Behandlung. Ganz nebenbei hilft die aktive Einbeziehung von Patienten in den Therapieverlauf, Dauer und Kosten einer Therapie zu reduzieren.
»Du«: Das interpersonale Fenster (Beziehung)
Kein Mensch lebt für sich allein. Unser inneres Erleben ist abhängig von den familiären und kulturellen Werten, in denen wir aufgewachsen sind und die uns umgeben. Das interpersonale Fenster beschreibt, wie wir uns unterbewusst mit den Ansichten und Glaubenssätzen insbesondere unserer Eltern identifizieren. Von ihnen lernen wir, wie man im Leben mit starken emotionalen Impulsen umgeht. Während das individuelle Fenster eine Erkrankung als Zurückhaltung von Emotionen und Instinkten beschreibt, zeigt das Beziehungsfenster, von wem wir das gelernt haben. Auch dieses Fenster ist dialogisch und würde Symptome und Erkrankungen als reinszenierte kindliche Beziehungskonflikte beschreiben.
Rolands Vater stürzte, als Roland fünf Jahre alt war, beim Reparieren des Dachs von der Leiter und brach sich das Genick. Einen Tag später verstarb er auf der Intensivstation. Rolands Mutter verdrängte den Schock und die Trauer um den Verlust ihres Mannes. Noch tiefer verdrängte sie die unter der Trauer versteckte Aggression auf ihren Mann, der sie urplötzlich verlassen und mit ihrem fünfjährigen Sohn hatte sitzen lassen. Nach dem Tod ihres Mannes ging sie keine ernsthafte neue Beziehung ein. Stattdessen rutschte Roland zunehmend in die Rolle des Ersatzmannes für seine Mutter hinein.
Betrachtet man Rolands Rückenschmerzen aus diesem Fenster, sind sie zum einen von seiner Mutter übernommene, nicht ausgedrückte Aggression. Zum anderen spiegeln sie Rolands eigene kindliche Aggression seiner Mutter gegenüber wider, die ihn nach dem Verlust ihres Mannes in die Rolle als dessen Ersatz gedrängt hatte. Rolands Mutter lebte ihrem Jungen nicht vor, dass Trauer und Aggression gleichermaßen zur Trauerverarbeitung gehören. Beide müssen ausgedrückt werden, damit ein System nicht erkrankt. Als Rolands Frau ihn plötzlich verließ, hat das aufgrund seiner Muttergeschichte bei ihm kindlich-unverdaute Aggressionen reaktiviert.
Das uns umgebende emotionale Beziehungsklima kann durchaus Symptome auslösen und den Verlauf einer Krankheit entscheidend prägen. So sind zum Beispiel Blasenentzündungen kurz nach der Hochzeit keine Seltenheit und werden selbst in der Schulmedizin als »Honeymoon Disease« (Flitterwochen-Krankheit) bezeichnet. Nach Trennungen oder Abschieden entzünden sich gerne die Nieren, und der Magen rebelliert nicht selten nach Entscheidungen, die getroffen und danach bereut wurden. Auch der »sekundäre Krankheitsgewinn«, also die vermehrte Aufmerksamkeit, die ein Patient aufgrund seiner Symptomatik bekommt, wirkt häufig als Beziehungskitt und bezieht sich ebenfalls auf das soziale Umfeld des Patienten. Beziehungen zu anderen genauso wie die Beziehung zu uns selbst und unseren Körper prägen unser Leben. So zeigen Untersuchungen, dass Krebspatienten in Selbsthilfegruppen länger leben als Patienten ohne ähnliche soziokulturelle Unterstützung. Wird hingegen eine Erkrankung kulturell geächtet oder gar als Strafe Gottes angesehen, wie bei Aids oder Geschlechtskrankheiten, kann dies zur Verschlimmerung der Symptome beitragen.
Humanistische Psychotherapien, allen voran die Gestalttherapie, aber auch körperzentrierte Therapien sind Ausdruck eines dialogischen Therapieansatzes des Du-Fensters. Hier treten beide, Therapeut und Patient, in jeder Begegnung mit sich selbst und mit dem Gegenüber unmittelbar in Beziehung. Folgt man dem empirischen Wissen der humanistischen Therapieformen erklären früh erlernte Verhaltensmuster und Glaubenssätze spätere Erkrankungen. Dementsprechend gilt im Beziehungsquadranten: Kontakt hilft heilen. Das Ich-Fenster hingegen propagiert: Selbstwahrnehmung heilt.
Beides ist wahr.
Nicht zuletzt beschreibt das Du-Fenster auch unser sprachliches Beziehungsumfeld. Das richtige Wort zur richtigen Zeit heilt genauso, wie Klänge, Musik, Gebete oder rezitierte Mantren Gesundungsprozesse unterstützen. Natürlich macht es in diesem Zusammenhang auch einen Unterschied, ob ein Zellverband als »gut-« oder »bösartig« beschrieben wird. Das Ich erfährt sich eben immer auch am Du.
»Es«: Das extrapersonale Fenster (Wissenschaft)
Die sogenannte klassische Schulmedizin ist Ausdruck des oberen rechten oder Wissenschaftsfensters. Im Wesentlichen beschäftigt sie sich mit den messbaren, physiologischen Bedingungen unseres Organismus wie Blutwerten, Röntgenbildern oder EKGs. Unübertroffen in der Akut- und Notfallmedizin, behandelt sie mit physischen Eingriffen, Medikamenten, Operationen, Schmerzmitteln etc. Dem Modell liegt der Gedanke zugrunde, dass physiologische Erkrankungen physiologische Ursachen haben, und das ist, schaut man allein durch das wissenschaftliche Fenster der Wahrheit, auch völlig richtig. Sogar die Psyche hat hier ihren Platz. Als medizinisch begründbare Wissenschaft trifft man sie in der Psychiatrie. Das wichtigste psychotherapeutische Verfahren in diesem Fenster ist die Verhaltenstherapie, die sich auf Lerntheorien stützt. Zielcoaching findet hier ein Zuhause genauso wie Managementtrainings, Ernährungsberatung und andere kognitive Zugänge zum Patienten. Das Wissenschaftsfenster ist für sich betrachtet natürlich genauso wahr wie das Ich- und das Du-Fenster, auch wenn sich die Vertreter der Ich-Du-Fenster dieser Wahrheit gerne mal verschließen. Psyche und Soma sind bei der Betrachtung der vier Fenster nur verschiedene Ausdrucksformen eines Bewusstseins. Schaut man nur durch das wissenschaftliche Fenster, dann sind körperliche Probleme ausschließlich das Produkt von Fehlhaltungen (Sitzen ist das neue Rauchen), degenerativen Alterungsprozessen, Fehlernährung, Störungen des Immunsystems und so weiter. Psychische Störungen werden hier mit gestörten Neurotransmittern erklärt oder als genetisch eingestuft. Der Blick durch das wissenschaftliche Fenster ist monologisch weil eine Diskussion mit Blutwerten oder CT-Bildern wenig hilfreich ist.
Rolands Symptome sind aus dem Es-Fenster nicht erklärbar. Er raucht nicht und seine Blutwerte sind in Ordnung. Zwar treibt er nicht übertrieben viel Sport, aber er bewegte sich ausgiebig, ist kommunikationsfähig und ernährt sich gesund. Keiner der »Klassiker« passt zu ihm. Dass seine Bandscheibe nach 49 Jahren natürlich nicht mehr taufrisch, sprich laut Kernspinuntersuchung degeneriert ist, ist völlig altersentsprechend. Bandscheiben degenerieren natürlicherweise und es gibt genügend Patienten, die die gleichen radiologischen Befunde wie Roland aufzeigen, dabei allerdings völlig schmerzfrei sind.
Die Verdienste der modernen Medizin sind für unzählige Patienten ein echter Segen. Sie rettet jeden Tag Leben, lindert Schmerzen und erleichtert als Palliativmedizin das Sterben (Ich-Fenster). Ohne ein medizinisch einwandfrei funktionierendes Gehirn wären wir kaum beziehungsfähig, und unsere Fähigkeiten zum Dialog (Du-Quadrant) wären bestenfalls auf dem Niveau einer Nachmittags-Talkshow. Bei Patienten wie Roland bleiben die Interventionen des Wissenschaftsfensters allerdings häufig deshalb wirkungslos, weil es die Geschichten hinter der körperlichen Geschichte des Patienten nicht berücksichtigt. Eine Scheidung oder ein Sorgerechtsstreit kann auch das beste MRT der Welt nicht abbilden.
Können zurückgehaltene Emotionen wie bei Roland wirklich eine Bandscheibe degenerieren lassen? Wenn Emotionen die Ursache von Rolands Rückenschmerzen sind, müsste dann nicht Rolands Gehirn, zum Beispiel mit Antidepressiva, behandelt werden? Schulmedizinisch gesehen entstehen Emotionen schließlich im Gehirn.
Keine Frage: Jedes emotionale Erleben lässt sich auch als hirnorganische Funktionen abbilden. Eine Korrelation von Emotionen bzw. Empfindungen und dem gleichzeitigen Auftreten von Erregungsmustern im zentralen Nervensystem ist unbestreitbar Das bedeutet jedoch nicht, dass deswegen auch ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Die Intelligenz der Psyche geht weit über die Ausschüttung von Transmittersubstanzen im Gehirn und Rückenmark hinaus. Wir sind mehr als unser Gehirn. Tief empfundenes Mitgefühl oder die Liebe zu unseren Kindern ursächlich auf das elektrische Feuerwerk einiger Hirnzellen zu reduzieren, wird der Komplexität der menschlichen Existenz nicht gerecht. Vielmehr erleben wir uns als emotionale Wesen und gleichzeitig manifestiert sich dabei das Spektakel unserer Wahrnehmungen auch als messbare EEG-Kurve.
Schulmedizinische Diagnosen werden wie in Rolands Fall durch das Verstehen von grundlegenden Psychodynamiken ergänzt und vertieft. Anatomisch-physiologisches Wissen trifft besonders in Körper- und Organsprachen auf empirische Erkenntnis. Das erleichtert die Therapieplanung. So reichen sich medizinische Physiologie (Es-Fenster) und praktische Psychodynamik (Ich/Du-Fenster) die Hände. Werden die drei Sichtweisen um den Ausblick aus dem transpersonalen Fenster (Sie-Fenster) ergänzt, können Symptome in all ihren Facetten wirklich verstanden werden.
»Sie«: Das transpersonale Fenster (Systeme)
Auch unsere Eltern hatten Eltern. Auch die wurden durch ihre Eltern geprägt und so weiter. Hinter jedem von uns steht also eine unendlich lange Kette von Frauen und eine genauso unendlich lange Kette von Männern. Auch deren genetische und sozio-kulturelle Informationen nehmen Einfluss auf unser Leben. Der systemische Blickwinkel sucht die Spannungsursache eines Symptoms somit im Familiensystem. Denn natürlich hat es einen Einfluss auf unser Denken und Fühlen, ob wir aus einer preußischen Offiziersfamilie oder einem Altachtundsechziger-Haushalt stammen. Soziale und kulturelle Normen nehmen Einfluss auf unsere inneren Überzeugungen und beeinflussen dadurch unsere innere und äußere Haltung. Auch sozial ererbte Verbote können sich als Spannungen verkörpern und über Generationen »psychologisch vererbt« werden. Wachsen Kinder beispielsweise in einem lustvollen, körperbetonten Umfeld auf, in dem Knuddeln, Liebkosen und Sich-gegenseitig-in-den-Arm-Nehmen alltäglich ist, werden daraus später Erwachsene mit lustvollen Beziehungen und freien Beckenstrukturen.
Bei Roland war das anders. Seine Rückenschmerzen sind die Folge seines verspannten Beckenbodens. Damit folgt er unterbewusst einer Familientradition. Rolands männliche Vorfahren waren bis zu seinem Urgroßvater allesamt hart arbeitende Handwerker. Ihr Leben war geprägt durch ihre Berufe, mit denen sie »im Schweiße ihres Angesichts« ihre Familien versorgten. Für emotionalen Ausdruck, Lust und Kommunikation blieb wenig Zeit. Die Väter erzogen ihre Söhne so, wie sie es von ihren Vätern gelernt hatten. Roland hatte aus systemischer Sicht kein Rollenvorbild, das ihm hätte zeigen können, wie »Mann« mit Trennungen und Schmerz umgeht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Rolands Berufswahl (Seminarleiter und Coach) ebenfalls ein unterbewusster Versuch gewesen ist, sich von Dogmen und Restriktionen seiner »Männerkette« zu lösen.
Die Art, wie wir unseren Körper erleben, ist also abhängig von den sozialen Rahmenbedingungen, in denen wir groß geworden sind. Der soziokulturelle Kontext (Sie-Fenster), in dem wir uns bewegen, prägt innere Haltungen (Ich-Fenster) und die damit verbundenen Spannungsmuster (Es-Fenster) genauso wie unsere Beziehungsmuster (Du-Fenster). Alle vier Fenster der Wahrheit sind, ganz gleich ob wir sie wahrnehmen oder nicht, ständig in uns aktiv und formen unser Selbstverständnis genauso wie unsere Körperspannungen.
Selbst der Körper folgt dem systemischen Prinzip. Auch Zellfunktionen sind abhängig von ihrer »soziokulturellen Umgebung«. Keine Zelle funktioniert, wie wir in Kapitel 4 noch genauer sehen werden, für sich allein. Zellen sind soziale Wesen, die von dem sie umgebenden sogenannten »Milieu intern« abhängig sind. Das »Milieu intern« verbindet Zellen mit dem Blut-, Lymph-, Nerven- und dem Immunsystem. Erst durch ihre Umgebung leben, erkranken, sterben oder gesunden Zellen. Auch wenn eine Zelle in sich keine Störung aufweist, ist ihre Funktion dennoch zutiefst abhängig vom flüssigen Milieu ihrer Umgebung. Ist die Umgebung gestört, erkrankt die Zelle. Nur durch ein gesundes Umfeld können Zellen, Zellverbände, Gewebe und schließlich Organe ihre Lebenskraft entfalten.
Zellen, Gewebe, Organe und die Psyche: Ohne eine nährende, wohlwollende Umgebung ist keines der Systeme auf Dauer überlebensfähig. Der Blick durch das systemische Fenster verdeutlicht die familiären Hintergründe einer Erkrankung. In diesem Fenster der Wahrheit gilt: Unterbewusste, familiäre Bindungen können krank, aber auch wieder gesund machen.
So braucht ein Patient mit akutem Herzinfarkt zunächst ein effektives Rettungssystem mit gut ausgebildeten Notfallmedizinern (Es-Fenster). Ist das Überleben erstmal gesichert, hilft das psychodynamische Verstehen des individuellen (Ich-Fenster) und familiären Backgrounds (Sie-Fenster), zukünftige Herzinfarkte zu vermeiden. Die mitfühlende Begleitung durch Angehörige oder Therapeuten (Du-Fenster) hilft zusätzlich, destruktive Beziehungsmuster aufzulösen und dadurch Körper und Geist zu entspannen. Mit dem Wissen aus den vier Fenstern der Medizin lassen sich Rolands Rückenschmerzen nun leicht verstehen:
Die Trennung von seiner Frau hat Rolands kindliches Trauma des Verlassenwerdens mit der dazugehörigen Aggression reaktiviert (Ich-Fenster). Durch die zusätzliche Identifizierung mit der unterbewussten Aggression seiner Mutter (Du-Fenster) und den mangelnden männlichen Vorbildern, wie man damit umgeht (Sie-Fenster), hatte Rolands Bewusstsein keine andere Möglichkeit, als die kindlichen Aggressionen zu verdrängen. Die daraus resultierende, jahrelange Beckenspannung hatte seine Bandscheibe destruiert und seine Symptome ausgelöst (Es-Fenster).
Eine Antwort auf Rolands frustrierte Frage, ob er den Rest seines Lebens Schmerzen haben würde, könnte wie folgt lauten: Gelingt es in der Behandlung, gemeinsam mit der osteopathischen Lösung von Rolands Beckenorganen (Es-Fenster) auch seine darin vergrabenen Aggressionen (Ich-Fenster) freizusetzen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sein Becken nach all den Jahren der Hochspannung endlich nachgibt. Erfahrungsgemäß wird ein nachträglicher innerer Abschied vom früh verstorbenen Vater Roland auch dabei helfen, die Trennung von seiner Frau zu verarbeiten (Du-Fenster). Das stärkt sein männliches Selbstverständnis und erleichtert ihm die von seiner Männerkette nur unzureichend vorgelebte Vaterrolle (Sie-Fenster).
Rolands Behandlung ist nicht leicht. Zum einen fällt es ihm schwer, der Wut auf seine Mutter, die ihn als Ersatzmann instrumentalisiert hatte, Ausdruck zu geben. Noch viel schwerer fällt es ihm, Trauer und Enttäuschung über den Verlust seines Vaters, der ihn als Kind zurückgelassen hatte, abfließen zu lassen. Am schwersten aber fällt es Roland, sich selbst zu verzeihen, dass er es über all die Jahre versäumt hat, seine emotionale Geschichte zu klären, was schließlich zur Trennung von seiner Frau geführt hat. All das gelingt mit Höhen und Tiefen. Heute ist Rolands Rücken so gut wie schmerzfrei und so stabil wie seine neue Beziehung.
Roland ist kein Einzelfall. Rückenschmerzen als Zivilisationskrankheit hängen bei genauer Betrachtung sehr viel mehr mit inneren Geschichten als mit altersentsprechend abgeflachten Bandscheiben zusammen. Das gilt für alle in modernen Gesellschaften zunehmenden Erkrankungen. Symptome wie Tinnitus, Schwindel, Migräne oder Rückenschmerzen haben alle etwas gemeinsam: Sie gleichen dem Aufleuchten der Tankanzeige im Auto. In diesem Fall käme niemand auf den Gedanken, nur das Lämpchen im Armaturenbrett auszuwechseln. Viel zielführender ist die Frage, was eigentlich dazu geführt hat, dass der »innere Tank« leer ist. Wird die Ursache gefunden, ist die Lösung dauerhaft.
In Kürze
Ein wirklich umfassendes Verständnis von Erkrankungen berücksichtigt alle Fenster der Medizin gleichermaßen. Jede der vier Sichtweisen ist für sich genommen wahr, aber eben nicht nur wahr. Ein integrales Verständnis von Symptomen und deren Heilung umfasst immer das individuelle Erleben des Patienten (Ich), seine möglicherweise traumatisch erlebten Kontaktunterbrechungen (Du), seine Familiengeschichte (Sie) und die daraus resultierenden, messbaren körperlichen Auswirkungen (Es).
Kapitel 2: Die Anatomie des Ego
Menschen sind sich weltweit körperlich und emotional ähnlicher, als sie denken. Dieses Kapitel zeigt, dass auch die Psyche – ähnlich wie der Körper – über eine generelle Grundstruktur verfügt. Mit Hilfe dieser psychologischen Anatomie sollten Sie am Ende dieses Kapitels in der Lage sein, (fast) jedes Symptom psychodynamisch übersetzen zu können.
Anatomisch und in den inneren Welten unterscheiden wir uns nur um Nuancen. Das ist zunächst vielleicht eine kleine Kränkung für unser Ego. Gleichzeitig ist es medizinischer und psychologischer Alltag. Medizinische Anatomie beschreibt grob gesagt, dass der Kopf oben, die Beine unten sind. Auch in Bezug auf Knochen, Organe und Nerven unterscheiden sich Menschen kaum. Das ist, wie gesagt, nicht besonders originell und dennoch eine gute Botschaft. Es bedeutet, dass es anatomisch betrachtet keinen Unterschied macht, ob Sie in Reykjavík oder in Kapstadt zum Arzt gehen. Der menschliche Körper funktioniert anatomisch und physiologisch weltweit nach den gleichen Gesetzen.
Neben der medizinischen existiert allerdings auch eine innere, psychodynamische Anatomie. Auch hier gibt es ein Oben und Unten und ein Innen und Außen. Ähnlich dem Körper gilt auch für die Psyche: Psychologisch funktionieren Menschen weltweit nach gleichen Gesetzmäßigkeiten. Die Anatomie des Ego beschreibt diese Gesetzmäßigkeiten. Sie verdeutlicht, wie sich Symptome mit individuellen Geschichten von Menschen verbinden. Wird die persönliche Geschichte verstanden, wird auch das Symptom verstanden.
Sie können die Anatomie des Ego wie ein psychosomatisches Schweizer Messer verwenden. Mit diesem universellen Werkzeug können Sie prinzipiell jedes Problem, ganz gleich ob körperlicher oder psychischer Natur, zunächst verstehen und danach teilweise oder vielleicht sogar ganz auflösen. Die Anatomie des Ego wird Ihnen ganz pragmatisch jeden Tag aufs Neue helfen, sich selbst, Ihren Körper und Ihre Mitmenschen zu verstehen. Die Anatomie des Ego entmystifiziert Symptome, die scheinbar »über Nacht gekommen sind« oder die »kein Arzt behandeln kann«. Denn die meisten Symptome, an denen Menschen leiden, sind erklärbar. Mit couragierter Introspektion, Konsequenz und mit ein bisschen Glück sind sie auch fast immer lösbar.
Das setzt allerdings manchmal einige nicht ganz angenehme Selbsteinsichten voraus. Eine dieser Einsichten ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass wir unsere Symptome selbst verursachen. Krankheitsverläufe folgen immer einem inneren roten Faden. Einem Faden, den wir selbst gewebt, gefärbt und geflochten haben. Das gilt für alle Symptome und Erkrankungen.
Das ist kein Grund für Selbstvorwürfe. Ganz im Gegenteil. Es bedeutet, dass wir, wenn wir die Symptome selbst verursacht haben, sie auch selbst wieder auflösen können. Dazu ist es notwendig, den inneren roten Faden zunächst einmal zu verstehen. Symptome, emotionaler oder körperlicher Natur, die nicht dem Alter geschuldet sind, deuten auf Webfehler oder Knoten im selbstgedrehten roten Lebensfaden hin. Wenn also Aspirin bei chronischen Kopfschmerzen nicht mehr hilft, kann die Anatomie des Ego Licht ins psychodynamische Dunkel des Kopfinneren bringen.
Eine weitere wenig erfreuliche Erkenntnis ist, dass unsere Psyche nur ein geringes Maß an Freiheit kennt. Ein Großteil unserer Handlungen ist unterbewusst vorbestimmt und nur bedingt das Produkt eines freien Willens. Wir nehmen unsere subtilen psychischen Kontrollmechanismen meist nicht bewusst wahr. Und dadurch, dass wir sie nicht wahrnehmen, gewinnen sie Kraft und nehmen uns, auch wenn das die Wenigsten zugeben würden, die Macht über unsere Entscheidungen.
Die Einsicht, dass Prägungen der Kindheit unser erwachsenes Leben wesentlich mitbestimmen, ist von elementarer Bedeutung. Durch diese Erkenntnis werden echte Heilungsvorgänge erst möglich. Konsequent betrachtet, lassen sich nicht nur alle psychischen, sondern auch alle körperlichen Symptome auf kindlich erlernte Vermeidungen zurückführen. Das klingt gewagt, lässt sich aber mit der Anatomie des Ego leicht verstehen.
Das erfordert ein bisschen Mut. Der bekannte Theologe und systemische Familientherapeut Bert Hellinger hat dazu einmal sehr treffend bemerkt: »Alles Gute wird erzittert und erbibbert.« Recht hat er.
Willkommen in Hollywood
Stellen Sie sich vor, Sie stünden auf der Bühne und hätten für Ihre Arbeit schon drei Oskars erhalten. Einen Oskar für die beste Hauptrolle, einen für die beste Nebenrolle und einen für die beste Regie.
Hier kommt die gute Nachricht: Genauso ist es. Sie sind ein umjubelter Star. Sie haben es bis nach ganz oben geschafft. Es gibt dabei nur einen klitzekleinen Haken: Davon bekommt leider niemand etwas mit. Es sei denn, Sie erzählen Ihr Leben einem geschulten Therapeuten. Dieser wird Ihnen wahrscheinlich empathisch nickend zuhören, um Sie dann freundlich, wie es seine oder ihre Art ist, darauf hinzuweisen, dass Sie in einem Film leben, der mit der Realität rein gar nichts zu tun hat. Dann kommt es noch dicker. Trotz Ihrer eloquenten Einwände wird Ihr geschulter Begleiter des Weiteren darauf bestehen, dass Sie sich bei der Entwicklung Ihrer Rollen auch all Ihre körperlichen Beschwerden selbst ins Drehbuch geschrieben haben.
Peng.
Das tut beim ersten Mal meist weh. Wenn Sie allerdings den Mut haben, noch ein paar intensive Stündchen mit diesem Menschen zu verbringen, werden Sie nicht umhinkommen zuzugeben, dass alles, was Sie bisher erlebt und woran Sie geglaubt haben, tatsächlich Teil eines, wenn auch gut gemachten, Films gewesen ist. Bei einigen Menschen ist der Film eine unglückliche Romanze erster Güte, bei anderen eine Komödie mit ungewissem Ausgang. Einige inszenieren ihr Leben auch als Horrorfilm.
Wenn Sie die erste narzisstische Kränkung überstanden haben (Ihr Therapeut scheint magisch mehr über Sie zu wissen als Sie selbst), sind Sie bereit für die zweite und letzte therapeutische Kränkung: Als Drehbuchautor sind Sie für alles, was in Ihrem Leben und Ihrem Körper geschieht, voll und ganz verantwortlich. Sie waren und sind weiterhin Autor, Neben- und Hauptdarsteller, vor allem aber Regisseur Ihres ganz eigenen Lebensfilms. Willkommen in der psychologischen Traumfabrik. Das Wissen darum bietet Scheitern und Chancen zugleich: Drehbücher kann man umschreiben und Charakterrollen neu definieren.
Ein ganzes Leben in sieben Jahren
Die ersten sieben Lebensjahre prägen unser gesamtes Leben. Alle großen humanistischen und analytischen Therapieformen sind sich darin einig:
Sämtliche Angst und Schuldmechanismen entstehen in dieser Zeit. Dabei bleibt es aber nicht. Die Anatomie des Ego ist auch diesbezüglich unbestechlich. Mit Ausnahme der Verhaltenstherapie, die beschreibt, dass Konditionierungsprozesse auch später stattfinden können, sind in diesem einen Punkt ausnahmsweise einmal alle Therapeuten weltweit einer Meinung. Alle unsere scheinbar so erwachsenen Verhaltensweisen, Stärken, Schwächen, Überzeugungen, emotionalen Strategien, körperlichen Spannungszonen und Erkrankungen, Partnerwahlen etc. entwickeln sich auf Grundlage der Erfahrungen dieser sensibelsten Jahre unseres Lebens. Einige Forscher gehen dabei sogar noch weiter. Der Neurobiologe Gerald Hüther etwa sagt, dass es keine Zeit in unserem Leben gab, in der wir mehr lernten als in der intrauterinen Phase. In der Zeit also, die wir im Bauch unserer Mutter verbrachten.
Tatsächlich haben wir in dieser Phase Dinge vollbracht, die sich viele selbst mit einem voll ausgewachsenen Körper nicht mehr zutrauen würden. So haben wir uns, als befruchtete Eizelle gerade einmal sandkorngroß, schon einen Platz in der Welt und damit das Gefühl der Zugehörigkeit erobert. Es war nämlich keinesfalls so, dass uns der Platz im mütterlichen Uterus freundlich zugewiesen worden wäre. Ganz im Gegenteil. Bereits am sechsten Tag unserer körperlichen Existenz haben wir damit begonnen, mütterliche Zellen aufzuessen. Anders hätten wir keine zwei Wochen überlebt. Eine versorgende Nabelschnur samt Plazenta – die wir übrigens auch selbst, also direkt aus unserem embryonalen Körper entwickelt haben –, kam als Versorgungspipeline erst viel später dazu. Konsequent betrachtet waren wir damals embryonale Kannibalen. Eine Hebamme, die eines meiner Seminare zur Entstehung von Charaktertypologien besuchte, bezeichnete unsere embryonale Aktivität in dieser Phase einmal sehr treffend als »feindliche Übernahme«.
Das Gefühl der Zugehörigkeit, der Sicherheit, der Anbindung sowie das Vertrauen, dass die große, fremde Welt uns nährt und unterstützt, haben wir uns also selbst hart erarbeitet. Unnötig zu erwähnen, dass die erste Welt, die wir kennenlernten, unsere Mutter war. Welterfahrung ist Muttererfahrung. Wie Menschen auf die Welt schauen, ob sie sie als sicheren oder bedrohlichen Ort ansehen, spiegelt ihre frühe Muttererfahrungen. Und natürlich sind auch alle Beziehungsmuster letztlich Muttermuster. Bei wem sonst sollten wir Verbindung und Kontakt gelernt haben? Mit anderen Worten: Alle Spannungs- und Entspannungsmuster, die später im Leben zu körperlichen Erkrankungen und Symptomen führen können, sind einst im Mutterland entstanden.
Vertrauen ist der Anfang von allem. Das Gefühl, sicher und gut versorgt zu sein, entsteht nur in und mit der Mutter. Im besten Fall glückt die frühe Mutterbindung. Daraus entwickeln sich dann vertrauensvolle Menschen, die sich selbst und andere lieben und versorgen. Ein rational abwägendes Gehirn wäre in dieser frühen Entwicklungsphase eher hinderlich gewesen und war in dieser Zeit unseres Entstehens sowieso noch so gut wie nicht angelegt. Wenn es also im späteren Leben mit dem Vertrauen hapert, Beziehungen scheitern und auch das Geld immer knapp ist, hat das tatsächlich primär mit unserer Muttergeschichte zu tun.
Vertrauen und Versorgung sind die bestimmenden Themen des Lebens und entwickeln sich in den ersten zwei Lebensjahren. In späteren Entwicklungsphasen, also zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr werden diese beiden Urthemen dann durch die Entwicklung von innerer Autonomie und Macht ergänzt. Schließlich, vom vierten bis zum Abschluss des siebten Lebensjahres kommt noch das Thema Leistung hinzu.
Den Umgang mit all diesen Themen lernen Kinder Schritt für Schritt am Vorbild ihrer Eltern. Durch klare Handlungsanweisungen (»Du darfst dem Malte nicht einfach sein Schüppchen klauen«) und Verbote (»Hör sofort auf, dein Schwesterchen zu hauen«) entwickeln sie langsam ein Gewissen und eine robuste Frustrationstoleranz. Das funktioniert intrapsychisch nicht ohne die gleichzeitige Entwicklung einer physiologischen Scham- und Schuldgrenze. Ein freudianisches »Über-Ich« das uns sagt, was erlaubt ist und was nicht, ist also durchaus gesund. Erlernte Scham- und Schuldgefühle ermöglichen im Erwachsenenleben erst ein kultiviertes Miteinander. Ohne ein gesund entwickeltes Gewissen würden wir uns heute noch schamlos gegenseitig die Weibchen klauen und Konkurrenten schuldlos eiskalt ausschalten. Probleme entstehen immer erst dann, wenn die Scham-Schuldgrenze in einigen Bereichen undurchdringlich geworden ist. Psychische und körperliche Symptome sind dann die unübersehbaren Folgen von unterdrückter kindlicher Freiheit.
In den ersten sieben Lebensjahren wird die »psychologische Festplatte« beschrieben (© Voss-Institut)
Mit sieben Jahren ist unsere psychische Entwicklung in ihren Grundzügen abgeschlossen. Lernen wir weiter, dann auf Grundlage bereits bestehender, selbst kreierter Überzeugungen und Sichtweisen. Insofern lernen wir nur noch etwas dazu. Die von uns kreierten ursprünglichen Programme auf unserer »psychologischen Festplatte« geben dabei den Rahmen vor.
Bis zur Pubertät, in der sogenannten Latenzzeit, passiert in unserer Psyche dann außer Reifung nicht viel Neues. Mit beginnender Pubertät probieren wir dann erstmals die großen Themen des Lebens aus: Vertrauen, Versorgung, Autonomie, Macht und Leistung. Die Pubertät ist sozusagen die Generalprobe, in der wir ein erstes Mal, geschützt durch das sichere Umfeld unserer Eltern, sämtliche inneren Programme einmal durchspielen und Feinschliff an unsere unterbewusst entworfene Dramaturgie legen. All das auf ganz großer Bühne und vor Publikum. Natürlich machen wir dabei unsere Eltern regelmäßig wahnsinnig. Denen fliegen nämlich die Späne unserer Feinschliffinszenierung regelmäßig um die Ohren.
Auch wenn es erstmal schwer zu glauben ist: Das Organ Psyche entwickelt sich bei allen Menschen gleich, ist berechenbar und funktioniert unisono nach den immer gleichen Gesetzen. Lebensskripte werden in Kindertagen geschrieben, in einer Zeit also, in der wir noch über keinerlei Entscheidungskompetenz verfügen. Später sind nur noch geringe Spielplanänderungen möglich. Nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben, orientieren wir uns dabei am Vorbild unserer Eltern. An wem sonst sollten wir uns als noch unerfahrene Bühnenautoren auch orientieren? Die Eltern sind die ersten Superstars unserer Kindheit. Es gibt keine Menschen, die mehr Einfluss auf unser Lebensskript haben als jene ersten Götter, die uns das Leben schenkten.
Mit Ende des siebten Lebensjahres haben wir das Drehbuch dann zugeklappt, weil wir glaubten, alles von ihnen gelernt und verstanden zu haben, und spätestens ab dem achten Lebensjahr beginnt die Illusion der freien Entscheidungen. Erst viele Jahre später macht sich das unterbewusste Lebensskript als subtiles Unbehagen bemerkbar. Vielleicht tauchen unerklärliche körperliche Symptome auf. Erste Skriptfehler werden sichtbar.
Als Tina in meine Praxis kommt, ist sie Mitte dreißig, schlaflos und leidet seit einigen Jahren zunehmend unter allen möglichen, scheinbar zusammenhanglosen Symptomen. Sie hat vom Nacken anfallartig aufsteigende Kopfschmerzen, die Kniegelenke tun ihr weh, und wenn sie fest zubeißen will, knackt ihr rechtes Kiefergelenk bedrohlich. Hinzu kommen Verdauungsbeschwerden, wiederholte Blasenentzündungen, und im vergangenen Jahr ist sie wiederholt mit beiden Füßen »umgeknickt«. Ihr Job bei einer Behörde langweilt sie zunehmend. Seit einiger Zeit denkt sie intensiv darüber nach, schwanger zu werden. Es gibt diesbezüglich nur ein kleines Problem: In Tinas Leben gibt es keine Partnerschaft. Kurz: Tina befindet sich in einer echten Krise.
Natürlich hat sie verschiedene Ärzte aufgesucht – mit dem Ergebnis, dass sie sich trotz einiger medikamentöser Therapien nicht besser fühlt. Tina sucht verzweifelt nach der Ursache ihrer Beschwerden. Nachdem ich sie körperlich untersucht habe, zeigt sich, dass ihr Körper in jedem nur denkbaren Bereich deutlich hyperton, sprich massiv angespannt ist. Ihre Muskeln und Bindegewebe sind dabei genauso hyperton wie ihre Organe und ihr Zwerchfell.
Wie wir im zweiten Teil des Buches sehen werden, lassen sich körperliche Beschwerden wie Tinas mittels sogenannter »osteopathischer Ketten« mit hoher Wahrscheinlichkeit erklären. Die viel wesentlichere Frage aber war: Wieso hatte sich Tina überhaupt auf allen Ebenen ihres Körpers so sehr angespannt?
In der Anatomie des Ego werden hohe Spannungen als das Produkt von Schuldgefühlen und der Zurückhaltung emotionaler Impulse beschrieben. Tinas Hochspannung war in jeder Zelle ihres Körpers spürbar. Sie musste sich also unterbewusst für irgendetwas verzweifelt schuldig fühlen. Weiter hielt sie (wahrscheinlich seit Jahren) extrem starke Emotionen zurück. Tinas umknickende Füße, ihre schmerzenden Knie und die Blasenentzündungen legten aus körpertherapeutischer Sicht ein in ihrem ersten Lebensjahr nur rudimentär angelegtes Urvertrauen nahe. Wie wir noch sehen werden, deuten vom Nacken hochziehende Kopfschmerzen auf den Versuch hin, frühe emotionale Impulse nicht mehr erinnern zu wollen. Etwas musste also in Tinas früher Kindheit stattgefunden haben, das sie sehr verletzt hatte.
Tinas weitere Symptome, das feste Zwerchfell, die Oberbauchbeschwerden, der knackende Kiefer, lassen sich als Verkörperung von stark zurückgehaltenen Aggressionsimpulsen übersetzen. Der uninteressante Job, die ausweglose Partnerlosigkeit (»Ich treffe immer die falschen Männer«) deuteten auf die Reinszenierung einer inneren Leere genauso wie Tinas verzweifelte Sehnsucht nach einem Kind. Die Basisprogramme Vertrauen und Versorgung waren auf Tinas emotionaler Festplatte so gut wie nicht vorhanden. Was also war passiert?